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Martin Hüttinger

Karl Heinrich Ulrichs: "entgegenzutreten einer tausendjährigen, vieltausendköpfigen, wuthblickenden Hydra"

Am 28. August 2000 jährte sich der Geburtstag der prophetischen Persönlichkeit Karl Heinrich Ulrichs zum 175. Mal. Die Zahl 175 ist von besonderer Symbolik: Ulrichs hat für die Abschaffung aller gegen Homosexuelle ("Urninge") gerichteten Strafrechtsbestimmungen gekämpft. Er hat sein Ziel damals nicht erreicht. Statt dessen kam mit der Reichseinheit 1871 der § 175, der erst 1994 (99 Jahre nach seinem Tod) aus dem StGB gestrichen wurde. Die bayerische Landeshauptstadt ehrte seine Person 1998 mit der Namensgebung eines Platzes. In der amtlichen Namenserläuterung erhalten wir einen ersten biographischen Einblick und seine Verbindung zu München: "Karl Heinrich Ulrichs, geb. 28.8.1825 auf Gut Westerfeld bei Aurich in Ostfriesland, gest. 14.7.1895 in Aquila (Italien). Jurist, Publizist, Schriftsteller. Mit seinem öffentlichen Eintreten für die reichseinheitliche Straffreiheit gleichgeschlechtlicher Beziehungen beim Deutschen Juristentag 1867 in München trug er wesentlich zur rechtlichen und gesellschaftlichen Gleichstellung Homosexueller bei."

Aus diesem Anlass veranstaltete das Münchner Ulrichs Comite in Zusammenarbeit mit dem Forum Homosexualität und Geschichte e.V., Rosa Liste e.V. und SUB e.V. eine Vortragsreihe ("Die Geschichte der Homosexualitäten und die schwule Identität an der Jahrtausendwende") vom 6. Juli bis 14. September 2000 mit renommierten Referenten wie Gert Hekma, Volkmar Sigusch, Bernd-Ulrich Hergemöller, Dirck Linck, Jürg Hutter, Michael Lombardi-Nash, Bert Thinius und Martin Dannecker. In diesem Beitrag zum Thema "Homophobie" soll es nicht um eine Paraphrasierung der Gedanken aller Referenten gehen, sondern vielmehr um eine theologische Auseinandersetzung der vorgetragenen wissenschaftlichen Erträge zur Person Karl Heinrich Ulrichs. Dabei wird zu zeigen sein, dass er nach biblischem Befund die mehr als unangenehme Aufgabe einer prophetischen Existenz durchlebt und durchleidet: "Geh und sag diesem Volk: Hören sollt ihr, hören, aber nicht verstehen. Sehen sollt ihr, sehen, aber nicht erkennen. Verhärte das Herz dieses Volkes, verstopf ihm die Ohren, verkleb ihm die Augen, damit es mit seinen Augen nicht sieht und mit seinen Ohren nicht hört, damit sein Herz nicht zur Einsicht kommt und sich nicht bekehrt und nicht geheilt wird." (Jes 6, 9f.) Treffend kennzeichnet Ulrichs die abendländische Homophobie als "tausendjährig", "vieltausendköpfig" und "wuthblickend".

1. Die tausendjährige Hydra

Karl Heinrich Ulrichs ist in seinem Kampf der "Urninge" mit der Absicht angetreten, die Identität des eigenen Geschlechts durch historische Untersuchungen zu charakterisieren, zu individualisieren und zu subjektivieren. Insbesondere widerlegt er durch biographische Mitteilungen über Regenten, prominente Künstler und Literaten die Vorurteile der Mediziner, Psychiater und des sogenannten "gesunden Volksempfindens", gleichgeschlechtlich Empfindende und Liebende seien als geistig krank, körperlich defizient und sozial schädlich zu deklassifizieren und zu depravieren. Michel Foucault kennzeichnet die unheilvolle Entwicklung eben genannter Pathologisierung als "Einpflanzung von Perversionen". Ohne die gesamten historiographischen Befunde zu bemühen, resümiert Foucault diese tausendjährige Hydra: "Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts haben -- neben den Sittenvorschriften und Meinungszwängen -- drei große explizite Codes die sexuellen Praktiken beherrscht: kanonisches Recht, christliche Pastoraltheologie und Zivilrecht. Jedes von ihnen bestimmte auf seine Weise die Scheidung in Erlaubtes und Verbotenes."

