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neuen Existenzweise, die ihm hartes Schicksal, Vereinsamung, scheinbare Erfolglosigkeit und Leiden einbringt. Mit seiner Theorie eines "dritten Geschlechts" (1864) läutet er eine geistige Wende ein. Demnach versteht er als "Urning" einen Menschen mit männlichem Körper und weiblicher Seele, der zudem Männer liebt. Als sich Ulrichs schützend vor dem bereits erwähnten "Urning" Johann Baptist von Schweitzer stellt, zeigen sich Friedrich Engels und Karl Marx sichtlich kompromittiert. Beide sehen sich veranlasst, gravierende homophobe Äußerungen schriftlich zu diesem Fall zu fixieren. So schreibt Friedrich Engels am 22. Juni 1869 aus Manchester an Karl Marx: "Das ist ja ein ganz kurioser 'Urning', den Du mir da geschickt hast. Das sind ja äußerst widernatürliche Enthüllungen. Die Päderasten fangen an, sich zu zählen und finden, daß sie eine Macht im Staat bilden. Nur die Organisation fehlte, aber hiernach scheint sie bereits im geheimen zu bestehen. Und da sie ja in allen alten und selbst neuen Parteien, von (Johannes) Rösing bis Schweitzer, so bedeutende Männer zählen, kann ihnen der Sieg nicht ausbleiben. 'Guerre aux cons, paix aux trous-de-cul' (Krieg den Fotzen, Friede den Arschlöchern) wird es jetzt heißen. Es ist nur ein Glück, daß wir persönlich zu alt sind, als daß wir noch beim Sieg dieser Partei fürchten müßten, den Siegern körperlich Tribut zahlen zu müssen. Aber die junge Generation! Übrigens auch nur in Deutschland möglich, daß so ein Bursche auftritt, die Schweinerei in eine Theorie umsetzt und einladet: introite (Tretet ein) usw. Leider hat er noch nicht die Courage, sich offen als 'Das' zu bekennen, und muß noch immer coram publico 'von vorn', wenn auch nicht 'von vorhinein', wie er aus Versehen einmal sagt, operieren. Aber warte erst, bis das neue norddeutsche Strafgesetz die droits du cul (Rechte des Arsches) anerkannt hat, da wird er ganz anders kommen. Uns armen Leuten von vorn, mit unsrer kindischen Neigung für Weiber, wird es dann schlecht genug gehen. Wenn der Schweitzer zu etwas zu brauchen wäre, so wäre es, diesem sonderbaren Biedermann die Personalien über die hohen und höchsten Päderasten abzulocken, was ihm als Geistesverwandten gewiß nicht schwer wäre." Gerade in diesem Zitat wird aufschlussreich der Modus der zeitgenössischen Homophobie luzide: Die immer gleichen Stereotypen wie "Wider die Natur", "Päderast", "Knabenschänder" etc. werden bemüht. Opfer werden zu Tätern und Täter werden zu Opfern stilisiert. Depravierende Vokabeln zeitigen sich als Stigmen einer unsensiblen Nomenklatur seitens Intellektueller wie Marx und Engels. Spott und Verfolgung zeigen sich aber auch im Gewand der (Medizin-)Wissenschaft. Volkmar Sigusch macht als anonymen Kritiker und Verfolger Ulrichs den Würzburger Medizinprofessor Alois Geigel (1829-1887) aus. Dieser erkennt Karl Heinrich Ulrichs "mehr als gewöhnlichen Muth" an, "die Vertheidigung und Rechtfertigung, die Ehrenerklärung und Reinsprechung der Paederastie" zu apostrophieren, "etwas bis dahin Unerhörtes", welches "der Eine frevelhafteste Tollkühnheit, ein Anderer grenzenlose Schamlosigkeit, ein Dritter lächerlichen Wahnwitz heissen, Alle aber als ein höchst inopportunes Monstrum menschlicher Verirrung betrachten werden". Nun gipfelt diese Verstiegenheit aber darin, dass "Herr Ulrichs", dieser "Anwalt urnischer Liebe", "im Verlaufe seiner rasch einander folgenden Abhandlungen immer kühner und siegesgewisser auftritt, zuletzt seine Anonymität von sich wirft und sich als den ritterlichen Verfechter bedrängter Unschuld in die Schranken stellt". Es gehört zu den Prophetenschicksalen, zum Schweigen gebracht zu werden, Verbannung, Exil oder den Tod zu erleiden. Geigel antizipiert das spätere Geschick Ulrichs mit folgender Tirade: "Verschwinden Sie! Kaufen Sie sich gefälligst mit ihren 25000 Urningen am Nordpol an, aber verschonen Sie gütigst unsere deutsche Erde mit Ihrer Gegenwart!"

