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Von Kräutertees und Büchersucht

Der Chilene Roberto Bolaño führt in "Die wilden Detektive" durch Mexico City

Zehn Städte von der Größe Hamburgs fänden leicht Platz in Mexiko-Stadt, jenem Gebilde, das in den 50er Jahren des vorigen Jahrhunderts noch ein Luftkurort in über 2300 Metern Höhe war und heute eine gigantische Ansammlung von Häusern und Hütten ist mit etwa 20 Millionen Menschen und Massen von Müll, gefangen unter einer Glocke von Smog, unaufhörlich durchkreuzt von zehntausenden VW-Käfer-Taxis, ständig gefährdet durch Erdbeben ? und dabei unaufhaltsam wachsend.
Und nun kommt der Exil-Chilene Roberto Bolaño daher, der einige Jahre in Mexico DC gelebt hat, und maßt sich an, dieses Unfassbare in Worte zu fassen, mit Die wilden Detektive (Hanser, 656 Seiten, 29,90 Euro) einen Roman dieser Megapolis verfasst zu haben wie einst Alfred Döblin mit dem Alexanderplatz für Berlin oder John Dos Passos mit Manhattan Transfer für New York. Doch wer Bolaños Bücher Die Naziliteratur in Amerika und Stern in der Ferne (beide Verlag Antje Kunstmann) kennt, der ahnt, dass dies für den 1953 in Santiago de Chile geborenen Autor, der heute in der Nähe von Barcelona lebt, kein unerreichbares Vorhaben darstellt.
Es beginnt mit den Tagebuchaufzeichnungen des dichtenden Jünglings Juan Garcia Madero. Schnell wird klar, dass für den 17-jährigen Waisen im Winter 1975 die Erkundung der Poesie eine ebenso große Rolle spielt wie die des weiblichen Geschlechts. Beides muss jedoch im Geheimen geschehen, denn sein Onkel möchte, dass der Junge Jura studiert. Also macht Juan Garcia die Nacht zum Tag, diskutiert mit den Viszerealisten Ulises Lima und Arturo Belano und vergnügt sich mit den Schwestern Maria und Angélica Font sowie der Hure Lupe.
Nach 150 Tagebuchseiten  übernehmen die „wilden Detektive“, der Mexikaner Lima und der Chilene Belano, das Erzähl-Ruder und durchkreuzen im knapp 500 Seiten starken Haupteil die Straßen Mexikos auf der Suche nach Cesárea Tinajero, einer verschollenen Avantgarde-Dichterin der 20er Jahre. Mit einem kurzen letzten Abschnitt, in dem noch einmal Juan Garcia Madero mit poetologischen Rätseln zu Wort kommt, entlässt Bolaño uns aus diesem „Abenteuerroman voller Sex, Drogen und Rock ’n’ Roll“, wie er sein Werk genannt hat.
Das alles ist mit Humor, viel Phantasie und großer literarischer Raffinesse zusammengefügt und verdient es unbedingt, auch bei uns gelesen zu werden. Es war eine kleine Sensation, als Bolaño vor drei Jahren für diesen nicht gerade leicht zu lesenden Roman den Rómulo-Gallegos-Preis bekam, die mit umgerechnet 56000 Euro höchstdotierte Auszeichnung für spanischsprachige Literatur, die in den Jahren zuvor Mario Vargas Llosa, Carlos Fuentes und Gabriel García Márquez erhalten hatten.
Ein Interviewer hat aus Bolaño herausgekitzelt, dass er neben der Streitlust ? Opfer seiner verächtlichen Bemerkungen sind vorzugsweise seine chilenischen Kollegen ? nur ein einziges Laster hat: den Tabak. Ansonsten: nur Kräutertees und Wasser, kein Alkohol oder Kaffee. Aber es gibt doch eine Droge, ohne die Bolaño nicht leben kann. Und das ist, wie bei dem von ihm verehrten Jorge Louis Borges, die Literatur. Und wenn er dort einmal keine Anregung findet, dann füllt er kurzerhand einen Leihzettel für seine blibliothèque imaginaire aus, für die Bücherhalle in seinem Kopf. Allein für Die wilden Detektive müsste der Bibliothekarin davon ein ganzer Stapel vorliegen.

© 2002 Reinhard Helling