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Traumatisiertes Liberia-Das gemarterte Land

Liberia, als Hafen der Freiheit für amerikanische Sklaven gegründet, wurde im Laufe der Geschichte zum Hort der Katastrophen. Bürgerkrieg und Ebola-Epidemie sind überstanden, aber die Lage bleibt fragil und explosiv.

Vor dem Hotel Ducor in Monrovia prangt ein Schild: «The Future starts now». Vielleicht begann die Zukunft hier einst, als das Luxushotel in den sechziger Jahren errichtet wurde. Es war eine der besten Adressen auf dem Kontinent; an zahlreichen internationalen Konferenzen beschwor man dort den Aufstieg und die Blüte Liberias und ganz Afrikas, bevor man sich zum Tennisplatz, zum Swimmingpool oder ins französische Restaurant begab. Aber als der Prunkbau 1989 seine Türen definitiv zumachte, hatte die Zukunft bereits geendet. Das Schild mit dem stolzen Statement ist heute rostig und fast unleserlich, das Hotel ein Gerippe. Im Jahr nach der Schliessung stürzte Charles Taylor den Präsidenten Samuel Doe, und Liberia versank im Bürgerkrieg.

Die weissen Mauern des «Ducor» sind von Moos, Graffiti und Einschusslöchern überzogen, die Fenster fehlen, in den Hunderten von Zimmern haben sich Wasserlachen gesammelt, Armierungseisen ragen aus dem bröckelnden Beton. Der Swimmingpool ist gefüllt mit einer grünen Brühe, auf dem Vorplatz spielen Knaben Fussball. Zeitweise residierte eine Übergangsregierung in den Sälen, vorübergehend wurde der Fünf-Sterne-Bau von Rebellen besetzt, später nahmen Obdachlose die Suiten in Beschlag. Nach all den Plünderungen ist kein einziges Geländer und kein einziger Duschkopf mehr zu finden in der Ruine. Vom Dach des abgenagten Hotelskeletts sieht man auf West Point hinunter, den Slum, der sich auf einer Halbinsel in den Atlantik hinausreckt, als wolle er sich selber entkommen. Aus dieser Höhe erscheint die Siedlung wie ein System von ineinander verschachtelten zusammengepressten Konservendosen. Gleissendes Wellblech in der Sonne. Etwa 80 000 Menschen drängen sich auf der gerade einen Kilometer langen Landzunge. Mit etwas Zynismus könnte man von verdichtetem Wohnen reden.

In West Point

Vom Hügel aus ist West Point überblickbar. Befindet man sich mittendrin, in den engen, überfluteten Gassen, wirkt das Labyrinth endlos. Man hat das Gefühl, man komme nie mehr hinaus, und das gilt tatsächlich auch für die meisten Bewohner. Wer hier geboren wurde, stirbt höchstwahrscheinlich auch hier.

West Point kam letztes Jahr in die internationalen Schlagzeilen, als es wegen des Ebola-Ausbruchs abgeriegelt wurde. Der Slum hängt vollständig von der Aussenwelt ab, produziert wird hier praktisch nichts. Die Bevölkerung war im Voraus nicht über die Quarantäne informiert worden. Die Bewohner wollten morgens zur Arbeit in die Stadt und an den Hafen fahren und stellten fest, dass der einzige Ausgang des Slums mit Stacheldraht abgesperrt war. Weil auch keine Nahrungsmittel mehr zu den Bewohnern gebracht werden konnten, brach Panik aus. Aufgrund der jahrzehntelangen Vernachlässigung durch die Regierung herrscht tiefes Misstrauen unter den Bewohnern gegenüber dem Staat. Spekulationen kursierten, dass West Point mithilfe des Virus eliminiert werden sollte und dass die Behandlungsteams in Wirklichkeit Todesschwadronen seien, die nicht Desinfektionsmittel, sondern Gift versprühten. Verdächtig war den Bewohnern, dass auch Kranke mit Ebola-Symptomen von ausserhalb des Slums in das improvisierte Ebola-Spital in West Point gebracht wurden. Das nährte noch die Verschwörungstheorien. Schliesslich wurde das Behandlungszentrum von einem aufgebrachten Mob gestürmt und geplündert. Sogar die hochansteckenden Matratzen der Kranken nahmen die Marodeure mit.

