Site hosted by Angelfire.com: Build your free website today!

 

Anils Gespür für Knochen

In seinem  Roman Anils Geist führt der Wahl-Kanadier Michael Ondaatje eine Forensikerin nach Sri Lanka


Bei aller Vertracktheit in der Konstruktion, die mehr als nur passives Konsumieren verlangt ­ eines muss man Michael Ondaatje lassen: Beim Personal seiner Bücher ist er sehr sparsam. In den Mittelpunkt seiner ersten beiden Romane hat der Autor jeweils nur eine einzige Figur gestellt: den Pistolen schwingenden Outlaw Billy the Kid 1970 in The Collected Works of Billy the Kid (dt. 1997, Die gesammelten Werke von Billy the Kid) und den Kornett blasenden Babier Buddy Bolden sechs Jahre später in Coming Through Slaughter(dt. 1995, Buddy Boldens Blues). Auch Ondaatjes neuer Roman, "Anils Geist", kommt mit wenigen Figuren aus und führt in das Geburtsland des 57-Jährigen Wahlkanadiers: nach Sri Lanka.

Der Rechtsmedizinerin Anil Tissera und dem Archäologen Sarath Diyasena ist auferlegt, die Spuren zu deuten, die der Bürgerkrieg in dem Inselstaat hinterlassen hat. Bis in die frühen 90er Jahre lieferte sich die Regierung auf der einen Seite und Aufständische im Süden der Insel sowie separatistische Guerillas im Norden auf der anderen Seite erbitterte Kämpfe. Die Folgen: Tote auf allen Seiten, Massengräber und Misstrauen allerorts.

Da Anil im Auftrag der Genfer Menschenrechtsbehörde in das Land zurückkehrt ist, das sie mit 18 Jahren verlassen hat, und Sarath Angestellter der regierungsabhängigen Behörde ist, weiß die junge Frau nicht, ob sie ihm trauen kann. Aber ihr bleibt nichts anderes übrig. Ausgangspunkt ihrer gemeinsamen Arbeit ist eine Leiche, gefunden in einer von der Regierung kontrollierten historischen Grabstätte. Sie nennen den Toten Seemann.

Erste Untersuchungen ergeben, dass der Mann an einem anderen Ort getötet und hierher geschafft worden war. Doch woher kommt er? Anhand der Knochen findet die Forensikerin heraus, dass der Mann lange Zeit in einer Mine gearbeitet hat. In Anlehnung an Peter Hoegs Erfolgsroman über Fräulein Smilla könnte diese kriminalistische Geschichte auch "Anils Gespür für Knochen" heißen.

Als Sarath am Ende seines archäologischen Lateins ist, kommt den beiden die Kunstfertigkeit des Malers Anada Udugama zugute: Der hoffnungslose Trinker, der einst Augen für Buddha-Figuren malen durfte, modelliert auf Seemanns Schädel ein Gesicht ­ ein weiterer Schritt zur Entschlüsselung des Toten.

Charakteristisches Merkmal von Ondaatjes gesamtem literarischen Schaffen ist die Rekonstruktion vergangener Epochen, die Imagination von Lebensläufen unbekannter Menschen. Mit Ausnahme von Running in the Family (1982, dt. 1992 Es liegt in der Familie), einem Buch, in dem der Autor tamilisch-singhalesisch-holländischer Abstammung das lebenslustige Treiben seiner trinkfesten Großfamilie inmitten von Teeplantagen schilderte, hat es Ondaatje vermieden, Autobiografisches in seine Bücher einzubringen. Er schreibe gern über Dinge, mit denen er sich nicht auskenne. "So lernt man etwas. Wenn man aus Sicht eines anderen Menschen schreibt, verdoppelt das die Wahrnehmung."

In Anils Geist, seinem ersten Roman nach dem Erfolg des verfilmten und mit Oscars überhäuften Weltbestsellers Der englische Patient, der dem Autor 1992 den Booker Prize einbrachte, gibt es erstmals Parallelen zu seinem eigenen Leben: Wie Anil wurde Ondaatje im damaligen Ceylon geboren. Auch ihm wurde eine westliche Bildung zuteil: Mit elf Jahren, seine Eltern hatten sich zuvor getrennt, geht er mit seiner Mutter nach England. Nach der Schule, mit 19, folgt er seinem älteren Bruder nach Kanada, lässt sich in Toronto nieder und studiert Literaturwissenschaft. "Ich bin kanadischer Staatsbürger, aber ich wollte mich immer auch in Sri Lanka zu Hause fühlen", sagt der Mann, der den Begriff vom "internationalen Bastard" prägte: "Geboren an einen Ort, um an einem anderen zu leben".

Sieben Jahre Arbeit stecken in Anils Geist. Ondaatje, der auch als Lyriker, Dokumentarfilmer und Hochschuldozent tätig ist, hat sich in Abhandlungen über Archäologie vertieft, Berichte von Amnesty International gelesen und unerschrocken die Arbeit von Ärzten in Sri Lanka beobachtet, die in notdürftig ausgerüsteten Krankenhäusern den Kriegsopfern zu helfen versuchen. Wie leicht hätten ihn die Gräueltaten in seiner ersten Heimat zum Moralisieren treiben können ­ doch Ondaatje bleibt ungeachtet des politischen Hintergrunds auch in "Anils Geist" ein Künstler.

Er setzt auf das, was er schon 1987 in dem im Kanada der 20er Jahre spielenden Einwanderer-Roman In the Skin of a Lion (dt. 1990, In der Haut eines Löwen) so meisterhaft vorgeführt hat: einprägsame Bilder zu finden, Stimmungen zu erzeugen, Atmosphäre spürbar zu machen. Und dies in der für ihn typischen, am Film orientierten Montagetechnik von schillernd-intensiven Episoden, die links und rechts am Rand der Hauptgeschichte wie wilde Blumen wuchern.

Michael Ondaatje: Anils Geist. Aus dem Amerikanischen von Melanie Walz, Carl Hanser Verlag, München 2000, 325 Seiten, 39,80 Mark.

© 2000 by Reinhard Helling