Bereits Marquis de Sade (1740-1814), ein gegenaufklärerischer Apologet homosexueller Beziehungen und Praktiken, ist gleichermaßen mit Frauen und Männern sexuell aktiv und propagiert Sodomie und Inzest. 1773 wird er, auf Grund einer Orgie mit seinem Diener und einer Hure, in Marseille in Abwesenheit zum Tode verurteilt. Der ihm mitgeteilte Bericht über seine Verurteilung zum Tode bringt Sade, nach eigener Darstellung, zur Ejakulation. In seiner Existenz wendet sich Sade vor Karl Heinrich Ulrichs bewusst gegen herkömmliche traditionelle Positionen. Er ironisiert durch exzentrische homosexuelle Akte die herrschende Heterosexualität und wendet sich gegen die Onaniedebatte der Aufklärung. Sades Sexualität konterkariert die Geschlechterutopie: Männlichkeit bzw. Weiblichkeit interessieren ihn wenig ("transgender"). Zur christlichen Moral verhält er sich indifferent; die Neigung zur Sodomie als Form humaner physischer Veranlagung konstatiert er von Kindesbeinen an. Für ihn bestimmt die soziale Kultur in erster Linie das Sexualverhalten der Majorität, nicht die Natur. Seine Theorie des Verlangens ist "queer": Alle sexuellen Veranlagungen sind spezifisch und vielfältig. Sexuelle Kommunikation gehorcht dem Prinzip der Neugierde; eine Dichotomie gibt es nur, weil es zu wenig Experimente gibt; die Terminologie "homo" und "hetero" ist viel zu allgemein. Ein menschlicher Ehrencode im Sinne der bürgerlichen Gesellschaft oder der kirchlichen Moral existiert für ihn nicht, wohingegen er das Lustprinzip und den Lustgewinn präferiert. Sexualität per se meint keine private, sondern generell eine öffentliche Angelegenheit. Denn schon die sexuellen Phantasien und Sehnsüchte sprengen jegliche Privatsphäre. Sade verteidigt auch den Sex gegenüber der Liebe als gleichberechtigt. Für die monogame Lebensform sieht er keine Zukunft. Marquis de Sade wird gegenüber einer Phalanx gegengeschlechtlicher Sexualität und dem bourgoisen Eheinstitut zum Vordenker und Verfechter anderer sexueller Präferenzen und Lebensstile und zum erklärten Gegner einer abendländisch-gesellschaftlich verankerten Homophobie. Verurteilt zu einem lebenslangen Aufenthalt stirbt er 1814 in einer Irrenanstalt.

Was Michel Foucault als "Infame" gegenüber "Dispositiven der Macht" zu charakterisieren versucht, verstanden als Existenzen im Widerstreit mit gesellschaftlichen Machtstrukturen, nenne ich im Blick auf Karl Heinrich Ulrichs "Propheten". Die Parallelisierung mit alttestamentlichen nabiim wird sich im Folgenden als richtig und theologisch sinnvoll erweisen. Die weit mehr als ein Jahrtausend dominierende Homophobie lässt sich als andauernde "Krisenzeit" definieren. Krisenzeiten waren schon im alttestamentlichen Israel Zeiten prophetischen Auftretens. Konkret verbindet sich mit der Krisenzeit der Kampf Karl Heinrich Ulrichs gegen den "Urningsparagraphen", der vorerst zum Scheitern verurteilt war. Die kritischen "Verhältnisse", bezeugt im damaligen Protokoll des Münchner WhK, sind schwieriger geworden und die Lage sollte sich noch weiter zuspitzen. 1867 vereinigt das deutsche Territorium einige Staaten ohne einen entsprechenden Urningsparagraphen. Zu ihnen zählt Bayern, das Karl Heinrich Ulrichs 1870 als "Freistatt der Urningsnatur" betitelt. Dort tritt 1813 ein Strafgesetzbuch in Kraft, dessen inhaltlich-juristische Formulierung des Begründers der modernen Strafrechtslehre Paul Johann Anselm von Feuerbach vom französischen Code penal geprägt ist. Die "widernatürliche Lust" wird ausschließlich im Konnex mit offensichtlicher Gewaltanwendung als solche justiziabel und strafrechtlich relevant. Diese "Freistatt der Urningsnatur" soll nach Ulrichs unter keinen Umständen von den "Polypenarmen" des preußischen Paragraphen, der sein "Herrschaftsgebiet" immer weiter ausdehnt, "umarmt werden". Mit der Reichseinheit 1870 kommt es zur Rechtseinheit im Strafrecht. Die Bemühungen Ulrichs erweisen sich als wirkungslos. Als § 175 tritt der preußische Paragraph eine mehr als 120 Jahre andauernde Herrschaft an und kulminiert unter dem Nationalsozialismus mit seiner destruktiven Potenz: Wenige Wochen nach Magnus Hirschfelds Tod verschärfen die Nationalsozialisten diese Fassung. In der nachfolgenden Zeit bedeutet dieses Faktum (oder doch besser: Fatum?) für ungezählte Homosexuelle Gefängnis, Zuchthaus, Konzentrationslager und Tod.

