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Laudatio zur Verleihung des Robert-Walser-Preises

Von der Schwierigkeit sich sich vom Leib zu halten


Heinz F. Schafroth

«Komm, Leonce, halte mir einen Monolog, ich will zuhören. Mein Leben gähnt
mich an, wie ein grosser weisser Bogen Papier, den ich vollschreiben soll, aber ich
bringe keinen Buchstaben heraus.
»  (Leonce in «Leonce und Lena»}

Angenommen, Büchners Leonce und Zschokkes Max würden einander begegnen. Verständigungsschwierigkeiten, da bin ich sicher, hätten sie nicht. Sie würden lange elegische Gespräche führen, funkelnd vor Melancholie und Rigorosität; sie würden einander ihre Gedichte vorlesen; oder sie würden Wände besprayen mit uneinschlägigen Parolen wie: «Selbstverwahrlosung ist strafbar», «Der Staat ist immer ein Dummer oder ein Träumer» - so Max, und Leonce: «Es krassiert ein entsetzlicher Müssiggang», oder: «Aber der Heroismus fuselt abscheulich»; auch ihre Berufs­wünsche kämen zur Sprache: «ein Lazzaroni» will der eine werden, «Pozzuoli-Fischer» der andere - aber beide wissen, dass sie so leicht nicht in den Süden sich werden absetzen können. Und was das Leben angeht, würde Leonce dem Max beipflichten in dessen Meinung, dass die, die drin sind im Leben, denen, die draussen sind, Teer über die Köpfe zu schütten pflegen, und dass draussen immer die Untüchtigen sind.

In Zschokkes Roman sind die Untüchtigen im Recht. Nicht weil sie über die besseren Argumente verfügen. Sondern weil sie die der Tüchtigen durchschauen; und sie gnadenlos lächelnd unterlaufen, in einer Hellsich­tigkeit, die nichts durchgehen lässt. Auch Bibelzitate nicht. Zu denen fällt Max auf: «Obwohl die Bibel ein schillerndes Buch ist, zitiert sie jeder, um die gegnerischen Argumente zu widerlegen. Einer allein glaubt nicht an die Bibel. Immer nur der andere muss daran glauben. Wenn man zu langsam ist, ist man oft der andere.» Eine haarscharfe Feststellung ist das. Sicher nicht eine Aufforderung zur Temposteigerung. Aber auch nicht ein Plädoyer für die Langsamen. So unmissverständlich auf die eine oder die andere Seite ist in diesem Buch nichts. Es hält einen in Atem mit seiner Missverständlichkeit. Und manövriert uns mit Vorliebe auf die Seite, wo wir nie waren und mit Bestimmtheit nicht hinwollten. Auf einmal sollen wir den Springer aus Rhodos mögen. Das ist der, der prahlte, zu Hause in Rhodos springe er viel höher, und dem man dann kühl sagte: Hic Rhodus, hic salta; hier ist Rhodos, hier springe!

Dazu Zschokke: «Wobei mich eigentlich erst einmal interessierte, auf was für einer Insel dieser vernichtende Satz gesprochen wurde. Denn ich kann auch nur auf Rhodos springen. Wir alle können nur zu Hause richtig springen, was noch lange kein Grund ist, zu Hause zu bleiben, denn gesprungen muss nicht sein. Wer aber auf den spitzen Steinen jener namenlosen Insel hätte springen können, wäre ein kalter Vielspringer. Trotzdem lachen wir immer mit dem zynischen Zitierer mit, schlagen uns auf die Seite der Insulaner, obwohl die Tatsache, dass heute nur noch von Rhodos die Rede ist und nicht von jenem herausfordernden Eiland, uns vom Gegenteil überzeugen sollte.»

Bestechend elegant in der Beweisführung leistet hier Literatur, was seit eh und je zu ihren vornehmsten Aufgaben gehört: die verfestigte Sicht der Dinge aufzubrechen, die Welt neu zu sehen, Ideologie zu zertrümmern. Da hilft uns nicht, dass wir seit Jahrtausenden auf der richtigen Seite waren und es dem Prahler aus Rhodos gönnen mochten - wir heulten ungehemmt mit den Wölfen, waren sicher in unserer Parteinahme, wir waren ideologisiert und andere gegenüber unserer Ideologie chancenlos.

Der Springer aus Rhodos ist nur ein Beispiel. In Zschokkes Roman werde ich ständig in der Weise ertappt, wird mir auf die Finger geklopft. Sogar was den Staat betrifft. Wie für den Maulwurfs-Eich gehört er zu dem auf der Welt, was Max am meisten zuwider ist. «Lauter Ablehnung», heisst es. «Er grüsst den Staat nicht mehr. (...) Er springt auf und davon, wenn der Staat ihn erblickt. Unsere Erläuterungen versteht er nicht, ist viel zu verhetzt dazu (...), ganz, verbohrt in seine Fangis-ldeologie.»

Fangis ist ein Spiel, das hierzulande auch «War isch?» heisst, und mit der Fangis-ldeologie verhält es sich folgendermassen: «Der, der ist, ist der Staat und muss uns anderen nachlaufen. Wir dürfen uns von ihm nicht erwischen lassen. Immer der Faulste ist der Staat, der Langsamste, der, der sich nicht schämt, Staat zu sein, also auch der Schamloseste. Wir anderen hetzen ihn solange auf, bis er es nicht mehr aushält und uns nachrennt und denjenigen, der am mutigsten oder eben am dümmsten mit ihm geschäkert hat, erwischt.» Und jetzt kommt der Satz, den ich Max und Leonce als Parole untergeschoben habe: «Der Staat ist immer ein Dummer oder ein Träumer.» Wieder eine neue, unangenehm aparte Rollenverteilung. Die Faulsten, die Langsamsten, die Träumer - sie verdienen ja unsere Solidarität. Aber wie ist es mit den Schamlosesten? und damit, dass «am mutigsten» «eben am dümmsten» sein soll? Überhaupt: die Situation von einem gegen alle müsste uns doch von vornherein auf die Seite des einen treiben. Und da lässt uns der Autor, ratlos, in schlechter Gesellschaft — als nähme er uns nicht so ganz ernst mit unseren Sätzen gegen den Staat, den alteingesessenen, spätestens 1968 dazugelernten; die heutigen, laut denen es aus dem Staat Gurkensalat geben müsste, machen es uns jedenfalls leichter.

 

Ich bin weit davon entfernt, Max oder seinen Erfinder zu Staatserhaltern umzufunktionieren. Zu zeigen war vielmehr, wieviel in diesem Buch los ist. «Los» im doppelten Sinne des Wortes: Es passiert, es läuft viel, es ist Bewegung, ein therapeutisches Auf und Ab, eine Unaufhaltbarkeit darin; aber auch: Haltlosigkeit und Rückhaltlosigkeit, etwas, das jedes feste Gefüge von Meinungen und Erwartungen einbrechen lässt.                        

Max entkommt den Einbrüchen immer nur mit knapper Not. Das Ich des Romans hetzt ihn vom einen in den ändern. Die Spaltung Ich-Max hat literarische Tradition: Ich und Gantenbein bei Max Frisch, Ich und der Räuber in Robert Walsers «Räuber»-Roman. In allen Fällen wird Selbst-Findung mittels Selbst-Erfindung betrieben. Das schafft Komplikationen. Bei Zschokke in besonderem Masse. Denn unverkennbar ist die Erfin­dung Max ursprünglich der Versuch des Autors, sich sich vom Leib zu halten. Schon Goethe dürfte Werther erfunden haben, um nicht sich sel­ber umbringen zu müssen. Max wird von seinem Auto ständig um/und um die Ecke gebracht. Aber er zahlt es heim. Abkanzeln und mal ins Bett schicken lässt er sich. Aber die Todesarten, die ihm zugedacht sind, über­steht er alle, ist jedesmal präsenter als zuvor. «Was nicht anwesend ist, ist es manchmal dadurch sehr», heisst es in einem späten Walser-Prosastück («Das Hotel») maliziös. Etwa zehn alle mit «Letztes Kapitel» überschriebene Texte gibt es in Zschokkes Roman. In jedem wird Max' Biographie zu einem raschen Ende geführt..Nur ausnahmsweise zu einem guten. Der Normalfall ist die schlimmstmögliche Wendung. Im allerletzten letzten Kapitel, dem vor dem Postskriptum, wird er in einen Korb gesteckt und auf vielfältigste Weise erschossen. «Und er spickte in die Luft und fiel auf den Rücken, und dann schaute er mich an. Wahrscheinlich wollte er wissen, warum, und ich schoss und schoss. Bis keine Kugel mehr drin war (...).» Er wird in Abfallsäcke gesteckt, in den Container geworfen. «Danach packte ich meine Sachen zusammen und gab den Hausschlüssel ab. Aber ich konnte ihn wirklich nicht mitnehmen. Und woanders wäre er möglicherweise noch trauriger geworden.»

Das zeigt: Auch der tote Max ist nicht umzubringen. Zuviel Sympathie ist vorgefallen. Selbst der spätere Mörder hat früher einmal zugegeben: «Noch brauchen wir uns» und sogar «Manchmal möchte ich sein wie Max.» Dessen ständiges - um es mit Heine zu sagen - «Zahnweh im Herzen» hat für ihn eingenommen und tut es über sein Ende hinaus. «Gleichviel, ich will nicht immer mit mir Zusammensein», würde (mit Günter Eich, in einem «Maulwürfe»-Fragment) der Autor vielleicht daraufhin sagen. In der Tat, auch das kommt in seinem Buch zur Sprache: der Überdruss des Autors angesichts des Umgangs mit sich selber. Eichs Satz könnte überhaupt aus «Max» sein. So unwirsch, so vertrackt kokett­ verzweifelt sind Sätze da auch und bewirken, dass in diesem Buch nie Wehleidigkeit und Selbstmitleid der schreibenden «Daumenlutscher»  sich breitmachen. «Daumenlutscher» nannte Martin Walser eben in der Büchner-Preis-Rede jene Dichter, die schreibend mit sich selber beschäftigt den Blick für jede Aussen- und Umwelt verlieren. Max werden jegliche Ausrutscher in dieser Richtung abgeblockt. Der Autor greift ein und verweist nachdrücklich auf Lebensläufe, wo der Verzweiflung alle Koket­terie abhandenkommen muss - auf die Lebensläufe von Irrenhausinsassen und Krebskranken; auf den Lebenslauf von Felix, dem radikalen Sohn der Putzfrau und Max' Mutter, und den des sanften elsässischen Kochs; oder auf die Lebensläufe einer Reihe lakonischer Selbstmörder.

In all diesen Fällen auferlegt der Autor seiner Figur und sich selber eine ergreifende Aufmerksamkeit für soziale Existenz. Da ist eine Ernsthaftigkeit auf einmal ganz unverstellt, während er sie sonst in seinem Buch hingebungsvoll überspielt.

