Wie geht das zusammen? Da geben die Chilenen im Januar dem
Sozialisten Ricardo Lagos den Vorzug gegenüber dem Rechtspopulisten
Joaquín Lavín, wählen also einen Mann als Nachfolger
von Eduardo Frei
zum neuen Staatsoberhaupt, der unter Augusto Pinochet verfolgt wurde,
und dann begrüßt Anfang März ein Haufen Begeisterter
am Flughafen
von Santiago den nach 503 Tagen aus britischer Auslieferungshaft in
seine Heimat entlassenen Ex-Diktator mit Marschmusik und Fähnchen.
Hat Chile, zehn Jahre nach dem Ende der Militärdiktatur, den Übergang
zur Demokratie nun unwiderruflich vollzogen, oder ist das Land noch
immer geknebelt von Seilschaften und Gesetzen, die zu Zeiten Pinochets
installiert wurden? Die vorläufige Antwort lautet: sowohl als
auch. Als die
Chilenen 1988 in einem Plebiszit gegen Pinochet stimmten, verlor der
heute 84-Jährige zwar an Macht, doch nicht seine alten Freunde.
So
waren es vor allem Vertreter des Militärs, die den greisen General
so
freundlich empfingen und ganz wie in alten Zeiten die Presse
zur
Seite schubsten.
Außenminister Juan Gabriel Valdés blieb nur die nachträgliche
Verlautbarung, dass die Regierung eine offizielle Begrüßung
des
"englischen Patienten" nicht gewollt hat und bezeichnete den Aufmarsch
am Flughafen als "Schande". Dass es auch andere Stimmen im Land gibt,
machten am gleichen Tag tausende von Demonstranten deutlich, die vor
dem Präsidentenpalast La Modena eine Mahnwache bezogen, um an
die
während der 17 Jahre dauernden Diktatur Ermordeten, Gefolterten
und
Verschleppten zu erinnern.
In den nächsten Tagen wechselten sich ernüchternde und ermutigende
Nachrichten ab: Ein neues Massengrab mit Diktatur-Opfern sei in der
Nähe von Conceptión entdeckt worden; anderentags heißt
es, dass Lagos
den Dialog mit den Ureinwohnern aufgenommen hat, den die rund um
Temuco im Süden Chiles beheimateten Mapuche seit Jahren fordern.
Die neue Regierung wird in ihrem Willen, zu neuen demokratischen
Ufern aufzubrechen, sich noch lange mit Altlasten plagen. Vieles scheitert
an der von Pinochet erlassenen Verfassung und an dem von
Pinochet-Getreuen dominierten Senat. So hatte sich Eduardo Frei, der
sein Amt am 12. März an Lagos übergab, während seiner
Amtszeit
vergeblich darum bemüht, als ehemaliger Präsident nicht automatisch
(wie
Pinochet) Senator auf Lebenszeit zu werden. Aus europäischer Sicht
ist
dies nicht ganz leicht einzuordnen.
Vielleicht ist dies für das schmale Land an der Südspitze
Amerikas
charakteristisch: dass es Widersprüche in sich eint wie kaum ein
anderes.
Schon die geografischen Gegebenheiten des 4300 Kilometer langen
Landstreifens bergen krasse Gegensätze in sich: im Norden die
trockenste
Wüste der Welt rund um Arica an der Grenze zu Peru, Eisberge im
Süden bei Punta Arenas unweit zur Grenze nach Argentinien,
dazwischen eine riesige Seenlandschaft und rumorende Vulkane,
menschenleere Gebiete ebenso wie die Ballungszentren Santiago,
Conceptión, Viña del Mar und Valparaíso.
Ein umgekehrtes Bild zeigt sich bei der Bevölkerung, die sich religiös
und ethnisch durch eine große Homogenität auszeichnet: Der
Anteil
indianischer Gruppen liegt (anders als etwa in Peru, Bolivien oder
Ecuador) nur bei etwa fünf Prozent, fast 90 Prozent der Chilenen
sind
Katholiken. Und der einseitige Glaube treibt bizzare Blüten: Auf
der
einen Seite ist in Chile, einem der wenigen Länder, das bis heute
keine
legale Form der Ehescheidung vorsieht, Martin Sorseses Film "Die letzte
Versuchung Christi" weiterhin verboten, auf der anderen Seite machen
sich die Cafés in Santiago im Wettbewerb um (männliche)
Kunden ganz
unverblümt dadurch Konkurrenz, indem sie die Rocklänge der
Servicedamen hoch und höher schrauben.
