Hans B. Wagenseil, Neue Rundschau, 5/1929, S. 717f.: "Virginia Woolf"

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Generation 12: Ende 19. Jahrh./ Beginn 20. Jahrh.
Kurt Wagenseil [K], Hans B. Wagenseil [HB], "Bloomsbury Group"

"Englands schreibende Künstler sind in zwei Heerlager geteilt : die Edwardians, mit den Führern Wells, Bennett und Galsworthy, stellen die alte Garde mit den blanken Gewaffen gutgeschliffener Technik, erprobter Zucht, erprobter Ziele; die Georgians: Forster, Lawrence, Strachey, Joyce, Eliot sind das Rebellenheer, voll unruhvollem Suchen nach Neuem, nach Zukünftigem.

Als es Virginia Woolf zu schreiben drängte, befragte sie mit echt englischer Hochachtung vor der Tradition erst die Edwardians um geistigen Zuspruch und Rat. Deckte sich nicht ihre eigene Auffassung vom Antrieb zu künstlerischem Schaffen völlig mit der Arnold Bennetts, der in einem Aufsatz schrieb: 'Die Grundlage guter Darstellung ist Charaktermalerei und nichts anderes..., nichts ist annähernd so wichtig als die Überzeugungseindringlichkeit der Charaktere.' Virginia Woolf's Bekenntnis lautete gleichsinnig: 'Ich glaube, daß Männer oder Frauen deshalb Romane schreiben, weil irgendein Charakter sie so tief beeindruckt hat, daß sie ihn zu gestalten sich getrieben fühlen.' 'Wie also,' fragt sie bei den Edwardians an, 'wie habe ich es anzustellen, um das einmalige Gesicht, das Wahrhaftige und wirklich Seiende, die flüchtige Eidechse Mensch, um das Lebendige einzufangen?' 'Ist es eine Frau, so beginne damit, daß ihr Vater einen Laden hat in Harrogate. Stelle die Miete fest; stelle fest, welchen Lohn die Ladenangestellten ums Jahr 1878 bezogen. Finde heraus, woran ihre Mutter gestorben ist. Beschreibe Krebs. Beschreibe Kaliko. Beschreibe ...'

Aber schon hört sie nicht mehr hin. 'Was denn ist Wirklichkeit?' wirft sie ein. 'Und wer sind die Richter darüber? Ein Charakter kann für Mr. Bennett völlig wirklich sein und für mich völlig unwirklich. Zum Beispiel erklärt er in seinem Artikel, daß Dr. Watson in Sherlock Holmes für ihn wirklich sei; für mich ist Dr. Watson ein ausgestopfter Strohsack, eine Puppe, eine lächerliche Figur' Und somit beginnt Virginia Woolf nach der eigenen Wirklichkeit zu tasten. Sie, die Enkelin Thackerays und die Tochter des nach klassischer Klarheit strebenden Biographen und Kritikers Sir Leslie Stephen, geht von der impressionistischen Darstellungsart aus, wenn auch ihre ersten Romane noch in Methode und Technik der alten Schule gearbeitet sind. Ihr erstes Buch, das 1915 erscheint: 'The Voyage Out', und der zweite Roman 'Night and Day' (1920 erschienen) haben die Einheit der Person, der Handlung und des Bewußtseins, wie sie die alte Schule beim Roman als selbstverständlich erwartet.

Bild "Virginia Woolf" von Barret Anspach unter Creative-Commons-Lizenz CC BY 2.0 (modifiziert).

Jetzt aber sprengt ihr Wille zur wahren wirklichen Wirklichkeit die überlieferte Romanform. 'Wirklichkeit ist ein Gewebe und ein ewiges Weben; Wirklichkeit ist ein Schleier. Man kann hindurchblicken, dahinterblicken, kann Falten und Figuren aus ihm formen, kann ihn heben, - kann ihn auch zerreißen... Es bedarf nicht des starr gezimmerten Gerüsts. Alles ist Fluß, ist Wechsel, ist ewige Bewegung. Leben ist ewige Bewegung!'

1921 erscheint 'Montag oder Dienstag', Novellen, und 1922 der Roman 'Jacobs Zimmer', der erste Versuch der Darstellung geistiger Koexistenz. Darauf folgen einige Kurzgeschichten ('An Unwritten Novel', 'The Mark on the Wall' und 'Kew Gardens') und 1927 der beste ihrer Erstlingsromane, 'To the Lighthouse'. Der Roman 'Mrs. Dalloway' (deutsch im Insel-Verlag erschienen) stellt einen Tag aus dem Leben einer fünfzigjährigen Frau dar; er ist angefüllt mit den kleinen Handreichungen und Prägungen der Alltäglichkeit, hinter denen sich die wahren Inhalte und Antriebe verbergen. Ein Aeroplan, der über Bond Street hinwegfliegt, ist der geometrische Ort des Geschehens, und im Zickzack funkt die Dichterin in die Bewußtseinsinhalte ihrer Gestalten, fängt das Leben aus dem Glockenschlag von der Turmuhr Westminsters, aus einem fremden Fußgänger, aus einem Sperling. Aber Fußgänger und Sperling sprechen die Sinne an, werden sekundenlang Teil und Inhalt des wirklichen Daseins, Ursache für Freud und Leid.

Soeben erscheint der Roman 'Orlando'. Eine Biographie, - besagt der Untertitel, und das Vorwort nennt in langer Reihe die Namen geistig verantwortlicher Mitarbeiter. Sie sind etwas wie eine Rückversicherung und der Beweis für gewissenhafte Arbeit, soweit der Stoff historischen Stil bedingt. Aber in dem Roman sind Wirklichkeit und Phantastik seltsam ineinander vernietet. Vielleicht ist im Anfang ein Gran zuviel Freude am Kostüm, an Haltung, am optisch Gefälligen. Sehr bald aber wird der Orlando des Buches zur schreitenden Plastik. Wird ein Kavalier Byronschen Geblüts, der englische Gentleman seiner Zeit. Daß nun die Umschaltung erfolgt und der als britischer Gesandter nach Konstantinopel beorderte Orlando seine Weiblichkeit entdeckt und solcherart innerlich und äußerlich gewandelt zurückkehrt, eröffnet der Schriftstellerin alle Möglichkeiten geistvoller Antithese. Wird doch so der Betrachtungswinkel beider Geschlechter in einem Seelenspiegel gefangen, gewogen und zerlegt und mit meisterlicher Einfühlung in den jeweiligen Gefühlsstandard der Zeit hineingedeutet. Mit zauberischem Takt beschwört die Schreiberin Bild und Inhalt der Gezeiten, läßt die Erscheinung sich wandeln und doch die Persönlichkeit ihre wesensgleiche Aufgabe erfüllen, vermummt in die jeweilige Maske ihres Jahrhunderts. Ewige Bewegung und nie endendes Bild : denn Vergangenheit wird Gegenwart, und Gegenwart - kaum daß sie es ist - Vergangenheit. Virginia Woolfs Einfluß in England und Amerika ist heute ganz ungeheuer. Wer mit ihr nichts anzufangen weiß (und es ist vielleicht nicht ganz leicht, sie zu verstehen), der kann zu der gesamten modernen englischen Literatur nicht die richtige Stellung finden."

 

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