Überspielt mit Kunst und Kunstsprache. Eine, die versteckt - und am Ende, auf heiteren Umwegen, in ihre Verstecke führt: wo Lebensangst, Isolation, Wortlosigkeit versenkt sind. Der Satz «Max läuft sich oft davon» umschreibt einen auf der Flucht vor der eigenen Schutzlosigkeit und Verletzbarkeit. Aber sie sitzen weit hinter den Sätzen und Worten, dringen so lang wie nur möglich nicht an ihre Oberfläche. An der ist mit Vorliebe Witz und Spiel, oder sogar Verspieltheit, da sind Geschichten, Clownerien und voll ausgebaute Metaphern, poetische Ablenkungsmanöver noch und noch - Versuche eben, sich sich vom Leib zu halten. Auf die Dauer, wie gesagt, gelingt es nicht. Die literarische Guerilla-Taktik, das Operieren aus dem Hinterhalt führen am Ende ins Zentrum - wo Max und sein Autor sitzen, sich aneinanderpressend vor Schlottern in der Kälte ringsum. Und da sind sie dann «nur sehr still, um niemandem recht zu geben».

Ich versuche, die Quintessenz unseres Jurygesprächs über Matthias Zschokkes Erstling zu formulieren: Uns hat beeindruckt der Mut zur Poesie, zur poetischen Redeweise - die nicht von der Art ist, dass sie das Leben, das einer lebt, besser macht als es ist, in der aber die Sätze und Worte unverbraucht und unvereinnahmbar erscheinen und so die Kraft in sich haben, Gegen-Welt heraufzubeschwören, das andere Leben ins Bewusstsein zu rufen.

Gestatten Sie mir, meine Damen und Herren, eine Nachbemerkung, die von «Max» wegführt. Nämlich den Hinweis auf die nicht ausgezeichneten, aber einhellig für preiswert erachteten Werke, die die Jury damit Ihrer Aufmerksamkeit empfehlen möchte. Es sind: «Neigung zum Fluss», von Eva-Maria Alves, edition suhrkamp; «Seelenlähmung» von Peter Gogolinr erschienen bei Kiepenheuer & Witsch; «Die Tessinerin», Erzählungen von Thomas Hürlimann, die erste Publikation des neugegründeten Ammann Verlags; und schliesslich «Fasnacht», ein Roman von Ingrid Puganigg, der dort erschienen ist, wo im Februar auch  «Max» erscheinen wird, nämlich in dem von Hansjörg Graf im List Verlag verantworteten Programm «Poesie und Prosa». Ich möchte mich bei dieser Gelegenheit bei den Jury-Mitgliedern Cristine Kubier, Elsbeth Pulver, Robert Aeschbacher und Gerhard Meier für unsere Gespräche über Literatur bedanken. Gespräche über Literatur sind wie Gespräche über Bäume und in diesen Zeiten nicht nur kein Verbrechen, sondern eine Notwendigkeit - dies ein kleiner Diskurs mit Brecht.

Matthias Zschokke aber möchte ich auf seinen schweren Weg aus der Tiefe des Saals in die Höhe des Walser-Preises Sätze mitgeben, die Ilse Aichinger im Dialog «Das neue Lied» einem Dichter in den Mund legt. Er sagt: «Wenn ich jetzt hinausgeh', muss ich mich unterhalten. Ich muss mich vielleicht zu erkennen geben. Das nimmt Ausmasse an (...).»

Ansprache Matthias Zschokkes anlässlich der Preisübergabe

guten tag

er zieht an mir, der preis, er sagt: «sei jetzt gut. sei wesentlich.» wahrscheinlich besteht die kunst, einen preis entgegenzunehmen darin, ihn zu übersehen, mir fällt es schwer, mit dieser grossen ehre zusammenzuwohnen. die ehrwürdigkeit will bewiesen werden, «es bin ja nur ich.» diese redeform ist eine schweizerische, beim eintreten in kuhställe wird sie oft verwendet, sie steckt mir im köpf, ich danke für die grosse aus-zeichnung. ich werde versuchen, sie schnell zu vergessen, damit ich weiterschauen kann.

preise sind etwas äusserst exquisites und ebenso heikles, während ich darüber nachdenke, fällt das p unter den tisch, es bleibt reise, und weg bin ich, in afrika oder affoltern. derart zerbrechlich ist diese preis genannte sache also, behutsam soll ich damit umgehen, nehme ich an. vielleicht bloss den Singular benutzen, der preis, und ihn sorgfältig betrachten, vorsichtig.

wieder bröckelt das p ab, fällt neben das rechte vordere Stuhlbein: in der hand bleibt reis, afrika meldet sich wieder, hunger und goldminen, uran-plantagen - oder wird uran geschürft? auf jeden fall onkel tom und seine herzzerreissende operettenarie - oder Ist das ein musical? natürlich darf ich nicht derart herumfuhrwerken mit den buchstaben, ein preis sei kein preuss, der durch mein zimmer renne mit einem plastik-schild und einem holzknüppel. der gehöre woanders hin mit seinen explosivlauten, die schlagkräftig auf meine ohren hageln, der preis ist etwas rundes.

Natürlich beginne es mit p wie politik, polizei oder privatheit, aber es habe damit sonst nichts gemein, man könne ja auch nicht Weihnachten in einen Zusammenhang mit winter bringen, bloss wegen einem w, oder schule habe ja auch nichts zu tun mit Staat, wegen einem seh. so. jetzt bin ich ausgerutscht ins spektakuläre, ich sei zu fahrig, soll nicht herumunfugen. einen priester auf seinem gebiet habe ich um eine erklärung gebeten, er übersetzte mir preiswürdigkeit mit harmlosigkeit, aber er lächelte böse, ich denke, er wollte mich kränken oder sogar vernichten, ich Hess ihn stehn in seiner brauerei.

ich freue mich unerhört, das viele geld zu erhalten, ich werde davon über ein jähr gut leben können, eine ruhe ist dadurch nicht eingekehrt, ich denke an 1991, und weiter, wie jeder, vielleicht ist sogar eine neue unruhe dazugekommen, ein wort mehr erweist sich als brüchig, muss zurückgelegt werden auf die halde der zu prüfenden: preis, ein wort, welches ich bislang unbesehen auf dem gemüsemarkt angesiedelt habe, dass ich das geld von der Stadt biel gekriegt habe, freut mich, vielmehr, seit ich weiss, dass biel in den dreissiger jähren einen einsamen versuch gestartet hat, alle amtlichen schreiben in kleinschrift zu verfassen, ich stelle mir das sehr verwegen vor, die aussichtslosigkeit scheint mir absehbar, der versuch dadurch sympathisch, vom kanton bern kenne ich keine entsprechende grossartigkeit. vielleicht interessiert es, dass ihn meine freundin sehr schön findet, auf jeden fall danke ich auch ihm herzlich.

leute, die einen preis erhalten, sagen auch meistens etwas dazu, ich nehme an, alles, was ich gesagt habe, wurde schon einmal gesagt, was ich sagen werde, ist altbekanntes und macht Wiedersehensfreude, ich möchte darum nur noch ein unumgängliches versuchen zu übersteigen: den robert walser, ich will mir vorstellen, dieser preis sei im sinn von robert waiser gestiftet, nicht nur in seinem namen, und in diesem ver­trauen kann ich ihn strahlend und lachend entgegennehmen, ich kann robert walser nicht deuten, noch weniger zitieren, robert waiser ist nicht zu gebrauchen, er ist bloss da, und zwar gehörig.

die Spezialisten haben ihn noch nicht entschärfen können, er sitzt da, der herr, und sagt, sein name sei rumpelstilzchen. niemand glaubt es ihm. man lacht und meint, das sei ein anmutiger witz mehr mit diminutivpointe, sehr gelungen auch der. ich weiss nicht, ganz bestimmt ist er stachelig, und ich kann mir gut vorstellen, dass er gelegentlich ein paar Sprünge im wald ausprobiert hat. ich bin glücklich, dass ich gerade mit ihm in einen Zusammenhang gebracht werde, und hoffe, dies sei kein zufall, vor allem aber, dass ich ihn nicht störe.

bedenkenlos nehme ich den robert-walser-preis entgegen und danke aufrichtig, aufrichtigst, wenn das geht.

 

Biel, 22. November 1981

 




Kleine Wörter - grosse Piraten

MAJA BEUTLER

 

(Zu den Musikern) Herzlichen Dank.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, das war das erste Zschokke-Zitat des Abends - 'Herzlichen Dank' - inklusive Blick zu den Musikern. Entschuldige, lieber Matthias Zschokke, dass ich schon von Dir lebe, eh ich überhaupt angefangen habe. Aber ob es uns passt oder nicht: wir befinden uns hier in Szene l Deines Theaterstücks 'Die Alphabeten' - einer literarischen Preisverleihung. Leider wird sie böse enden, drunter tust Du's ja nie, es kommt zu wüsten Verwechslungen von Damen- und Herrentoilette, plus spitzen Bemerkungen zur Rede. Zweites Zitat:

"Und sowas soll nun das garantiert Beste der Saison sein? Das war doch nichts,  oder?"

Zur Strafe, meine Damen und Herren, müssen Sie die Honoratioren darstellen -verwechseln Sie es bitte nicht mit Zuschauern: die müssten für den Sitzplatz bezahlen. Sie, dagegen, sind inszeniert. Relativ schlicht: Jedermann stellt sich selbst dar. Tun Sie, als hörten Sie zu und überschlagen Sie die Beine. Das Linke bitte über das Rechte, auf mein Zeichen hin wird gewechselt. So können Sie die Sache im Chor erledigen, wie's Matthias Zschokke beim Schreiben vorschwebte - ich stütze mich ganz auf seine Regieanweisungen. Auch was das Hüsteln anbelangt: Bitte einzeln - Alphabeten sind Individualisten. Am besten, wir beginnen ganz vorne links - Matthias Zschokke ist ein politischer Autor: Von hinten gesehen wäre links rechts, wie vorne hinten - alles eine Frage des Standpunkts. Etwas nicht klar? Im Stück vorgesehen: Die allgemeine Nervosität breite sich bitte sternförmig von der Mitte aus. So, das wäre geregelt. Vom Preisträger selbst - ich möchte es noch einmal betonen, ich habe hier nichts zu sagen, ich spiele nur Dr. Seet, die Kulturhyäne. Trübe, trübe, dass wir samt und sonders festgeschrieben sind wie wir nie scheinen wollen. In seinen Büchern treibt es Matthias Zschokke kein Haar besser: notiert unsere Verschämtheit als wäre es seine, und beim Lesen geht uns jedermanns Lächerlichkeit auf. Schon in seinem Erstling 'Max'. Da war der Autor 26 Jahre alt, aber zwischen den Zeilen rumorte schon jedermann - nicht der von Hofmannsthal. Hören Sie selbst:

... er stellt sich vor, der (andere) denke von ihm, er sei ein Verrückter, ein Irrationaler, ein Faszinierender, und das tut ihm gut. Er hat dann den verlangten Beweis einmal mehr erbracht. Den Beweis für die totale Freiheit des Individuums, der von jedem Bürger unseres Staates einmal wöchentlich verlangt wird, damit der Staat weiterhin behaupten kann, ' bei uns ist alles erlaubt, wir sind ein freies Land'. Max leidet stark unter diesem Zwang zum Individualismus.