Doch weder eine politische Zweiteilung noch die nationale Heuchelei
sei
für die chilenische Gesellschaft problematisch, so der Soziologe
Tomás
Moulian in seiner Studie "Chile Actual. Anatomía de un Mito"
von 1997.
Als wirkliche Gefahr sehe er die "soziale Geringschätzung der
Armen".
Der Abstand zwischen Besitzenden und Besitzlosen wird besonders
augenfällig im Großraum Santiago: Eingekeilt zwischen dem
Pazifik und
der Andenkordillere, die an einigen Stellen über 6000 Meter aufragen,
leben etwa sechs der knapp 15 Millionen Chilenen. Prachtvolle
Einkaufsstraßen und eine blitzsaubere Metro durchziehen den in
den
Sommermonaten Smog-geplagten Moloch, im Süden verlängern
Armutsviertel aus Wellblechhütten die Metropole.
Kann uns die Literatur dabei helfen, dieses Land mit seinen
Widersprüchen zu verstehen? Gegenfrage: Kennen wir überhaupt
die
Literatur aus Chile? Wenn Sie jetzt Isabel Allende und Pablo Neruda
nennen, dann sind zwar die beiden bekanntesten chilenischen Autoren
genannt ? die eine mit eigener Homepage, der andere mit einem
Nachlass, der auch fast 30 Jahre nach Nerudas Tod noch manchen Schatz
enthält (bei Luchterhand erschein eine Auswahl seiner zu Schulzeiten
verfassten Gedichte). Doch mit der in Kalifornien lebenden
Bestsellerautorin ("Fortunas Tochter") und dem Nobelpreisträger
von
1971 ("Ich bekenne, ich habe gelebt") haben wir erst die sprichwörtliche
Spitze des Eisbergs im Blick. (Wir werden sehen, dass der oft bemühte
Vergleich in diesem Fall einmal wirklich Sinn macht.) Denn auf Lyriker
wie Gabriela Mistral, Violeta Parra, Enrique Lihn oder Gonzalo Rojas
stößt man eher in Nachschlagewerken als im Regal unserer
Buchhandlungen, und auch von den Romanciers Joaquín Edwards
Bello,
Manuel Rojas, Juan Emar oder Carlos Droguett wissen meist nur
Eingeweihte.
So drastisch es vielleicht auch klingt: Erst mit dem 11. Sepember 1973,
dem Tag, an dem Pinochet den gewählten Präsidenten Salvador
Allende
aus dem Amt putschte, gerieten Chiles Autoren in unser Blickfeld ?
vor
allem diejenigen, die ins Exil gingen. Neben der Präsidenten-Nichte
Isabel Allende flohen auch Ariel Dorfman ("Der letzte Gesang des
Manuel Sendero"), Hérnan Valdes ("Tejas Verdes. Tagebuch aus
einem
chilenischen Konzentrationslager"), Antonio Skármeta ("Ich träumte,
der
Schnee brennt") und Luis Sepulveda ("Der Alte, der Liebesromane las")
vor dem brutalen Regime ins Ausland. Wie Allende, deren Roman "Das
Geisterhaus" erfolgreich fürs Kino adaptiert wurde, verdanken
auch
Dorfman und Skármeta ihre Bekanntheit auch dem Film als
massenwirksamstes Verbreitungsmedium von Literatur: Mit dem
Bühnenstück "Der Tod und das Mädchen" lieferte Dorfman
die Vorlage
für Roman Polanskis gleichnamigen Film von 1994 (mit Ben Kingsley
und Sigourney Weaver), und auf Skármetas Roman "Mit brennender
Geduld" basiert der Oscar-gekrönte Film "Der Postmann", in dem
Philippe Noiret den Dichter Neruda spielt und Maria Grazia Cucinottas
erotische Ausstrahlung nicht nur Nerudas Postboten betört.
