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New York, New York

Neue Bücher über die "Hauptstadt der erforschten Welt"

Charles Simic war 16 Jahre alt, als er 1954 in New York eintraf. "Es war schrecklich häßlich und schön auf einmal", erinnert sich der in Belgrad geborene Dichter später an seine erste Begegnung mit der Stadt. Wohl kein anderer Ort der Welt fordert derart widersprüchliche Reaktionen heraus wie die Stadt, die neben vielen anderen Superlativen auch den beanspruchen darf, diejenige mit den meisten Synonymen zu sein: Big Apple, Hauptstadt der erforschten Welt, Babylon des ausgehenden Jahrtausends, Melting-pot, wunderbare Katastrophe...

Wann und von wem immer New York besungen, beschrieben, gemalt, fotografiert oder gefilmt wurde, mischte sich in verehrende Darstellungen auch etwas Abscheu, in Verurteilungen der dortigen Zustände auch eine Spur Sympathie für das Chaos in den Straßen. Die Kontraste ? glänzendster Glanz neben elendstem Elend ?, die tägliche Neuererfindung dessen, was New York ist, und die fortwährende Gültigkeit der von Frank Sinatra beschworenen Formel "If I make it there, I'll ganna make it anywhere" geben der unendlichen Geschichte "Schriftsteller sehen New York" täglich neue Nahrung.

Zwar verdanken wir der Stadt "Manhattan Transfer" und "Großstadtsklaven", "Fegefeuer der Eitelkeiten" und "Der Fänger im Roggen", "Bright Lights, Big City" und "Das Herz der Welt", und vor der Kulisse von Wall Street und Central Park, von gelben Caps und glitzernden Skyscrapern spielten sich Hunderte Liebesromane und Tausende Krimis ab. Doch auf den großen, den Moloch in seiner Gesamtheit abbildende Roman müssen wir weiter warten. Denn das Gebilde, dessen Initialien N.Y. Millionen Menschen rund um den Globus auf T-Shirts und Baseball-Kappen zur Schau tragen, zerfällt auch hundert Jahre, nachdem es 1898 durch die Eingemeindung von 40 Städten und Dörfern zu "Greater New York" erklärt wurde, in viele "Städte" in der Stadt.

Dieses Phänomen schlägt sich besonders in Büchern von Schriftstellern nieder, deren Eltern nicht zwischen Hudson und East River geboren wurden, die vielmehr aus fernen Ländern ins Zentrum der Neuen Welt kamen und sich mit Menschen gleicher Herkunft in Viertel zurückzogen, die Sicherheit versprachen und ein wenig Heimatersatz.

Zu Beginn unseres Jahrhunderts etwa war die Lower East Side die Enklave jüdischer Einwanderer. Damals zuckelte der Milchmann noch mit dem Pferdewagen durch die Kopfsteingassen, die Gaslaternen wurden von Hand entzündet. Vom Heranwachsen des sechsjährigen David Schearl in der engen, miefigen Welt dieses Viertels erzählt der galizische Jude Henry Roth (1906-1995) in "Nenn es Schlaf", seinem wiederentdeckten Klassiker. 1934 im Original erschienen, liegt das literarische Dokument über eine verlorene Welt, das in einer durch Joyce inspirierten Sprache trickreich Jiddisch, Amerikanisch und Slang mischt, endlich in einer angemessenen Übersetzung vor.

Westwärts, Richtung Hudson River, liegen die bis heute von Künstlern okkupierten Straßenzügen, die der aus Kansas stammende Ed Sanders, Jahrgang 1939, in "Die Freaks von Greenwich Village" beleuchtet. Die leicht sentimentalen Geschichten aus der Trilogie "Tales of Beatnik Glory" erzählen, wie hier Ende der 50er Jahre Dichter, Maler und Musiker den verkifften Traum von freier Liebe, Revolution und privatem Glück träumen, und sie machen die von der Beatbewegung ausgelösten sozialen Erregungen sichtbar.