2. Die vieltausendköpfige Hydra

Eo ipso ist es keineswegs statthaft, eine historische Persönlichkeit als "Propheten" zu deklarieren und ekklesial vereinnahmen zu wollen. Vordergründig wäre dies posthum dem "ersten Schwulen der Weltgeschichte" nicht einfachhin anzudichten. Denn eine ausgeprägte kirchliche Verbundenheit Ulrichs lässt sich eben historisch nicht verifizieren. Das jedoch entscheidet schon bei den alttestamentlichen (Schrift-)Propheten keineswegs über deren Legitimation. In aller Regel stehen diese nämlich selbst in Distanz zu Tempelkult, zu religiösem Sicherheits- und Erwählungsdenken, zu traditionellen und gesellschaftlich sanktionierten Riten und Gebräuchen. Einige typische Charakteristika mögen verdeutlichen, weshalb es dennoch theologisch integer ist, von Karl Heinrich Ulrichs als einem modernen Propheten wider jegliche Homophobie zu reden.

Ereignisse der Geschichte werden zu Marksteinen der Prophetie, so der Sechste Deutsche Juristentag in München am 29. August 1867. Ein nicht näher bestimmbares Sendungsbewusstsein ergreift von ihm Besitz, eine Art Berufungserfahrung bzw. -vision, die Ulrichs wie folgt beschreibt:

"Bis an meinen Tod werde ich es mir zum Ruhme anrechnen, daß ich am 29. August 1867 zu München in mir den Muth fand, Aug' in Auge entgegenzutreten einer tausendjährigen, vieltausendköpfigen, wuthblickenden Hydra, welche mich und meine Naturgenossen wahrlich nur zu lange schon mit Gift und Geifer bespritzt hat, viele zum Selbstmord trieb, ihr Lebensglück allen vergiftete. Ja, ich bin stolz, daß ich die Kraft fand, der Hydra der öffentlichen Verachtung einen ersten Lanzenstoß in die Weichen zu versetzen. Was mich noch im letzten Augenblick stärkte, die Rednerbühne des deutschen Juristentages wirklich zu betreten, das war das Bewußtsein, daß in diesem Augenblick aus weiten Fernen meine Naturgenossen auf mich blickten. Ihr Vertrauen auf mich, sollte ich's denn erwiedern mit Feigheit? (...) Dann aber war mir's, als ob eine andere Stimme ihr Flüstern begänne. Das war die Mahnung (...) nicht zu schweigen, und welche in diesem Augenblick, anklingend und laut wiedertönend, mit all' ihrer Kraft mir vor die Seele trat: (...) ich wollte nicht unter die Hand des Todtengräbers kommen, ohne zuvor freimüthig Zeugniß abgelegt zu haben für das unterdrückte Recht angeborner Natur, ohne zuvor, wenn auch mit minderem Ruhm, als einst ein größerer Name, der Freiheit eine Gasse gebrochen zu haben."