Tatsächlich ist die Zahl der chilenischer Bücher, die uns
in deutscher
Übersetzung erreicht, viel zu gering, um sich hierzulande ein
authentisches Bild der gegenwärtigen Literatur dort zu machen.
So ist
etwa das Werk des 69-jährigen Jorge Edwards, dem am 23. April
der
Cervantes-Preis, die wichtigste Literaturauszeichung der
spanischsprachigen Welt, überreicht wurde, in deutscher Sprache
beinahe
unbekannt. Abgesehen von seinen Erinnerungen an Neruda, die 1992 bei
Luchterhand erschienen, ist keines seiner zahlreichen Bücher
darunter
"Persona non grata" (1973), die kritische Abrechnung seiner Zeit als
chilenischer Botschafter unter Allende in Kuba auf deutsch greifbar.
Und wer erinnert sich noch an José Donoso (1924&1996),
den einzigen
Chilenen, der es dank seines besten Romans "Der obszöne Vogel
der
Nacht" (1975) mit lateinamerikanischen Größen wie Juan Carlos
Onetti,
Augusto Roa Bastos oder Alejo Carpentiers aufnehmen kann?
Wer jedoch nicht in erster Linie aktuelle politische Stellungnahmen
erwartet die haben Dorfman und Skármeta in Zeitungsbeiträgen
geliefert , dem gibt schon die mehr oder minder zufällige
Prosaauswahl,
die uns erreicht, interessante Aufschlüsse über ein spannendes,
leidgeprüftes, selbstbewusstes Land am anderen Ende der Welt,
das viele
Jahre durch Pinochet stigmatisiert war. Außerdem können
wir die
Bekanntschaft mit den heute in Chile lebenden Autoren ungeniert bei
einem Glas Rotwein aus dem Maipo-Tal bei Santiago machen, während
wir damals die Exil-Chilenen unter Verzicht auf Obst aus Chile lasen.
Man wollte ja keinen Diktator unterstützen.
Da wäre etwa Hernán Rivera Letelier, der 1950 in Talca,
im Süden
Chiles, geboren wurde und neben dem jetzt übersetzten Debüt
"Lobgesang auf eine Hure" auch mit den Romanen "Himno del ángel
parado en una pata" (1996) und "Fatamorgana de amor con banda
música" (1998) in Chile für Aufsehen sorgte. Der "Lobgesang"
verbindet
auf spielerische Weise engagiertes Erzählen mit magischem Realismus.
Dass ihm dies gelingt, liegt vielleicht daran, dass Rivera Letelier,
bevor er
1988 mit dem Schreiben begann, wie sein Vater in den Salperterminen
der Atacamawüste malocht hat, wo das "weiße Gold", das bis
in die 30er
Jahre neben Kupfer Hauptexportgut Chiles war, gefördert wurde.
Angesiedelt ist die Geschichte in einer von der Schließung bedrohten
Salpeterstadt. Ebenso eigenwillig wie die Männer, die bei harter
Arbeit
ihre Gesundheit ruinieren, sind auch die käuflichen Frauen der
Stadt, bei
denen die Einsiedler am Zahltag ihren Lohn anlegen. Im Verlauf der
an
sich tristen Geschichte bekommt das Geschäft mit der Liebe auf
einmal
eine menschliche Dimension, da beide Männer wie Frauen
in dieser
feindlichen Umgebung, gemartert von Hitze und Staub, aufeinander
angewiesen sind. "Ohne den sozialen Beitrag der Prostituierten, wäre
die
Eroberung der Wüste nicht möglich gewesen", sagt Rivera Letelier.
Die eindrucksvollen Schilderungen der Naturgewalt in seinem Debüt
wirken wie ein Echo auf die Bücher von Francisco Coloane, der
50 Jahre
zuvor das Leben 4000 Kilometer weiter südlich beschrieben hat.