Die harte Realität der Arbeiterwelt führt uns der 35jährige Thomas Kelly in "Boomtown Blues" vor Augen. Das Debüt des irischstämmigen Autors beschreibt die dunkle Welt der kilometerlangen Tunnelanlagen 80 Stockwerke unter der Upper Westside. Hier geraten die ungleichen Brüder Paddy und Billy Adare in einen erbarmungslosen Kampf um Macht und Würde, den die florierende Bautätigkeit Mitte der 80er Jahre auslöste und an dem skrupellose Unternehmer und zu allem entschlossene Gewerkschafter ebenso beteiligt sind wie das FBI und bezahlte Killer.

Noch härter geht's uptown zu, in "Spidertown". Mit Miguel, einem 16jährigen Drogenkurier, der aus der Szene aussteigen will, durchstreift der Autor Abraham Rodriguez Jr. ein verkommenes Areal, in dem Crack wie Obst gehandelt wird und minderjährige Mädchen ihren Körper verkaufen. Der 37jährige, der in der South Bronx als Sohn puertoricanischer Einwanderer aufwuchs, münzt in seinem ersten Roman, geschrieben 1993, Ghettojargon 1:1 in Literatur um und räumt auch auf mit dem Mythos vom "Schmelztiegel, in dem wir uns alle mischen". Aus der Sicht der Latinos sieht es nämlich so aus, daß "in Wahrheit der weiße Rahm nach oben steigt und alle anderen nach unten rieseln wie Kaffeesatz".

Diese Einsicht gilt auch für die Schwarzen, die sich nördlich der 110. Straße ihr Revier gesucht haben. Dieses Noir York ist ein Fall für Krimiautor Chester Himes (1909-1984). Ende der 50er Jahre ersann er im fernen Paris das Polizisten-Duo Coffin Ed Johnson und Grave Digger Jones, das mit Revolvern, Fäusten und Grips die Gewalt in Harlem zu kontrollieren versucht. Die neuübersetzen Krimis "Der Traum vom großen Geld" und "Lauf Mann, lauf!" zeugen von Himes' Talent, pralle Geschichten aus dem Umstand zu destillieren, daß mancherorts die Hautfarbe das Leben diktiert.

Glaubt man Matt Ruff, spielen Pigmente in einem Vierteljahrhundert keine Rolle mehr. Dann füllen den Platz der Afroamerikaner, die eine Epidemie dezimiert hat, "Elektor-Neger" aus. Nicht nur in dieser Hinsicht ist das Bild von Manhattan im Jahr 2023, das der 33jährige Autor in "G.A.S. ? Die Trilogie der Stadtwerke" entwirft, ziemlich überdreht.

Das Fehlen des definitiven Brooklyn-Romans läßt sich damit erklären, daß den Stadtteil zwischen Manhattan und Long Island 60 verschiedene Ethnien bevölkern. Seit beinahe 20 Jahren lebt hier Paul Auster, der sich mit den Filmen "Smoke" und "Blue in the Face" als Chronist des Brooklyner Alltags betätigt hat. Auf der Grundlage seines schriftstellerischem Werkes haben Essayist Gérard de Cortanze und Fotograf James Rudnick den ansprechenden Bildband "Paul Austers New York" gestaltet. Allerdings fehlt den stimmungsvollen Aufnahmen das Magische, das New York ausmacht, die harten Kontraste, die man aus Filmen der Schwarzen Serie kennt.

Aus: "Changing New York", Bernice Abbott

Vielleicht ist New York in Wahrheit ja auch gar keine bunte Stadt, sondern eine in den Farben von Rahm und Kaffeesatz. Gab zu dieser Vermutung schon Woody Allens gefilmte Liebeserklärung "Manhattan" Anlaß, so untermauert sie nun Berenice Abbotts herausragende Fotodokumentation "Changing New York". Im selben Jahr wie "Greater New York" geboren, hat die Man-Ray-Schülerin zwischen 1935 und 1939 in mehreren hundert Bildern den Wandel der Metropole während der Depression abgelichtet. Obwohl ihr Objektiv vornehmlich auf Architektur gerichtet war, ist in ihren Fotos stets auch das Leben in den Straßen präsent. Menschenmassen und einsame Kinder. Licht und Schatten. Kontraste. Das weniger Ansehnliche freilich, das Simic neben dem Überwältigendem sofort gesehen hat, ist etwas unterbelichtet.

© 1999 by Reinhard Helling