Zur "vieltausendköpfigen Hydra" gehört auch das Wort der Bibel und die kirchliche Tradition. Karl Heinrich Ulrichs setzt sich in verschiedenen Schriften damit auseinander. 150 Jahre seiner Zeit voraus diskutiert er die Frage, inwiefern die katholische Kirche die schöpferische Potenz besitzen könnte, für neue Liebesbündnisse und Partnerschaften innovative (sakramentale, rituelle) Formen zu kreieren wie bereits beim Eheinstitut. Ruft man sich die irrationalen und weitgehend populistisch ausgetragenen Proteste gegen die juristische Anerkennung nichttraditioneller Lebensgemeinschaften ins Gedächtnis, mit welchen die deutschen katholischen Bischöfe vor der Bundestagswahl des Jahres 1998 und im Frühjahr 1999 eine Art von "geistiger Brandstiftung" auf gesellschaftlichem Terrain neu entfachten, liest sich Ulrichs' an die christlichen Kirchen gerichtetes "Begehren" im Jahre 1870 vergleichsweise klug und modern: Dem Urning und seinem Partner soll die Möglichkeit eingeräumt werden, im Beisein von zwei Zeugen vor den Altar zu treten und vor dem kirchlichen Vertreter zu erklären, "daß sie hiedurch mit einander ein Liebesbündniß eingehn, unter dem Gelübniß ehelicher Treue". Diese Bündnisse seien "als rechtmäßige und sanctionirte anzuerkennen" und selbstverständlich auch Frauen und Zwittern (Transsexuellen) zu gewähren. Ulrichs forciert den Wert der Toleranz zu einer Zeit, als die Kirchen nicht nur der Tendenz nach antisemitisch dachten und mitunter agierten. Er weiß klarsichtig, wer der besonderen Protektion bedarf, die

"vergewaltigten oder geschmähten: mögen sie heißen Pole, Hannoveraner, Jude, Katholik, oder sei es ein unschuldiges Geschöpf, das den Leuten 'anrüchig' ist, weil es so sittenlos war, außerehelich geboren zu werden, wie wir ja so unsittlich waren, mit der Urningsnatur ausgestattet geboren zu werden, oder mag es eine arme 'Gefallene' sein, die der hochsittliche Barbarismus des 19. Jahrhunderts zu Acten der Verzweiflung treibt, zu Kindsmord, Fruchttreibung, wohl gar zu Selbstmord. Wir, die wir wissen, wie es thut, vergewaltigt und gemartert zu werden: wir können so recht von Herzen die Partei jener ergreifen, die wir in ähnlicher Lage erblicken. Naturgemäß sympathisiren wir demnach mit einer Rückziehung des Arms der Gewalt von Polen und Hannover (...) Neben dem Juden stehn wir, sobald ein Übermüthiger Katholik ihn beschimpft, neben dem Katholiken (Ich bin nicht etwa selber Katholik), sobald ein intoleranter Liberaler ihn um seines Glaubens willen schmäht".

