Egmont. [...] Und
unter vielem Verhaßten ist mir das Schreiben das Verhaßteste.
Du
machst meine Hand ja so gut nach, schreib in meinem Namen. [...]
Sekretär. Sagt mir
nur ungefähr Eure Meinung; ich will die Antwort schon
aufsetzen
und sie Euch vorlegen. Geschrieben soll sie werden, daß sie vor
Gericht
für Eure Hand gelten kann.
Egmont. [...]
Schreib ihm, er möge unbesorgt sein [...]
Sekretär. Nichts
weiter? O er erwartet mehr.
Egmont. Was soll
ich mehr sagen? Willst du mehr Worte machen, so steht's bei dir. [...]
Sekretär. Verzeiht
mir, es wird dem Fußgänger schwindlig, der einen Mann,
mit
rasselnder Eile daherfahren sieht.
Egmont. Kind!
Kind! nicht weiter! Wie von unsichtbaren Geistern gepeitscht,
gehen
die Sonnenpferde der Zeit mit unsers Schicksals leichtem Wagen durch;
und uns bleibt nichts, als, mutig gefaßt, die
Zügel festzuhalten und bald rechts bald links,
vom Steine hier vom Sturze da, die Räder
wegzulenken. Wohin es geht, wer weiß es? [...]
Sekretär. Herr! Herr!
(Goethe, Egmont, II/2)
E
|
Durch
die Literatur geistern auch noch eine Costanza Roesler, die Tochter eines
deutschen Gastwirts in Rom, und "die schöne Mailänderin", identifiziert als
Maddalena Riggi. Als Goethe letztere kennenlernte, war sie jedoch bereits
verlobt und wenig später verheiratet mit einem Kupferstecher. Dass Goethe (den
Tischbeins witzige Zeichnung karikiert, indem sie ihn als ertappten Freier mit
dem Sprechtext "Das verfluchte zweite Kissen" zeigt: fast ein Comic)
in Rom -mit welcher Frau oder welchen Frauen auch immer- ein
Faustina-Urerlebnis hatte, ist in der neueren Forschung unstrittig.
Am
29. Dezember 1787 schreibt Goethe frustriert an seinen Weimarer Herzog Carl
August: "Mich hat der süße kleine Gott in einen bösen Weltwinkel
relegiert. Die öffentlichen Mädchen der Lust sind unsicher wie überall. Die
Zitellen (unverheuratete Mädchen) sind
keuscher als irgendwo, sie lassen sich nicht anrühren und fragen gleich, wenn
man artig mit ihnen tut: e che concluderemo? Denn entweder soll man sie
heuraten oder sie verheuraten, und wenn sie einen Mann haben, dann ist die
Messe gesungen [...]."
Im
selben Brief teilt Goethe noch "ein sonderbar Phänomen" mit,
"das ich nirgends so stark als hier gesehen habe, es ist die Liebe der
Männer untereinander. Vorausgesetzt daß sie selten bis zum höchsten Grad der
Sinnlichkeit getrieben wird, sondern sich in den mittleren Regionen der Neigung
und Leidenschaft verweilt; so kann ich sagen, daß ich die schönsten
Erscheinungen davon, welche wir nur aus griechischen Überlieferungen haben (S.
Herders Ideen III Band pag. 171) hier mit eignen Augen sehen und als ein
aufmerksamer Naturforscher, das Physische und Moralische davon beobachten
konnte. Es ist eine Materie, von der sich kaum reden, geschweige schreiben läßt
[...]." Mit dem seitengenauen Literaturverweis auf Herder präsentiert Goethe sich durchaus als Kenner.
In
einem Brief vom 16. Februar 1788 kann Goethe (nur vage
verschlüsselt) dem Herzog endlich verkünden: "[...] ich könnte schon von
einigen anmuthigen Spazirgängen erzählen. So viel ist gewiß und haben Sie, als
ein Doctor longe experientissimus, vollkommen recht, daß eine dergleichen
mäßige Bewegung das Gemüth erfrischt und den Körper in ein köstliches
Gleichgewicht bringt. Wie ich solches in meinem Leben mehr als einmal erfahren,
dagegen auch die Unbequemlichkeit gespürt habe, wenn ich mich von dem breiten
Wege, auf dem engen Pfad der Enthaltsamkeit und Sicherheit einleiten
wollte." Der Psychoanalytiker Kurt R. Eissler liest "mehr als
einmal" als "zum ersten Mal", denn: "[...]im Hinblick auf
den phänomenalen Erfolg des Herzogs bei Frauen - und dessen vermutliches
Prahlen damit - muß Goethe sein eigener gänzlicher Mangel an Erfahrung sehr
peinlich gewesen sein."2 Auch in "Dichtung
und Wahrheit" spielt Goethe gern den Frauenhelden- für Eissler nur ein
weiterer Beleg, dass seine Vermutungen richtig sind: "Wenn Goethe in
späteren Jahren absichtlich oder unabsichtlich den Mythos seiner ausgiebigen
genitalen Erfahrungen kultivierte, muß er über etwas in seinem Sexualleben tief
beschämt gewesen sein."3
Richard
Friedenthal resümiert in seiner Goethe-Biographie: "Es ist nun nicht nur
ein galantes Abenteuer und eine Episode, was er in Rom als Faustina erlebt.
Goethe wird erst hier, als [fast- N.H.] Vierzigjähriger, erotisch ganz frei,
erst jetzt hat er ein volles Liebeserlebnis. Was immer seine vielen 'Misels' in
Weimar bedeutet haben mögen -höchstwahrscheinlich waren es oft harmlose
Neckereien, von der immer erwartungsvollen Gesellschaft eifrig kommentiert-,
eine Geliebte im vollen erotischen Sinne des Wortes hat er nicht besessen. Was
immer die vielen 'Dorfmädeleien' gewesen sind: Es waren allenfalls ganz
flüchtige Begegnungen im Vorübergehen und Davonreiten. Die ganz unbeschreiblich
neugierige Weimarer Fama mit ihren zahllosen sehr intimen Briefen hat darüber
nichts von Belang zu berichten gewußt. Das Gartenhaus mit seinem Schlafraum,
der nicht größer war als eine Klosterzelle, und dem Strohsack und fichtenem
Schragen lud auch eine Geliebte kaum ein, selbst wenn sie sehr anspruchslos
war. In den Zimmern seiner Stadtwohnung stand er unter ständiger Beobachtung
des ganzen Städtchens. Es mag seltsam erscheinen, daß der große Erotiker ein
gereifter Mann werden mußte, ehe er zur Liebe kam [...]"4
Seltsam
mag es schon erscheinen, aber unerklärlich ist es nicht. Kurt R. Eissler
erklärt es in seiner epochalen Goethe-Studie mit einer latent inzestuösen
Besetzung von Goethes Psyche durch seine Schwester Cornelia und fundiert
gleichzeitig Friedenthals Schlussfolgerungen. Dabei ist Eisslers Analyse nicht
einmal originär: etliche Zeit vor ihm stellten bereits Otto Rank5
und Brunold Springer6 Überlegungen in dieser Richtung an.
Eissler
macht die innige, doch durch Inzestverbot, eifersüchtige Besitzansprüche und
Schuldgefühle belastete Geschwisterliebe zum Schlüssel für Goethes verzögerte
Sexualkarriere und seine literarische Phantasie in der ersten Lebenshälfte (die
Bühnenwerke "Stella" und "Iphigenie", zum Beispiel, wären kaum entstanden ohne diese
Konstellation). Nicht zufällig verliebte er sich so häufig in Frauen, mit denen zu schlafen ihm unmöglich
war. Er wiederholte hier die Konflikte in seinem Verhältnis zu Cornelia, die
durch ihre Heirat mit dem Juristen Johann Georg Schlosser (1773) bei dem Bruder
ein schweres Verlusttrauma hervorrief. Als Goethe von Cornelias Wochenbett-Tod
(8. Juni 1777) erfuhr, notierte er: "Dunkler, zerrissener Tag."
Alle romantisch
verklärende Literatur7 kann nicht darüber hinwegtäuschen,
dass Goethes Verhältnis zu Frauen und Mädchen in seiner vorrömischen Zeit höchst
gestört war. Als Student in Leipzig
verguckte er sich in die drei Jahre ältere Anna Katharina
("Käthchen") Schönkopf, die beim Mittagstisch bediente, den ihre
Familie für Jungakademiker als Nebenverdienstquelle eingerichtet hatte. Zu mehr
als einer brieflich schmachtenden Tändelei kam es nicht. Ohne Abschied reiste
Goethe wieder nach Frankfurt ab.
Wesentlich mehr
hatte ihn Ernst Wolfgang Behrisch (1738-1809) fasziniert, ein Hofmeister &
Prinzenerzieher, ein zynischer Elegant, in dem manche Exegeten, von Goethe selbst dazu animiert, den Ur-Mephisto vermuten. Goethe widmete dem elf Jahre älteren Mentor bei dessen unfreiwilligem
Abgang aus Leipzig die "Oden an meinen Freund" (1767), die erst
postum (1836) gedruckt erschienen, nachdem sie 1818 an Goethe zurückgelangt
waren. Es sind frische, fast frühexpressionistische Gedichte, deren sich Goethe
auch als Greis nicht hätte zu schämen brauchen, wenn es nur um die literarische
Qualität gegangen wäre. Ein Auszug:
Du gehst!
Ich murre.
Geh! Laß
mich murren.
Ehrlicher
Mann,
Fliehe
dieses Land.
Tote Sümpfe,
Dampfende
Oktobernebel
Verweben
ihre Ausflüsse
Hier
unzertrennlich.
Gebärort
Schädlicher Insekten,
Mörderhülle
Ihrer Bosheit.
Aber mit dem Abstand der Jahre
betrachtete er seinen für ihn wohl auch latent in sexueller Hinsicht
bedrohlichen Jugendfreund recht kritisch und schreibt über ihn in
"Dichtung und Wahrheit": "Schon sein Äußeres war sonderbar
genug. Hager und wohlgebaut, weit in den Dreißigen, eine sehr große Nase und
überhaupt markierte Züge; eine Haartour, die man wohl eine Perücke hätte nennen
können, trug er vom Morgen bis in die Nacht, kleidete sich sehr nett und ging
niemals aus, als den Degen an der Seite und den Hut unter dem Arm. Er war einer
von den Menschen, die eine ganz besondere Gabe haben, die Zeit zu verderben,
oder vielmehr, die aus nichts etwas zu machen wissen, um sie zu vertreiben.
Alles, was er tat, mußte mit Langsamkeit und einem gewissen Anstand geschehen,
den man affektiert hätte nennen können, wenn Behrisch nicht schon von Natur
etwas Affektiertes in seiner Art gehabt hätte. Er ähnelte einem alten
Franzosen, auch sprach und schrieb er sehr gut und leicht französisch. Seine
größte Lust war, sich ernsthaft mit possenhaften Dingen zu beschäftigen, und
irgend einen albernen Einfall bis ins Unendliche zu verfolgen."