                       

Matthias Zschokke bekam für dieses erste Manuskript den Robert Walser-Preis. Mit einem Paukenschlag also hat der junge Autor die Schweizer Literaturszene betreten.

Und tatsächlich: ein neuer Ton wurde angestimmt, unangestrengt und heiter, gewisse Passagen erinnerten an den verspielten Mozart der Briefe an Nannerl. Und doch drängte sich bei Zschokke eben der andere, der schweizerische Vergleich auf: Sein Max walserte.

Schon im zweiten Roman, 'Prinz Hans', schien Zschokke bewusst mit der Parallele zu spielen. Hören Sie doch, wie Robert Waiser - notabene 1907- sein Prosastückli 'Kutsch' eröffnete:

Ach Gott, Kutsch ist so arm, so weltverlassen. Man bedenke, er strebt nach nur Hohem und Erstklassigem. Er ist nicht ein Mensch wie andere Menschen, gerade so, wie die meisten Menschen nicht Menschen sind, wie andere Menschen.

Als Kontrapunkt dazu nun Zschokkes Variationen, Eine Stellungnahme von Hans zu sich. Ich lese einen winzigen Ausschnitt:

Ich verkaufe Zeitungen aus einer Laune. Natürlich bin ich bei weitem kein Zeitungsverkäufer. Das dürfen Sie nicht denken. [... ]Ich tue das doch nur, um damit Geld zu verdienen. Die ändern tun es, weil sie es sind.[...]

 Oder ich sage, die Türken müssen raus. Aber ich weiss, was ich damit meine. [ ... ] Als gestern jener Türke von Polizisten etwas ruppig auf die Strasse gelegt wurde, da habe ich mich innerlich empört und weggeschaut; nicht, wie mein Nachbar über mir, der, davon bin ich überzeugt, weggeschaut und gedacht hätte: <Recht so>. Diese Mitläufer! Ich kenne sie.

Ich frage mich, ob Matthias Zschokke auch Bundesrat Ogi kennt - ich meine sein Erfolgsrezept: 1. Problem erkennen, 2. Lösung suchen. Zschokke hat nämlich eine Lösung für Hans: Es muss ein neuer Ausweis eingeführt werden, der exklusiv anderen zusteht. Damit können sie sich ändern anderen flugs als andere zu erkennen geben und peinliche Missverständnisse unterbleiben.

Ich, ich hätte mir den Ausweis heute gerne besorgt. Denn, bitte, glauben Sie wirklich nicht, dass ich hier rede - ich würde das ganz anders anpacken -, es spricht Dr. Seet, Jurymitglied des hiesigen Alphabeten-Theaters. Ich könnte Ihnen beweisen, dass ich keinen Doktortitel habe und weder ledig, noch 47 Jahre alt bin, wie's dem Autor beim Schreiben vorschwebte. Strenggenommen bin ich ja nicht einmal ein Mann. Aber das sind leere Tröstungen. Die Zschokke-Rolle klebt mir schon derart am Mund, dass ich nicht einmal garantieren kann, ob im Laufe des Abends nicht Seets väterliche Maxime hervorblubbert. Sie lautet:

Das Problem ist leider, dass zwar  viele zu siegen verstehen, aber kaum einer zu schreiben.

Ach, wenn ich persönlich das Gegenteil zu denken vermöchte. Ich bin doch nicht Herr Dr. Seet. Aber - gleich dürfen Sie im Chor zum ersten Mal Bein wechseln - ich bin auch keine Frau. Da hätte ich mir ein spontanes Hüsteln vorstellen können. Wenn nicht gar ein Spürchen allgemeiner Nervosität. Es hätte mich glauben lassen, dass ich eine Frau ebenso zwingend darstelle wie den Seet. Gleich haben Sie Ihre zweite Husten-Chance: mit dem Preisträger selbst. Er ist spiegelverkehrt - kein Mann aus einem Guss.

Ich verbreite keine Gerüchte, ich halte mich streng an sein Werk: Matthias Zschokke hat einen Roman publiziert mit dem Titel 'ErSieEs'. Untertitel: 'Der in der Abendsonne Sitzende'. Der Protagonist muss sich auf der ersten Seite schon einem Verhör stellen: "Name?"... "Ersiës de Glych" - ein paar Sätze weiter wird klar, dass der junge Mann gar nicht vor Gericht steht, sondern vor einer Arztgehilfin im Labor, sie muss entscheiden, ob er gesund genug ist für medizinische Versuche. Das brächte Ersiës die nötigen Moneten, um nicht zu verhungern, und gleichzeitig wäre er der Menschheit nützlich. Allerdings kann Ersiës sich ebensogut vorstellen, Experte für Schauspielkunst zu werden, oder Bäuerin mit Gemüsesuppe, wenn nicht doch lieber Erstklässlerin. Sie hören's: der junge Mann ist auch eine Frau und schwups, ein Kind. Aber immer 'de Glych' ist er.

Die DDR-Autorin Irmtraud Morgner hat beschrieben, wie sie bei der staatlichen Wohnungsvermittung einen Antrag auf mehr Raum stellte, obgleich sie weder Trauschein noch Schwangerschaftsattest vorzuweisen hatte: 'Ich brauche das zweite Zimmer für den Mann in mir.'

Ersiës  hätte also drei zugute - auch das Kind in ihm muss irgendwo rumoren können. Auf einer einzigen Buchseite wechselt Ersiës oft zweimal das Geschlecht, redet mit einemmal als Kind daher, wo er als Mann begonnen hat, und das Kind schaut sich auf der Strasse um als Frau, und beides geschieht mit einer Beiläufigkeit, dass keine Zäsur im Satzgefüge nötig ist, um den Wechsel anzuzeigen. Der Geschlechtsumschlag ist auch nicht Thema des Buchs - das Pronomen wechselt: er-sie-es, basta. Schliesslich stellt jedermann eine unheilige Dreifaltigkeit dar. 'Klee ist der Mensch, dreiblättrig welket er dahin'. Schade, fehlt dieser Hinweis in der Bibel. Wechseln Sie einmal Bein, da haben Sie nur zwei. Kleine Anfrage: Wäre Ihnen wohler, Ihr persönlicher Geschlechtsreichtum wäre Ihnen nicht bewusst geworden, via Ersiës? Literatur ist ja nicht einfach Literatur.             

Mein Buchhändler hat sich zu Reklamezwecken neue Buchzeichen drucken lassen. Es steht nichts aufgedruckt als das schwarze Wörtchen leben. Allerdings ist es korrigiert, das b mit einem roten Federstrich durchgestrichen und mit s überschrieben. So heisst es lesen. Vive la petite différence. Ein Mann, der 'ErSieEs' gelesen hat, bleibt gottlob de Glych. Nur wird er sich langsam fragen, ob das Männlichste an ihm nicht doch seine Frau sei und das Infantilste an beiden das ewige Erwachsen-sein-wollen. Eben: Matthias Zschokke ist ein politischer Autor. Nur die Politik als Politik kümmert ihn nicht - sie besteht aus Sachzwängen. Just in die möchte sein Ersiës nie geraten.

Er möchte ins wirkliche Leben hinein. Nein, er wird nicht eingelassen. Ein moderner Charlot, beinah, der eifrig klopft und rennt und hebelt und fürs Fliessband doch nicht genügt. Er kann nicht fassen, wie andere geölt funktionieren. Denken sie nichts? Jedes Wort heisst so viel. Schon deshalb legt Ersiës im ganzen Roman nie fest, was weiblich bedeutet und was männlich. Das Grunddilemma ist ohnehin menschlich. Ersiës verdichtet es beinah zu einer chemischen Formel: " Ich setze mich zu jemandem, um mich mit allen Mitteln von ihm fernzuhalten."

Die Angst zu verknöchern und die gleichzeitige Reserve zu leben- das ist das eigentliche Thema von Zschokkes Werk. Neben Ersiës in der Abendsonne sitzt das kleine Sterben.

Vielleicht steht es just in den Momenten auf, die Ersiës als Aufbruch zu neuen Ufern versteht. So wartet er eines Abends in einer Pianobar auf sein weibliches Ebenbild - es wird Sie nicht erstaunen, dass es auch Ersiës heisst - er wagte ihm bis anhin nur zu schreiben -jetzt also kommt es, eine wunderbar stille zögerliche Frau, er führt sie aufs Tanzparkett und nimmt sie zum ersten Mal in die Arme. Hören Sie, was passiert:

Sie lässt sich nicht gern führen, ein sperriges Paar; seine Hand auf ihrem Rücken, manchmal ein Druck mit dem Daumen, dann -wieder nur -wie ein Hauch zu fühlen, dann ein Zeichen mit dem kleinen Finger - unverständliche Signale, angenehm; er kriegt rote Wangen, freut sich, sie macht zu grosse Schritte rückwärts, kippt gelegentlich vom Absatz, lacht, [...] genaugenommen stehen sie eher an einer Stelle, als dass sie tanzen, beide hölzern, steif, er streicht ihr übers Gesicht, sie streicht ihm den Rücken mit flacher Hand. [... ] dann gucken beide vor sich auf den Tresen...

Raus, die Luft. Die zwei haben sich schon verfehlt, ohne ein böses Wort, ohne körperliche Abneigung - das kleine Sterben war nur stärker. Auf der nächsten Buchseite führt Matthias Zschokke fast exemplarisch vor, wie nebensächlich Handlung ist. Dem Tanz kommt erst Bedeutung zu, wenn wir als Leserinnen und Leser wissen, was in Ersiës vorgeht.

Wie löst Matthias Zschokke das Problem rein handwerklich? Indem er zur Spiegel-Form von Handlung greift - dem Brief nämlich, der alles sein kann ausser Handlung. Ersiës schreibt seinem väterlichen Freund:

Lieber, mir geht es schlecht. Ich war gestern in einer Pianobar, [... ] hab sie dazu eingeladen]... ] Was ist geschehen?- Nichts - oder doch, sehr viel: Sie ist verschwunden, nachdem ich einen Tanz mit ihr versucht habe - Du weisst, dass ich gern und gut tanze: So hölzern und schief hinge ich nicht mal in der Eiger-Nordwand, wie ich gestern dort stand - selbst zu atmen habe ich vergessen, wurde beinah ohnmächtig - gefriergetrocknet - lächerlich! [... ] ich fühlte mich bloss sterbensmüd, nahm ein Taxi nach Hause und schlief zehn Stunden, und jetzt stumpf// daran kann doch nicht nur 'unsere Zeit' schuld sein! Mit sachlicher Freundlichkeit wohnen wir unserer eigenen Erstarrung bei - 'bis bald' winken wir uns matt lächelnd zu und versinken. Wir träumen doch alle was anderes! Warum bewegt es sich nicht! Nichts als Geflatter!