Seit
einigen Jahren ediert der Zürcher Unionsverlag das Werk des 1910
auf
der Insel Chiloé geborenen Autors, dessen Parteinahme für
die Natur den
Sohn eines Walfänger-Kapitäns zu einem frühen Grünen
machte. Nach
den Erzählbänden "Kap Hoorn" und "Feuerland" liegt nun Coloanes
erster Roman, "Der letzte Schiffsjunge der Baquedano", von 1941 als
deutsche Erstveröffentlichung vor.
Als blinder Passagier an Bord des Marine-Schulschiffs "Baquedano"
bricht der 15-jährige Alejandro Silva in die Antarktis auf ? auf
der Suche
nach seinem Bruder und einem Beruf für sich. Zurück in seiner
Heimatstadt Talcahuano weiß der Junge: Er wird Matrose. Von seiner
Begegnung mit den Yaganen, einem Eingeborenen-Stamm, die mit Kanus
Fischottern fangen, bringt der Junge eine Erkenntnis mit nach Hause:
"Die Menschen sind wie Eisberge; das Leben wirbelt uns herum und
verändert uns." (Da ist der erste Eisberg, von dem oben die Rede
war.)
Eine gradlinige Erzählweise, wie sie der heute 90-Jährige
für seine
Abenteuer-Geschichte wählte und die den in Deutschland lebenden
Exil-Chilenen Luis Sepúlveda zu dessen Walfänger-Roman
"Die Welt
am Ende der Welt" inspiriert haben dürfte, ist unter den heute
aktiven
Autoren nicht mehr angesagt. Sie wählen gern verschlungene
Rückschauen ? wie etwa Carlos Franz. Der 40-Jährige wurde
in Ginebra,
in der Nähe von Talca, geboren und studierte zunächst Jura.
Wie viele
andere chilenische Autoren ? darunter Donoso, Coloane und Manuel
Rojas ? brachte er sich das Schreiben selbst bei. Hauptfigur seines
Romans "Wo einst das Paradies war" ist ein Konsul, den es in immer
abgelegenere Orte im Ausland treibt. Seine Tochter Anna, eine glühende
Verehrerin seiner lebensbejahenden Einstellung, besucht ihn in Iquitos,
einer peruanischen Provinzstadt am Amazonas. Als die 19-Jährige
erfährt,
dass sich der alternde Konsul hier, wo nach den Mythen der Indios einst
das Paradies war, mit einer Einheimischen ein Haus gekauft, erkennt
sie
ihren Vater kaum wieder. Schließlich löst ihre Affäre
mit Enrico, einem
zwielichtigen Flüchtling, dem der Konsul in seinem Haus Schutz
gewährt,
brisante Verwicklungen aus. All dies erfahren wir von Anna allerdings
erst im Nachhinein ? als sie mit dem Leichnam ihres Vaters zurück
in die
Heimat fliegt. Dass damit Chile gemeint ist, lassen zahlreiche
Anspielungen vermuten. Ganz so geheimnisvoll hat sich Franz in
"Santiago Cero", seinem mehrfach ausgezeichneten, bisher nicht
übersetzten Debüt von 1989 nicht gegeben.
Kehren wir nach diesen Ausflügen in die Natur, die uns mit der
Hitze der
Atacamawüste, der Kälte der Antarktis und einer Überdosis
an
Chlorophyll und Wasser am Amazonas konfrontiert haben und uns
Erinnerungen an den Salpeterkrieg zwischen Chile und Peru, an
ursprüngliche Methoden des Walfangs und an den Kautschukboom
brachten, in die Zivilisation zurück: Poetisch verdichtet, aber
ebenfalls aus
der Rückschau wie bei Franz und Rivera Letelier geht Ana María
del Río
ihre schon 1984 in Chile erschienene Geschichte "Carmenoxid" an, die
im Santiago der fünfziger Jahre angesiedelt ist. Die mit dem renommierten
"Premio María Luisa Bompal" ausgezeichnete Novelle zeichnet
die
großbürgerliche Umgebung mit "polierten Silberhündchen"
und
Klavierstunden nach, in der Carmen und ihr als Erzähler fungierender
Halbbruder bei der Oma aufwachsen. Die Erweckung und
Unterdrückung sexueller Gefühle zwischen den Halbgeschwistern
schildert die 1948 in Santiago geborene Autorin mit sparsamsten Mitteln
in 16 kurzen, doch eindringlichen Kapiteln. Mit der nur wenig
umkleideten Thematisierung von Sex ist die Autorin ein Wagnis
eingegangen, und dieser Haltung ist sie in weiteren Büchern treu
geblieben.