Signifikanter sedimentiert sich dieses Erwählungsbewusstsein auf der Titelseite seiner sechsten Schrift Gladius furens mit der Sentenz: "Innere Stimme: 'Rede, rede! oder sei gerichtet.'" Sein leidenschaftliches Plädoyer für die Homosexuellen und seine Agitation gegen vermeintlich sich wissenschaftlich gerierende und gesellschaftlich normierte Homophobie weiß er in unmittelbarer Beziehung zu "Gott". Er ist, neben seiner eigenen Erkenntnis und Selbstvergewisserung, auch der Garant seines Engagements und Auftraggeber seiner Rede:

"Das waren die Gedanken, mit denen ich am 29. August 1867 zu München, im großen Saal des Odeons, vor mehr als 500 deutschen Juristen, darunter deutsche Abgeordnete und ein bayrischer Prinz, mit hoch klopfendem Busen die Stufen der Rednertribüne hinanstieg. Mit Gott!"

Noch ein weiteres Mal bemüht er in dieser Schrift die Vokabel "Gott":

Heraus, ihr Verfolger, zum ehrlichen Kampfe! d.i. zum Kampfe mit Rechtsgründen. Wir wollen euch zeigen, daß wir ein gutes echtes Schwert haben, nämlich unser angebornes Menschenrecht, unser Recht von Gottes Gnaden, und daß wir unsre Klinge auch zu führen verstehn. Laßt sehn, welche von beiden, die unsre oder die eure, an dem Hieb der andren zerspringen wird!

Ulrichs Botschaft eröffnet, darin erweist sie sich als genuin prophetische Rede, einen neuen Horizont aktueller Hoffnung, mit Gott ins Einvernehmen und so zum Sinn der eigenen homosexuellen Existenz innerhalb der Geschichte zu kommen. Seine Worte sind stets auf den Entscheidungscharakter der gegenwärtigen historischen Stunde, auf die konkreten Situationen und die Ereignisse der Wendepunkt-Zeit bezogen. Deutlich zeigt sich dies in seinem öffentlichen Widerspruch, in seiner öffentlichen Anklage, in seinen Streitschriften und Petitionen, in die von ihm eingebrachten Gesetzesvorlagen, in seinem Bestreben nach einer Vernetzung der "Genossen", in seiner Korrespondenz, in seinem Archiv-Aufbau und in seiner Geschichte der Verfolgten. "Er sammelte und archivierte das Gemurmel der Sprachlosen und die Schreie der Absterbenden, bis sich deren Leidenschaften in den ausgespannten Netzen der 'Macht' verfingen. Er setzte gegen die Diskurse der Klage und Anklage, der Bespitzelung und des Verhörs, der Durchleuchtung und Begutachtung eine Rhetorik der selbstgewissen, mit Gott und der Natur sich im Einklang befindlichen eigensinnigen Existenzweise, die nicht jammert, sondern angreift." Ulrichs stellt sich schützend vor Angeklagte wie Verurteilte, zum Beispiel den Frankfurter Johann Baptist von Schweitzer (1833-1875), Präsident des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins und Sozialdemokrat. Den prominenten Denunzianten sendet er eine "Vorladung (...) vor den Leichnam ihres neuesten Opfers, des im Nov. 1869 zu Berlin zum Selbstmord getriebnen preußischen Hauptmanns Frosch" mit der Aufforderung:

"Hieher zur blutigen Leiche! Zittert, ihr Verfolger! Ich, ich erstehe als euer Ankläger; ich fordre euch vors Gericht vor diesem Todten! Euch lade ich vor, die ihr die Verfolgung der Natur gepriesen, die ihr die Abschaffung gehindert habt, euch: Migault zu Bremen, Virchow zu Berlin, Schwarze zu Dresden. Tretet heran! Hier ist ein Todtengericht. Wen trifft die Blutschuld? Sprechet! ich fordre Rechenschaft. Es liegt ein ermordeter hier! Gegen wen schreit sein Blut zum Himmel? Gebt Antwort! Wer sind die Mörder?

Auf solche und andere Weise deckt er die eigentliche, bedrohliche Wirklichkeit der historischen Stunde für Homosexuelle auf.

Karl Heinrich Ulrichs dokumentiert damit ein bewusstes Ja zu seiner

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