Das gespaltene Liberia

Es hatte immer wieder Versuche gegeben, das Elendsviertel aufzulösen, und gegen die gegenwärtige Präsidentin Ellen Johnson Sirleaf hegen die Bewohner von West Point besondere Ablehnung, weil sie zum Lager des Warlords Charles Taylor gehörte. Es wurde auch schon versucht, den Bewohnern Geld zu geben, damit sie sich woanders ein Häuschen bauen. Die Bewohner nahmen die Banknoten, verschwanden für eine Weile und kehrten zurück. Die Leute von West Point sagen, es gebe nur einen einzigen Menschen in Liberia, der West Point auflösen könnte: George Weah, der ehemalige Starfussballer Liberias, der aus West Point stammt und heute Senator ist. Bei der Wahl zu diesem Amt war Weah ausgerechnet gegen den Sohn der Präsidentin Johnson Sirleaf angetreten. Die beiden Rivalen stehen stellvertretend für den Konflikt, der Liberia seit seiner Gründung spaltet.

Liberia ist ein Unikum innerhalb Afrikas. Es wurde eigentlich von den USA gegründet beziehungsweise von der American Colonization Society. Diese Gruppe von weissen Amerikanern kaufte den Küstenstreifen, um dort freigelassene Sklaven anzusiedeln. Nach kurzer Zeit installierten die ehemaligen Leibeigenen abermals eine Art Sklavenstaat, mit den alteingesessenen Einwohnern als Untergebenen. Firestone betrieb in Liberia die grösste Kautschukplantage der Welt, die Ökonomie hing fast vollständig von dem amerikanischen Unternehmen und von den USA ab.

Die Vorherrschaft der sogenannten Americano-Liberianer wurde erst 1980 durch den Putsch von Samuel K. Doe gebrochen. Mit Doe war zum ersten Mal ein Vertreter der autochthonen Ethnien, der Afro-Liberianer, an der Macht, aber die Repression und die Misswirtschaft waren damit alles andere als zu Ende. Nach zehn Jahren wurde auch er gestürzt, gefoltert und getötet. Es begann die Ära des Bürgerkriegs und des brutalen Charles Taylor, der schliesslich Präsident wurde, 2003 jedoch das Land verliess und heute im Gefängnis in Den Haag einsitzt.

West Point war immer eine Hochburg der Afro-Liberianer und ein Hort der Rebellion. Aber es gab nicht nur politische Gründe für all die Pläne, West Point aufzulösen. Der Ort ist einer der schlimmsten Slums überhaupt, und es ist zweifelhaft, ob er sich sanieren lässt. Das beginnt schon damit, dass er an der Mündung des Mesurado-Flusses gebaut ist. Im Prinzip ist West Point ein Sumpf; unzählige Kanäle, die das Abwasser und den Abfall der ganzen Stadt mit sich führen, wälzen sich durch das Quartier. Bei Flut gibt es jeweils einen Rückstau, und wenn dann noch Regen hinzukommt, steht ganz West Point unter Wasser beziehungsweise wird von einer giftigen, stinkigen Brühe überschwemmt. Malaria, Aids und andere Krankheiten gehören hier zum Alltag. Die Toiletten in West Point kann man an einer Hand abzählen, so dass die Bewohner ihre Notdurft einfach am Strand verrichten. Das Meerwasser frisst sich langsam landeinwärts, die Häuser am Atlantik sind mangels Sand auf Müll gebaut, aber auch der wird zunehmend unterspült. Immer wieder stürzen ganze Häuserreihen ein, dann müssen die Menschen noch enger zusammenrücken.

