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Nenn es ein Wunder

 

 

Zum 100. Geburtstag von Henry Roth

 

Von REINHARD HELLING

 

Die komplizierte Geschichte des Henry Roth, der 1995 fast 90-jŠhrig starb, lautet in Kurzform so: geboren am 8. Februar 1906 als Herschel Roth in einem galizischen Dorf der heutige Ukraine, kommt er als ZweijŠhriger nach Amerika. Seine Eltern sprechen Jiddisch, die Umwelt ist ihm feindlich gesonnen. Doch der kleine Henry ist zŠh und hart im Nehmen, lernt die Sprache seiner neuen Heimat, erobert fŸr sich gar die Literatur und leistet mit 28 Jahren seinen eigenen Beitrag: ãCall it sleepÒ hei§t der Roman, der 1934 erscheint und kaum verschlŸsselt seine ersten Jahre in der engen, miefigen Welt der Lower East Side von Manhattan schildert. Danach verstummte er fŸr mehr als ein halbes Jahrhundert.

 

Als der Roman Ÿber die Erlebnisse des kleinen David Schearl durch eine Neuauflage als Meilenstein der amerikanischen Immigranten-Literatur anerkannt und unerwartet ein Bestseller wird, hatte der Autor sich lŠngst anderen TŠtigkeiten zugewandt: Als Latein- und Mathematiklehrer, Feinmechaniker und als Betreiber einer Enten- und GŠnsefarm in Maine brachte er sich, seine Frau Muriel und die beiden Sšhne Hugh und Jeremy durch. Mitte der vierziger Jahre ging das Ehepaar nach Albuquerque, New Mexico, und lebte in einem Wohnwagen. Nach dem Tod seiner Frau versucht der von Arthritis und Depressionen gequŠlte Autor noch einmal, die ãAder aus kostbarem ErzÒ anzubohren, die sein von sexuellen Obsessionen und literarischer Neugier gezeichnetes Leben darstellt.

 

Und siehe da: Nach 60 Jahren des Schweigens erscheint 1994 der erste Band einer sechsteiligen fiktionalisierten Autobiografie, in der Henry Roth Ð mittels der Romanfigur Ira Stigman Ð seine ersten 21 Lebensjahre unter die Lupe nimmt. Trotz kšrperlicher Gebrechen flie§t ihm ãMercy of a Rude StreamÒ (ãDie Gnade eines wilden StromsÒ) aus dem Computer wie ein angestauter Fluss. Kein Wunder, dass dabei auch jede Menge Geršll in Form unnštiger Wiederholungen und entbehrlicher IntimitŠten Ÿber den Leser hereinbricht.

 

Mit ãRequiem fŸr HarlemÒ liegt jetzt der vierte Band dieses mŠchtigen Erinnerungswerks vor, das Iras und damit Henrys Ich-Werdung in der Literatur und der Liebe schonungslos gegen sich selbst schildert. Das komplizierte VerhŠltnis zu Eda Lou Walton, seiner Geliebten und Fšrderin, der er ãNenn es SchlafÒ gewidmet hatte, steht im Mittelpunkt. Edith Welles, so der Name in der Fiktion, ist zwšlf Jahre Šlter als er und UniversitŠtsprofessorin. Sie hat aus Paris ein Exemplar des damals in den USA noch verbotenen Romans ãUlyssesÒ von James Joyce geschmuggelt und damit den jungen Henry scharf gemacht.

 

Der besondere Reiz dieser Memoiren liegt neben dem Abtauchen in eine vergangene Zeit und in ein verschwundenes New York mit Gasleuchten und Pferdekutschen darin, dass die in der dritten Person geschriebenen RŸckblicke auf die wilde Jugend des Autors durch ãGesprŠcheÒ gebrochen werden, die der alte Mann Ð Roth war bei der Niederschrift schon Ÿber 80 und sa§ am Ende im Rollstuhl Ð mit seinem Computer fŸhrt, den er nach der Volksversammlung im Alten Griechenland Ekklesias nennt.

 

Fast zehn Jahre sind vergangen, seit der Verlag Beltz Quadriga ãA Star Shines Over Mt. Morris ParkÒ und ãA Diving Rock on the HudsonÒ, die BŠnde eins und zwei, auf Deutsch herausgebracht hat. Sie schlie§en fast nahtlos dort an, wo ãNenn es SchlafÒ endete: 1914, als der AchtjŠhrige das Leben auf der Stra§e erkundet, erste Jobs annimmt und auf der Stuyvesant High School wacker fŸr den Abschluss bŸffelt. Der posthum erschienene Band drei, ãFrom BondageÒ (dt. ãDie EntfesselungÒ, 2000 bei Ullstein), schildert die Collegejahre des inzwischen 19-JŠhrigen, der Freud, Joyce und T. S. Eliot fŸr sich entdeckt. FŸr KontinuitŠt beim Verlags-Hopping bei uns sorgt allein Heide Sommer, die diese knapp 2000 Seiten in sechsjŠhriger Arbeit Ÿbertragen und das Glossar mit jŸdischen und hebrŠischen AusdrŸcken erarbeitet hat. Die Hamburger †bersetzerin  nimmt an einem Symposium teil, das die American Jewish Historical Society zu Ehren von Henry Roth in der New York Public Library stattfindet.  Am Tag des eigentlichen 100. Geburtstages, dem 8. Februar, wird die †bersetzerin Ÿber ihre Arbeit an der †bertragung der vier BŠnde ins Deutsche bei einem ãCentenary-Celebration-LuncheonÒ eine Rede halten.

 

PŸnktlich zu Henry Roths zehntem Todestag am 13. Oktober 2005 erschien in den USA Steven G. Kellmans Biografie ãRedemption Ð The Life of Henry RothÒ (Norton, 371 Seiten, 25,95 Dollar). Bei so berserkerhafter SelbstenthŸllung, die auch die Inzest-Beziehung zu seiner Šlteren Schwester und der jŸngeren Kousine nicht verschweigt, fragt man sich, was ein Biograf da noch ausrichten soll. Doch Kellman hatte 80 Kisten Material aus dem Nachlass zur Deutung, darin Briefe, NotizbŸcher sowie die BŠnde fŸnf und sechs als unfertige Manuskripte. Auch versucht sich der Biograf an dem RŠtsel, warum Roth so lange verstummt war. In seiner Besprechung fŸr den ãNew YorkerÒ resŸmiert der junge jŸdische Autor Jonathan Rosen (ãEvas ApfelÒ, ãTalmud und InternetÒ): ãRoth lebte lang genug, um als sein eigener Nachfolger und Ghost Writer von den Toten aufzuerstehen und seine Geschichte erzŠhlen zu kšnnen.Ò

 

 

Henry Roth: ã ãRequiem fŸr HarlemÒ, aus dem Englischen von Heide Sommer, Rotbuch, 404 Seiten, 22 Euro

 

 © 2006 Reinhard Helling

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