Andererseits gilt
für Goethe schon früh als Jüngling das Diktum, das später in den
"Wahlverwandtschaften" steht, und sein ganzes Leben lang gültig
bleibt (auch wenn er es mit Schiller niemals zum freundschaftlichen Du brachte,
aber zeitweilig sich in den makabren Besitz von dessen Totenschädel8): "Der Mann verlangt den Mann; er
würde sich einen zweiten erschaffen, wenn es ihn nicht gäbe. Eine Frau könnte
eine Ewigkeit leben, ohne daran zu denken, sich ihresgleichen
hervorzubringen." Doch in "Goethes Verhältnis zu Männern (vollzog sich im Lauf der Zeit- N.H.) ein tiefer Wandel [...] Seine unbewußte homosexuelle Bindung an seine Freunde nahm ab. Die starke emotionale Bindung zu ihnen verlor an Bedeutung. Er konnte sich loslösen und eine kritische Haltung einnehmen. Doch kam es zu keinem offenen Bruch mit irgendeinem der Freunde." 9
Die Männer in Goethes Leben
Nach Aufnahme
seines Studiums in Straßburg war Goethes nächste Flamme die 18-jährige
Sesenheimer Pfarrerstochter Friederike Brion, die er ebenfalls rüde und
unberührt sitzenließ. Im Alter bekannte er in meisterlicher Verdrängung:
"Es waren peinliche Tage, deren Erinnerung mir nicht geblieben ist."
In "Wilhelm
Meisters Wanderjahren" (2. Buch, 11. Kapitel) erzählt Goethe eine (wohl
halbfiktive) Kindheitserinnerung, die ihm auch noch in hohen Jahren präsent ist
und erzählenswert erscheint: "[...] ein
Knabe, der mich bei seinem ersten Auftreten gleich besonders angezogen hatte,
lud mich ein, mit ihm nach dem Fluß zu gehen [...] Da sei die schönste
Gelegenheit zu baden. Er könne, rief er, endlich aufspringend, der Versuchung
nicht widerstehen, und ehe ich mich's versah, war er unten, ausgezogen und im
Wasser. [...] Da war es denn ihm leicht, mich hinunterzulocken, eine nicht oft
wiederholte Einladung fand ich unwiderstehlich und war, mit einiger Furcht vor
den Eltern, wozu sich die Scheu vor dem unbekannten Elemente gesellte, in ganz
wunderlicher Bewegung. Aber bald auf dem Kies entkleidet, wagt' ich mich sachte
ins Wasser, doch nicht tiefer, als es der leise abhängige Boden erlaubte [...]
und als er sich heraushob, sich aufrichtete, im höheren Sonnenschein sich
abzutrocknen, glaubt' ich meine Augen vor einer dreifachen Sonne geblendet: so
schön war die menschliche Gestalt, von der ich nie einen Begriff gehabt. Er
schien mich mit gleicher Aufmerksamkeit zu betrachten. Schnell angekleidet
standen wir uns noch immer unverhüllt gegeneinander, unsere Gemüter zogen sich
an, und unter den feurigsten Küssen schwuren wir eine ewige Freundschaft."
Dies Erlebnis hat das erzählende Ich anscheinend stark beeindruckt, auch wenn
es, angstbesetzt, den Boden unter den Füßen nicht riskierte. Der Fischerjunge
wird später ertrinken- zur Strafe für sein schamloses Locken?
Erneut gebadet wird
in dem Fragment "Werthers Reise", veröffentlicht erst 1808, gekoppelt
an die "Briefe aus der Schweiz": "[...] Ich veranlaßte
Ferdinanden zu baden im See; wie herrlich ist mein junger Freund gebildet!
Welch ein Ebenmaß aller Teile! Welch eine Fülle der Form, welch ein Glanz der
Jugend, welch ein Gewinn für mich, meine Einbildungskraft mit diesem
vollkommenen Muster der menschlichen Natur bereichert zu haben! Nun bevölkere
ich Wälder, Wiesen und Höhen mit so schönen Gestalten; ich seh' ihn als Adonis
dem Eber folgen, ihn als Narziß sich in der Quelle bespiegeln!" In
"Dichtung und Wahrheit" berichtet Goethe vom Anlass für die
Ausrufezeichen-Inflation seiner Begeisterung: die gräflichen Brüder Stolberg
hatten auf der gemeinsamen ersten Schweizer Reise 1775, um "ihre frische
Jünglingsnatur zu idyllisieren", die blau-gelbe Werther-Tracht, in der
alle reisten, abgelegt und nackt
gebadet, was zur prompten Ausweisung aus Zürich führte. Und Goethe bekennt:
"Ich selbst will nicht leugnen, daß ich mich im klaren See zu baden mit
meinen Gesellen vereinte und, wie es schien, weit genug von allen menschlichen
Blicken. Nackte Körper leuchten jedoch weit [...]." Dazu die -doch mit
erheblicher Verspätung nachgeschobene- schlitzohrige Rechtfertigung: in dem
Fragment habe er nur "diesen Gegensatz der schweizerischen löblichen
Ordnung und gesetzlichen Beschränkung mit einem solchen im jugendlichen Wahn
geforderten Naturleben" schildern wollen.
In Wetzlar
begegnete Goethe, ebenfalls nicht ohne Körperinteresse, Charlotte Buff, die
glücklicherweise bereits verlobt und bald eine verheiratete Kestner war. Auch
hier kein Abschied, nachdem sie ihn immerhin zu seinem -bei Lebzeiten- größten literarischen
Erfolg, dem " Werther",
inspiriert hatte.
1775 verlobte sich
Goethe mit der 16-jährigen Frankfurter Bankierstochter Elisabeth
("Lili") Schönemann. Schlimmeres verhinderte Goethes Berufung nach
Weimar, die ihm sehr gelegen gekommen sein dürfte. Hier machte er flugs
Charlotte von (und aus) Stein, eine verheiratete, ältere, frigide Dame der
Weimarer Gesellschaft, zu seiner 'Seelenfreundin'. Natürlich nicht zu seiner
Geliebten. Sie diente ihm als Schwesterersatz (Ach du warst in abgelebten
Zeiten/ Meine Schwester oder meine Frau). Eine Kernthese Eisslers ist, dass
beider Verhältnis "den Charakter einer Patient-Analytiker-Situation
annahm"10, wozu selbstverständlich auch der sexuelle Verzicht gehörte.
Die Frauen in Goethes Leben
Am liebsten noch
waren Goethe Frauen wohl als Briefpartnerinnen. Das bezeugen die frühe
Korrespondenz mit Charitas Meixner, einer Wormser Freundin seiner Schwester,
wesentlich mehr der Briefwechsel mit (der nie gesehenen) Auguste Gräfin zu
Stolberg ("Gustgen"), der Schwester der mit ihm befreundeten Brüder
Stolberg, und die Briefflut an Charlotte von Stein. Etliche andere Frauen noch
wurden von Goethe mit Briefen beglückt.
Ein "kalter
Weibshasser", wie Herder in einem Brief an seine Braut giftete, war Goethe
mit Sicherheit nicht. Aber sein heterosexuelles Liebesleben war vor Rom
unbestreitbar eine einzige Katastrophe. Erschwerend kam sicher hinzu, dass
vorehelicher Geschlechtsverkehr für Töchter aus bürgerlichem Hause tabu war
oder einem Eheversprechen des "Verführers" gleichkam. Diese Schranken galten auch für Goethe. Und sicher
stand Goethe sich auch selber narzisstisch im Wege, wenn es um die
Verwirklichung sexueller Wünsche ging. Schiller brachte es sarkastisch auf den
Punkt: "Ich betrachte ihn wie eine stolze Prüde, der man ein Kind machen muß."11 Goethes Biograph Karl Otto Conrady allerdings unterschätzt dessen
komplizierte Psychostruktur, indem er ahnungslos die rhetorische Frage stellt:
"Ist es nicht eine normale Lebenstatsache, daß manche Menschen (nicht nur
Männer) frühzeitige Bindungen scheuen [...]?"12
Wenn es denn nun so war, dass
Goethe erst in Rom zu seinem ersten Koitus mit einer Frau kam, dann lautet die
Kardinalfrage für seine Biographie: Wie hat Goethe, ein Mann voller
Aktivitäten, strotzend vor Saft & Kraft, fast 40 Jahre sein Triebleben
organisiert? Hat er seine Libido ausschließlich schreibend sublimiert? Hat er
sich nolens volens auf Onanie beschränkt? Huren dürfte er wohl kaum aufgesucht
haben, aus (berechtigter) Angst vor Syphilis (die damals kaum heilbar war);
obendrein stand er unter ständiger sozialer Kontrolle, Weimar war ein
Klatschnest mit seinerzeit 6 000 Seelen. Aber von der biedersinnigen
Germanistik ist die Kardinalfrage anscheinend nie gestellt worden. Dabei hat
sie nichts mit Schlüssellochguckerei oder Sensationshascherei zu tun, sondern
gehört einfach zu einer so eminenten Persönlichkeit wie Goethe, über den der
Interessierte alles und jedes wissen will. Und sie nicht stellen zu dürfen,
bedeutete das Ende jeglicher Biographik.
Unsere verklemmten,
spießigen Germanisten wollen das nicht wahrhaben und gerieren sich, als ob wir
in präwilhelminischen und präfreudianischen Zeiten lebten. So schreibt Gero von
Wilpert borniert in seinem "Goethe-Lexikon" zum Stichwort
'Sexualität': "Für
das Verständnis und die Beurteilung von G.s Dichtungen erscheint es herzlich
unbedeutend, ob G. wirklich, wie neuere psychoanalytische Forschung zu erhärten
sucht, infolge einer Schwesterbindung oder aus Furcht vor Ansteckungen erst mit
37 Jahren in Rom (-->Faustina) sexuell aktiv geworden sei, welche Rolle im
Verhältnis zu Christiane seelische Zuneigung und sexuelle Kompatibilität
gespielt hätten und wieweit die früheren und späteren leidenschaftlichen
Neigungen zu Frauen im Stadium der Gefahr bewußt abgebrochen oder sublimiert
wurden. Wie so oft führt die Suche nach Zeugnissen sexueller Verdrängung oder
Befreiung in Werken und Briefen von ihrem eigentlichen Sinn ab und verleitet
durch die Einseitigkeit der Fragestellung und den Beweiszwang zu waghalsigen
Hypothesen."13
Vor wenigen Jahren
riskierte Karl Hugo Pruys in einem -zu Unrecht- vielgeschmähten Buch14 eine solch 'waghalsige Hypothese', indem er Goethe ein
homosexuelles Verhältnis mit seinem Düsseldorfer Jugendfreund Friedrich
Heinrich Jacobi unterstellte, was in germanistischen Fachkreisen einen
Aufschrei der Empörung verursachte und in der Presse zu der reißerischen
Schlagzeile führte: WAR GOETHE SCHWUL?
Gab es durch die Eltern eine homosexuelle Disposition bei Goethe? Gern werden dafür allgemein ein schwacher (oder fehlender) Vater und eine dominante Mutter verantwortlich gemacht.
Goethes Vater muss ein ziemlich griesgrämiger Mensch gewesen sein, und in seinem Beruf als Jurist war er ein Versager. Das konnte er sich ohne weiteres leisten, denn er hatte von seinem Vater ein beträchtliches Vermögen geerbt: 90 000 Gulden in Grundstücken, Hypotheken und 17 Ledersäcke voller Bargeld. Den Titel "Wirklicher Kaiserlicher Rath", der mit keinerlei Arbeit verbunden war, kaufte er beim Kaiser für 313 Gulden. Zwar versuchte er auf den Sohn autoritär einzuwirken, aber dieser setzte sich letztlich stets mit seinen Wünschen durch. Das oktroyierte Jurastudium ließ er sich jährlich mit 1 200 Gulden versüßen- der oberste Frankfurter Beamte hatte ein Jahreseinkommen von 1 800 Gulden, ein Handwerker verdiente 200, Hauspersonal bei freier Kost und Logis 15-24 Gulden. (Nebenbei: Goethes Aufstieg zum deutschen Nationaldichter Nummer eins war nur möglich durch seine immensen finanziellen Ressourcen- erst die väterlichen, dann die herzoglichen; wäre Goethe ein armer Schlucker gewesen, sähe sein Gesamtwerk mit Sicherheit anders aus, und vielleicht rangierte er in der literarischen Hierarchie hierzulande erst hinter Lessing, Schiller, Kleist, Büchner und Hölderlin.)