Waisenkinder aufnehmen

Im ehemaligen Ebola-Behandlungszentrum ist heute die erste und einzige Schule von West Point untergebracht. Sie wurde unter der Regie von Victor Farays NGO Department of Children and Family in Betrieb genommen, mit Unterstützung unter anderem von der Uno und der Welthungerhilfe. Faray ist ein altgedienter Aktivist aus West Point, der auch unermüdlich dafür kämpfte, die dortige Bevölkerung von der Realität von Ebola zu überzeugen und die Initiative nicht allein der Regierung und den internationalen Organisationen zu überlassen.

Die M. V. Massaquoi School bietet 1200 Schülern Platz, was nach viel tönt, aber eigentlich nichts ist für eine Stadt von der Grösse St. Gallens. Dort treffen wir Fatu Swaray an. Die 37-Jährige hat im letzten Jahr 15 Familienmitglieder durch Ebola verloren und erkrankte auch selber an der grausamen Seuche. «Dank Gottes Hilfe habe ich überlebt», sagt sie. Ihr Mann hat sie während der Epidemie verlassen und kam nie mehr zurück. Sie hat vier Kinder und nahm auf dem Höhepunkt der Ebola-Krise zusätzlich mehrere Waisenkinder bei sich auf, die sie vor dem Behandlungszentrum antraf. «Aus Dankbarkeit, weil der Tod mich verschonte», sagt sie. Im Moment leben etwa ein Dutzend Personen in ihrem Zimmer, das ungefähr acht Quadratmeter umfasst.

«Das Brutale ist», sagt sie, «dass nach einem Ebola-Todesfall aus Angst vor Ansteckung jeweils das ganze Hab und Gut der Familie verbrannt wurde. Die Kinder verloren nicht nur die Mutter, sondern es blieb ihnen wirklich nichts, nicht einmal eine Matratze.» Fatu Swaray erhielt von der Welthungerhilfe ein Package mit dem Notwendigsten wie Leintüchern, Geschirr, Besteck, Kleidern, Seife, Matratzen. Sie verdient ihren Lebensunterhalt mit dem Verkauf von gekühltem Wasser, das sie in kleine Plasticsäckchen abfüllt. Das ist eines der wichtigsten Güter im Quartier, weil es nirgends trinkbares Leitungswasser gibt. Fatur Swaray steht in West Point unter einem schattigen Vordach, in einer Kühlbox aus Styropor warten die gefüllten Beutel. Einer kostet ein paar Rappen. So etwas wie eine Matratze bedeutet ein Vermögen für sie.

Zu siebt auf der Matratze

Auch Mame Weah hat neben ihren drei eigenen Kindern noch zwei andere aufgenommen, deren Eltern an Ebola starben. Die 24-Jährige mit dem roten Wollbéret übt die gleiche Arbeit aus wie ihre Kollegin, sie verkauft Trinkwasser. Aber im Vergleich zu Fatu Swaray ist sie reich. Sie besitzt nämlich eine Tiefkühltruhe, mit der sie selber Eis herstellen kann. Sie hütet sie wie ihren Augapfel. «Sollte sie einmal kaputtgehen, bin ich verloren», sagt sie.

Bald kommt die Rede auf Francis, einen der Bewohner des Hofes. «Es war Francis, der das Virus reinbrachte», sagt sie. «Am Sonntagabend kam er nach Hause, am Montag war er krank. Die Mitglieder seiner Kirche versammelten sich und beteten für ihn. Am Dienstag starb er. Am Mittwoch deponierten die Verwandten sein Kind am Hofeingang und gingen wieder. Die ganze Nachbarschaft hier ist bis heute stigmatisiert wegen dieses Ebolafalls.»

Die 24-jährige Mame Weah adoptierte zusätzlich zu ihren drei eigenen Kindern noch zwei Knaben, deren Eltern an Ebola gestorben waren.
Wie die meisten Frauen in West Point ist auch Mame Weah nicht verheiratet und muss ihre Kinder selber durchbringen. Sie lebt in einem Hof in West Point, wo sich Dutzende von Anwohnern tummeln. Wäsche hängt an den Leinen, Rauch von den Kohleöfen erfüllt die Luft, Kleinkinder suchen sich einen Weg zwischen Eimern mit heissem Wasser und Feuerstellen.

