Wenn Leben Schreiben wird
Der US-Journalist Joseph Mitchell hat die
Joe Gould war . . . Nein, so kann man nicht anfangen, obwohl er
Geschichte des Penners Joe Gould aufgeschrieben
die Hauptfigur dieses Buches ist. Denn das hieße, fremdes Wissen
als eigenes auszugeben. Und wir wüssten nichts über Joe Gould,
einen in Greenwich Village als Penner lebenden Schriftsteller,
hätte nicht Joseph Mitchell uns von ihm erzählt.Der Journalist Mitchell, 1908 in North Carolina geboren, war
viele Jahre Polizeireporter, bevor er Ende der dreißiger Jahre
zum "New Yorker" stieß, für den er bis zu seinem Tod 1996 als
Autor tätig war und sich mit Porträts New Yorker Originale
einen Namen machte. Dort erschienen auch die beiden Texte, die
nun zusammengefasst als Buch vorliegen: Professor Möwe und
1964 Joe Goulds Geheimnis. Es sind "zwei Ansichten desseIben
Mannes, einer verlorenen Seele namens Joe Gould.Nun aber: Joseph Ferdinand Gould, geboren 1889 in der Nähe
von Boston, war der Spross einer der ältesten Familien
Massachusetts. Als Harvard-Absolvent hätte er wie sein Vater und
Großvater Arzt werden können. Stattdessen wurde Gould, wie er
sagt, "die größte Autorität auf dem Gebiet der Möwensprache",
vermaß 1500 Indianern in Reservaten den Schädel, ging nach New
York und wurde zweiter Polizeireporter der "Evening Mail".
Eines Vormittags im Sommer 1917 kam Gould, angeregt durch
einen Satz von Yeats, die Idee, die "Erzählte Geschichte unserer
Zeit" aufzuschreiben - alles, was sich Menschen sagen. Gould hing
seinen Job an den Nagel und widmete sich allein seinem Projekt.
Welche Bedeutung das Mammutwerk, das in einem frühen
Stadium schon "elfmal so dick wie die Bibel" war, für seinen
Verfasser hatte, fasste Gould so zusammen: "Mir ist die ‚Erzählte
Zeit' Strick und Schafott, Bett und Speise, Frau und Flittchen,
Wunde und das Salz darin Whiskey und Aspirin, Fels und
Erlösung." Alles Materielle war ihm egaI.Mindestens so erstaunlich wie die Tatsache, dass Gould mangels
eines Zuhauses seinen "Schreibtisch" überall hatte - im Park, in
der U-Bahn, in Kneipen -, war der leichtfertige Umgang mit
seinen per Füller geschriebenen Manuskripten: Er deponierte die
Aufsatzhefte bei Bekannten. Hin und wieder kam er vorbei,
korrigierte das Geschriebene, brachte neue Hefte mit, nahm alte
weg.Mitchell, der Gould über die Jahre als kritischer Freund und
Sponsor begleitet hat, lüftet nun das Geheimnis, warum sich, als
Gould 1957 starb, keins dieser Hefte auffinden ließ. Ein schöner
Nebeneffekt seines Doppelporträts besteht darin, dass es an die
glanzvolle Jahre des "New Yorkers" erinnert, als dort William
Shawn regierte, der, wie J. D. Salinger in seiner Widmung zu
"Franny und Zooey" schrieb, "das Weitgesteckte liebt, die
Unergiebigen beschützt, die Wortreichen verteidigt".Joseph Mitchell: Joe Goulds Geheimnis. Aus dem Amerikanischen von Eike
Schönfeld. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2000. 192 Seiten, 29,90
Mark.© 2000 Reinhard Helling
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