Eduard Hitschmann15 dürfte -wie auch Eissler- den väterlichen Einfluss auf Goethes Psychogenese überschätzen. De facto hatte wohl die Mutter im Hause Goethe die Pantoffeln an. Noch mit 30 Jahren war der Sohn ihr "Hätschelhanß", den sie maßlos verwöhnte. Er war der "unbestrittene Liebling der Mutter" (Freud16). Und sie sonnte sich im Glanz seiner Berühmtheit. Goethes Verhältnis zu ihr war wesentlich kühler. Ihre Fürsorglichkeit und ihr ständiger Frohsinn dürften ihn enerviert haben. So war sein Umzug nach Weimar auch keine ödipale Flucht, sondern eher ein Ausreißen vor mütterlicher Gluckenhaftigkeit. Goethe sah seine Mutter zum letzten Mal 1797, elf Jahre vor ihrem Tod. Eine Übersiedelung nach Weimar konnte er erfolgreich verhindern, die Korrespondenz mit "Frau Aja", wie die befreundeten Brüder Stolberg Goethes Mutter nach einer mythischen Figur aus dem karolingischen Sagenkreis nannten, überließ er größtenteils anderen. Also in Goethes Kindheit unterm großbürgerlichen Dach keine extremen Auffälligkeiten, die eine sexuelle Deviation begründen könnten. Ein heiter-ironischer Rückblick des Dichters im Alter:
Aber das Thema Homosexualität klammerte Goethe keineswegs aus in seinem Denken & Schreiben: dazu war er viel zu weltoffen. Unvorstellbar ein Goethe als engstirniger Philister. Eher unbewusst –im Gegensatz zu dem viel späteren "Schenkenbuch" im "West-östlichen Divan" (1819)- dürften sich allerdings in seine frühe Lyrik päderastische Tendenzen eingeschlichen haben, etwa in den Gedichten "Ganymed" und "Erlkönig".
Vom Vater hab ich die Statur,
Des Lebens ernstes Führen,
Vom Mütterchen die Frohnatur
Und Lust zu fabulieren.
Im "Erlkönig" sieht Nicholas Boyle, der neueste Goethe-Biograph, "eine Ballade, grauenvoller erotisch als alle anderen Gedichte, die er geschrieben hat [...] Der Vater in dem Gedicht reitet, den kranken Sohn im Arm, durch eine todesschwangere Natur [...] (der [...] Titel der Ballade legt die falsche Etymologie 'König der Erlen' anstatt 'König der Elfen' nahe). Und aus dieser toten dunklen Welt steigen nun Geister der Lust auf, einer pervertierten Lust, die goldene Versprechungen flüstert [...] Es ist die unverstellte Stimme des Begehrens, sie spricht zu dem Knaben in einer Direktheit, für die es in Goethes Lyrik kaum eine Parallele gibt, sie duldet kein Sträuben, und ihr Objekt ist unzweideutig widernatürlich:
'Ich liebe dich, mich reizt deine schöne Gestalt;
Und bist du nicht willig, so brauch' ich Gewalt.'-
Mein Vater, mein Vater, jetzt faßt er mich an!
Erlkönig hat mir ein Leids getan!-
[...] Kein Mensch kann hoffen, die komplizierten Gefühlslagen zu entwirren, die Goethe dieses Gedicht zu diesem Zeitpunkt eingaben. Nicht einmal Frau von Stein scheint bemerkt zu haben, daß in dem Gedicht Gefühle, die nicht ihr gelten durften, auf ihren Sohn übertragen wurden; hätte sie sonst ihren Fritz drei Jahre lang beim Verfasser des 'Erlkönigs' wohnen lassen?"17
Boyle führt die Entstehung des Gedichts zurück auf einen nächtlichen Ritt Goethes im April 1779 nach Tiefurt mit Fritz von Stein vor sich im Sattel. Goethe war in Charlotte von Steins Sohn nicht nur väterlich vernarrt. Im selben Jahr ließ er durch den Hofbildhauer Gottlieb Martin Klauer von dem Knaben eine lebensgroße Aktskulptur fertigen, was anscheinend niemanden befremdete. Würde das heutzutage jemand mit einem Kind aus der Nachbarschaft veranstalten, stünde auf der Stelle der Staatsanwalt vor der Tür. Vielleicht lässt sich Goethes Aktion als unbewusste Perversion des Pygmalion-Mythos deuten: durch Versteinerung des obskuren Subjekts der Begierde immunisierte sich Goethe gegen sie. Erst im hohen Alter -1821- wird wieder ein engelschöner Knabe auf seinem Schoß sitzen, in enkelschöner Harmlosigkeit: das 12-jährige Klavierwunderkind Felix Mendelssohn-Bartholdy, der spätere Komponist.
Souveräner (und drastischer) wird der literarische Umgang mit Homosexualität in reiferen Jahren, wenn Goethe in den "Venetianischen Epigrammen" (1790) dichtet:
CXLI.
Gieb mir statt "der Schwanz" ein
ander Wort, o Priapus
Denn ich Teutscher ich bin uebel als Dichter
geplagt.
Griechisch nennt ich dich phallos , das
klaenge doch praechtig den Ohren,
Und lateinisch ist auch Mentula leydlich ein
Wort.
Mentula kaeme von Mens, der
"Schwanz" ist etwas von hinten,
Und nach hinten war mir niemals ein froher
Genusz.
Ein Dementi der letzten Zeile
findet sich nur wenig später:
CXLIII.
Knaben liebt ich wohl auch, doch lieber sind mir die Maedchen,
Hab ich als Maedchen sie satt, dient sie als Knabe mir noch.
Am 7.IV.1830 notierte Kanzler Friedrich von Müller: "Nun fiel das Gespräch auf Griechische Liebe [...] Er [Goethe] entwickelte, wie diese Verirrung eigentlich daher komme, daß nach rein aesthetischem Maaßstab der M a n n immerhin weit schöner, vorzüglicher, vollendeter wie die Frau sey. Ein solches einmal entstandnes Gefühl schwencke dann leicht ins Thierische, grob materielle hinüber. Die Knabenliebe sey so alt wie die Menschheit, und man könne daher sagen, sie liege i n der Natur, ob sie gleich g e g e n die Natur sey.
Was die C u l t u
r der Natur abgewonnen habe, dürfe man
nicht wieder fahren lassen, um keinen Preiß aufgeben. So sey auch der Begrif
der Heiligkeit der Ehe eine solche Cultur-Errungenschaft des Christenthums und
von unschätzbarem Werth, obgleich die Ehe eigentlich unnatürlich sey.
[...] dergleichen
Culturbegriffe sind den Völkern nun einmal eingeimpft und laufen durch alle
Jahrhunderte; überall hat man vor ungeregelten, ehelosen Liebesverhältnissen
eine gewisse unbezwingliche Scheu [...]"18
Gern wird auf
einschlägigen Pornowebseiten Goethes (unverifizierte) Meinung über Analerotik zitiert: "Sie ist die schönste aller männlichen Gelüste. Obwohl sie
scheinbar gegen die Gesetze der Natur verstößt. Denn außer griechischen Göttern
hat wohl noch kein sterbliches Wesen Nachkommen durch den Anus erzeugt. Wir
irdischen Wesen haben den Sinn für sexuelle Lust und Freude in unseren Tagen
völlig verloren."
Da fehlt natürlich
auch nicht ein entsprechender Schlenker in "Faust II" (Fünfter Akt):
Mephistopheles:
Ich mag sie gerne sehn, die allerliebsten Jungen;
Was hält mich ab, daß ich nicht fluchen darf? -
Und wenn ich mich betören lasse,
Wer heißt denn künftighin der Tor? -
Die Wetterbuben, die ich hasse,
Sie kommen mir doch gar zu lieblich vor! -
Ihr schönen Kinder, laßt mich wissen:
Seid ihr nicht auch von Luzifers Geschlecht?
Ihr seid so hübsch: führwahr, ich möcht euch küssen!
Mir ist's, als kämt ihr eben recht.
Es ist mir so behaglich, so natürlich,
Als hätt ich euch schon tausendmal gesehn,
So heimlich-kätzchenhaft begierlich:
Mit jedem Blick aufs neue schöner schön!
O nähert euch, o gönnt mir Einen Blick!
Engel:
Wir kommen schon, warum weichst du zurück?
Wir nähern uns, und wenn du kannst, so bleib.
(die Engel nehmen umherziehend den ganzen Raum ein)
Mephistopheles (der ins Proszenium
gedrängt wird):
Ihr scheltet uns verdammte Geister
Und seid die wahren Hexenmeister;
Denn ihr verführet Mann und Weib. -
Welch ein verfluchtes Abenteuer!
Ist dies ein Liebeselement?
Ihr schwanket hin und her, so senkt euch nieder,
Ein bißchen weltlicher bewegt die holden Glieder;
Fürwahr, der Ernst steht euch recht schön,
Doch möchte ich euch nur einmal lächeln sehn;
Das wäre mir ein ewiges Entzücken.
Ich meine so, wie wenn Verliebte blicken,
Ein kleiner Zug am Mund, so ist's getan.
Dich, langer Bursche, dich mag ich am liebsten leiden,
Die Pfaffenmiene will dich gar nicht kleiden,
So sieh mich doch ein wenig lüstern an!
Auch könntet ihr anständig-nackter gehen:
Das lange Faltenhemd ist übersittlich!
Sie wenden sich - von hinten anzusehen! -
Die Racker sind doch gar zu appetitlich!
Dass Goethe keinerlei
Vorurteile gegenüber Homosexuellen kannte, demonstriert auch seine Einstellung
zu Winckelmann. "Wie ein Donnerschlag bei klarem Himmel", so Goethe,
"fiel die Nachricht von Winckelmanns Tode zwischen uns nieder": am 8.
Juni 1768 war Johann Joachim Winckelmann, im Alter von knapp 51 Jahren, in
Triest ermordet worden. Die "griechischen Neigungen" des
Altertumsforschers waren Goethe bekannt, evozierten jedoch keine
kleinmütig-schamhafte Distanzierung und hinderten ihn nicht, wenn auch erst
1805, den Sammelband "Winckelmann und sein Jahrhundert"
herauszugeben, zu dem er selbst die "Skizze zu einer Schilderung
Winckelmanns" beisteuerte. Im Abschnitt über "Schönheit"
verweist er diskret, aber unmissverständlich auf Winckelmanns sexuelle
Disposition: "Finden nun beide Bedürfnisse der Freundschaft und der
Schönheit zugleich an einem Gegenstande Nahrung, so scheint das Glück und die
Dankbarkeit des Menschen über alle Grenzen hinauszusteigen[...] So finden wir
Winckelmann oft in Verhältnis mit schönen Jünglingen, und niemals erscheint er
belebter und liebenswürdiger als in solchen oft nur flüchtigen
Augenblicken." Es ist oft angemerkt worden, dass Goethe bei der Schilderung
fremder Größen auch sich selber reflektierte. Und tadelnswert an Winckelmann
erscheint ihm eigentlich nur dessen plötzlicher Hang zum Katholizismus.