Vom Innenhof führt ein enger Durchgang zu Mame Weahs Zimmer. Es ist ein Verschlag aus hellblau bemaltem Wellblech; sie zahlt zehn US-Dollar dafür pro Monat. Die ganze grosse Familie – manchmal kommt noch ihr Freund hinzu – schläft auf einer einzigen Doppelmatratze. Um den Stoff zu schonen, hat sie die Plastic-Hülle nicht entfernt. Unter dem Blechdach ist es extrem heiss, nach einer Minute schwitzt man wie in einer Sauna. Der Boden besteht aus Sand, die Wände sind mit bunten Bildern aus Illustrierten tapeziert, aus dem Zimmer des Nachbarn scheppert ohrenbetäubend laut ein Radio.

Das dubiose Kino

Nicht weit von Weahs Bruchbude befindet sich ein Kino. Genauer gesagt handelt es sich um einen Bretterverschlag mit einem Fernseher und roh zusammengezimmerten Holzbänken. Im Moment läuft gerade «Python Girl», ein Horrorthriller aus Nigeria. Aber die meisten Zuschauer schlafen in verrenkten Stellungen auf den engen Plätzen. Wenn am Strand unten wieder einmal eine Hütte einstürze, erklärt Victor Fayah, suchten die Bewohner als Erstes in einem dieser Kinos Unterschlupf. Sie zahlen dem Wächter am Eingang einen Pauschalbetrag, dann können sie die ganze Nacht bleiben. Aber, so heisst es, das Halbdunkel dieser Vorführräume ist auch geeignet für schummrige Geschäfte: Drogenhandel und Prostitution. Sex mit Frauen und Mädchen koste hier weniger als einen Dollar und auch Heroin und Kokain seien überall billig zu haben, sagt Fayah.

Man glaubt es gerne. Am Abend wimmelt es von jungen, lallenden Männern mit unsicherem Schritt und glasigen Augen. Viele von ihnen sind ehemalige Kindersoldaten. Die bevorzugte Droge der jugendlichen Rebellen von Charles Taylor war «brown brown», ein Gemisch aus Kokain und Schiesspulver (sogenanntes rauchloses Pulver, hergestellt aus Nitroglyzerin). Taucht ein Weisser in West Point auf, steuern diese Wracks – oft fehlt ihnen ein Bein oder ein Arm – auf ihn zu, fragen, ob er Journalist sei, und bieten ihm Erzählungen aus der Zeit des Bürgerkrieges an, gegen Bargeld natürlich. Lehnt man ab, kann der Ton auch schon einmal schärfer werden – ein fliessender Übergang von Bitte zu Nötigung. Es heisst, es gebe Tausende von ehemaligen Rebellen in West Point, die nur auf die nächste Gelegenheit lauerten, um den Krieg wiederaufzunehmen.

Alles verloren

Helena Baker wohnt in einem halbfertigen Haus. Die Mauern sind noch nicht verputzt, bei den Fensterrahmen fehlen noch die Scheiben, überall wird gehämmert, gebohrt, gesägt. Helenas Jüngstes spielt neben dem Betonmischer. Das Quartier Samoka gehört nicht zu den besten in Monrovia, aber immerhin: Es ist nicht West Point.

Zuerst starb Helena Bakers Mann an Ebola, dann nahm ihr dessen Familie auch noch das Haus weg.
Die Vierzigjährige erkrankte letzten September, wurde positiv auf Ebola getestet, kam in ein Behandlungszentrum. «Alle Angestellten trugen Schutzanzüge aus Plastic und Masken. Ihre Gesichter sah ich nie.» Weil Platzmangel herrschte, schickte man sie nach einem Tag wieder heim. Kurz darauf erkrankte auch ihr Mann. «Am 7. Oktober gab er auf.» Drei Wochen lang stand ihr Haus unter Quarantäne. «Zum Glück war noch genug Essen im Haus», sagt sie. Die älteste, 16-jährige Tochter namens Success passte auf die Familie auf. Die Mutter ermahnte sie, ihr Zimmer nur geschützt zu betreten. So steckte sich kein weiteres Familienmitglied mehr an, und die Mutter überlebte.

