Von Hunden, Spinnen, Stan und
Ollie: Ray Bradburys ErzŠhlungen
ãSchneller als das AugeÒ
Von
REINHARD HELLING
Um
eine Auswahl mit "hundert besten Geschichten" veršffentlichen zu
kšnnen, mu§ einer erst mal einen ordentlichen Fundus angelegt haben. Der
amerikanische Schriftsteller Ray Douglas Bradbury, der in diesem Monat, am 22.
August, seinen sechsundachtzigsten Geburtstag feiert, konnte locker auf fŸnfmal
so viele Storys zurŸckgreifen, als er 1980 seine erste Best-of-Sammlung
zusammenstellte. Sein hohes Alter und die gut sechzig Dienstjahre im GeschŠft
der Literatur mit dem Schwerpunkt Science-fiction allein erklŠren aber noch
nicht diese ungeheure ProduktivitŠt. Hinzu kommt eine offensichtliche ImmunitŠt
gegen jede Form von Schreibblockade oder Veršffentlichungsskrupel, wie sie so
manchen seiner amerikanischen Kollegen plagt - hei§en sie nun Harper Lee, Ralph
Ellison, Henry
Roth, Jerome
David Salinger oder Thomas Pynchon.
Und
so mischt Bradbury im unausgesprochenen Wettstreit um den Titel
"produktivster amerikanischer Autor jenseits des Rentenalters " ganz
vorn mit. In Reichweite sind nur der Jurist Louis Stanton Auchincloss,
achtundachtzig, der die OstkŸsten-Oberschicht fest im Blick hat, dicht gefolgt
von Thomas Berger, zweiundachtzig, der in allen Genres zu Hause ist. Nimmt man
die Bekanntheit bei uns als Richtschnur, dann ist der "Mars-Chronist"
aus Waukegan, Illinois, lŠngst der Sieger.
Der
Verlegersohn, den der von Fran?ois Truffaut verfilmte gesellschaftskritische
Roman "Fahrenheit 451" aus dem Jahr 1953 berŸhmt machte (aber auch so
kŸhn, wegen der €hnlichkeit des Titels gegen Michael Moores Dokumentarfilm
"Fahrenheit 9/11" zu klagen), kann neben den fŸnf- bis sechshundert
ErzŠhlungen auf der Habenseite seines von der Kritik gelegentlich kritisch
beŠugten, vom Publikum aber fast ausnahmslos gierig aufgesogenen Werkes auch
zwei Dutzend Romane sowie Filmskripte und JugendbŸcher, TheaterstŸcke und
Musicals, Hšrspiele und FernsehbeitrŠge, Gedichte und Essays verbuchen.
Der
Diogenes Verlag hat mit der Aufnahme Bradburys in den Kreis seiner illustren
Autorenriege Mitte der siebziger Jahre bestehende Zweifel an der literarischen
QualitŠt des Vielschreibers zerstreut. Davon zeugen - um nur die lieferbaren
Titel zu nennen - neben "Fahrenheit 451" der Roman "Das Bšse
kommt auf leisen Sohlen" sowie die ErzŠhlungsbŠnde "Der illustrierte
Mann", "Die Mars-Chroniken" und "Geisterfahrt". Neu
hinzugekommen ist jetzt die Story-Sammlung "Schneller als das Auge",
die in den Vereinigten Staaten unter dem Titel "Quicker than the Eye"
allerdings schon vor zehn Jahren erschienen ist; Hans-Christian Oeser hat die
einundzwanzig darin versammelten Geschichten Ÿbersetzt.
Seltsam
dabei: FŸr jedes Buch des Amerikaners hat Diogenes einen anderen †bersetzer
engagiert. Und noch seltsamer: Man merkt kaum einen Unterschied. Das spricht ein
wenig gegen Bradbury. Um es mal so auszudrŸcken: Seine BŸcher leben mehr von
den EinfŠllen als von der Sprache.