Ebenso wenig
Berührungsangst kannte Goethe bei Benvenuto Cellini, dem berühmten Bildhauer
und Goldschmied der Renaissance, der ein wüstes bisexuelles Leben führte: er übersetzte –auf dem Umweg über das Englische- dessen Autobiographie (erschienen 1803). Goethe über Cellini: "Bei dieser Empfänglichkeit für
sinnliche und sittliche Schönheiten, bei diesem fortlaufenden Wohnen und
Bleiben unter allem, was alte und neue Kunst Großes und Bedeutendes
hervorgebracht, mußte die Schönheit männlicher Jugend mehr als alles auf ihn
wirken. Und fürwahr, es sind die anmutigsten Stellen seines Werkes, wenn er
hierfür sein Empfinden ausdrückt. Haben uns denn wohl Poesie und Prosa viele so
reizende Situationen dargestellt, als wir an dem Gastmahl finden, wo die
Künstler sich mit ihren Mädchen treffen und Cellini einen verkleideten Knaben
mitbringt?"
Kurt R. Eissler vertritt -als klassischer Freud-Adept- die merkwürdig homophobe (und obsolete) Auffassung, dass es für
Goethes Kreativität schädlich gewesen wäre, wenn er seine eigenen homosexuellen
Anteile in praxi ausgelebt hätte.19 Wäre ihm Walter Schleifs20 Abhandlung
"Goethes Diener" (eine exemplarische literaturgeschichtliche Arbeit,
die unbedingt eine Neuauflage verdiente) bekannt gewesen, hätte er sie für die
eigenen Forschungen nicht unberücksichtigt lassen können, aber das Buch
erschien erst 1965, nachdem Eisslers Monumentalwerk in den USA bereits
veröffentlicht war.
In dem Band finden sich aus dem Weimarer Archiv höchst aufschlussreiche und dort erstmals
veröffentlichte Briefe von Goethes Diener Philipp Seidel an dessen Freund
Johann Adam Wolf in Frankfurt. Am 23. November 1775 nachts elf Uhr schreibt er
ihm: "[...] Ich lebe hier so, daß mir eure Briefe die einzige Unterhaltung
seyn müßen. Ich hab alles Arbeit genug, Eßen, Trinken und... (griechische Buchstaben,
die vermutlich 'Geld' bedeuten. W.S.) und –nur keine Liebe, keine
Seele, der ich mich mittheilen könnte. Es ist ein müßiges, steifes üppiches
Volk, daß einem oft unleidlich wird. Ihr ganzes Verdienst ist, daß sie Bücher
lesen und dadurch noch unerträglicher werden. [...]"21 Geheimbuchstaben auch in einem anderen
Brief...
Zwei Jahre später klingt alles ganz anders. In der Zwischenzeit
muss Entscheidendes passiert sein:
"Weimar den 15. Octbr. 1777. Abends.
Also ich will Dir
lieber sagen, daß wir eine Köchin, und pp. ich nun eine ordentliche Haushaltung
zu dirigiren haben. Ich habe nur so viele Freude über unsere Lebensart, gieb
nur einmal acht, wie das weitergeht und, oder alle mein prophetisches Gefühl
müßte mich betrügen, ob wir nicht die Anherrn und Erbauer eines Dörfgens, oder
Vorstadt oder Burg wenigstens werden und man nicht nach ein paar Hundert Jahren
sagen wird, da geht Goethes und seines Philipps Geist um, einander umschlungen
führend. O daß ich meine Seele aushauchen könnte in Liebe zu diesem Manne und
würdig wäre dem Gott zu danken, der mir so viele Seeligkeit bei ihm zu kosten giebt.
Wir haben das ganze
Verhältniß wie Mann und Frau gegeneinander. So lieb ich ihn, so er mich, so
dien ich ihm, so viel Oberherrschaft äußert er über mich.
Aber warum vertrau ich dem
Papier, was mir ein heiliges liebes Geheimniß ist. Ich weis nicht, wie ich dran
komme, Dir davon zu schreiben. Allein ich muß! ich mögt es aller Welt sagen,
was mein Herz hier empfindet und finde dann kaum einige Geschöpfe, denen ichs,
und das wie eine Staatsheimlichkeit, anvertrauen mag.
Leb wohl. Ich bin
zu glücklich, als daß ich davon reden könnte."22
Das sind
unmissverständliche Worte erfüllter Liebe, auch wenn Schleif, der sein Buch
unter dem muffigen DDR-Regime herausgab, sogleich abwiegelt: "Der Brief
ist wohl mehr als literarischer Versuch zu werten."23 Aber er klingt anders und wesentlich
authentischer als Goethes säuselnde Lippenbekenntnisse gegenüber Fritz Jacobi.
En passant
griff Rainer J. Kaus in seiner
Dissertation24 das Thema auf und gelangte bereits 1994 zu demselben Schluss:
"Für den Psychologen kann indessen nach einem solchen vertraulichen Brief
und den sonst bekannten Fakten kaum ein Zweifel darüber bestehen, daß Goethe
seine homosexuellen Anteile zu dieser Zeit auch ausagiert hat."25
Eine weitere
Argumentation des Autors erscheint aber reichlich kühn; er stützt sie auf
Goethes Gedicht "An den Mond", in dessen Erstfassung (1778) die Verse stehen:
Seelig wer sich vor der Welt
ohne Haß verschließt
einen Mann am Busen hält
und mit dem genießt
Was den Menschen unbewußt
oder wohl veracht
durch das Labyrinth der
Brust
wandelt in der Nacht
In der Druckfassung (1789) hat
Goethe das Wort Mann gegen das unverfängliche Wort Freund
ausgetauscht; pikant, dass Frau von Stein die heikle Stelle, in der sie wohl
einen Affront gegen sich vermutete (der Liebsten Auge am Gedichtanfang
war ihr dann doch zu wenig als Mann-am-Busen-Alternative), eigenhändig
und moralinsauer umdichtete ("An den Mond in meiner Manier"):
Seelig wer sich vor der Welt
ohne Haß verschließt
seine Seele rein erhält
ahndungsvoll genießt
Was den Menschen unbekant
oder wohl veracht
in den Himlischen Gewand
glänzet bey der Nacht.
Eindeutig erweist sich der
"unreine" Goethe als der bessere Dichter.
In jeder Sittengeschichte lässt
sich nachlesen, dass nicht selten sexuelle Begierden der Herrschaften zu ihrem
Hauspersonal entbrannten. Das beginnt in biblisch-feudalen Urzeiten mit
Potiphars Weib und dem widerstrebenden Diener Joseph und endet allgemein erst
mit der Verarmung des Bürgertums, als es sich dienstbare Geister zur
Hausbesorgung nicht mehr leisten kann. In Bühnenstücken des 18. und 19.
Jahrhunderts steigt der Hausherr gern der Magd oder der Zofe seiner Frau nach,
jedoch kaum jemals seinem Diener (allenfalls subtextual-dezent). Realiter
dürfte es aber durchaus vorgekommen sein und kam auch vor, selbst in höchsten
Kreisen: man denke nur an König Friedrich II. ("der Große") und
seinen geliebten Kammerdiener Fredersdorff (was fundamentalistische Freunde von
Preußens Glanz & Gloria bis heute nicht verschmerzen können).
Homosexualität im 18. Jahrhundert
mußte diskret gelebt werden. Sie wurde mit der Todesstrafe bedroht, die für
dieses Delikt erst 1787 in Österreich, 1791 in Frankreich und 1794 in Preußen
abgeschafft wurde. Im Mittelalter und später noch, tief bis ins 17. Jahrhundert, wurden Homosexuelle nach Hexenart
gern verbrannt: Teufel und Feuer bildeten eine definitive Allianz.26
Der neue § 1064 im
"Allgemeinen Landrecht für die preußischen Staaten" lautete nun:
Sodomiterei [Der Begriff "Homosexualität" tauchte zum ersten Mal
erst 1869 in einem anonymen Emanzipationspamphlet auf; Autor war der
deutsch-ungarische Literat und Übersetzer Károly Mária Kertbeny (Karl Maria
Benkert).] und andere dergleichen unnatürliche Sünden, welche wegen ihrer
Abscheulichkeit hier nicht genannt werden können, erfordern eine gänzliche
Vernichtung des Andenkens.
Es soll daher ein solcher Verbrecher,
nachdem er ein- oder mehrjährige Zuchthausstrafe mit Wilkommen und Abschied [d. h. mit Prügel. Als Jurist müßte Goethe diesen Terminus
technicus gekannt haben; spielt sein Gedicht "Willkommen und
Abschied" -Titel der endgültigen Fassung von 1810-, das in der ersten
Fassung von 1789 noch "Willkomm
und Abschied" hieß, darauf an?] ausgestanden hat, aus dem Ort seines
Aufenthaltes, wo sein Laster bekannt geworden ist, auf immer verbannt und das
etwa gemißbrauchte Tier getöhtet, oder heimlich aus der Gegend entfernt werden.
Wer jemand zu dergleichen
unnatürlichen Lastern verführt und mißbraucht, der ist doppelter Strafe
schuldig. Machen sich Eltern, Vormünder, Lehrer oder Erzieher dieses
Verbrechens schuldig, so soll gegen dieselben 4-8 jährige Zuchthausstrafe mit
Wilkommen und Abschied stattfinden.
Der historischen Wahrheit
halber darf nicht verschwiegen werden, dass
im gesamten 18. und 19. Jahrhundert in ganz Europa durch Staatsmacht
weniger Homosexuelle zu Tode kamen als in den nationalsozialistischen
Konzentrationslagern. Die Repression
Homosexueller bestand in Haftstrafen oder schikanöser Observation und
Registrierung.
Warum sollte, was dem Monarchen
Friedrich recht war, Goethe nicht billig gewesen sein? Im Schutz der eigenen
vier Wände bestand kaum die Gefahr einer Entdeckung, und Standesdünkel war
Goethe fremd, wie er ja auch später mit seiner Brautwahl bewies. Wenn es
körperliche Kontakte zwischen Goethe und Seidel gegeben haben sollte, handelte
es sich dabei nicht um sexuelle Ausbeutung eines Abhängigen, sondern geschah
einvernehmlich, denn zweifellos war Seidels Empathie für Goethe groß, und
umgekehrt war zumindest freundliche Sympathie vorhanden. Da Goethe durch seine Schwester Cornelia für
Frauen sexuell blockiert war, darf weniger eine konstitutionelle
"Neigungshomosexualität" angenommen werden, sondern eher -und nur-
eine surrogative "Nothomosexualität", wie sie auch in geschlossenen Männergesellschaften
unter Kriegskameraden, Strafgefangenen, Seeleuten oder Klosterinsassen vorkommt
(die durchaus nicht ohne Zuneigung sein muss).
Wenn es denn nun so
war, wie hier geschildert- beschädigt dies Goethes Bild, bringt dies das von
der Kulturindustrie auf den Sockel gehievte Denkmal zum Wanken? Nein, nicht im
geringsten (Homosexualität ist längst kein Makel mehr oder nur in dumpfen
Hirnen), und solches war auch niemals beabsichtigt. Es ist nur ein Mosaiksteinchen zu Goethes Biographie. Vielleicht wird man aber von ihm den einen oder anderen Satz zukünftig nuancierter lesen. Und es ist gut zu wissen, dass auch Genies nur Menschen aus Fleisch und Blut sind, was
durch verblendende Idolatrie oft in Vergessenheit gerät.