Helena ist mit ihren Kindern nun provisorisch in einem Rohbau untergekommen.
«Weil ich vor meinem Gatten krank wurde und dann wieder genas, sagten die Leute, ich hätte ihn angesteckt und sei schuld an seinem Tod.» Gleich nach dem Begräbnis des Mannes kam seine Familie ins Haus und plünderte ein Zimmer nach dem andern. «Mörderin», zischten sie. Dann leerten sie sein Bankkonto und schafften es schliesslich mit juristischen Kniffs, Helena das Haus wegzunehmen. So stand sie mit vierzig auf einmal auf der Strasse mit ihren vier Kindern sowie Deddeh, einem Mädchen, das zuerst Mutter und Vater verloren hatte, dann zur Tante kam, die ebenfalls an Ebola starb, und in einem Lager landete, wo das Kind Helena auffiel.

Sogar von ihrer eigenen Familie wurde Helena gemieden. Schliesslich griffen sie Freunde von der Strasse auf und vermittelten ihr für eine bescheidene Miete die Unterkunft im Rohbau. Um etwas Geld zu verdienen, stellt sie Seifen her. «Aber ich muss in ein Quartier fern von hier gehen, um sie zu verkaufen. In Samoka würde niemand etwas von mir kaufen.»

Ebola und die Gärtnerin

Betty Kaifa ist wie Helena vierzig und wohnt ebenfalls in Monrovia, in einem Viertel namens Moto Corner. Als sie ausgerechnet hier vor ein paar Jahren mit Gartenbau begann, schauten sie alle scheel an. Landwirtschaft wird in Liberia im Allgemeinen verachtet, und ganz besonders in der Stadt. Alle wollen sein wie die Americano-Liberianer: wohlhabend, urban, chic, aber bitte ohne Arbeit und vor allem ohne Arbeit, die die Hände schmutzig macht. Betty hatte mit ihrem Mann acht Kinder, als er sie verliess. «Er war Lehrer», sagt sie. «Als er merkte, dass er nicht mehr für die Familie aufkommen konnte, ging er aus Scham weg. Er dachte, er sei nur noch eine Last für uns.»

Nach jahrelanger Abwesenheit kam er letztes Jahr zurück, schwer krank. Um bei seiner Familie zu sterben. Ihre Freundinnen seien erstaunt gewesen, sagt Betty. «Warum nimmst du ihn zurück, nachdem er dich im Stich gelassen hat?», fragten sie. «Aber es war dank ihm, dass ich hierher nach Monrovia kam», sagt sie. «Er ist der Vater meiner Kinder, und er hat schliesslich das Brautgeld bezahlt.»

Alle nahmen an, dass er Ebola hatte. Sie wusste, dass es der Bluthochdruck war. Aber sie pflegte und wusch ihn sicherheitshalber mit einem Gesichtsschutz und Gummihandschuhen. Er wurde begraben, und dann durften sie für längere Zeit das Haus nicht mehr verlassen. «Die Leute waren überzeugt, dass wir alle sterben würden.»

Stattdessen kümmerte sie sich weiterhin um ihren Garten und hielt die Kinder zum Lernen an. Und weil es sonst kaum Gemüse gab, kamen die Kunden nach anfänglicher Skepsis zurück. Beim Kommen und Gehen mussten sie sich die Hände mit Chlorin waschen, Betty selber trug Handschuhe beim Verkaufen. Sie nahm auch an einem Programm der Welthungerhilfe für «urban gardening» teil. Sie lebt mit dem älteren Bruder ihres verstorbenen Mannes zusammen, den sie Onkel nennt. Neben ihm gibt es noch diverse Helfer, die von ihrem Gemüse leben.

«Das Positive an der Ebola-Krise war, dass die Not auch andere ermunterte, Gartenbau zu betreiben», sagt sie. «Man kann sich nicht immer nur auf die Hilfe der andern verlassen. Indem ich die andern mit dem überlebensnotwendigen Essen versorgte, während das ganze Quartier isoliert war, half ich auch mir selber. Jeder Kunde ist ein Abbild Gottes. Ihn zu bedienen, ist ein Dienst an Gott.»

