Aus langem Schlaf erwacht
Zur späten Ankunft von Jonathan Lethem in Deutschland
Nach Jonathan Franzen (Die Korrekturen) und Jonathan Safran Foer (Alles ist erleuchet) wird uns jetzt binnen kurzer Zeit der dritte Amerikaner namens Jonathan mit einem bemerkenswertem Buch vorgestellt. Lethem heißt der 40-Jährige mit Nachnamen, über dessen Roman „Die Festung der Einsamkeit“ (Tropen Verlag, 667 Seiten, 24,90 Euro) Kritiker seit Monaten munkeln, dass dies das Buch der Saison sei. Die New York Times jedenfalls zählte ihn zu den vier besten Romanen 2003. Lethems Lesereise durch Deutschland bietet die Möglichkeit zu überprüfen, ob dem tatsächlich so ist.
Jonathan Lethem
Anders als Franzen und Safran Foer kommt Lethem aber nicht als unbeleckte Neuentdeckung zu uns. Innerhalb von vier Jahren hat der Kölner Tropen Verlag vier Romane des 1964 in New York geborenen Autors veröffentlicht, allesamt von Verlagsmitinhaber Michael Zöllner ins Deutsche übertragen. Den Anfang machte 2001 der Roman Motherless Brooklyn, für den Lethem in den USA neben anderen Preisen den National Book Critics Circle Award for Fiction erhalten hat. Die Auszeichnung ist ein deutliches Zeichen, dass der Autor in der Liga der ernst zu nehmenden Schriftsteller angekommen ist.
Lionell Essrog heißt der Erzähler, der sich allein schon dadurch auszeichnet, dass er das Tourette-Syndrom hat, das in zwingt, alle erreichbaren Dinge anzufassen und ständig Sachen von sich zu geben, die in unseren Ohren blödsinnig klingen, sozusagen das literaische Pendant zu dem Film Rain Man mit Dustin Hoffman. Diesen Lionell Essrog rekrutiert der Gangster Frank Minna mitsamt dreier anderer Bewohner des Waisenhauses St. Vincent in Brooklyn für seine kriminellen Geschäfte. Zunächst sind die Minna Men für niedere Schurkendienste zuständig, bis sie Frank tot auffinden und gezwungen sind, die Geschäfte (und ihr Leben) selbst in die Hand nehmen.
Sprachwitz, scharfe Dialoge und die quicklebendige, agressive Kulisse von Brooklyn ließen ahnen, dass von diesem Autor noch einiges zu erwarten ist. Die nachgereichten Bücher Als sie über den Tisch kletterte (1997, dt. 2002) und das Debüt Der kurze Schlaf (1994, dt. 2003), das jetzt auch im Taschenbuch vorliegt (Heyne-Tb 87794, 331 Seiten, 8,95) erscheinen im Rückblick als romanlange Stilübungen, wie sie Raymond Queneau (Zazie in der Metro) in seinem Klassiker 99-mal in Kürzestform zelebriert hat. Es sind eine Liebesgeschichte aus dem Reich der Teilchenphysik und eine Detektivromanparodie, die im Kalifornien der Zukunft spielt. Sehr nett zu lesen, verspielt bis ins Detail, aber noch nicht weltbewegend.Mit seinem aktuellen Buch, das Lethem in den USA im vergangenen Jahr zum kommerziellen Durchbruch verhalf, ist er zu seinen Wurzeln zurückgekehrt, in sein buntes, lautes, gefährliches, beschauliches zwei Millionen Einwohner zählendes Dorf Brooklyn. Hier wächst Anfang der siebziger Jahre Dylan Ebdus auf, dessen jüdische Hippie-Künstler-Eltern dem Lockruf des bis dahin von Schwarzen und Puertorikanern bewohnten Viertels gefolgt sind. Zu seinem Unglück stellt der Junge beim Spielen auf der Straße und in der Schule bald eine „gewisse Durchsichtigkeit an sich fest, eine Anfälligkeit dafür, ignoriert zu werden“. Die Rettung aus der Festung der Einsamkeit, in die sich der Whiteboy zurückzieht (der große Baum im Innenhof und das Atelier seines Vaters), kommt mit Mingus Rude, dem ebenfalls mutterslosen schwarzen Sohn eines kiffenden Musikers, der nebenan einzieht und ihm bei Rangeleien in der Nachbarschaft künftig zur Seite steht. Mit dem neuen Freund macht auch das geliebte Ballspielen auf der Straße wieder Spaß.
Am Allerwichtigsten aber: Mit Mingus erforscht Dylan – ihre Namen lassen es schon ahnen – die Musik und die Filme der damaligen Zeit, gemeinsam entdecken sie die Geheimssprachen der Erwachsenen, der Comics, der Grafitti. Und sie ziehen selbst los, um sich auf den Mauern des von Backsteinhäusern durchzogenen Viertels Boerum Hill mit ihren Tags zu verewigen.
Es ist überraschend, dass derzeit mehrere US-Autoren weißer Hautfarbe sich auf ein schwarzes Terrain begeben. Nach Stewart O’Nans einwöchigem Streifzug durch das Pittsburgher Schwarzenviertel East Liberty in Ganz alltägliche Leute (Rowohlt-TB) und Richard Powers’ großer Familiensaga Der Klang der Zeit (S. Fischer) hat Lethem nun einen weitesgehend autobiografischen Roman über seine Jugend in Brooklyn verfasst, der in seiner atmosphärischen Dichte an Henry Roth’ Klassiker Nenn es Schlaf (Kiepenheuer & Witsch) erinnert und in seinen analytischen Passagen über Rasse und Politik an Ralph Ellisons Der Unsichtbare Mann (Ammann Verlag), den afroamerikanischen Klassiker schlechthin. Das sind Vergleiche mit sehr großen Büchern, aber Lethems Roman Die Festung der Einsamkeit ist wirklich einsame Klasse.
© 2004 Reinhard Helling