Die
Geschichten in "Schneller als das Auge" spielen in der Vergangenheit
und in der Zukunft, berichten aus der Stadt und vom Land, sind mal realistisch,
mal phantastisch angelegt. Es geschehen Morde, Dorian Gray rackert sich im
Fitness-Studio ab, riesige Spinnen verschlucken Kinder, junge Menschen kŸssen
sich unter einem Bienenschwarm, ein steinaltes Ehepaar heiratet noch einmal,
ein anderes Paar versucht, sich gegenseitig umzubringen. Ein Soldat besucht die
Bibliothek seiner Kindheit, und ein junger Mann will auf dem Friedhof gratis
Erde abholen. Es geht in dem Band zu wie in einem Gemischtwarenladen. Und dort
gibt es Sonderangebote und LadenhŸter, verderbliche Ware und Geheimtips. Wenn
es ein gemeinsames Thema gibt, dann dieses: Die Zeit vergeht, und sie lЧt sich
nicht aufhalten.
Einen
aufschlu§reichen Einblick in die Entstehung seiner BŸcher und seinen
Schreiballtag gewŠhrt der Autor in dem Nachwort, das er mit der forschen
Aufforderung "Verlieren Sie keine Zeit, leben Sie" Ÿberschrieben hat.
Ideenmangel ist ihm demnach so fremd wie einem Beduinen das GefŸhl von
Seekrankheit: "Auf Inspiration brauche ich nicht lange zu warten. Die
rŸttelt mich jeden Morgen wach. Kurz vor dem Morgengrauen, wenn ich lieber
weiterschlafen wŸrde, quatscht mir das verdammte Zeug mit den Stimmen meines
Morgentheaters die Ohren voll." Und dann haut der Mann mit der Hornbrille
schnell und ziemlich krŠftig in die Tasten, was nicht immer zu des Lesers
Gewinn ist.
Die
unterschiedliche QualitŠt der Geschichten belegt die PlatitŸde, da§ der Autor
gute wie schlechte Tage haben kann. Und soviel Zeit scheint Bradbury auch gar
nicht zu investieren. "Zwei Stunden spŠter ist eine neue Kurzgeschichte
fertig, die sich hinter meiner medulla oblangata die ganze Nacht schlafend
gestellt hatte." Manchmal kommt bei dieser schnellen Produktion schlicht
das Handwerk zu kurz. "Ein schšner Schlamassel", eine Geschichte Ÿber
sein Lieblingsteam Stan Laurel und Oliver Hardy, liefert - alle …konomie aus
den Augen lassend - auf den ersten sechs Zeilen nicht weniger als dreimal den
Hinweis darauf, da§ die Geschichte "in der Nacht", "gegen drei
Uhr morgens", also "in der Nacht" ihren Auftakt nimmt. Der Autor
scheint nicht viel Vertrauen in seine Idee zu haben, die Geister des ungleichen
Paares wieder und wieder das Pianola die Treppe hochwuchten zu lassen - wie
damals 1928, als die Szene an der Effie Street in Los Angeles fŸr den Film
gedreht wurde. Auch in "Der U-Boot Arzt " meint er uns mehrfach
darauf hinweisen zu mŸssen, da§ "der unglaubliche Zwischenfall" bei
seinem Analytiker "in meiner dritten Sitzung" geschah. Eine Pointe
zieht er aus dieser Wiederholung allerdings nicht. Es hŠtte auch die vierte
Sitzung sein kšnnen, in der der Psychiater sich plštzlich als U-Boot-Arzt fŸhlt
und wild das Kommando "Tauchen!" schreit.