Wer war dieser
Philipp Friedrich Seidel? Geboren wurde
er am 7. April 1755 als Sohn eines Spenglers in Frankfurt. Trotz eigener
mäßiger Schulbildung war er schon mit 17
Jahren Hauslehrer in angesehenen Familien, so wurde auch Goethes
Schwester Cornelia seine Schülerin. Zum Abschluß ihrer Ausbildung schenkte sie
ihm ein silbernes Petschaft, mit dem er lebenslang siegelte. Es zeigt einen
Vogel, der seinem Bauer entfliegt, umrandet von der Devise: "La liberté
fait mon bonheur." Manchmal sagt ein Geschenk mehr aus über den
Schenkenden als über den Beschenkten.
Es lag auf der
Hand, dass Goethe den erprobten Bediensteten 1775 nach Weimar mitnahm. Am 25.
März 1776 schreibt Wieland in einem Brief: "Er hat sich ein Haus
gemiethet, das wie eine kleine Burg aussieht, und es macht ihm großen Spaß, daß
er mit seinem Philipp ganz allein sich im Nothfall etliche Tage gegen ein
ganzes Corps darinn wehren könnte, insofern sie ihm nicht das Nest überm Kopfe
ganz anzündeten."27
Für die Weimaraner
gehörte Seidel bald untrennbar zu Goethe. Eine Lästerzunge nannte ihn seine
"vidimirte [beglaubigte] Copie"28. Dazu erläutert Walter
Schleif: "Karl von Lynker, der als Spielgefährte der drei Söhne der Frau
von Stein sehr bald im engsten Freundeskreise Goethes lebte, erzählte als alter
Mann: 'Seine steife Haltung, die enge Bewegung seiner Arme und sein
Perpendikulargang fielen allgemein auf. Spaßhaft genug hatte ihm das Schicksal
einen Bedienten, nur unter dem Namen Philipp bekannt, zugeführt, der, obgleich
etwas kleiner, fast eine gleiche Gestalt mit ihm hatte und seine Bewegungen so
treu nachahmte, daß man oft versucht war, ihn von weitem für Goethe selbst zu
halten. Dieser Philipp war der nachmalige Rentamtamt Seidel.' [...] Auch
Böttiger berichtete: 'Goethe... schickte... seinen Bedienten (der beiläufig in
Allem seinem Meister nachahmte, so ging, den Kopf schüttelte, sprach usw.).'"29
Goethe war nur 1,69m
groß, wie DDR-Wissenschaftler, die 1970 seinen Sarkophag in der Weimarer
Fürstengruft öffneten, um seine Gebeine zu konservieren, mit einer
zuverlässigen Methode rekonstruierten (und unautorisiert ausplauderten, was die Weimarer Gralshüter erheblich verstimmte). Seidel war also figürlich etwas kleiner.
Und er dürfte ähnlich schlank, ja, schmächtig gewesen sein wie Goethe bis zu
seiner Verbindung mit Christiane Vulpius, in deren Gesellschaft Essens- &
Trinkfreuden zunahmen. Bedauerlicherweise existiert kein Porträt von Seidel,
nicht einmal ein Scherenschnitt (obwohl er selbst diese Kunst beherrschte), so
dass wir seine Physiognomie nicht kennen. Hatte er ein hübsches Gesicht? Wäre
ein Porträt überliefert, hätten Seidels Nachkommen damit gewiss den
Goethe-Seidel-Briefband geschmückt. Und auch in Archiven ist keines auffindbar.
Es gibt Konterfeis von Hinz und Kunz aus der Weimarer Goethezeit, aber kein
Bildnis dessen, der länger als zehn Jahre Goethes Nächster war. Hat der
Bilderbann Methode?
Wie pubertierende Fans heute
mit ihren Pop-Idolen betreibt Seidel Identifikation durch Mimikry- als
vermeintlich höchsten Ausdruck von Liebe, aber auch von Wichtigtuerei. Weniger
erstaunlich sein unreifes, von Unselbständigkeit geprägtes Verhalten (obwohl er
immerhin bereits 21 Jahre alt war) als dessen Akzeptanz durch Goethe- wahrscheinlich
fütterte es seinen Narzissmus.
Im April 1776
schenkte Herzog Carl August Goethe, um ihn an Weimar zu ketten, das außerhalb
des Städtchens gelegene Gartenhaus am Stern. Es war eine elende Bruchbude,
deren Sanierung jahrelang dauerte. Seidel leitete die Bauarbeiten und besorgte
anfangs nach eigenen Worten "als völlige Haushälterin die Wirtschaft"30, wozu auch noch eine billige Stadtwohnung gehörte (das Palais am
Frauenplan schenkte der Herzog Goethe erst 1793). Goethe an Frau von Stein:
"Mir hat Philipp noch einen Eyerkuchen gebacken." Seidels Eifer ging
so weit, dass er sogar Goethes Wäschebestand inventarisierte; so ist die aparte
Nebensächlichkeit überliefert, dass Goethe 178 Unterhosen und ähnlich viele
Hemden besaß, und alles aus Seide. Ob da selbst ein Karl Lagerfeld mithalten
kann?
Die Hütte ist für
Goethe kein Luxusdomizil: "Da schläft er in einer Kammer, mit einem
fichtenen Schragen, auf dem Strohsack. Oft schläft Philipp Seidel mit ihm im
gleichen Raum. Sie führen lange Nachtgespräche, wenn Goethe von der Redoute
oder einer Liebhaberaufführung zurückgekommen ist."31
Bald kommen weitere Bedienstete
hinzu: im Dezember 1776 Christoph Erhard Sutor, der Sohn eines armen Bäckers
aus Erfurt, drei Jahre jünger als Goethe; danach auch noch als Bursche der
16-jährige Johann Georg Paul Götze sowie dessen Mutter als Hauswirtschafterin
und die alte Dorothee Wagenknecht als Köchin. Seidel ist der Personalchef.
Eines Tages steht
noch "ein kleiner wilder Schweizerbube"32 mit seinem Spitz Hänsli und einer langen Tabakspfeife vor der
Tür: "Ein romantischer Offizier hatte ihn in den Schweizer Bergen
aufgegriffen und 'Peter im Baumgarten' genannt nach der Stelle, wo er ihn fand
[...] der Offizier ging nach Amerika in den Krieg und fiel. "33
Es ist à la Boheme eine Art Jugendherberge,
komplettiert mit Fritz von Stein, die Goethe eröffnet hat. Man könnte meinen,
dass es dabei um sexuelle Ersatzhandlungen ging (ein 'House of boys' für den
Eigenbedarf war es nicht, kein Ort für die 'heroische Leidenschaft', wie
Päderastie zu Goethes Zeiten auch genannt wurde), aber groß in Mode stand
damals gerade Erziehung in der Nachfolge von Rousseau. Es wurde pädagogisch
viel experimentiert, und das erweckte auch Goethes Interesse. Darum hatte er
dem Grafen von Lindau versprochen, sich um dessen Mündel kümmern.
"Der Junge ist
nun mein", schreibt Goethe triumphierend an Lavater, seinen Schweizer Guru
zu jener Zeit: "Ich will sehen, obs glückt, was ich mit ihm vorhabe."
Es glückte nicht: "Der Junge ist begabt, aber nicht zu zähmen, er beschmiert
Goethes Gipsbüsten mit Tinte, rückt aus, verübt Streiche [...] Fleißig ist er
nur in anderer Beziehung: Er macht der Pfarrerstochter ein Kind, muß sie
heiraten und zeugt fünf weitere Nachkommen. Dann verschwindet er für immer,
vielleicht nach Amerika auf den Spuren seines ersten Gönners. Die Familie fällt
der Gemeinde zur Last, ein Patenkind Goethes ist darunter. Goethe [...] (hätte)
den trotzigen und verlorenen Buben [...] wohl besser auf seiner Alm gelassen
[...]"34 Auch die
Erziehungsversuche an Fritz von Stein bleiben unbefriedigend; erst viel später
gelingt es diesem, sich in preußischen Diensten beruflich halbwegs zu
etablieren.
Am 11. Juni 1776,
ungefähr ein halbes Jahr nach seiner Ankunft in Weimar, war Goethe vom Herzog
mit dem Titel eines Geheimen Legationsrats zum Mitglied des Geheimen
Conseils ernannt worden. Dazu, kaum übertrefflich nobel-elegant, Goethes
Biograph Richard Friedenthal: "Es ist eine veritable Freundschaft,
fast Liebschaft, und sie wird jetzt, wie Goethe schreibt, zu einer Ehe. [...]
Zweifellos ist dabei auch ein erotisches Element im Spiele, das durchaus nicht
physischer Natur zu sein braucht. Karl August ist der Mann, der Werbende,
Goethe der weibliche Partner, er läßt sich umwerben. [...] Goethe schläft auch
immer wieder 'beim Herzog' [...] Fast vor jeder wichtigeren Entscheidung steht
dieser Eintrag in seinem Tagebuch. In langen Nachtgesprächen wird da alles
durchgenommen, was das Herz und den Kopf bewegt. [...] Goethe berät den Freund
bei dessen vielfachen Liebeleien und auch in den sehr viel heikleren Fragen
seiner Ehe. Berufungen, Stellenbesetzungen werden diskutiert, die Beziehungen
zu den benachbarten Fürstenhöfen [...] Es ist der kurioseste Ministerrat, der
sich denken läßt, so von Bett zu Bett oder nebeneinander auf einem breiten
Kanapee.
Aber dieses Treiben
muß auch in Zusammenhang mit der Zeit gesehen werden. Goethe ist Favorit, und
überall in Europa regieren die Favoriten oder Favoritinnen. Man spricht von der
Kabinettspolitik, aber man könnte ebensogut von der Bettpolitik im 18.
Jahrhundert reden. [...] unleugbar, die Akten und Goethes Privatakten, seine
Tagebücher beweisen es deutlich, lebt er eine ganze Weile fröhlich dies
Günstlingsleben."35
Goethe begleitete
den Herzog häufig auf die Jagd, und nicht nur auf Wild. Der Homerübersetzer
Johann Heinrich Voß in einem Brief voller Entsetzen (und also insgeheim
neidisch): "In Weimar geht es schrecklich zu. Der Herzog läuft mit Göthen
wie ein wilder Pursche auf den Dörfern herum, er besauft sich und genießet
brüderlich einerlei Mädchen mit ihm. Ein Minister, der gewagt hat, ihm seiner
Gesundheit halber die Ausschweifungen abzuraten, hat zur Antwort gekriegt: Er
müßte es tun, sich zu stärken."36
Carl Augusts Frau
Luise war von erbarmenswerter Hässlichkeit: lang und dürr und asexuell. Carl
August hatte sich ihrer erbarmt und sie aus dynastischen Erwägungen geheiratet.
Die Darmstädter Prinzessin war bereits vorher am russischen Hof von Katharina
der Großen, als diese Brautschau für ihren Sohn hielt, beim ersten Anblick
entsetzt ausgemustert worden.
So entwickelte sich
Carl August zum exzessiven Schürzenjäger, der die Töchter seines Landes
reihenweise schwängerte. Die männliche Brut wurde zu den Jägern und Förstern
gesteckt; man erkannte sie daran, dass der Herzog sie duzte, während er seine
gemeinen Untertanen sonst in der dritten Person anzureden pflegte. Goethe
dürfte bei den herzoglichen Sexualprotzereien nicht zum Zuge gekommen sein (er
sah zwar besser aus als der grobschlächtige Herzog, war aber eben nicht der
Landesherr) und blieb daher auch, im Gegensatz zu Carl August, von
Geschlechtskrankheiten verschont.