Natürlich habe ich diese Tanz-Episode mit Hintergedanken ausgewählt. Zum einen, weil sie die Vielschichtigkeit und Formenvielfalt des ganzen Buches zeigt, zum ändern aber, um so recht von Herzen zu jammern: Wie sollte ich Ihnen Zschokkes ganzes Werk nahebringen können, wenn das Eigentliche zwischen den Zeilen passiert? Schon dieser kleine Ausschnitt ist nicht wirklich nacherzählbar. Und ihn zusammenzufassen .... Ach ja, die Handlung lässt sich zusammenfassen.

Zschokke selber stand vor ganz ähnlichen Problemen mit dieser Passage. Später, meine ich. Er hat sie nämlich dramatisiert und den Dialog gleich zweimal verwendet: Zuerst im Theaterstück 'Die Alphabeten' - da hocken wir jetzt mittendrin - dann im Spielfilm 'Erhöhte Waldbrandgefahr'. Diese neuste Arbeit von Matthias Zschokke wurde vor ein paar Wochen am Filmfestival von Locarno uraufgeführt - ohne den grossen Preis zwar, aber mit grossem Erfolg.

Und jetzt glauben Sie natürlich, Dr. Seet werde Ihnen den Dialog präsentieren. Ich tanze erst im 2. Akt der 'Alphabeten' in der Pianobar - mit einer blutjungen Dichterin, übrigens. Wir sind aber noch im 1. Gottlob. Wie ich die steifleinene Erotik hinkriegen könnte und gleichzeitig auch noch die gebrochene Stimmung des Briefes in Körperhaltung umsetzen ... Nein. Wirklich lieber den Filmdialog. Es ist ja wortwörtlich derselbe. Nur kommt in 'Erhöhte Waldbrandgefahr' leider Dr. Seet nicht vor. Zum Davonlaufen, nicht, wo ich doch da wäre. Jetzt werden Sie nie erfahren, was passiert, wenn derselbe Text von einem anderen Liebhaber gesprochen wird: Jedes Wort heisst etwas anderes. Möchten Sie Bein wechseln?

Der Name Matthias Zschokke fällt selten, wem Kritikerinnen und Kritiker die wichtigsten Schweizerautoren der Gegenwart aufzählen. Seine Bücher und Stücke werden zwar mit schöner Regelmässigkeit besprochen, zuweilen geradezu taillierend, auch in Deutschland; seine ersten Stücke wurden auf eine Ebene mit Büchners 'Leonce und Lena' gestellt. Aber dass Zschokke nach Marguerite Duras der einzige Schriftsteller ist, der kontinuierlich filmt, und dass er sich durchaus wie Marguerite Duras ein eigenes Genre von Film, von Theater und Roman geschaffen hat - das habe ich noch nie erwähnt gefunden. Geschweige denn, dass am Fernsehen - im 'Literatur Club' etwa, oder im 'Literarischen Quartett' - Zschokkes schmaler Berlin-Band 'Der dicke Dichter' dem Wälzer von Günter Grass gegenübergestellt worden wäre, 'Ein weites Feld'. Fürs Nachdenken, was Wende heissen könnte, genügen die Sendeminuten nicht. Vielleicht auch nicht die Köpfe.

Warum aber wird der Name Matthias Zschokke vergessen, wenn die Namen der Erstliga- Schweizer-Autoren proklamiert werden? Weil er in Berlin lebt, vielleicht, oder weil er zu facettenreich ist? Vermutlich wüsste es Adelheid Duvanel besser. Sie hat sich vor ein paar Monaten das Leben genommen. Eigentlich wäre es richtiger zu sagen: Sie hat die Armut nicht länger ausgehalten, die sie in Kauf nehmen musste, um Zeit zum Schreiben zu haben. Adelheid Duvanel wurde vom Feuilleton betrauert als eine grosse, als eine der wichtigsten Autorinnen. Aber 1994 hat sie in einem Brief über die Rezeption geklagt:

Man spürt, dass das Buch ernst zu nehmen ist, aber man weigert sich. Vielleicht, weil es so leicht wirkt. Wir sind das in der deutschen Literatur nicht gewohnt, da muss man in Stiefeln daherkommen, um ernst genommen zu werden.

Matthias Zschokke ist ein Seiltänzer, federleicht riskiert er sein Leben. Wozu dran denken? Andere Autoren treten ihrer Leserschaft in die Magengrube - das prägt sich ein. Im Roman 'Piraten' knöpft sich eine höfliche Zschokke-Figur - sie sind immer höflich - einen grossmauligen Autor vor, und für einmal platzt dem Höflichen der Kragen:

"Empfindungsprotz [... ] Verzeihen Sie, aber ich verabscheue jede Form von  Gefühlsberserkerei - da muss ich reagieren. Schauen Sie: ich setze mich ein für die einfachen Wörter, die einfachen Sätze, weil sie einen genauer hinhören lassen. Homöopathie in der Sprache! Was halten Sie davon?"

Auf Seite l des Romans wird Ersiës Testperson für Medikamente - ein kleineres, ein unaufwendigeres Wort als 'menschliche Versuchsratte'. Auf der letzten Buchseite hängt Ersiës am 'Tag der offenen Tür' im pharmazeutischen Labor als Ausstellungsobjekt: Ecce homo - im 20. Jahrhundert ein medizinisches Exponat. Zschokke bedient das Pathos von Golgatha nicht, keine Rohlinge bohren blutende Wundmale - Besucherinnen werden mit Rütchen bewaffnet, alles bleibt harmlos, eine Kreuzigung via crossover-Vergleich, ganz banal. Eine Frage, ob Judas oder ob Petrus heutzutage Assistent in der Pharmaindustrie ist. Vielleicht projiziert Dr. Seet zuviel hinein. Urteilen Sie selbst:

Zwei Rentnerinnen betrachten Ersiës. "Interessant. Eine Art Flügel sind da gewachsen..." - Nein", erläutert ein junger Assistent in weissem Kittel {... ] "das sind Ablagerungen von Fluocortinbutyl nach rektaler und intravenöser Abgabe im crossover Vergleich. Sie sind absolut unbrauchbar, unbeweglich. Eine Art Höcker eher. Sehen Sie, Sie können sie anfassen. Schlecht durchblutet. Schmerzen verursachen sie keine [ ...] Möchten Sie mal schlagen? ", er reicht eine lustige Rute. Eine Rentnerin schlägt. Ersiës lächelt dumm. "Darf ich auch mal?", fragt die zweite. [...] Ist ja erstaunlich. Kann es sprechen? [... ] Tut das weh?" (sie schlägt) - "Ja", sagt Ersiës. - "Ach, so! Es tut weh?!! - Entschuldigung. - Warum hängen Sie es dann hin und lassen uns schlagen? Ist ja unverschämt!" - "Weh, weh! Dummes Geschwätz", sagt der Assistent, "natürlich sind die Reize noch zu spüren. Aber wir haben mit elektronischen Tests und auch mit neuen chemischen Prüfmethoden die Schmerzempfindlichkeit gemessen. [... ] Auch wenn Sie sich vorstellen: Es hängt nun schon sieben Stunden hier. Ich nehme nicht an, dass Sie das durchstehen würden.

Matthias Zschokke schreibt in keiner Diktatur, er hat nie zu kämpfen gegen Zensur. Die freie Marktwirtschaft schafft's von allein. Wissen Sie wie? Wer nicht bestsellert, kann nicht existieren vom Schreiben. Vogel friss oder stirb. Meine Damen und Herren, richten Sie sich kerzengerade auf: Für Autorinnen und Autoren stellen Sie eine Macht dar. Um Sie wird gebuhlt, im Schreibgeschäft. Eigentlich fungieren Sie als Literatur-Konsumenten, aber noch eigentlicher als Zensur in der Demokratie: Was Ihnen nicht gefällt, und zwar auf Anhieb gefällt, droht nächste Saison weggeputzt zu sein.

Auch ohne dass Sie sich räuspern weiss ich, dass es in jedem Beruf um Angebot und Nachfrage geht. Ein Uhrenfabrikant kann auch nicht von seinen Uhren leben, wenn sie zuwenig Absatz finden. Richtig. Allerdings besteht ein kleiner Unterschied: Jedermann sieht auf Anhieb, ob die Uhr läuft und ob sie die richtige Zeit angibt. Bei einem Buch sieht es niemand. Ausser Dr. Seet, natürlich. Seien Sie getrost: Im 3. Akt hintersinnt er sich, weil der Markt die Falschen hochspült.

Robert Walser ist heute der Vorzeigeautor der Schweiz. Mit der Lupe sind seine unveröffentlichten, in Miniaturschrift gekritzelten Bleistiftmanuskripte entziffert und publiziert worden - seinerzeit hat Walser nicht einmal mehr einen Verlag gefunden und ist schliesslich verstummt. In 'Kutsch' - wir haben die ersten Sätze des Prosastücklis schon gehört - schrieb Walser:

Ich aber gehöre entschieden unter die Hunderttausend. Ich bin zum Verwechseln einem Hausdiener ähnlich, und ich bin froh, so gewöhnlich zu sein.

Walsers Biografie hat diesem Satz eine Dimension zugefugt, die er 1907 nicht hatte. Heute lesen wir eine Selbstprophezeiung mit ein, vielleicht den trotzigen Kommentar zu den Anstaltsjahren in Herisau. Walser konnte beides nicht bewusst einschreiben. Sowenig als Franz Kafka die Chiffre des Holocaust. Sein Georg Samsa, der eines Morgens als Käfer erwacht, ist nicht aus dem Bewusstsein entstanden, dass Juden über Nacht zum Ungeziefer erklärt würden. Vielleicht aber, dass Kafkas Romane und Erzählungen erst durch die politische Schreckensrealität transparent wurden.

Sie brauchen nicht zu hüsteln: Ich rede die ganze Zeit über Matthias Zschokke. Ich glaube nämlich, dass sein Werk getrost überwintern kann, an die fünfzig Mal, wenn's sein muss - dann wird es Frühling haben. Ich vermute, vor allem 'Der dicke Dichter', sein Roman zur Wende in Deutschland, werde einmal etwas anderes heissen, als wir heute lesen. Jetzt steht erst da, wie einer mit heiterer Gelassenheit verzweifelt. Es stösst ihm nichts Besonderes zu, dem dicken Dichter, es geht ihm wie jedermann: Seine Hoffnungen sind ranzig geworden. Vielleicht, dass sie schon Feigheit sind, die Feigheit, zu Ende zu denken. Was kann er denn ohne Zukunft schreiben, der dicke Dichter?

...so eine nachgelassene Prosa stelle ich mir vor, eine Prosa, der die Zeit fehlt, sich zu verstellen; die davon spricht, dass einer keine Freunde weiss, keine Liebe, kein Glück, aber auch keine Feinde, keinen Hass, kein Unglück - ein Zustand, wo jede Spitzfindigkeit schal und trüb wird, wo mit unverblümter Offenheit hinter allem die Banalität hervorgrinst, die Banalität, die es schliesslich ist, immer, bis in alle Ewigkeit, nichts als die überwältigende Banalität, der Staub, die Wand, die Stühle - wenn das nicht bereits zu grosse Wörter sind dafür. Also einfach: der Staub.