Ulrichs religiöse Wurzeln gründen im evangelisch-lutherischen Bekenntnis. Seine Mutter Elise Heinrichs ist die Tochter eines Superintendenten, seine Verwandtschaft besteht aus einer Unzahl von Pastoren und Kirchenbeamten. Und selbst im italienischen Exil, in Aquila (Abruzzen), existiert eine evangelisch-lutherische Kirchengemeinde in unmittelbarer Nähe des großen Stadtplatzes. Die Inhalte der Bibel und ihre traditionelle Exegese kennt er sui generis. Deshalb markiert er bereits als Mitglied des "Freien Deutschen Hochstifts für Wissenschaften, Künste und allgemeine Bildung", gegründet 1859 in Frankfurt am Main, mit seiner Eingabe "Animalischer Magnetismus" vom 19. Februar 1861 die Differenzen seiner Erkenntnisse zu homophoben Zitaten der Bibel. In diesem fünfseitigen, großformatigen, mit der Hand geschriebenen autobiographischen Text schreibt er: "Obgleich der Arzt, der Anthropolog u(nd) Physiolog, der Jurist, der Psycholog, u(nd) der Moralist hier ein ganz neues Feld beackern könnten", hat sich die Wissenschaft "nicht die allergeringste Mühe gegeben, seine Natur zu erforschen". Sie hat die Theorie vom animalischen Magnetismus und die damit verbundene Legitimierung mannmännlicher Liebe "einfach mit Verabscheuung u(nd) Hohn ignoriren oder wegwerfen zu sollen geglaubt", motiviert durch "Übelverstandne Bibelstellen" und durch "Gesetze, deren sittliche Bedeut(un)g auf einer Stufe steht mit den Hexengesetzen u(nd) Ketzergesetzen des Mittelalters". Eine solche "Behandlungsweise von Seiten des rohen Haufens" ist "verzeihlich, die von Seiten der Wissenschaft nicht". Auch hier deckt er als prophetische Persönlichkeit in den Bereichen des Religiösen, des Sozialen und der Politik die Fehlhaltungen, die Scheinwahrheiten der herrschenden heterosexuellen Majorität und das Abweichen von integrer Bibelexegese durch Anklage auf und macht das tödlich Bedrohliche der Situation Homosexueller bewusst. Es handelt sich um eine manifeste Sozial- und Wissenschaftskritik, resultierend aus seiner rational ins Bewusstsein gehobenen persönlichen Verfassung als Sexualsubjekt. Er publiziert als Erster eine moderne Theorie der Homosexualität und typologisiert den Urning als originäres, natürliches und gesundes Geschlechts-Subjekt, bevor die sakrosankt-geglaubte Wissenschaft diesen in unserer Gesellschaft für ein Jahrhundert als Kranken scientifisch zu erfassen versucht. Coram publico führt Karl Heinrich Ulrichs die Uranität als neue Wahrnehmungs-, Distinktions- und Existenzweise den Zeitgenossen vor Augen. Gegenüber seinen traditionell kirchenverbundenen Verwandten plädiert er in Briefen, 1862 in Frankfurt verfasst und abgesendet, mit Freimut für seine Liebe und erklärt seine Motivation: "Ich glaube nämlich die Veröffentlichung meinen armen, nach meinem Standpunkt schuldlos verfolgten Schicksalsgenossen schuldig zu sein." Er fühlt sich zudem herausgefordert, "endlich einmal offen mit einer Rechtfertigung meiner selbst hervorzutreten gegenüber all' den Demütigungen, die man mir bisher auferlegt hat und denen ich irgend etwas anderes nicht entgegenzusetzen weiss."

In der Auseinandersetzung Ulrichs mit der Bibel und dem Uranismus bemerkt er in einer handschriftlichen Randglosse zum Brief von Carl Robert Egells vom 30. Januar 1878 in seinem Handexemplar auf Seite 30 des Uranos, einer von ihm geplanten und nicht satztechnisch realisierten Zeitschrift vom 1. Janauar 1870:

"Denn seine (d. h. des Paulus; 1 Kor 6,9 und weitere Stellen) Meinung war contra (sc. Homosexualität/Uranismus); das ist ganz klar. Ich sage vielmehr so: 'Des Apostels Verdammungsurtheil über die thatsächlich vorkommende Liebe zwischen Männern (ursprüngliche Formulierung: gegen Urningsliebe) kann für den gebornen U(rnin)g nicht bindend sein (hinzugefügt auf S. 30: ja es ist für ihn gar nicht ausgesprochen), weil es ausdrücklich auf die Voraussetzung aufgebaut ist, wer Männer liebe, habe naturalem usum feminae verlassen. Die Voraussetzung ist also eine irrige, d.i. a) ihm sei der Gebrauch des Weibes der natürliche, b) er habe denselben verlassen. Beides aber ist beim gebornen U(rnin)g unrichtig. Geborne U(rnin)ge kannte der Apostel nicht. Alle Männer hielt er für weibliebend erschaffen, d(as) i(st) für D(ionin)ge. Er befand sich in naturwissenschaftlichem Irrthum. Für die Liebesacte geborner U(rnin)ge hat er ein (korrigiert aus: sein) Verdammungsurtheil also in Wahrheit gar nicht ausgesprochen.'"

Ein Gleichnis-Zitat münzt der im Exil weilende auf seine Situation um, in welchem noch einmal sein Sendungsbewusstsein zur Sprache kommt:

"Meine Anstrengungen verliefen im Sande. Doch das eine kann ich sagen: Ich habe die Samenkörner ausgestreut. Sie fielen auf Steine oder unter Dornen, eines aber fiel in ein menschliches Herz. Dieses hat einen Keim hervorgebracht, der erblühte und jetzt in voller Kraft steht. (...) Und ich sage dem Allerhöchsten Dank, daß er mich diesen Tag noch erleben ließ, an dem ich die Süße dieses späten Trostes schmecken darf. (...) Wenn sich nun endlich gerechtes Denken erhebt, ist das nicht einem Frühling gleich? Und spricht nicht zuweilen ein Gott selbst durch den Geringsten unter den Menschen?"

Es ist die letzte Stellungnahme Karl Heinrich Ulrichs zur mannmännlichen Liebe, sein Vermächtnis.

3. Die wuthblickende Hydra

Ins Angesicht widersteht Ulrichs corporaliter nur ein einziges Mal der allzu lang schon ihr Unwesen treibenden Hydra am 29. August 1867 vor dem Forum des Sechsten Deutschen Juristentages im Odeonssaal zu München. Seine materiell und formell vorgetragene Rechtsverwahrung erntet, nach eigener Darstellung, noch vor ihrer eigentlichen Be­endigung Zeichen des Staunens, des Spottes, tobenden Lärm, heftige Unterbrechungen, ungemeine Aufregung und Schlussrufe. Nicht nur diese bittere Erfahrung fesselt ihn fortan an den Schreibtisch. Er verfasst Schriften, wie bereits in den Jahren zuvor, weil er an einen langfristigen Erfolg glaubt:

"Und -- gerade das wichtigste aus meinem Protest ist doch ausgesprochen! Es ist damit endlich einmal, offen und laut, Zeugniß abgelegt worden für der urnischen Liebe zertretenes Recht, abgelegt vor Männern des Rechts, vor einer angesehenen Versammlung, gleichsam einer Vertretung ganz Deutschland's. Denselben ist mindestens Stoff zum Nachdenken gegeben. Und dieses Nachdenken: es wird, es muß, mindestens bei einer Anzahl, fruchtbringend wirken. Wir haben uns ermannt! Von nun an werden wir unsren Verfolgern Aug' in Auge gegenüberstehn. Wir halten ihnen Stand. Wir wollen nicht länger verfolgt sein! Wir wollen uns nicht mehr verfolgen lassen. Wir wollen nicht!"

Einige seiner Werke sorgen auch in den USA für Furore und bilden auch in der Folgezeit ihren Niederschlag in Monographien von J. H. Mackay, K. M. Kertbeny und beim Vater der amerikanischen homophilen Literatur E. P. Stevenson. Neben dieser literargeschichtlichen Nachhaltigkeit seiner Schriften stehen seine Gedichte, mit denen er sich 1875 an die öffentlichkeit wendet. Er ediert Auf Bienchens Flügeln und Apicula Latina sowie weitere Kurzgeschichten. In ihnen beweint er einen zerstörten, einen verlorenen Ort der Urninge. Dabei kommunizieren seine Verse anders als der gesellschaftliche Diskurs. Die Verse drücken einen Mangel aus, Konkretionen einer zerstörten Heimat. Aber gerade die Zerstörung (als Resultat gesellschaftlich-verankerter Homophobie) bildet die Voraussetzung des Gedichts. Die subversive Kraft drückt sich im Mangel aus. Dem Mangel abzuhelfen, ist nicht der ästhetische Gegenstand eines Poems, sondern bleibt ein gesellschaftliches Postulat. Im Gedicht "Antinous" vom 8. Dezember 1863 wird an Mangel und Sehnsucht erinnert, so in den Schlussversen:

"Als des jammernden Herz unsägliches Wehe verzehrte,
Schufen, jetzt sich erbarmend, an Uranos blauen Gefilden,
Neben dem weißen Strom, der durch die Welten sich windet,
Ihm zum Trost ein Gestirn, 'Antinous' heißt es, die Götter.
Daß, wenn Gemmen und Tempel zerstört und Bilder von Marmor,
Die die trauernde Liebe dem Liebling klagend errichtet,
Noch sein strahlendes Bild von des Himmels Höhen herabschaut:
Unsrem Geschlecht eine Sprache, die, einstige Wonne verkündend,
Sehnsucht lindert und weckt, uranischer Liebe ein Zeugniß,
Bis die Erde vergeht und bis die Gestirne erbleichen."

Bis ans Ende der Geschichte erinnert der Stern an die einstige Wonne der mannmännlichen Liebe. Ein vorhandener Mangel wird empfunden; es fehlt etwas, das der Ergänzung bedarf! Es bleiben Wünsche in der Kunst übrig: das Unverfügbare. Aus der Not, nicht aus der Neigung, entstehen diese Gedichte. Ulrichs möchte sich mit dem "Anderen" austauschen, was bleibt ist Dichtung als sekundäre Rede. Dabei erweisen sich die sprachlichen Parameter als Maßstäbe der heterosexuellen (dionischen) Majorität. Solche Rhetorik deutet er als "Fremdsprache". Daher spricht er "dilettantisch" in abgründig-aktuellen Abhandlungen von seinen existentiellen Erfahrungen. Die Fachwissenschaftler seiner Zeit nehmen ihn keineswegs ernst. Die Zerstörungskraft des gesellschaftlichen Prozesses erweist sich in der Marginalisierung der Unterdrückung von Homosexuellen und deren literarischen Expressionen.

Hingegen schlägt das heutige Literaturpendel in die andere Richtung aus -- ein Problem jeglicher nachholender Entwicklung: Forciert werden neue, juristische, politische Formen, welche noch erfunden und entwickelt werden sollen. Es besteht die Tendenz, die Kunst zu disziplinieren im Sinne von mehr Anpassung und Konformität. Dazu gesellt sich eine Affinität zur Selbstverklärung; Unverständlichkeit in den Texten wird agitativ bekämpft. Solche nachfolgende Entwicklung ebnet alles ein, nivelliert und generalisiert. Schwule Leser haben ein Unglücksverbot über die Literatur verhängt. Soweit und darüber hinaus erklären sich diese Phänomene als Ergebnis einer nach wie vor allgegenwärtigen Homophobie. Hinzu tritt der Versuch der Abweisung der Weiblichkeit in der gegenwärtigen Homosexuellen-Kultur: "Tunten zwecklos". Der Schwule imitiert das Verhalten seiner Verächter, er schätzt das Weibliche gering und auch die eigenen femininen Anteile. Das "Eigene" erfährt kein Ansehen - eine Erfahrung der Außenseiter überall rund um den Globus. Der Homosexuelle macht sich vorzeigbar, männliche Typologisierung sedimentiert sich in der Schwulenliteratur. Eine eigene Haltung zum mannmännlichen, urnischen Begehren etabliert Karl Heinrich Ulrichs. Er wandelt das eigene Selbst- und So-Sein in Sinn um, thematisiert das Faszinosum der homosexuellen Weiblichkeit, indem er den Hermaphroditen als das Urbild des Menschen näher erläutert, wertet positiv und selbstbewusst die vielgestaltige Form des Urnings, erkennt in den Ursprungsmythen eine Verhinderung von einstmals glücklichem Leben, hält die Sehnsucht nach dem "anderen" Leben wach, integriert die notierten Widersprüche und nimmt das Kunstwerk als das "Andere" für notwendig und berechtigt wahr. Die Autonomie seines Kunstwerks versteht sich als formgewordene Sehnsucht, als Kraft der Ermöglichung. Im Gedicht "Was ich mir wähle. Ein Glaubensbekenntniß" verdeutlichen sich die vorgetragenen Gedanken:

"Ich auch glaubte dereinst an der Gottheit Arm und Vergeltung.
Süßer Betrug. Rechtlos, so will es ein düstres Verhängniß,
Siegt die Gewalt. Wo sind Zeus' rächende Blitze? Des Schicksals
Mächte verriethen das Recht. In die Winde verhallen die Seufzer.
Harre du nicht. Laß flammen das Herz. Zorn lindre den Zorn dir.
Schließe dich an der Gewalt. Keck spanne dich vorn an den Wagen
Jedes Triumphs; und bequem lustwandelst du unter dem Monde.
Nenne Gewalt 'Fortschritt', 'freisinnig' die harte Gewaltthat;
Höhne das Recht und belächle das Wort der veralteten Treue;
Spotte du über den Schmerz, den blutende Herzen empfinden.
Schreckt abseits von der Bahn, da du gehst, dir plötzlich ein Ächzen
Oder ein Seufzen das Ohr, dann ahme du nach den Gestalten,
welche ein Künstler erschuf aus Marmorblöcken von Paros.
Mich durchfröstelt der Sieg der Gewalt und der eisernen Schwerter
über das Recht. Kalt wend ich mich ab von der Fahne des Siegers.
Was ich mir wähle? Den Platz an der Seite der niedergedrückten,
Dich, o Gefühl für Recht, und die Thröne des süßen Erbarmens."

Nach seinem Ausscheiden Ende des Jahres 1854 aus dem "öffentlichen Dienst" als Amtsassessor im Königreich Hannover, wegen "Erregung öffentlichen ärgernisses", folgen Jahre der Wanderschaft mit längeren Aufenthalten in Frankfurt, Würzburg und Stuttgart. Zu einem gesicherten Einkommen bringt Ulrichs es nicht mehr. 1880 verlässt er Deutschland und verbringt die letzten fünfzehn Jahre seines Lebens in Italien. Nach einigen Jahren in Neapel zieht Ulrichs wegen des Klimas nach Aquila in den Abruzzen. "Exul et pauper", im Exil und arm, so sein Grabstein auf dem Friedhof von Aquila degli Abruzzi, lebt er fortan. Es wird still um ihn und auch die Exilserfahrung bleibt ihm keineswegs erspart. Karl Heinrich Ulrichs stirbt am 14. Juli 1895. Sein Grab befindet sich neben der Familien-Grabkapelle seines Förderers, des Marchese Niccolo Persichetti. Magnus Hirschfeld veröffentlicht 1898 eine Neuausgabe der Forschungen über das Räthsel der mannmänlichen Liebe. Sein Vorwort schließt mit der Sentenz: "Wenn einst die Nachwelt die Urningsverfolgungen in jenes traurige Kapitel eingereiht haben wird, in welchem die übrigen Verfolgungen andersgläubiger und andersgearteter Mitmenschen verzeichnet sind -- und dass das kommen wird, ist über jeden Zweifel erhaben -- dann wird der Name Karl Heinrich Ulrichs unvergessen dastehen als einer der ersten und edelsten, die in diesem Felde der Wahrheit und Nächstenliebe zu ihrem Recht zu verhelfen, mit Mut und Kraft bemüht gewesen sind."

Der Autor, Martin Hüttinger, ist katholischer Diplomtheologe und lebt und arbeitet in München. Sein Beitrag über Karl Heinrich Ulrichs erscheint in Heft 4/2000 der Zeitschrift Werkstatt Schwule Theologie. Nähere Infos unter
http://www.people.freenet.de/abb/WeSTh_Web_WeSTh.htm

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