Die Kunde vom
"Genietreiben" in Weimar verbreitete sich wie ein Lauffeuer in
deutschen Landen. Klopstock, der Doyen der altdeutschen Literatur ("Der
Messias"), fühlte sich bemüßigt, Goethe in die Schranken zu weisen, der
ihm, was zu einem lebenslangen Bruch führte, frech antwortete: "Verschonen
Sie uns in's künftige mit solchen Briefen [...]" Aber Klopstock gelang es
immerhin, durch ein Machtwort den Grafen Friedrich zu Stolberg, einen der Nacktbader, von dem Sündenpfuhl fernzuhalten.
Es gab aber
ebenfalls viel harmlosen Zeitvertreib, an dem auch Seidel teilnahm:
Schlittschuhlaufen, Fechten, Schießen, Tanzen, Schwimmen zu jeder Jahreszeit,
Theater spielen- neben Goethe stand in kleinen Rollen auch sein Philipp auf der
Bühne. Es scheint so, als ob Goethe erst jetzt, mit erheblicher Verzögerung,
aber nun mit Volldampf, seine Pubertät auslebte.
Seidels
Hauptaufgabe bestand in den Schreibarbeiten eines Sekretärs: Er schrieb Goethes
Manuskripte ab, führte auf der zweiten Schweizer Reise 1779 sogar das Tagebuch
und erledigte alle Korrespondenz, so auch mit Goethes Mutter, der er etwa zu
schreiben hatte: "Der Geh. Leg. Rath ersucht die Frau Räthin ihme aufs
Frühjahr wieder einige Bouteillen oder Krüge ganz a l t e n Wein in
seinen Keller zu schaffen."37 Und da er auch
sonst Frau Aja eifrig mit Nachrichten aus Weimar versorgte, nannte sie ihn
lobend "Herrn Goethens Blitz pagen"38. Seidel korrespondierte meistens selbständig, ohne Diktat, nur
nach Absprache. Seine Handschrift war der Goethes täuschend ähnlich. Im
"Egmont" hat der Dichter mit diesen Fähigkeiten den Geheimschreiber
Richard charakterisiert, was gleichzeitig seine Wertschätzung Philipp Seidels
bezeugt und vielleicht auch ein versteckter Liebeswink war.
Und Seidel dichtete
sogar, zwar brav-epigonal, aber niemals niveaulos ("Ich geh nun so gerne/
in stiller Nacht allein,/ zu sehn die lieben Sterne,/ den klaren Mondenschein./
Ach, nach dem Taggetümmel/ lab ich recht inniglich/ an diesem schönen Himmel/
für alles Übel mich."39). Wieland veröffentlichte einiges davon in seinem "Teutschen
Merkur" und schenkte ihm alle erschienenen Ausgaben der Zeitschrift in
gebundenen Bänden.
Daneben versuchte
Seidel sich auch als Unternehmer- erfolglos. Dr. C.A.H. Burkhardt, der
Herausgeber der Italienbriefe Goethes an Seidel, berichtet, er habe "auf
eigene Rechnung eine Leinwandspinnerei betrieben, bei der er in der Folge an
fünfzig Personen beschäftigte; er etablierte einen Strumpfverlag, wahrscheinlich
für die Nachbarstadt Apolda ohne daß Goethes Interesse im mindesten in den
Hintergrund gedrängt wurde. Es gehörte eben die volle Dehnbarkeit eines
dreiundzwanzigjährigen Menschen dazu [...]"40. Die Produktion litt stark unter Absatzschwierigkeiten. Dem
Herzog ließen sich Subventionen -Goethe hatte geraten, sie zu erbitten- nicht
abluchsen (schon damals musste der Mittelstand darben), und so blieb Seidel auf
8 615 Paar Strümpfen sitzen. Damit war die Karriere in dieser Branche aber noch
nicht beendet. Charity nach dem Flop: 1781 wurde er "Begründer der laut
Beschluß der Kriegskommission ins Leben gerufenen Spinn- und Strickschule armer
Soldatenkinder, die so lange Seidel die Aufsicht führte, wohl gedieh und viel
Segen für eine anerkannt bedürftige Klasse der Weimarischen Bevölkerung
gebracht hat"41.
Seidels Jahresgehalt
in Goethes Diensten betrug nur 50 Taler. Darum stellte Seidel seinem Herrn auch
obendrein kleine Extras in Rechnung (Naschereien wie Rahm, Obst nach Saison,
Haarnadeln, Tabak, Pfeifenrohre, Pfeifendeckel, Bücher, Klaviermiete, Kosten
für einen eigenen Garten, Vergnügungen wie "das Trampelthier zu
sehen"42)- das kann sich nur
ein Geliebter erlauben, und der Liebhaber tolerierte es gnädig. Und obwohl
Goethe die "Schmauchlümmel" zuwider waren, durfte Seidel sich die
Freiheit herausnehmen, in seiner Nähe zu rauchen.
Goethe, der bereits
in ganz Europa Berühmte, reiste unter dem Pseudonym Jean Philippe Möller gen
Italien, er verschmolz also seinen (französisierten) Vornamen mit dem Seidels. Das
dürfte keineswegs eine zufällige Namenshochzeit gewesen sein, sondern die
Beurkundung des gelebten Fait accompli-
und auch ein Trostpflaster für den Zurückbleibenden.
Von den Briefen,
die Goethe auf seiner Italienreise an Seidel schrieb, sind 31 überliefert. Sie
finden sich verstreut gedruckt in der Weimarer Ausgabe und gesammelt in einem
Separatband43 , der in der Wiener
Verlagsbuchhandlung erschien, die Seidels Sohn Ludwig Wilhelm gründete. Die
Originale hat die Familie Seidel verhökert; sie gehören heute zum Bestand der
Pierpont Morgan Library in New York.
Philipp Seidel war
für Goethe in Italien der wichtigste Briefpartner, der für ihn in Weimar eine
Fülle von Aufgaben zu erledigen hatte- zuallererst die Organisation des
Geldnachschubs; dann Angelegenheiten, die den Hausstand und Verlagsgeschäfte
betrafen, schließlich fungierte er als Kontaktperson zur Heimat und versorgte
Goethe mit Neuigkeiten aus Weimar und Weimar mit Neuigkeiten aus Rom.
An die 16 Tage war ein
Brief vom Absender bis zum Empfänger unterwegs, und Goethes Vertrauen in die
Post muss ungebrochen gewesen sein, denn sonst hätte er ihr kaum die
unkopierten Originalmanuskripte der "Iphigenie" und des
"Egmont" anvertraut- bekanntlich gingen die Stücke aber nicht
verloren.
Der Ton in Goethes Briefen an
Seidel wird herzlich, wenn die Geschäfte abgehakt sind: "Ich freue mich
daß du wohl bist u. meiner in Liebe gedenkst. Gehe deinen Weg fort, sey fleisig
in deinem Ämtgen, sey aufmerksam auf das, was sodann am nächsten liegt u. sieh
dich manchmal zur Erhohlung in einem weitern Felde um. Ich bin wohl u.
vergnügt." (17. Februar 1787)
Seidel war so vertraut mit
Goethe, dass dieser sogar seine literarische Kritik zuließ: "Was du von
meiner Iphigenie sagst, ist in gewissem Sinne leider wahr. Als ich mich um der
Kunst und des Handwerks willen entschließen mußte, das Stück umzuschreiben, sah
ich voraus, daß die besten Stellen verlieren mußten, wenn die schlechten und
mittleren gewannen. Du hast zwei Szenen genannt, die offenbar verloren haben.
Aber wenn es gedruckt ist, dann lies es noch einmal ganz gelassen, und du wirst
fühlen, was es als ganzes gewonnen hat. [...] Übrigens bleibe ja dabey, und ich
fordere dich dazu auf, mir über alles, was mich selbst angeht, und was du sonst
gut finden magst, deine Meinung unverhohlen, ja ohne Einleitung und
Entschuldigung zu sagen. Ich habe dich immer als einen meiner Schutzgeister
angesehen, werde nicht müde, dieses Ämtgen auch noch künftig beyher zu
verwalten."(15. Mai 1787)
Das Verhältnis von Goethe und
Seidel übersteigt bei weitem eine Herr-Diener-Beziehung: "Die Verhältniße
die du mir, gleichsam in einem Spiegel hinstellst, wollen wir der Zeit zu
entwickeln überlaßen. Soviel kann ich dir sagen, daß deine Gedanken sehr mit
den Meinigen zusammentreffen; ja biß auf geringe Modifikationen, dieselbigen
sind. [...] Sieh was etwa in meinem Hauswesen, sich rücken u. legen läßt, ich
überlaße alles deinem Gutdüncken. [...] Sage mir sonst über eins u. das andere
deine Meinung, und bediene dich indeß meines Hauses und des Meinigen, zu deiner
Nothdurft u. zu deinem Vergnügen. [...] Ich wünsche daß unsre gegenwärtige
Correspondenz alles wegheben möge, was zwischen einem unbedingten
wechselseitigen Vertrauen stehen könnte, denn ich hoffe du sollst mir, bey
meiner Zurückkunft u. in der Folge mehr werden als du mir jemals warst."
(18. August 1787)
War ein von Seidel brieflich
angezettelter Zwist vorausgegangen, der Goethe fast schon ein eheähnliches
Versprechen abnötigte? Leider sind Seidels Briefe an Goethe in Italien nicht
erhalten, lediglich acht andere aus den Jahren 1789-1799 lagern im Weimarer
Archiv. Ihr Ton ist geschäftsmäßig distanziert und auf Wahrung der Form
bedacht. Gern wüsste man, wie der Ton in Seidels Briefen nach Italien klang: Hat
er sich zu Intimitäten hinreißen lassen? Hat er Goethe vielleicht geduzt (wie
dieser privat Carl August duzte, in der Öffentlichkeit mit ihm aber 'per Sie'
war)?
In der Goethe-Biographik
wird immer wieder kolportiert, Goethe habe 1797 (am 7. Juli; im Tagebuch wird
er sich über die "schöne grüne Farbe der Flamme" freuen, "wenn
das Papier nahe am Drahtgitter brennt") in einer 'Lebenskrise' a l l e
vor 1792 empfangenen Briefe verbrannt, was natürlich Unsinn ist, denn
sonst gäbe es keine Regest-Ausgabe der "Briefe an Goethe" mit zahllosen
Episteln, die vorher datiert sind. Aber hat Goethe vielleicht bei dieser Aktion
Cornelias Briefe verbrannt? Und möglicherweise auch die von Philipp Seidel?
Oder liegen letztere vielleicht immer noch unter Verschluss in irgendeinem
Archiv (wie früher das von den Goethe-Verwaltern lange Zeit unterdrückte
Gedicht "Das Tagebuch", in dem "Meister Iste" schlappmacht
und Schuldgefühle den Ehebruch verhindern), weil sie vermeintlich Goethe
kompromittieren könnten? Briefe zu verbrennen, bedeutet Tabula rasa zu machen,
sich Unangenehmes vom Hals zu schaffen, ist endgültiger Abschied, aber auch
Vernichtung eventuell anstößiger 'Beweismittel'. Und Goethe hatte eine Vorliebe
für Geheimniskrämerei: "Was ich geworden und geleistet, mag die Welt
wissen, wie es im einzelnen zugegangen, bleibe mein eigenstes Geheimnis."
Das ist auch ganz Mephistos Maxime:
Das Beste, was du wissen
kannst,
Darfst du den Buben doch
nicht sagen.