Zschokke leistet sich den Schabernack, das politische Ereignis der Wende links liegen zu lassen, aber selbstironisch setzt er ständig dazu an, den von der Branche mit Ungeduld erwarteten 'Grossen Roman zur Wende' zu schreiben. Lediglich das bisschen Realität kommt dem dicken Dichter ein Buch lang dazwischen:

Weisst du, Lieber, selbstverständlich sind grossartige Dinge passiert in letzter Zeit, historische Ereignisse, die uns alle tief bewegt haben, will man der Geschichtsschreibung Glauben schenken, und selbstverständlich prägen diese grossartigen Ereignisse und Veränderungen das Gesicht so einer Grossstadt, [ ...] wir alle sind ganz aufgewühlt davon, und ich bin der erste, der wie alle tief erregt ist davon und voller Tatendrang steckt [... ] diese Weltereignisstadt werde ich bändigen, vertrau mir, [... ] noch schlafen mir die Stadtbewohner allesamt schlicht weg, kaum will ich sie loslegen lassen, sie trinken einen guten Schluck billigen Schnaps, legen sich auf die Bürgersteige [... ] und das sind die einzigen, derer ich habhaft werde, die ändern sitzen stundenlang in schlechten Theateraufführungen.

Matthias Zschokke ist ein politischer Autor. Er führt in einer Unzahl von Geschichten vor, dass Politik heute Fiktion bedeutet und dichterische Phantasie Sinn für Realität. Zschokke beschreibt nichts als den verleugneten Alltag, der nie Geschichte machen wird. Wenn sein dicker Dichter davon erzählt - einem Severinchen, übrigens, denn nur ein Kind hört überhaupt noch hin -, aber auch das Severinchen möchte nicht wissen, wie sich's in Berlin wirklich lebt. Es mault und reklamiert durchs ganze Buch:

" Jetzt erzähl mir eine Geschichte,[...]  aber nicht so eine laue Suppe, dass mir vom Anhören die Ohren welk werden. Eine Geschichte, die auch Amerika versteht, etwas Kräftiges."

Ja, meine Damen und Herren, das könnte uns auch so passen. Wir wollen auch nicht wirklich leben - Roman total möchten wir, selber in einen Roman hinein, wo wir lauter Sätze fallen liessen, die uns nie einfallen. Und unser Partner oder unsere Partnerin würde uns endlich - ein einziges Mal wenigstens - den Satz sagen, der unser Leben auf den Kopf stellen würde - wie nur ein Satz im Roman die grosse Wende herbeiführen kann. Ach, wie der dicke Dichter selbst sich nach der story sehnt, die nicht stimmt - auch ein dicker Dichter hat einen faustdicken hinter dem Ohr, der ans Zuckerzeug möchte. Er schreibt es sich selbst brillant hin, wahre Bonbons literarischer Spiegelfechterei. Vom armen armen Zigeunerjungen etwa, der den reinseidenen Berliner beklaut, aber nicht verzeigt wird, oh, das weiche Herrenherz; in der Wohnung oben schlägt's für das Zigeunerkind, wie's nie dürfte, so lusthuldvoll, dass der dicke Dichter aufseufzt:

Solche Sachen kann ich stundenlang lesen. Und ich sitze da und starre vor mich hin, habe selbst keine solche Geschichten zur Hand, [... ] diese Leben, die nie gelebt werden müssen, über die wir immer Herr sind, [ ...] auf die wir immer herabschauen können, gemeinsam mit dem Autor, der uns damit für kurze Zeit von uns erlöst...

In seinem Theaterstück 'Brut' hat sich Matthias Zschokke selbst erlöst. Uff. Die Realität ausser Kurs - jetzt wird der Bubentraum ausgelebt: ab, aufs Schiff der grossen Piraten. Tristana Nunez steht auf der Kommandobrücke - vielleicht müssten Sie ehrgeiziger sein, meine Damen - die Kapitänin hat die Piraten nämlich nicht nur unter dem Daumen, sie spielen ihr auch noch auf, jeden Abend zur blauen Stunde. Sie spüren es: 'Brut' ist mir von allen Zschokke-Stücken das liebste. Vielleicht, weil die Piraten eine Stadt erpressen mit einem Dichter. Lächerlich. Von Anfang an ist dem Publikum klar, dass kein Rappen Lösegeld bezahlt wird. Aber schön ist der Gedanke eben doch. Der Koch Caflisch macht dem Dichter auch noch Pralinen, eh er ihn über Bord schickt. Freie Marktwirtschaft mit Fingerspitzengefühl. Und schon fliegt eine wahre Märchenfee durch die Lüfte und landet an Bord - am Stahlseil, aus dem Schnürboden herunter - die Fürstin Lastadie Etmal. Die Piraten träumten von nichts anderem als der Frau, die jeder Beschreibung spotten würde. Jetzt, jetzt... murksen sie die Fürstin ab. Was wäre mit dem fleischgewordenen Traum denn noch anzufangen gewesen? Einfach ein Trost-Stück, nicht. Für jede Frau, die kein Traum ist.

Ich, als Mann, habe 'Brut' geschätzt, weil mir bewusst wurde, dass ich so oder so verloren gewesen wäre. Was heisst 'Aussteigen' - zwanzig Jahre danach? Das ewige Plündern, Entern, Erpressen und Kramauxen hängt den Piraten zum Halse heraus, wie mir der Literaturbetrieb: Alles derselbe Zwang. Die Piraten dümpeln im Kreis herum, damit noch irgendetwas läuft, auch wenn längst nichts mehr läuft und läuft und läuft.

In der Pause von 'Brut' stand ich in der Nähe von drei jungen Germanistinnen. Sie sinnierten, warum der Dichter auf dem Schiff in einem Vogelkäfig gefangengehalten wurde. Weil er Lyrik schmetterte, sooft der Koch vorbeiging? Die eine Germanistin gab zu: "Ungewöhnliches Stück, man weiss bloss nicht gleich ..." Die beiden andern sagten "mhm" und schauten ins leere Sektglas. Dann fasste die Resoluteste zusammen: "Im Grunde weiss man nicht, wo 'Brut' einzureihen wäre. Es ist ja auch witzig, obgleich ... Weiss der Autor wirklich, was er schreibt?"

Wir wollen es nicht hoffen, meine Damen und Herren. Vor allem der Preisträger sollte es nicht. Lieber, sich damit einrichten, dass er sein Leben lang eine Uhr ohne Zeiger in Arbeit hat. So kann er nicht hochmütig werden, und zu jammern hat er auch. Denn obgleich er die Lupe ins Auge klemmt, kann er selber die Zeit auch nicht ablesen von seiner Uhr, und zugleich weiss er die ganze Zeit über, wie lächerlich es ist, eine Uhr an ihren Zeigern messen zu wollen. Sie läuft nämlich. Er kann sie hören - es ist ja recht still um ihn - zum Trost also hört er sie ticken. Sie ist übrigens sein Herz. Sie stocken nur gemeinsam, und trotzdem ist die Unruhe im Werk etwas Eigenständiges: sie wird sich weiter bewegen, wenn das Herz stillsteht. Das ist das Einzige, was ich sicher weiss.

                    Laudatio zur Verleihung des Aargauer Literaturpreises, Aarau, 9. November 1996

 




Buchpreis Juni 2006

Literarische Kommission des Kantons Bern

 

Matthias Zschokke: Maurice mit Huhn, Zürich: Ammann 2006

 

LAUDATIO VON MARIANNE WILLE

 

„Allmählich beherrschte er die Kunst der Simulation virtuos. Er war immer gerade knapp nicht da, wo er gebraucht worden wäre, hielt dabei aber gleichzeitig immer den Eindruck wach, das geschehe aus purem Pech und er sei zutiefst betrübt darüber. Das förderte in ihm das Talent, sich zu verstellen, und machte aus ihm den Lügner und Betrüger, der er heute ist.“

 

„Nah dran“ ist diese kleine Fussballgeschichte überschrieben, in welcher Matthias Zschokke beschreibt, wie, einmal mehr, aus einem schlechten Fussballer ein guter Schriftsteller geworden ist. Nicht das, was uns gelingt, treibt unser Leben voran, sondern das, was uns missglückt. Dass er einschlechter Fussballer war, durfte, während des Spiels, natürlich nicht zu deutlich praktiziert werden, sonst wäre das aufgefallen und er hätte schnell als Verweigerer, als Clown oder gar als Spielverderber gegolten. „Die Lösung war, haarscharf an der Peripherie des Geschehens entlangzulaufen und so zu tun, als ob er sich jeden Moment mitten hineinstürzen wollte, rasend schnell, auf und ab, wie ein junger Hund am Ufer des Kanals, in welchem sein Stöckchen treibt."

 

Der Verstellungskünstler, der Lügner und Betrüger hat einen wunderbaren Roman geschrieben, der einem das Wasser in die Augen treibt und einen schmunzeln macht  ob der Volten, die sein Held, nennen wir ihn Maurice, bei der Betrachtung von dem, was sich in unserer Welt an Wirklichkeit aufdrängen will, macht. Dieser Maurice ist eine Möglichkeit: Er scheut nicht die Schwierigkeit, von sich „ich“ zu sagen, aber er muss sich auch gefallen lassen, dass über ihn in der 3.Person erzählt wird. Er hat eine Gegenwart, eine Vergangenheit, er ist vielleicht schon tot, was ein weiteres Ich zum Geständnis zwingt: „Ich bin nun einmal in die Pfütze von Maurice’ Gegenwart getreten und meine deswegen beschreiben zu müssen, wie sie beschaffen war, diese Pfütze.“ Das Leben, auch das Mögliche, fingierte: eine Pfütze, mehr nicht.

 

In Maurice’ Heimatdorf gibt es, seit jenem Bild „Maurice mit Huhn“, das der berühmte Maler von seinem etwa fünfjährigen Sohn gemalt hat, ohnehin viele, die den Namen „Maurice“ tragen – es gibt sie nicht, die Einmaligkeit, die unverwechselbare Spur, die man als Mensch zu ziehen trachtet. Trotzdem hegt Maurice die Zuversicht, weiter an die Veränderbarkeit der Welt glauben zu können, auch wenn diese Welt sich einem schon fix und fertig und medial zubereitet entgegenstellt. Manchmal geht allerdings die Sehnsucht nach einer Wirklichkeit, nach einem authentisch klingenden Lebenslauf, mit dem Ich-Erzähler durch: Er erfindet sich einen Vater, eine Tochter (eine Greisin hat ihrerseits die Rolle von Maurice’ Mutter übernommen, on es ihm passt oder nicht) und ruft sich sogleich selber zur Ordnung: „Was für ein Durcheinander. Wer hat hier dazwischen gesprochen?“ Wie schön wäre es, wenn sich uns, wenn nicht im Leben, so wenigstens  in der Kunst, ein roter Faden anböte, an dem wir uns festhalten, an dem wir uns entlanghangeln könnten. Auch Maurice hegt die mal verzweifelte, mal gelassene Sehnsucht, Geschichten mit Hand und Fuss, Anfang und Ende, Aktionen und Reaktionen, Ursachen und Wirkungen, Leichen, Polizisten, Intrigen, Liebe, Leidenschaft, Schicksal und Tod wenn schon nicht zu erleben, dann wenigstens erfinden zu können. Davon ist auch die Rede in unserem Roman: von der Suche, der Sucht nach Wirklichkeit, nach Geschichte und Geschichten. Vom Wunsch, von der Liebe sprechen zu können. „Denn man möchte weinen, weil man nicht so liebt, wie man geträumt hat, lieben zu können.“ Das Schönste kommt in der Gestalt des Unscheinbaren dahergeschlendert, und man erkennt es nicht (oder zu spät).

