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Heimat internationaler Bastarde

Auf der Suche nach unverbrauchten Erzählern sind
die deutschen Verlage in Kanada fündig gewurden

Bei der amerikanischen Übermacht auf dem deutschen Buchmarkt wurde es in den vergangenen Jahren immer schwieriger, unverbrauchte Erzähler und Bücher zu finden, die nicht sofort nach Creative-Writing-Kurs riechen. Also grasten hiesige Verlage die europäischen Randlagen von Holland über Irland bis nach Skandinavien ab und nahmen auch exotische Länder wie Indien ins Programm. Jetzt zeichnet sich – neben den Polen-Importen aus Anlass des Buchmessenschwerpunkts – ein Boom kanadischer Literatur ab.

Ein ausgewiesener Fan und Förderer von Literatur aus dem Land der Bären, Seen und Wälder ist Arnulf Conradi. Gleich seine erste Station im Verlagsgeschäft brachte vor 25 Jahren einen Kontakt, der sich mehr als bezahlt gemacht hat: "Der Roman ,Der lange Traum' von Margaret Atwood war das erste Buch, das ich damals bei Claassen gemacht habe", erinnert sich Conradi. Die längst zur Bestsellerautorin avancierte 61-Jährige folgte ihm ? erst zu S. Fischer und 1993 auch zu dem neu gegründeten Berlin Verlag, den Conradi heute neben dem Siedler Verlag leitet. "An kanadischen Autoren gefällt wir, dass sie sich nicht fürchten, Elemente der Reflexion einzubeziehen und dass sie ein Bewusstsein für historische Kontinuitäten haben", sagt Conradi, zu dessen Entdeckungen auch Anne Michels und ihr Aufsehen erregender Holocaust-Buch "Fluchtstücke" zählt. Jetzt freut sich Conradi, den neuen Roman der "Königin der kanadischen Literatur" herausbringen zu können: "Der blinde Mörder" von Margaret Atwood.

Mit der Meinung, dass für Kanadas Autoren ein "goldenes Zeitalter" angebrochen ist, steht der 56-Jährige nicht allein. Auf der Suche nach neuen Autoren wurde auch Antje Kunstmann beim nördlichen Nachbarn der USA fündig. Vor 14 Jahren, damals noch unter dem Label Frauenbuchverlag, hatte die Münchner Verlegerin schon Marian Engel verlegt, nach der heute ein Literaturpreis benannt ist. Nach vier Büchern von Barbara Gowdy (50) ? zuletzt erschien ihr faszinierender Elefanten-Roman "Der weiße Knochen" ? kommt nun Neues von Joan Barfoot: "Als er sie verließ" ? bereits der siebte Roman der 1946 im Owen Sound geborenen Autorin, das Kunstmann herausbringt ? erzählt von einer Frau, die jenseits der 40 noch einmal ein neues Leben beginnt.

Wayne Johnston schrieb den Roman "Die göttlichen Ryans"

Gleich mit zwei Romanen aus dem Land mit dem roten Ahornblatt in der Flagge macht uns Hoffmann und Campe (HoCa), schon seit längerem der deutsche Verlag von "GenerationX"-Erfinder Douglas Coupland (39), bekannt: "Die göttlichen Ryans" von Wayne Johnston und "Ein ganzes Leben" von Bonnie Burnard. "In letzter Zeit habe ich immer häufiger Manuskripte aus den USA abgelehnt, weil die mir zu stereotyp produziert erschienen", bestätigt HoCa-Lektorin Bettina von Bülow (36). Bei den Kanadiern dagegen spüre sie "viel deutlicher einen individuellen Ton". So bei dem 42-jährigen Neufundländer Johnston, dessen humorvolle Auseinandersetzung mit dem Katholizismus ihm den Beinamen "Roddy Doyle Kanadas" einbrachte, aber auch bei der zwölf Jahre älteren Burnard, die in ihrem Romandebüt das gewöhnliche Leben der Familie Chambers in der Kleinstadt Stonebrook über ein halbes Jahrhundert begleitet.