Schimmert in den Bücher von Rivera Letelier, Coloane, Franz und
Ana
María del Río die politische und gesellschaftliche Wirklichkeit
Chiles
allenfalls wie durch eine Milchglasscheibe, so riskieren den Blick
hinter
das Milchglas (vielleicht ermöglicht ihn der räumliche Abstand)
die weiter
im Exil lebenden Chilenen Ariel Dorfman (USA) und Roberto Bolaño
(Spanien).
Mit der Einsicht in verschiedene Lebenswelten, die der 1942 als Sohn
russisch-jüdischer Einwanderer in Argentinien geborene Dorfman
in
seiner Autobiografie "Kurs nach Süden, Blick nach Norden" 1999
geschildert hat, gelingt es ihm in seinem neuen Roman "Cristóbals
Sohn
und die Reise des Eisbergs", anhand die verwirrenden Erlebnisse eines
jungen Mannes überzeugend auszuarbeiten, der 1991 aus dem US-Exil
nach Chile zurückkehrt. Als der nun 23-Jährige Gabriel McKenzie
1973
mit seiner Mutter nach New York floh, blieb der Vater Crístobal
zurück ?
wegen einer merkwürdige Wette, die er mit Pablo Barón geschlossen
hatte: In den nächsten 25 Jahren werde er jeden Tag mit einer
anderen
Frau schlafen, Pablo hält dagegen, dass er es in derselben Zeit
zum
mächtigsten Mann Chiles bringt. Bei Gabriels Rückkehr ? es
ist die Zeit
des Mitte-Links-Bündnisses (Concertatio) unter dem Christdemokraten
Patricio Aylwin ? steht die Wette unentschieden: Gabriels Vater hat
seine
unbändige Lust jeden Tag mit einer anderen Frau geteilt, und Pablo
ist
Minister der neuen Regierung. Bei der bevorstehenden Weltausstellung
in
Sevilla 1992 will er den Neubeginn seines Landes mit der Präsentation
eines Eisbergs (da ist er wieder) symbolisieren. Doch Unbekannte drohen,
das ehrgeizige Projekt zu sabotieren.
Dorfman, profilierter Gegner der Pinochet-Diktatur und Lesern der
"Welt" als Kolumnist vertraut, hat mit diesem Roman vieles zugleich
versucht: einen Krimi, eine Vater-Sohn-Geschichte und eine Parabel
auf
die junge chilenische Demokratie. Und in keinem Punkt seines
Vorhabens ist er gescheitert.
Weniger süffig liest sich Roberto Bolaños verwegener Roman
"Stern in
der Ferne", ein Nachschlag zu der fiktiven wissenschaftlichen
Abhandlung "Die Naziliteratur in Amerika", mit der uns der 47-Jährige
im vergangenen Jahr erstmals vorgestellt wurde. Mit der biografischen
Vertiefung der darin auf 20 Seiten skizzierten fiktiven Figur des
Luftwaffenleutnants Ramírez Hoffman, der im Pinochet-Regime
zum
Himmelsdichter aufsteigt, ging eine Namensänderung einher: Aus
Ramírez Hoffman wurde Carlos Wieder, den der als Ich-Erzähler
auftretende Autor 1971 in Conceptión bei den Sitzungen der von
Juan
Stein abgehaltenen Literaturwerkstatt traf. (Vorbilder für diesen
Zirkel
dürften die Aktivitäten von Edwards und Donoso sein, aus
deren
Werkstätten Autoren hervorgegangen sind, die ? wie Gonzalo Contreras
und Albert Fuguet ? noch durch deutsche Verlage zu entdecken sind.)