Explosive Würfel

Nachdem Liberia im Mai für Ebola-frei erklärt worden war, tauchten Ende Juni plötzlich wieder neue Fälle auf. Bis heute ist nicht ganz klar, wie es zu den Ansteckungen kam. Das war ein schwerer Schlag für das gebeutelte Land, das das Ende der Epidemie mit einem landesweiten Fest gefeiert hatte. Denn abgesehen von den Toten bedeutet der Stempel «Ebola-Land» auch ein Stigma, das ökonomisch fatale Sanktionen nach sich zog.

Während des Besuchs in West Point bricht am Eingang des Marktes plötzlich eine Frau zusammen. Es heisst, sie stamme aus Guinea und sie habe kurz vorher Blut erbrochen. In ehrfurchtsvollem Abstand bildet sich ein Kreis um sie; der Verkehr wird blockiert, aber niemand getraut sich, sie auf die Seite zu schaffen. Den ganzen Nachmittag liegt sie dort, es regnet in Strömen. Das Wasser fliesst die Strasse herunter, in einen halb verstopften Kanal, der durch West Point bis zum Meer hinunter führt. Falls die Frau an Ebola gestorben ist, haben sich die Viren in kurzer Zeit wie vergiftetes Blut bis in die feinsten Kapillaren im Quartier verteilt.

Während die Ebola-Wunde sich langsam schliesst, klafft darunter der Abgrund des Bürgerkriegs. Öffentlich wird darüber kaum debattiert, auch, weil viele Protagonisten straflos ausgegangen sind und immer noch einflussreiche Stellen besetzen. Zum Beispiel Prince Yormie Johnson. Seine Gruppe nahm 1990 den gestürzten Präsidenten Doe gefangen und folterte ihn stundenlang. Unter anderem schnitt man ihm beide Ohren ab. Johnson sass da, unter einem Jesus-Bild, trank Dosenbier, ein Mädchen fächelte ihm Luft zu, während Doe, gefesselt und nur mit einer Unterhose bekleidet, langsam verblutete. Die Tortur wurde gefilmt und kursiert immer noch auf dem Netz. Der inzwischen 56 Jahre alte Johnson ist heute Senator und nahm 2011 sogar an den Präsidentschaftswahlen teil. Die Zeitungen berichten über haarspalterische Debatten im Parlament, aber die oft haarsträubende Vergangenheit der Politiker ist tabu. Man wolle keine schlafenden Hunde wecken, heisst es. Und schliesslich weiss man ja nie, was das Gegenüber genau denkt und früher gemacht hat.

Als der Schriftsteller Graham Greene 1935 Liberia zu Fuss durchquerte, bemerkte er in seinem Buch «Reise ohne Landkarten»: «Politik in Liberia war ein Spiel mit explosiven Würfeln.» Das ist es noch immer.

Alltägliche Abgründe

Liberia ist doppelgesichtig. Vordergründig handelt es sich um eine gottesfürchtige, sogar prüde und pedantische Gesellschaft. So darf man zum Beispiel im Freien nicht rauchen. Zündet man sich auf der Strasse eine Zigarette an, wird man nach kurzer Zeit von Passanten angeherrscht, man solle nicht die Luft verpesten. Auch Homosexualität ist strafbar. 2012 hat Jewel Howard Taylor ein Gesetz vorgelegt, nach dem Homosexualität in Zukunft mit dem Tod bestraft würde. Sie ist Senatorin und die Ex-Frau des Warlords Charles Taylor. Die Scheidung von Taylor reichte sie nach seinem erzwungenen Rücktritt 2003 ein.