 

Gleichzeitig aber ist dies ein Buch über die Verweigerung, das Abseitsstehen, ein Lob der Faulheit, wo andere arbeitsam, planvoll, zielgerichtet sind, des Verstummens, wo andere floskelhafte Beredtheit und pfannenfertige Sätze und Meinungen auffahren, des Wegschauens, wo sich mediale Wirklichkeit aufdrängt, des Zögerns unter den allzu Raschen, den Zupackenden, die rasch lieben und noch rascher sterben. Dabei bräuchte es keine Räubergeschichten, die zu Träumereien anregen: die unfassbarsten Tragödien ereignen sich in unserer unmittelbaren Umgebung, und davor kann auch Maurice nicht die Bürotür seines gut geheizten Kommunikationsbüros schliessen. Er möchte sich der Wirklichkeit entziehen, sitzt meistens untätig in seinem Kontor, an dessen Tür aber die Wellen der Wirklichkeit schwappen mit grosser Wucht. Das Getriebenwerden zu beschreiben, den Versuch, sich klein zu machen, sich diesem Ansturm von Wirklichkeit zu ergeben, dafür reichen alle Sätze der Wirklichkeit nicht aus. Manchmal packt ihn das unbändige Bedürfnis nach Wirklichkeit. Kaum aber ist er draussen, vermag nichts ihn vor der Verstörung der Wirklichkeit zu schützen. Er verflucht seine Neugier und wünscht sich zurück ins warme, trockene Büro.

 

Wie aber sprachlich auf die Tragödien des Alltags reagieren? Lapidar, zynisch, hilflos: „Darauf trinkt Maurice einen Schluck.“ Nichts von dem, was er erlebt, will ihm zur Wirklichkeit, oder wenigstens zur erzählten Wirklichkeit, gerinnen. Er gehört nicht zu denen, die in eigene Worte fassen können, was sie erleben oder fühlen. Maurice fällt sich beim Versuch, Wirklichkeit zu schildern, ungehalten selbst ins Wort, und die Grossmütter geraten durcheinander: „Von welcher Grossmutter ist hier gleich noch mal die Rede?“ Und doch: da hat es Stellen von grosser Zartheit und Zärtlichkeit, etwa die Schilderung des Schmerzes eines Mannes nach dem Tod von dessen Frau, die diesen immer schlecht behandelt hatte.

 

Was also ist Wirklichkeit? Die integrale Faust-Inszenierung Peter Steins ebensoviel oder ebenso wenig wie die Gentechnologie, das Wetter oder der Krieg in Jugoslawien. Man kann Wirklichkeitsübungen machen wie der Lehrer in Maurice’ Heimatdorf. Man müsste eine Meinung haben. Maurice dagegen erlebt nichts Wesentliches. Er will lieber erfahrungslos vor sich hin dümpeln.

 

„Er hätte gern einmal etwas erlebt.“ Also wird er, der sonst nur per Fahrrad zwischen dem etwas verkommenen Nordosten Berlins, wo Maurice’ Kommunikationskontor liegt, und seiner Wohnung im gepflegteren Südwesten pendelt, von seiner Freundin in die Wüste geschickt, damit er sich von einer schweren Geldsuchtattacke erhole. In einem Brief an die Freundin beschreibt er denn auch begeistert und sehr anschaulich seinen Aufenthalt in Amman und versteigt sich gar zum pathetischen Ausruf: „Ich hatte das Empfinden: Endlich angekommen! Das ist es!“ Beides, beschwerliche Reise und Pathos, traut man ihm, dem Verweigerer der Wirklichkeit, nicht zu – am ehesten noch, da er ja an einer Geldsuchtattacke litt, fand er Linderung bei Ammann in der Schweiz.

 

Viel Zeit verbringt Maurice in seinem Büro mit den Gedanken an jene Celloklänge, die aus einem unbekannten Raum im Hinterhaus, den er nicht orten kann, zu ihm dringen. Der Raum wird zu einem Ort der Sehnsucht, der hinter den Mauern schlummert. Im Lauschen und Nachdenken ergibt sich unvermittelt so etwas wie ein ästhetisches Konzept: „Durch den Filter der Wand dringt ausschliesslich die Idee des angestrebten Klangs zu mir. Nichts als die reine Idee.“  Aus dem Nachbarhaus erklingen jedoch nicht nur reine, sondern auch falsche Töne, und es werden, ganz banal, auch Tonleitern geübt. Hier verführt die Sehnsucht nach Abenteuern einmal mehr zu den, auch erotischen, infamsten Lügen. Letztlich macht es keinen Sinn, die Herkunft der Klänge ausfindig zu machen, denn alles, was Maurice erfahren würde, weiss er längst: „Man spielt nie gut genug.“ Dies sind Sätze von bestürzender Einsicht und Trauer. Trotz dieser Einsicht erfragt er den Namen des Klavierspielers: Linus Schröder! Schröder, der Luftpianist aus der Cartoon-Serie „The Peanuts“, der auf bloss aufgemalten schwarzen Tasten seines Kinderklaviers übt, und Linus, den er zu seinem besten Freund Charlie Brown sagt, Matthias Zschokke gefallen dürfte: „Von allen Charlie Browns bist du der Charlie Brownste.“

 

Ja, das fehlt nicht in diesem melancholischen Roman: ein feiner Humor, der manchmal durchaus etwas unverschämt werden darf. So finden wir endlich die Gründe, weshalb die Reden von Präsidenten stets so umnebelt tönen, und zu Goethes „Faust“ lesen wir: „Im Theaterstück Faust stehen viele verunglückte Verse. Das ist natürlich. Niemand kann verhindern, dann und wann trotz allem auch dumm zu sein.“ Das ist ein Trost, letztlich auch für Maurice: „Maurice hat nie richtig gelernt zu denken. Er ist bis heute dumm geblieben und lebt in der beständigen Angst, enttarnt zu werden als das, was er ist und am Ende gewesen sein wird: ein Wissenskörner pickendes Huhn, das Huhn in seinen eigenen Armen.“

 

Herr Zschokke, für Ihren Roman „Maurice mit Huhn“ zeichnet Sie die Deutschsprachige Literaturkommission des Kantons Bern mit einem Buchpreis aus. Wir gratulieren Ihnen herzlich!

 

Bern, 14. Juni 2oo6




SOLOTHURNER LITERATURPREIS

Solothurner Zeitung/ Oltner Tagblatt / MLZ; 04.07.2006

Kultur Zeitung

«Es braucht unbrauchbare Bücher»

«Siner Zyt» Auszüge aus der Dankesrede, die Preisträger Matthias Zschokke anlässlich der Vergabe des Solothurner Literaturpreises 2006 gestern Abend im Konzertsaal hielt.

matthias zschokke

«Es existiert in der Schweiz eine Vergangenheit, die wir «siner Zyt» nennen. Es ist jene Zeit, in der es noch keine Computer gab, kein Internet, keine Handys; jene Zeit, in der die Wohnungen noch hundertfünfzig Franken kosteten und der Stundenlohn noch sieben Franken betrug. Geschichten, die siner Zyt spielen, sind meist langfädig und interessieren niemanden so richtig.

Entsetzt habe ich beim Gedanken an die heutige Preisverleihung festgestellt, dass sich bei mir ein ganzes Fuder solcher Zeit angesammelt hat. Solothurn hat nämlich siner Zyt eine zentrale Rolle gespielt in meinem Leben: Hier las ich im Frühling 1981 an den Literaturtagen zum allerersten Mal öffentlich vor, und zwar aus dem unfertigen Romanmanuskript «Max». Damals war es erwünscht, dass die eingeladenen Autoren Unveröffentlichtes präsentierten, und es gab im Programm eine oder zwei freie Positionen für Debütanten wie mich, die literarisch noch nie in Erscheinung getreten waren. Im Publikum sassen mindestens zwei Lektoren. Der eine war Hansjörg Graf, der in einem grossen Münchner Sachbuchverlag eine junge Reihe mit deutschsprachiger Gegenwartsliteratur betreute. Der andere war Egon Ammann, der gerade dabei war, seinen Verlag zu gründen. Beide kamen nach der Lesung zu mir und sagten, wenn ich Lust hätte, soll ich ihnen mein Manuskript zum Lesen schicken. Das fand ich normal. Damals hatte ich keine Ahnung vom Literaturbetrieb, meinte aber umso mehr, mich selbst zu kennen und mein Manuskript. Beides hielt ich für unreif.

Das hatte mit meiner Grossmutter zu tun, die streng protestantisch war und sich aus pädagogischen Gründen weigerte, Kinder zu loben, weil die sonst womöglich stolz, hochmütig oder gar hoffärtig hätten werden können, was aus der Sicht der Grossmutter sündhaft war. So wuchs ich lobesabstinent auf und hatte grundsätzlich von allem, was ich hervorbrachte, das Gefühl, es sei noch nicht so ganz das Wahre. Denn je mehr ich mich anstrengte, meine Sache gut zu machen, desto sturer verwahrte sich die Grossmutter dagegen, mich zu loben. Irgendwann gab ich erschöpft auf und übernahm ihre biblische Überzeugung, wonach alles, was der Mensch schafft, nur Tand ist, und ich hielt, was immer ich tat, für nicht der Rede wert. So kam es, dass ich Egon Ammann einen Brief schrieb: Leider könne ich ihm mein Manuskript nicht schicken, da es unvollkommen sei. Ich wolle nicht seinen vorzeitigen Verlagsbankrott verantworten müssen. «Max» habe zu viele Schwächen. So einen literarischen Wackelkandidaten könne sich nur ein grosser, reicher, deutscher Verleger leisten, einer, der Erstlinge quasi aus der Portokasse bezahle. Das Buch kam dann bei Hansjörg Graf im Münchner List-Verlag heraus.

Ein paar Jahre später wurde der mitsamt seiner Reihe wegrationalisiert, und ich musste einen neuen Verlag suchen. Kaum hatte ich einen gefunden, wurde auch der umstrukturiert oder gab seinen Geist auf, und ich stand mit meinem jeweils nächsten Manuskript wieder auf der Strasse. Der Einzige, der bis heute durchgehalten hat, ist der Ammann-Verlag, bei dem ich endlich glücklich gelandet bin. Sie sehen, alles fing in Solothurn an.» ... «Vielen herzlichen Dank für diesen Preis, mit dem mich Solothurn nun, nach 25 Jahren, in die literarische Erwachsenenwelt entlässt.»