Mit einem Freund, der wie Bolaño der politischen Linken angehört,
versucht der Autor Jahre später im spanischen Exil, Aufstieg und
Fall
ihres Kollegen Wieder nachzuvollziehen, einem damals schüchternen,
eleganten, auf Frauen anziehend wirkenden Mannes. Zu Wieders
harmlosen Seite gehörte, dass er mit seinem Flugzeug den Stern
der
chilenischen Flagge über Santiago malte und über den antarktischen
Eisbergen (der Vergleich hat sich doch ausgezahlt) poetische
Darbietungen am Himmel bot. Die grausame kam zu Tage, als er in einer
Wohnung in Santiagos Vorort Providencia Fotos ermordete Frauenleiber
ausstellte.
Roberto Bolaño, der unter Pinochet sechs Monate im Gefängnis
saß,
porträtiert hier einen Mörder im Gewand des Dichters, eine
grausame,
undurchsichtige Figur. Dabei zeichnet den Widerstand gegen Pinochet
nach und wirft Schlaglichter auf die chilenische Literatur. Auch wenn
wir
nicht alle Anspielungen verstehen, halten wir mit Bolaños neuem
Roman
eine erhellende Studie über staatlich verordneten Terror und die
leichtsinnigen Dienstleistungen von Intellektuellen in Händen.
Jetzt, wo Chile aus den Schlagzeilen, dort der Sommer zu Ende und das
Land wieder ganz auf sich gestellt ist, kann die Regierung von Ricardo
Lagos zeigen, ob sie sich aus den Schlingen der Vergangenheit lösen
kann. Und da sich um Pinochet, gegen den inzwischen mehr als 80
Strafanträge vorliegen (ab dem 12. April wird über eine Aufhebung
seiner
Imunität beraten), nun die Justiz kümmert, können sich
Chiles Autoren
unter dem Druck unterschwelliger Zensur und begleitet von einer stramm
konservativen Presse ganz ihrer eigentlichen Berufung widmen:
ihr
wunderschönes, widersprüchliches Land in all seinen Facetten
zu
ergründen. Auf dass wir eines Tages auch den Fuß des Eisbergs
zu sehen
bekommen.
Neue Literatur aus Chile:
Roberto Bolaño: Stern in der Ferne. Antje Kunstmann Verlag, München
2000. Aus dem Spanischen von Christian Hansen, 175 S., 38 DM
Francisco Coloane: Der letzte Schiffsjunge der Baquedano. Aus dem
Spanischen von Willi Zurbrüggen. Unionsverlag, Zürich 2000,
96 S.,
14,90 DM
Ariel Dorfman: Cristóbals Sohn und die Reise des Eisbergs. Aus
dem
Amerikanischen von Gabriele Gockel und Thomas Wollermann. Europa
Verlag, Hamburg 2000. 479 S., 48,50 DM
Ariel Dorfman:Kurs nach Süden, Blick nach Norden. Leben zwischen
zwei Welten. Aus dem Amerikanischen von Gabriele Gockel, Barbara
Reitz und Maria Zybak. Europa Verlag, Hamburg 1999. 384 S., 46 DM
Carlos Franz: Wo einst das Paradies war. Aus dem Amerikanischen von
Willi Zurbrüggen. Kiepenheuer & Witsch, Köln 1999, 252
Seiten, 39.90
Mark
Hernán Rivera Letelier: Lobgesang auf eine Hure. Aus dem Spanischen
von Catalina Rojas Hauser. Wolfgang Krüger Verlag, Frankfurt/Main
1999, 282 Seiten, 39.80 Mark
Pablo Neruda: Balladen von den blauen Fenstern. Gedichte.
Zweisprachige Ausgabe. Ins Deutsche übertragen von Fritz Rudolf
Fries.
Luchterhand Literaturverlag, München 2000, 112 S., 25 DM (erscheint
am 29. Mai 2000)
Ana María del Río: Carmenoxid. Aus dem Spanischen von
Thomas
Brovot, Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt 1999, 89 Seiten, 24 Mark
© 2000 by Reinhard Helling
Der Text erschien zuerst in "Die Literarische Welt" vom 29. April 2000