Eigentlich haben die Leute ja drängendere Probleme. Manchmal scheint der Horror in einem Nebensatz auf. Jemand sagt: «Meine Tante starb in jenem Jahr, als man meinem Bruder den Arm abhackte.» Dann geht es gleich weiter mit der Schilderung einer Autoreparatur. Victor Fayah sagt, in der Familie würden Konflikte prinzipiell mit Gewalt gelöst. Manchmal könne eine Situation innert Sekunden eskalieren. Ein Haarriss weitet sich plötzlich zum Abgrund. Bei einem Gang durch West Point macht der Fotograf ein Bild von Fussball-Leibchen, die an einer Leine aufgehängt sind. Ein Mann kommt hinzu und beschwert sich. Er behauptet, mit einem seltsam leeren Blick, man könne auf der Aufnahme die Namen der Spieler sehen, die hinten auf den T-Shirts stünden. Der Fotograf sagt: «Okay, ich lösche das Bild und gehe.»

«Du bleibst schön hier», sagt der Mann und versucht, die Umstehenden aufzuwiegeln. Innert weniger Minuten rottet sich eine bedrohliche Menge zusammen. Victor Fayah packt den Provokateur, halb Umarmung, halb Schwitzkasten, und der Fotograf entkommt.

Zur allzeit schwelenden Gewalt passt, dass jedes fünfte Kind schon einmal sexuell missbraucht wurde. Ein Freund von Fayah brachte seinen Sohn zu einer öffentlichen Toilette in Monrovia. Kaum war der Knabe drinnen, wurde er vergewaltigt. In der Hauptstadt prangen überall riesige Schilder mit dem Bild eines Kindes und dem Wunsch: «I'm a child. Please don't do man + woman business to me!» Gang-Bang ist eine traditionell anerkannte Methode der Bestrafung. Bis heute spielen Geheimgesellschaften eine wichtige Rolle in Liberia, und nach ihren grössten Ängsten gefragt, antworteten die Liberianer kürzlich in einer Umfrage: 1. Ebola, 2. Entführung der Kinder für okkulte Zwecke. Symptomatisch für die Situation ist die Grösse der Gebäude: Das Verteidigungsministerium ist monumental, das Erziehungsministerium so klein, dass man es glatt übersehen könnte.

200 Jahre Gewalt und Not

Offiziell haben die USA nie Kolonien besessen. Liberia hat jedoch durchaus Züge einer amerikanischen Kolonie – oder einer Karikatur davon. 1816 beschloss der Kongress, befreite Sklaven aus den USA nach Afrika zurückzuführen. Beauftragt mit dieser Mission wurde eine Gesellschaft mit dem vielsagenden Namen American Colonization Society. Sie kaufte England einen Teil von Sierra Leone ab, nannte das verheissene Land Liberia, gründete die Hauptstadt Monrovia, benannt nach dem amerikanischen Präsidenten Monroe, und siedelte etwa 50 000 sogenannte Americano-Liberianer an. 1841 wurde die Bevölkerung mit einer Verfassung nach amerikanischem Vorbild beglückt. Sechs Jahre später erklärte das Land, mit dem Segen der USA, die Unabhängigkeit. In den 1920er Jahren kam der amerikanische Reifenhersteller Firestone ins Land und erhielt für 99 Jahre riesige Gebiete für Kautschukplantagen zugesprochen.
Bis 1980 waren Nachkommen der ehemaligen Sklaven an der Macht, die eine strikte Zweiklassengesellschaft errichteten, ganz so, wie sie es unter umgekehrten Vorzeichen in den USA gelernt hatten. Am 12. April 1980 aber ermordete der Hauptfeldwebel Samuel Doe – ein Angehöriger der Ethnie der Krahn – den Präsidenten und Americano-Liberianer William Tolbert. Doe wütete zehn Jahre lang, bis 1990 Charles Taylor den Kampf gegen Doe eröffnete. Taylors Kriegshund und späterer Widersacher Prince Johnson setzte Doe gefangen und liess ihn zu Tode foltern. Der Bürgerkrieg ging weiter bis 2003 und forderte Hunderttausende von Opfern. Taylor wurde 2012 in Den Haag zu fünfzig Jahren Gefängnis verurteilt.
2006 wählten die Liberianer Ellen Sirleaf Johnson zur Präsidentin. Gerade als sich das Land langsam vom Bürgerkrieg erholte, brach 2014 die Ebola-Epidemie aus. Mehr als 4800 Menschen raffte das Virus in Liberia dahin.