«Maurice mit Huhn ist ein Buch, von dem jeder amerikanische Unterhaltungsfachmann, der die freie Marktwirtschaft und ihre Mechanismen kennt, jederzeit hieb- und stichfest nachweisen könnte, dass es keine Chance hat auf dem Markt: ein Buch, das man nicht in drei griffigen Sätzen nacherzählen kann, ein Buch ohne starken Plot, ohne brisantes Thema, ein Buch aus lauter Nichts. Grosse Überraschung ist, dass gerade dieses Buch die ersten Monate auf dem Markt überlebt hat, was mit Sicherheit Kritikern und Juroren wie den hiesigen zu verdanken ist. Vielleicht findet Maurice dank des Solothurner Preises sogar ein paar zusätzliche Käufer und überlebt ein paar weitere Monate, vielleicht sogar Jahre. Das wäre schön. Ob es wirklich ein gutes Buch ist, kann ich nicht sagen; dazu steckt mir meine Grossmutter zu tief in den Knochen. Dass es in unserer Zeit, in der alles an seiner Effektivität und an Brauchbarkeit gemessen wird, dringend unbrauchbare Bücher braucht, das hingegen kann ich aus tiefster politischer Überzeugung vertreten.» ...

«Siner Zyt lebte meine Gotte (meine Patentante) noch, eine alleinstehende Frau, die in Bern im sozialen Dienst arbeitete. Zu Geburtstagen und zu Weihnachten bekam ich von ihr illustrierte, lehrreiche Bücher, Socken oder Pullover geschenkt. Wahrscheinlich wollte sie, wie meine Grossmutter, einen guten Menschen aus mir machen, sparsam und bescheiden. Der Effekt war gegenteilig: Ich sehne mich bis heute nach Luxus und Überfluss. Nur ungern denke ich an ihre Geschenke zurück. In finsteren Stunden, nach besonders missglückten Bescherungen, verdächtigte ich sie sogar des Geizes.

Bis zum zwanzigsten Geburtstag. Da stellte sich heraus, dass sie über all die Jahre hinweg ein Sparbüchlein für mich geführt hatte. Das schenkte sie mir nun, in der Überzeugung, ich sei jetzt alt genug, um vernünftig mit Geld umgehen zu können. Ich war begeistert, kaufte mir für das Geld ein altes, klappriges Auto und fuhr damit nach Italien ans Meer. Dort krachte ich in einen Olivenbaum. Das Auto war kaputt und musste verschrottet werden. Ich kehrte im Zug zurück.

Dass mir ihr Geld so sinnlos zwischen den Fingern zerronnen war, konnte sie nicht verkraften. Sie hatte sich vorgestellt, ich würde mir etwas Bleibendes gönnen, eine Bildungsreise, ein Instrument, einen Sprachkurs, was weiss ich - sie verriet es mir nie; ich wusste bloss, dass ich in ihren Augen versagt hatte.» ...

«Heute bekomme ich Geld von Ihnen und fürchte, dass auch Sie insgeheim wünschen, ich möge etwas Sinnvolles damit anstellen. Leider muss ich auch Sie enttäuschen: Es wird mir zwischen den Fingern zerrinnen wie das meiner Gotte. Zwar kaufe ich mir keine Autos mehr, aber da ich mit dem, was ich herstelle, nicht genug verdiene zum Leben, entstehen in den mageren Jahren permanent Löcher, die in fetten gestopft werden wollen. Den grössten Teil der Preissumme wird voraussichtlich mein Vermieter einstecken. Das ist unfeierlich und ärgerlich. Ich hoffe, Sie können darüber hinwegsehen.» ...

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Lob für den zauberhaften Poeten

Nicht mit Superlativen, die ihm selbst suspekt seien, aber doch mit uneingeschränktem Lob für einen zauberhaften Poeten, eröffnete Jury-Präsident Hans-Ulrich Probst seine Laudatio für Matthias Zschokke, der den mit 20 000 Franken dotierten Solothurner Literaturpreis 2006 gestern Abend im Konzertsaal Solothurn in Empfang nehmen konnte. Die Preisverleihung wurde musikalisch umrahmt vom Cellisten Stefan Thut.

Es habe die Jury gefreut und kaum verwundert, fuhr Probst fort, dass seit ihrem Entscheid vor ein paar Wochen Matthias Zschokke inzwischen weitere Auszeichnungen zuerkannt worden seien. Zschokke erhält den diesjährigen Buchpreis des Kantons Bern und den Preis der Schweizerischen Schillerstiftung. 1954 in Bern als ein Urururenkel des berühmten 1848 verstorbenen Aufklärers Heinrich Zschokke geboren, ist der Preisträger in Ins aufgewachsen. Er hat nach dem Gymnasium in Biel die Schauspielschule in Zürich besucht. Nach Engagements in Stuttgart und in Bochum bei Peter Zadek, hängte er den Schauspielberuf an den Nagel und liess sich 1980 in Berlin nieder, wo er bis heute lebt. Während sich seine früheren Prosabände, Theaterstücke und Filme durch eine zugleich radikale und sanfte «Abbrucharbeit» an den Konventionen der jeweiligen Gattung auszeichnen, sind seine Figuren heute versöhnlicher, ausbalancierter und imprägniert von schwermütiger Gelassenheit, so Probst. Zschokkes vorerst letztes Buch «Maurice mit Huhn» zeuge von überlegener Reife, die sich auch im schlackenlosen und zugleich hochpoetischen Stil ausdrückt. Der Laudator fasste zusammen: «Matthias Zschokke wird für sein reiches vielseitiges, doch in sich kohärentes, stimmiges Werk mit dem Solothurner Literaturpreis 06 ausgezeichnet. Es fängt die Welt ein mit aussergewöhnlicher Beobachtungsgabe und stupender dichterischer Inspiration, in einer ebenso leicht wirkenden sinnlichen und eindringlich unverwechselbaren Sprache. Den Blick auf die Ränder des Alltags gerichtet, hält der Preisträger Unscheinbares und Beiläufiges fest, mit melancholisch heiterer Präzision, mit funkelnder Ironie und mit unnachahmlich zartem Witz. Mit spielerischer Hartnäckigkeit und wachem Geist leistet dieses Oeuvre wirksamen, poetischen Widerstand gegen das Grelle und Schnelle unserer auf Effizienz getrimmten Epoche.» (frb)




Matthias Zschokkes Dankesrede

bei der Verleihung des Schillerpreises in Zürich (21.9.2006)

 

Bevor ich aus dem Buch lese, möchte ich mich bei Ihnen dafür bedanken, dass Sie hier sind.

Ich habe für „Maurice" bereits zwei Preise bekommen. Soviel Glück ist mir unheimlich.

Schuld daran ist Friedrich Schiller. Schließlich bin ich, wie alle Schweizer, seinem Kopf

entsprungen. Bevor er Wilhelm Tell geschrieben hat, wussten wir ja kaum, wer wir sind. Erst

er hat aus uns die widerborstigen, freiheitsdurstigen, tapferen Davids gemacht, als die wir im

Ausland heute noch hin und wieder gesehen werden.

 

Je länger man einer bestimmten Sicht ausgesetzt ist, desto mehr entspricht man dann auch

diesem Bild. Mindestens in meinem Fall ist das so: Ich habe mich in Berlin zu einem wahren

Vollblutschweizer entwickelt, den man ohne weiteres dazu gewinnen könnte, auf dem Rütli

ein neues Feuer zu entfachen und antieuropäische Eide zu schwören.

 

Eine Figur aus einem Theaterstück hat naturgemäss nicht nur die Sätze, die sie zu sagen hat,

im Kopf, sondern auch alle anderen Überzeugungen des Autors. Und so kommt es, dass ich,

seit ich weiss, dass ich zusätzlich zum Solothurner und zum Berner heute auch noch den

Schillerpreis bekomme, unentwegt an den Ring des Polykrates denken muss. Bestimmt

kennen Sie diese Ballade:

 

Polykrates steht mit seinem Freund, dem König von Ägypten, „auf seines Schlosses Zinnen

und schaute mit vergnügten Sinnen auf das beherrschte Samos hin". Dazu ruft er begeistert

aus: Bin ich nicht ein absoluter Glückspilz?! Was immer ich anpacke, es gelingt mir.

Der ägyptische König, ein schmallippiger Skeptiker offenbar, gibt zu bedenken, es werde

einem nichts geschenkt im Leben. Für jedes Glück habe man mit einem mindestens ebenso

grossen Unglück gerade zu stehen.

 

Polykrates bekommt es mit der Angst zu tun und wirft seinen kostbarsten Ring ins Meer, als

Opfer für die Götter, um sie gnädig zu stimmen und das angedrohte Unheil von sich

abzuwenden. Doch die Götter nehmen das Opfer nicht an. Ein Untertan bringt den Ring am

folgenden Morgen zurück an den Hof; er hat ihn im Bauch eines gefangenen Fischs gefunden.

Die letzte Strophe und Quintessenz der Ballade lautet:

 

„Hier wendet sich der Gast [der Ägypterkönig also] mit Grausen: / „So kann ich hier nicht

ferner hausen, / mein Freund kannst du nicht weiter sein. / Die Götter wollen dein Verderben;

/ fort eil ich, nicht mit dir zu sterben." / und sprach's und schiffte schnell sich ein."

 

Früher habe ich mich immer aufgeregt über diese Ballade. Doch was hilft's, sie gehört nun

mal zu meinem geistigen Rüstzeug, und mir wird's einfach mulmig, wenn ich Glück habe.

Deswegen danke ich Ihnen ganz besonders dafür, dass Sie heute hier sind und sich nicht mit

Grausen von mir abgewendet und schnell eingeschifft haben. Es wäre schrecklich, den Preis

ganz allein entgegen nehmen zu müssen.

 

Unabhängig davon missfallt mir am ägyptischen König nach wie vor das Motiv seiner Abreise.

Wenn er wenigstens geflohen wäre, um nicht mitansehen zu müssen, wie Polykrates im

unvermeidlichen Unglück zu schmoren hat, also aus vorgezogenem Mitleid, dann fände ich das

liebenswürdig. Doch er flieht allein aus der Angst, selbst mit hinuntergerissen zu werden ins

Unglück und in den Tod. Das finde ich armselig.






Matthias Hassenpflug

Matthias Zschokke, 14. September 2011

Liebe Gäste, lieber Matthias Zschokke,

ich möchte Sie alle hier herzlich willkommen heißen. Diese Lesung war meiner Frau und mir eine wirkliche Herzensangelegenheit. Wir fühlten uns zu diesem Autor - ein Schweizer, der seit 30 Jahren in Berlin wohnt - regelrecht hingezogen. Irgendetwas, was sich in der Person und gleichzeitig in seiner Prosa wiederfindet, macht ihn so sympathisch. Kennen gelernt haben wir uns im Haus am Waldsee, wo wir diese Lesung verabredeten.