Am 12. Juli 1788 erlosch Seidels Stern im Goethe-Kosmos: an diesem für ihn so luguberen Tag begegnete ein "vulgäres Blumenmädchen" (Charlotte von Stein, vor
Eifersucht schäumend) dem Dichter, und "die Kleine" (Friedrich
Schiller nannte sie lebenslang so) namens Christiane Vulpius avancierte
unverzüglich zu seinem "Bettschatz" (Frau Aja, unverblümt). 1806 hat
Goethe sie geheiratet. Sexuell war er an seinem Ziel angekommen (das
Geschlechtsleben dürfte rege gewesen sein, wie fünf Geburten bekunden, von
denen allerdings nur Sohn August lebensfähig war; die kurze enge Bettkiste des Witwers im Schlafkabinett
neben seinem Arbeitszimmer animiert den heutigen Betrachter zu keinerlei
erotischen Phantasien). Kurze Zeit später verließ Philipp Seidel das Haus.
Seine Verletzung muss unbeschreiblich gewesen sein.
Am 5. Januar 1789 heiratet er wie aus verzweifeltem Trotz die
Jungfer Dorothea Carolina Frankin, es waren "wohl mehr Versorgungsprobleme
als himmelstürmende Liebe, die ihn zu diesem Schritte bewogen"44. Immerhin reichte es für die Zeugung von einer Tochter und zwei
Söhnen. Und 1799 wurde ein Haus gebaut, ein stattliches.
Um sich seinen Diener noch leisten zu können, hatte Goethe 1785
Seidel als Kammerkalkulator bei der Weimarer Regierung untergebracht. In dem
Bewerbungsschreiben Seidels vom 1. September 1785 heißt es:
"Ich habe mich, solange ich bey Höchst Ihro
Geheimenrath von Goethe in Diensten stehe, beflißen, mir verschiedene
kameralische Kenntniße zu erwerben, besonders aber habe ich das Rechnungswesen,
sowohl durch Lesen der besten Bücher, als auch durch eigene Übungen, wozu ich
mannichfaltigen Anlaß und Gelegenheit gehabt, mir bekannt und geläufig gemacht.
Im Vertrauen auf Ew. p. höchste Gnade wage ich nunmehr die
unterthänigste Bitte Höchdieselben mögen geruhen, mich bey dem
Rechnungsdepartment auf irgend eine Weise anstellen und mir dadurch Gelegenheit
verschaffen zu laßen mich zu einem brauchbaren Diener täglich mehr auszubilden.
Diese Gnade will ich durch Fleiß und Treue zu verdienen mich
jederzeit auf das eifrigste bestreben. Der ich mit der tiefsten Unterthänigkeit
ersterbe [...]"45
Seidel erhielt, die Beförderung anderer überspringend, am 25.
November 1785 sein Anstellungsdekret als "Cammer Calculator", mit
einer Besoldung von 92 Talern pro anno
(Goethes Jahressalär betrug 1 600 Taler).
Bereits im folgenden Jahr schrieb er an Goethe nach Rom wegen einer
Gehaltsaufbesserung. Dieser warf sich für ihn sogleich beim Herzog brieflich
ins Zeug, mit gottähnlicher Attitüde: "Ich will ihn nicht unbedingt
empfehlen, weil er der Meinige war und im edelsten Sinne mein Geschöpf
ist; aber ich wünsche daß man ihn kennen lerne. [...] Er ist jung und auf eine
Zeit hinaus von ihm etwas zu hoffen.
Lassen Sie ihn prüfen, prüfen Sie ihn bey Ihrer Rückkunft selbst, ich
müßte mich sehr betrügen, wenn Sie in dieser Classe Menschen einen gleichen
fänden."46
Seidel erhält von Goethe die Rückmeldung: "Ich habe
gewissenhaft das Gute gesagt, was ich von dir dencke."47 Und in
einem anderen Brief an den Herzog bohrt er weiter: "Lassen Sie seine
Fähigkeiten prüfen, für seine Treue und Honnettetät steh ich."48
Am 19. Februar 1789 (nachdem Seidel schon Monate zuvor Goethes
Haushalt verlassen hatte) wird der Herzog von Goethe endgültig weich geklopft-
insgesamt eine psychologisch-strategische Meisterleistung: "Sodann wird das hiesige Rentamt [Behörde für die örtliche
Finanzverwaltung], durch Wirsings Retraite leer. Der Commissarius Seidel hat
sich dazu gemeldet, man traut ihm die Fähigkeiten zu, für seine Redlichkeit bin
ich bürge. Die Cammer scheint wohl für ihn gesinnt und ich glaube ihn besonders
vor seinen Competenten empfehlen zu dürfen. Ich bin überzeugt daß ausser den
gewöhnlichen Dienst Verrichtungen er der erste seyn wird, der den magischen
Schleyer, welcher die Renth Amts Geschäfte noch immer zudeckt, gerne und
freywillig wegzieht. Er kennt das Hockuspuckus recht gut, wodurch man Cammer und
Fürsten in ewigen Zweifeln und Dunckelheit zu halten weiß und selbst einiger
Verlust an eigenen Einkünften wird ihn nicht abhalten manches zu entdecken, das
auf die allgemeine Ordnung und Klarheit von nicht geringem Einfluß seyn
wird."49
Der Herzog folgte
Goethes Vorschlag, und Seidel trat im Mai 1789 sein Amt an. Er hatte eine
Kaution von 1 000 Talern zu stellen, was Goethe übernahm und von Seidel
folgendermaßen quittiert wurde: "Nachdem Seine Hochwohlgeb. der Herr
Geheimerath Johann Wolfgang von Goethe allhier, dadurch, daß Dieselben, zu
meinem unterthänigen Danke, die Gnade gehabt, wegen Ein Tausend Thaler, die ich
zu Bestellung meiner Dienstcaution bey Fürstl Cammer allhier von Fräulein
Carolinen von Volgstädt allhier ausgezahlt erhalten, zur Sicherung der
Creditricien zu expromittiren [jemand durch Übernahme seiner Schuld von seiner
Verbindlichkeit befreien], auf diese Summe mein Creditor geworden: So bekenne
ich mich nicht nur vermöge dieses Rückscheines zu dem erhaltenen Anlehn der
1000 thlr, welches ich zu Bestellung meiner Dienst-Caution bei Fürstl Cammer
würcklich verwendet habe, sondern verspreche auch, unter Verpfändung aller
meiner Habe, Hochgedachtem Herrn Geheimenrath für diese Summe gerecht zu seyn
und Hochdieselben, wegen der geleisteten Expromission für Capital und
Interessen zu 4 pc., zu iederzeit zu vertreten und schadlos zu halten.
Weimar, den 30 May
1789 Philipp
Friedrich Seidel."50
1792 kam es zu dem Kuriosum,
dass sich "der Herr Geheimerath" -schon vorher bei anderen ein
Pumpgenie, zum Beispiel beim befreundeten Darmstädter Kriegsrat Merck- von
seinem ehemaligen Diener die beträchtliche Summe von 1270 rthl lieh, die Goethe
über Jahre abstotterte, mit 4% Verzinsung, wie sie auch Seidel ihm für die
Kaution zu zahlen hatte. Der sonst eher affirmative Goethe-Biograph Emil Ludwig
kritisiert: "[...] als er ihm etwas von den 1200 Talern wiedergibt [...],
nimmt er durchaus den Herrenton an, als müßte der Gläubiger ihm recht dankbar
sein: 'Du erhältst hier eine schöne Partie Doppellouisdors.' [...] Jetzt, da
ihm jener aus seinem schnöden, von Goethe verachteten Reichtum etwas abgibt,
wird es mit kalter Geste ohne Dank zurückgegeben."51
Goethes chronische Geldnot endete erst 1826, als der Verleger Cotta 60 000
Taler für die 'Ausgabe letzter Hand' bezahlte (verlangt hatte Goethe 100 000)-
es war das höchste Honorar, das bis zu diesem Zeitpunkt ein Dichter in
Deutschland erhalten hat.
Vielleicht erkaufte sich Goethe
mit Seidels Karriereförderung auch dessen Schweigen über die gemeinsamen Jahre.
Richard Friedenthal: "Wir haben leider nur ganz wenige Einblicke in dies
einzigartige Verhältnis; vieles, was Seidel sah und hörte, schrieb er wohl auch
aus Treue und Rücksicht nicht auf. [...] Er könnte uns mehr über ihn erzählen,
als alles noch so eifrige Behorchen der Briefe und Tagebücher verrät. Er hat
geschwiegen."52 Heutige royale Butler in England könnten von Seidel
lernen.
Im neuen Amt hatte Seidel
soviel Zeit übrig, dass Goethe ihn extern auch noch jahrelang dazu benutzen
konnte, seine finanzielle Haushaltsführung abzuwickeln, mit der Frau Christiane
völlig überfordert war. Seidel (zweifelsfrei ein "analer Charakter")
kannte "das Rasseln des Geldkastens und aller Thaler Groschen und
Pfennige"53 bestens.
Weimar den 14 Febr 1799 Ihr
Gehorsamer
PhFrSeidel"54
Walter Schleif kommentiert: "Der Sinn dieser dunklen Rede ist wohl der, daß Seidel sich vom 'Dienersein' durchgerungen hatte zum freien Gebaren der Gesellschaftsschicht seines ehemaligen Herrn [...]."
55
Eher jedoch ist anzunehmen, dass Seidel noch einmal zurückblickt auf sein privates Verhältnis zu Goethe und hiermit die endgültige innere Ablösung vom geliebten Herrn & Meister vollzieht, besiegelt durch einen brieflichen Schlussstrich. Nun endlich gilt auch für ihn: "La liberté fait mon bonheur."
Danach kam es nur noch zu flüchtigen Begegnungen: am 16. April 1800 notierte Goethe, mit anderen "nach Tisch bey Seidel am Jakobs thore" gewesen zu sein, wahrscheinlich, um das neue Haus zu besichtigen; im Tagebuch erwähnt er Seidel noch am 16. Juli 1804, dann erst wieder am 17. September 1812: "Bey Serenissimo im römischen Haus [...] Auf dem Weg Gespräch mit Rentsecretär Seidel."
Nicht ohne eine gewisse Verbitterung, aber auch mit Genugtuung äußerte Seidel selbst: "Ich lernte das Nein."
56
Allmählich dürfte ihm bewusst geworden sein, dass Goethe alle Menschen in seinem Umfeld zum eigenen Vorteil instrumentalisierte57, wie er es auch mit ihm getan hatte. Hinzu kam noch, dass Goethe mit zunehmendem Alter immer unleidlicher wurde, wie es der Tagebucheintrag eines Zeitgenossen beklagt: "Es ist keinem Menschen gesund, auch dem allerhöchsten nicht, wenn er allen Widerspruch entfernt, ihm aus dem Wege geht und nur lauter Affens verlangt. So ist es Jemand nicht gut, daß Schiller nicht mehr um ihn ist; denn der widersprach ihm doch zuweilen nicht nur mit Worten, sondern mit der Tat. Seitdem ist er nur mit solchen umgeben, die zu allem Ja sagen müssen, weil sie ihre Existenz nicht riskieren wollen."58
Dr. C.A.H. Burkhardt beschließt sein Vorwort zur Ausgabe der Goethe-Briefe an Seidel mit dem Satz: "Philipp Seidel aber starb geschätzt als Beamter und hochgeachtet von allen seinen Mitbürgern [...]"59
In der Tat hatte Seidel den sozialen Aufstieg ins gehobene Weimarer Bürgertum geschafft. Das ist allerdings nur die halbe Wahrheit. Ob Burkhardt die andere Hälfte vorsätzlich unterschlug, um die Familie Seidel zu schützen, oder aus Unwissen, bedarf hier keiner Klärung.