Quasi als Ersatz für die abtrünnige Margaret Atwood hat S. Fischer Alice Munro, "die Urahnin der kanadischen Literatur" (Conradi), von Klett-Cotta abgeworben und bringt deren Geschichten-Roman "Die Liebe einer Frau" auf Deutsch heraus. Neben Atwood und der von Piper verlegten Pulitzer-Preisträgerin Carol Shields ("Das Tagebuch der Daisy Goodwill") ist die 68-Jährige Kanadas bekannteste Autorin. Und bei Claassen, Conradis erster Wirkungsstätte, hat Kanadas Klassiker Timothy Findley (70) im Frühjahr den Bestseller "Der Gesandte" veröffentlicht.

Die größte Aufmerksamkeit freilich wird in diesem Herbst Michael Ondaatje (57) bekommen, Hansers Starautor. "Anils Geist" heißt sein erster Roman nach dem Welterfolg des verfilmten Bestseller "Der Englische Patient". Wieder ist der seit 1962 in Kanada lebende Autor in seine Heimat Sri Lanka zurückgekehrt und konfrontiert in dem vielschichtigen Roman die Rechtsmedizinerin Anil Tissera mit dem Bürgerkrieg in dem Inselstaat.

Dank der Offenheit gegenüber fremden Kulturen haben in Kanada noch mehr dieser "internationalen Bastarde", die ? wie Ondaatje es formulierte ? "an einem Ort geboren wurden, um an einem anderen zu leben", ein neues Zuhause gefunden. Doch anders als Ondaatje tun sich viele von ihnen schwer, Kanada als literarisches Thema zu bearbeiten.

So kommt Rohinton Mistry, 1952 in Bombay geboren und bei uns durch den Roman "Das Gleichgewicht der Welt" (Krüger, 1998) bekannt geworden, nicht von den Gerüchen und Geräuschen seiner zugleich geliebten und gehassten Geburtsstadt los. "Frühestens mein vierter Roman könnte in Kananda spielen", sagt der seit 1975 in Toronto lebende Mistry. Und für den in Montreal ansässigen Hanser-Autor Mordecai Richler ("Wie Barney es sieht") ist die jüdische Tradition ebenso prägend, wie die Sehnsucht nach dem Italien ihrer Vorfahren in den Büchern von Joe Fiorito ("Die Stimme meines Vaters", Fest Verlag) und Nino Ricco ("Der Biss der Schlange", Klett-Cotta) präsent ist. Eine Ausnahme bildet der 1957 in Trinidad geborene André Alexis: In dem Debütroman "Kindheit" (Claassen) bringt eine Reise nach Montreal den jungen Thomas MacMillan mit seiner Mutter zusammen, die er nur aus Erzählungen kennt.

Obwohl die Short-Story von Amerikanern zur Höchstform getrieben wurde, sind die Kanadier auch bei der kleinen literarischen Form nicht zu verachten, wie der Band "Winkst du mir zum Abschied" von Elyse Gasco (Piper) und Merlyn Simonds "Der Löwe im Zimmer nebenan" (btb) zeigen. Dass die deutsche Verlage mit ihren Kanadiern einen guten Griff getan haben, zeigt die Liste der Gewinner des Giller Prize: 1995 nahm Mistry die 25000 Dollar Preisgeld in Empfang, 1996 Atwood, 1997 Richler, 1998 Munro und 1999 Burnard. Sie zeigt aber auch, dass die Frankokanadier, die gut ein Viertel der etwa 30 Millionen Einwohner des zweitgrößten Landes der Welt stellen, zu kurz kommen. Für Erste Hilfe sorgt da der von Lothar Baier und Pierre Filion im Heidelberger Wunderhorn Verlag herausgegebene Band "Anders schreibendes Amerika ? Literatur aus Québec".

© 2000 Reinhard Helling
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