Das
psychologisch Ÿberzeugendste StŸck ist nicht etwa die Titelgeschichte, in der
Miss Quick blitzschnell Zirkusbesucher um ihre Brieftaschen erleichtert und der
Ich-ErzŠhler mit ansehen mu§, wie ein Mann, der ihm zum Verwechseln Šhnlich
sieht, von der TrickkŸnstlerin erniedrigt wird, sondern "Bug", ein
melancholischer Blick auf das Ende der drei§iger Jahre, als der Tanz Jitterbug
gro§ in Mode war. Bert Bagley, genannt Bug, war der hei§este TŠnzer: Er
brauchte nicht einmal eine Partnerin. Mit geschlossenen Augen gab er sich
selbstvergessen der Musik hin und erntete tosenden Applaus. Und Tausende
TrophŠen. Als der ErzŠhler Jahrzehnte spŠter Bug wiedertrifft und ihn an die
wunderbare Zeit erinnert, entgegnet der nur: "Hab' vergessen, wie das
geht." Mit einem Trick gelingt es ihm, seinen alten Freund noch einmal zur
alten Hochform zu bringen.
Ohne
Frage: Bradbury ist ein intelligenter Mann, umfassend gebildet und auf vielen
Wissensgebieten zu Hause. Und seine Geschichten haben oft eine ganz
Ÿberraschende, manchmal sogar zwingende Idee. Aber es gibt da ein Problem: Er
ŸbertrŠgt sein Wissen und seine Fragen arglos auf all seine ErzŠhler und
Protagonisten, ungeachtet ihrer Berufe. Dann rŠtseln sie: "Warum gehen
Geister Ÿberhaupt um? Aus Rache? Aus Vergeltung?" Oder: "Die Umwelt,
hei§t es, umgibt dich. Nun gut, umgibt dich nicht auch der Kšrper, mit seinen
Wasserspeichern, seinem Knochenbau, seiner FŸlle oder …dnis?" Bradbury
scheut sich auch nicht, dem Leser Latein vor den Latz zu knallen. Mit den
Geschichten "Der Geist in der Maschine", "Sterbesakramente"
und "Die HexentŸr" liefert er der Science-fiction-Fangemeinde die
bewŠhrten Reisen mit der Zeitmaschine inklusive Laserstift. Besonders hier
quetscht Bradbury aber alte Ideen aus, ohne da§ der Saft so recht flie§en will.
Und
wenn Raymond Chandler selbstkritisch eingestanden hat, da§ er "den
Vergleich in Grund und Boden geritten" hat (und Chandler war nun wirklich
ein Meister der Vergleichs), dann mŸ§te Bradbury, wenn ihn eine Šhnliche
Erkenntnis trŠfe, sagen: "Ich habe mit dem Vergleich Schindluder
betrieben." Da sind die Beine einer Frau "so dick wie Berninis
Kolonnaden auf dem Petersplatz in Rom", ihr Gesicht "wie der Vollmond
im September". Ganz arg ist es bei NaturphŠnomenen: "Die Sonne war
eine frische Zitrone", und der tote Hund lag da "wie der soeben
beendete Zweite Weltkrieg, eine einzige Verheerung".
Bei
einem Buch, das manche Ungereimtheit enthŠlt und in dem sich hinter zahllosen
geheimnisvollen TŸren rŠtselhafte Dinge in unbestimmten Zeiten ereignen, ist es
ziemlich passend, da§ es bei dem Titel eine MerkwŸrdigkeit gibt: Ein Buch
gleichen Namens steht bei mir nŠmlich schon seit zwei Jahren im Regal - von dem
Schweizer Schriftsteller Claude Cueni. Vor solchen Dubletten, hatte ich
gedacht, stŸnde der deutsche Titelschutz. Aber den hat Ray Bradbury mit seinen
magischen KrŠften vielleicht einfach au§er Kraft gesetzt.
Ray
Bradbury: "Schneller als das Auge". ErzŠhlungen. Aus dem
Amerikanischen von Hans-Christian Oeser. Diogenes
Verlag, ZŸrich 2006. 320 S., geb., 19,90 Euro.
© 2006 Reinhard Helling