Goethe selbst schließt die biographische Lücke, in einem Brief, dem er ein "Blatt für Herrn Goullon, mit meinem Gruß mitzutheilen" anfügte. Goullon, der ehemalige französische Leibkoch der Herzoginmutter Anna Amalia, betrieb in Weimar das "Hotel de Saxe" mit angeschlossenem Weinrestaurant, aus dem auch Goethe oft Pasteten, Salate und andere Leckerbissen bezog, und war mit Seidel gut bekannt; der angehängte Bericht ist Goethes letzte überlieferte Erwähnung seines ehemaligen "Blitz pagen" Philipp Seidel:
"Die Theilnahme des Herrn Goullon an dem Schicksal des guten Seidels konnte ich nicht ohnbeachtet lassen und fragte daher bey meiner Ankunft in Jena sogleich nach dem Unglücklichen. Die erhaltenen Nachrichten überzeugten mich, daß nichts anderes noch Besseres hätte geschehen können, als ihn herüber zu schaffen. Er wüthete die erste Zeit; nun aber hat er sich beruhigt, spaziert mit dem Inspector im Garten, raucht Tabak und gefällt sich am Orte, ohne eigentlich zu wissen, wo er ist. Auch mit Herrn Geh. Hofrath Stark habe deshalb gesprochen, und alle Freunde können sich beruhigen daß er nirgend besser könne aufgehoben noch versorgt seyn. Eine mögliche Herstellung wird durch gute Behandlung auf alle Fälle vorbereitet.
Den 22. April Morgens. So eben besucht mich der Irrenhausinspector Eilenstein und bringt mir den Umständen nach gute Nachricht; was ich von ihm über die Behandlungsweise seiner Patienten gehört, überzeugt mich daß Seidel nicht besser aufgehoben seyn könnte. Hievon werden sich die Seinigen gleichfalls überzeugen, wenn sie von Zeit zu Zeit Erkundigung einziehen und zwar persönlich, wie auch schon geschehen ist."60
Die doppelte Versicherung, Seidel könne nicht besser "aufgehoben" sein, dürfte ein enormes latentes Schuldgefühl Goethes bezeugen. Den Gedanken, selbst einmal Seidel zu besuchen, verdrängte er in seiner bekannten ureigenen Thanatophobie, die bereits beim geringsten Kranksein begann. Friedrich Philipp Seidel starb ein halbes Jahr später, am 19. November 1820, im Jenaer "Irrenhaus" an "Schlagfluss" (Apoplexie). Zwei Tage später wurde er beerdigt. Kein Goethe hat ihn begleitet. Anmerkungen: 1 Satta,
Fiamma/ Zapperi, Roberto: Goethes
Faustine. Die Geschichte einer Fälschung.
Goethe-Jahrbuch 113/ 1996, S. 277ff.; Zapperi, Roberto: Das Inkognito. Goethes ganz andere Existenz in Rom. München: dtv,
2002 2 Eissler, Kurt R.: Goethe. Eine psycholanalytische Studie
1775-1786. Bd. 2. Frankfurt a. M.: Stroemfeld, 1986, S. 1156 3 Ebd., S. 1158 4 Friedenthal, Richard: Goethe. Sein Leben und seine Zeit. München:
Piper, 151986, S. 268f. 5 Rank, Otto: Das Inzest-Motiv in Dichtung und Sage. Grundzüge einer
Psychologie des dichterischen Schaffens.Leipzig-Wien: Deuticke, 1912 6
Springer, Brunold: Der Schlüssel zu
Goethes Liebesleben. Berlin: Verlag der Neuen Generation, 1926 7
Z.B.. Bode, Wilhelm: Weib und Sittlichkeit in Goethes Leben und Denken. Berlin: Mittler
& Sohn, 1916 oder Appel, Sabine: Im Feengarten. Goethe und die Frauen.
Stuttgart: DVA, 1998 8 Vgl. Schöne, Albrecht:
Schillers Schädel. München: C.H. Beck Verlag, 2002 9
Eissler, Bd.1, S. 706 10 Ebd., S.198 11 Zit. nach
Friedenthal, S. 370 12 Conrady, Karl Otto: Goethe. Leben und Werk. Bd. 1. Königstein/ Ts.: Athenäum, 1982, S. 125 13
Wilpert, Gero von: Goethe-Lexikon.
Stuttgart: Kröner, 1998 14
Pruys, Karl Hugo: Die Liebkosungen des
Tigers. Berlin: edition q, 1997 15 Hitschmann,
Eduard: Psychoanalytisches zur Persönlichkeit Goethes. (1932) In: Cremerius,
Johannes (Hrsg.), Neurose und
Genialität. Frankfurt am Main: S. Fischer,
1971, S. 151-181 16
Freud, Sigmund: Gesammelte Werke,
Bd.XII. Frankfurt am Main: S. Fischer, 1963, S. 26 17 Boyle, Nicholas: Goethe. Der Dichter und seine Zeit. Bd. 1: 1749-1790. Aus dem Englischen
von Holger Fliessbach. München: Beck, 1995, Bd. 1, S. 389f. 18 Müller, Friedrich von: Goethes Unterhaltungen mit dem Kanzler
Müller. Hrsg. von C.A.H. Burkhardt, Stuttgart: Cotta, 1870, S. 174 19 Eissler, Bd. 2., S. 1710 20 Schleif,
Walter: Goethes Diener. Berlin und Weimar: Aufbau, 1965 21
Ebd., S. 31 22 Ebd., S. 33 23 Ebd. 24
Kaus, Rainer J.: Anmerkungen zu
Goethe. Eine psychoanalytische Untersuchung über Goethe als Repräsentant deutscher Kultur. Diss., Groningen 1994 25 Ebd., S. 84 26 Vgl. zur Rechtsgeschichte der Homosexualität Derks, Paul: Die
Schande der heiligen Päderastie. Homosexualität und
Öffentlichkeit in der deutschen Literatur 1750-1850, Berlin: Rosa Winkel, 1990,
S. 140ff. 27 Zit. nach Schleif, S. 28 28 Dr. C.A.H. Burkhardt, Einleitung. In: Goethes Briefe an Philipp
Seidel. Wien: L.W. Seidel & Sohn, 21909, S. 4 29 Schleif, S. 28f. 30 Schleif, S. 30 31 Friedenthal, S. 205 32 Friedenthal, S. 231 33 Ebd. 34 Friedenthal, S. 231f. 35 Friedenthal, S. 199f. 36 Friedenthal, S. 191 37 Zit. nach Schleif, S. 42 38 Zit. nach Schleif, S. 45 39 Zit. nach Schleif, S. 65 40 Dr. C.A.H. Burkhardt, S. 6f. 41 Ebd., S.7 42 Schleif, S. 39 43 Goethes Briefe an Philipp Seidel. Mit einer Einleitung von Dr.
C.A.H. Burkhardt. Wien: L.W. Seidel & Sohn, 21909 44 Schleif, S. 76 45 Ebd., S.70 46 Ebd., S. 71 47 Ebd. 48 Ebd. 49 Ebd., S. 72 50 Ebd. 51 Ludwig, Emil: Goethe. Geschichte eines Menschen. Gütersloh: Bertelsmann, o.J., S. 388 52 Friedenthal, S. 206f. 53 Zit. nach Schleif, S. 79 56 Dr. C.A.H. Burkhardt, S. 17 57 Vgl.
Jens, Tilman: Goethe und seine Opfer. Eine Schmähschrift. Düsseldorf: Patmos,
1999 Literatur: Goethes
Werke (verschiedene Ausgaben) Goethes
Briefe an Philipp Seidel. Mit einer Einleitung von Dr. C.A.H. Burkhardt. Wien:
L.W. Seidel & Sohn, 21909 Appel,
Sabine: Im Feengarten. Goethe und die Frauen. Stuttgart: DVA, 1998 Bode,
Wilhelm: Weib und
Sittlichkeit in Goethes Leben und Denken. Berlin: Mittler & Sohn, 1916 Boyle, Nicholas: Goethe. Der Dichter in seiner Zeit. Bd. 1:
1749-1790. Aus dem Englischen von Holger Fliessbach. München: Beck, 1995 Conrady, Karl Otto: Goethe. Leben und Werk. Bd. 1. Königstein/
Ts.: Athenäum, 1982 Derks,
Paul: Die Schande der heiligen Päderastie. Homosexualität und Öffentlichkeit Eissler,
Kurt R.: Goethe. Eine psycholanalytische Studie 1775-1786. Hrsg. v. Rüdiger
Scholz, in Verb. mit Wolfram Mauser und Johannes Cremerius. Aus dem
Amerikanischen von Peter Fischer (Bd. 1) und Peter Scholz (Bd. 2). Frankfurt a.
M.: Stroemfeld, 1986 Freud,
Sigmund: Gesammelte Werke, Bd.XII. Frankfurt am Main: S. Fischer, 1963 Friedenthal,
Richard: Goethe. Sein Leben und seine Zeit. München: Piper, 151986 Hitschmann, Eduard:
Psychoanalytisches zur Persönlichkeit Goethes. (1932) In: Cremerius, Johannes
(Hrsg.), Neurose und Genialität. Frankfurt am Main: S. Fischer, 1971, S. 151-181 Jens,
Tilman: Goethe und seine Opfer. Eine Schmähschrift. Düsseldorf: Patmos, 1999 Kaus, Rainer J.: Anmerkungen zu
Goethe. Eine psychoanalytische Untersuchung über Goethe als Repräsentant
deutscher Kultur. Diss., Groningen 1994; dass. unter dem Titel: Der Fall Goethe
- ein deutscher Fall : eine psychoanalytische Studie. Heidelberg: Winter, 1994 Ludwig,
Emil: Goethe. Geschichte eines Menschen. Gütersloh: Bertelsmann, o.J. Müller, Friedrich: Goethes
Unterhaltungen mit dem Kanzler Müller. Hrsg. von C.A.H. Burkhardt, Stuttgart:
Cotta, 1870 Pruys,
Karl Hugo: Die Liebkosungen des Tigers. Berlin: edition
q, 1997 Rank,
Otto: Das Inzest-Motiv in Dichtung und Sage. Grundzüge einer Psychologie des
dichterischen Schaffens. Leipzig-Wien: Deuticke, 1912 Satta, Fiamma/ Zapperi, Roberto:
Goethes Faustine. Die Geschichte
einer Fälschung. Goethe-Jahrbuch 113/ 1996, S.277ff. Schleif,
Walter: Goethes Diener. Berlin und Weimar: Aufbau, 1965; Vorabdruck des
Seidel-Kapitels in: Goethe. Neue Folge des Jahrbuchs der Goethe-Gesellschaft.
Im Auftrage des Vorstandes hrsg. von A. B. Wachsmuth. Zweiundzwanzigster Band
1960. Weimar: Böhlau, 1960 Schöne,
Albrecht: Schillers Schädel. München: C.H. Beck Verlag, 2002 Springer,
Brunold: Der Schlüssel zu Goethes Liebesleben. Berlin: Verlag der Neuen
Generation, 1926 Wilpert, Gero von:
Goethe-Lexikon. Stuttgart: Kröner, 1998 Zapperi, Roberto: Das Inkognito. Goethes ganz andere Existenz in Rom.
München: dtv, 2002 © by the Author, 2004Jena den 21. April 1820. J.W.v.Goethe
54 Zit. nach Schleif, 84f.
55 Schleif, S. 85
58 Zit. nach Schleif, S. 248
59 Dr . C.A.H. Burkhardt , S. 18
60 Zit. nach Schleif, S. 88f.
in der deutschen Literatur 1750-1850, Berlin: Rosa Winkel, 1990Die Website ist optimiert für IExplorer; Netscape verursacht Layout-Chaos.
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