Kommen wir gleich zu seinem Buch „Lieber Niels“ aus dem er heute lesen wird. Auch hier ist dieses Hingezogenfühlen, ein regelrechtes Verfallensein zum Text sofort spürbar. Beim ersten Mal Zschokke lesen ist das Gefühl ungefähr so, als ob uns ein mittelgroßer, zotteliger, sehr süßer Hund zugelaufen wäre. Scheu, ehrliche Augen, und unglaublich treu von der ersten Minute.

„Lieber Niels“ ist ein eigentümliches Buch. Es ist dick und man kann es nicht sofort in einem kurzen Satz erklären. Es ist kein Tagebuch, da Zschokke nicht für sich schreibt, sondern für einen Adressaten, seinen Freund Niels Höpfner, es ist kein Briefroman, da die Antworten von Niels Höpfner nicht vorkommen. Es ist keine Erzählung, obwohl das Buch alles aufbietet, was einen guten Roman auszeichnet. Personen, die lebendig werden, mit denen man leidet und lebt, eine Handlung, die sehr realistisch angelegt ist: es ist ein Stück des wahren Leben.

Das Einnehmende, so denke ich, ist die Mischung aus einer auszehrenden Ehrlichkeit des Autors und seinem hervorragenden, nie auftrumpfenden literarischen Vermögen, das aus einem Gedanken, den man alltäglich nennt, etwas Ewiges und Universelles formt.

Ich glaube sogar, dass Zschokke mit diesem Buch der Literatur etwas ganz Eigenes, eine neue Form, gegeben hat. Matthias Zschokke hat in „Lieber Niels“ sämtliche Schutzwälle, die die Literatur um eine Persönlichkeit aufzubauen in der Lage ist, bewusst außer Kraft gesetzt. Übrig bleibt eine Persönlichkeit, mit der wir in eine große Intimität eingehen dürfen. Die Freude ist echt, die Depression fühlt sich ebenfalls echt an.

Aber aufgepasst. Matthias Zschokke, ein mit Lob und Preisen vielfach ausgezeichneter Autor, darf hier auch nicht unterschätzt werden. Was, wenn dieses Buch mehr Fiktion enthält, als ich vermutete? Letztendlich reicht die Behauptung der Literatur, um schier alles möglich werden zu lassen. Was sich vordergründig als Pendant der Reality-Soap im Fernsehen liest, Literatur, die sich der Echtzeit annähert, dem Eben-noch-Gefühlt, unterliegt selbstverständlich sofort nach literarischer Verarbeitung den Gesetzen des Narrativen: Helden, Abenteuer und Gefahren, aber auch: die Möglichkeit der Erfindung. So ist es zwar ein süßes Hündchen, dass uns freundlich anhechelt, aber wir können eine mittelgroße Bestie hinter diesen niedlichen Augen nicht ganz ausschließen.

Der Leser darf den Autor/Protagonisten neu Jahre lang im Leben begleiten und den Reichtum einer komplexen Existenz kennen lernen. Das ist ein wohltuendes Balsam, zumal dieser Matthias Zschokke – er wird dies als äußerst peinlich empfinden – ein Edler ist, einer der letzten Guten. Der zunächst einmal nichts anderes kann als so zu schreiben, wie er das tut. Er sieht den Schund der Bestsellerlisten, überlegt, ob er auch in diese Richtung schreiben soll, und kann es partout nicht. Dieser Held, Matthias Zschokke, ist standhaft, zweifelt viel, lässt sich nicht unterkriegen, hat seine Träume (vom Leben im italienischen Imperia zum Beispiel), macht weiter, wo andere aufgehört hätten, klagt, aber nie zu viel und verliert praktisch nie seinen Humor.

Eine Lesung mit Matthias Zschokke nach der Lektüre von „Lieber Niels“ zu veranstalten ist insofern eine Herausforderung, weil man dann weiß, wie sehr Matthias Zschokke sich die Umstände zu Herzen gehen lässt. So hoffe ich, dass sich in diesem Moment Autor und Zuhörer wohl fühlen und dieses Gefühl auch anhält, wenn wir nach ungefähr einer Stunde bei Prossecco, Apfelschorle und Mineralwasser in kleiner Runde zueinander finden. Vielen Dank!



Lucas Marco Gisi

Vom Glück des Schiffbrüchigen

Zum Werk von Matthias Zschokke


Er ist ein Dichter, eine Lichtung ganz für sich allein in der Literatur.« Mit diesen Worten könnte man zu einer Laudatio auf Matthias Zschokke ansetzen. Indes handelt es sich um eine Antwort des Autors selbst auf die Frage: »Warum ich Robert Walser mag.«
Gefragt, ob man Zschokke heute noch lesen könne, antwortete Robert Walser seinerseits: »Er ist doch ein subtiler Schriftsteller, voll edler Gesinnungen.« Damit meinte Walser natürlich nicht Matthias, sondern Heinrich Zschokke; letzterer war immerhin dessen Urururgroßvater, während ersterer schlechthin dessen Wahlverwandter ist.
Doch diese Genealogien sind auch Teil eines Versteckspiels: Robert Walser verstand es, wie Zschokke an erwähnter Stelle bemerkt, sich hinter einer »sonderbare[n] Maske« zu verstecken, ohne sich dabei zu verstellen. Tatsächlich hat Walser sein literarisches Werk als »ein mannigfaltig zerschnittenes oder zertrenntes Ich-Buch« bezeichnet, aber auch gewarnt, »in einem Ichbuch sei womöglich das Ich bescheiden-figürlich, nicht autorlich«. Diese intrikate Verwebung von Autobiographischem und Fiktion, die man heute mit dem der >Autofiktion< bezeichnet, wird in Matthias Zschokkes Werk weiter und fast bis zur letzten Konsequenz geführt. Zschokke bekennt ebenso offen, regelmäßig vom »Walserfieber« heimgesucht zu werden, wie der Vergleiche mit dem anderen Autor mit Bern-‚ Biel- und Berlin-Bezug überdrüssig zu sein - >Zschokke ist Zschokke.<.
Doch ist damit alles über den Autor aus Bern gesagt, der seit 1980 in der »ewige[n] Vorstadt« Berlin lebt? Natürlich nicht, spricht doch sein Werk für ihn. Dieses umfasst zwölf Prosabände, acht Theaterstücke und drei Spielfilme. Ein umfangreiches und reichhaltiges Werk also, das sich nicht mit ein paar Sätzen vermessen lässt und durch das ich hier lediglich drei Linien ziehen kann, um einen Eindruck von seiner Erstreckung zu vermitteln.
Eine erste Werklinie lässt sich zwischen den Protagonisten von Zschokkes Romanen spannen: Max ist Max und Maurice und der Mann mit den zwei Augen. Es handelt sich um Figuren, die wegen ihrer äußerst reichen Innenwelt in Konflikt mit den Erfordernissen einer >beschränkten< Außenwelt geraten. Es ist meist das Leiden an ihrer scheinbaren Normalität, das sie zu Außenseitern macht. Doch gerade dieses Abseits-Stehen eröffnet ihnen eine aufschlussreiche Perspektive auf die Welt.
Max, mit dem Zschokke 1982 die literarische Bühne betritt, ist »überhaupt beängstigend gewöhnlich, auch wenn es sein Lebenslauf nicht verrät«. Aber Max möchte mehr werden, er möchte anders sein - und leidet gleichzeitig unter dem »Zwang zum Individualisrnus« und träumt von der Freiheit einer >funktionalen Existenz< im Verborgenen. Statt zwanghaft das Ausgefallene zu suchen, erkundet der Roman das scheinbar Normale, statt eine außerordentliche Geschichte zu erzählen, führt er spielerisch die Dekonstruktion der Romanform vor.
Auch in Zschokkes bekanntestem Roman, in dem bezaubernden Maurice mit Huhn (2006), treffen wir auf einen solchen »typische[n] Vertreter seiner Zeit«. Maurice erlebt nichts oder aber immer nur das gleiche, jedenfalls nichts Erzählenswertes. Wie alle, hatte er sich vorgenommen, etwas zu werden, ist aber geblieben, was er immer schon war. Gleichwohl plagt ihn »die Gewißheit, nicht dorthin zu passen, wo er ist«. Aus diesem Dilemma versucht er sich zu retten, indem er sich selbst erfindet, dabei aber als Kunstfigur immer Gefahr läuft, wie in Albert Ankers Porträt als »das Huhn in seinen eigenen Armen« enttarnt zu werden.
Der Mann mit den zwei Augen, der dem 2012 wie alle neueren Werke im Wallstein Verlag Göttingen erschienenen Roman den Titel gibt, braucht keinen Namen, es reicht, wenn er ein >Mann mit Eigenschaften< ist. Dieser hat gegen alles »Außergewöhnliche« geradezu einen »Widerwillen« entwickelt, denn: »Das Normale kam ihm auf eine viel spannendere Art kompliziert und interessant vor.« Gleichzeitig leidet er darunter, ein Langweiler, »eine Art Empfindungsalbino« zu sein, und träumt davon, zu werden, was er ist. Doch am Schluss ermöglicht ihm gerade die Einsicht, keine Bestimmung zu haben, also überflüssig zu sein, ein Überleben. In zugleich beklemmender und befreiender Weise legt der Roman das Humoristische menschlicher Abgründe offen.
Zschokkes Figuren sehnen sich nach einem Zustand, in dem Sprache und Welt noch oder wieder eine Einheit bilden, in dem das Erleben unmittelbar ist. Es sind Kunstfiguren, die im und durch das Erzählen entstehen und deren Künstlichkeit bewusst hervorgekehrt wird. Trotzdem oder vielleicht: gerade deswegen gehen sie uns so nahe.
In Zschokkes Romanen sind diese Figuren nicht totzukriegen, weder durch Selbstabschaffung noch durch den Erzähler. Vielmehr drängen sie immer wieder aus der Romanform hinaus ins >wirkliche Leben<, etwa, wenn es in Max plötzlich heißt: » Ich meine jetzt mich, Matthias.«
Eine zweite Werklinie bilden die autofiktionalen Texte, die - gleichsam als Gegenstück zu den fiktionalen Texten der ersten Werklinie - aus dem Bereich des Autobiographischen in den der Literatur drängen.
Unter dem Titel Auf Reisen erscheinen 2006 zu einer »Erzählung« montierte Reportagen über großstädtische und ländliche, mondäne und gottverlassene Orte. Zschokkes Beschreibungen bewegen sich entschieden subjektiv im Dreieck zwischen Erwartung, Entdeckung und Enttäuschung, um im Zeitalter des Reisens nach den Reisen die Balance zwischen Individualismus und Massengeschmack zu wahren.
Lieber Niels - unter diesem Titel veröffentlicht Zschokke 2011 auf fast 800 Seiten private E-Mails an einen Freund. Ursprünglich nicht auf eine Publikation hin verfasst, versprechen die Texte einerseits einen unzensierten Blick auf Persönliches: also Authentizität, andererseits amtet der Autor als sein eigener Herausgeber, wählt aus, kürzt, verdichtet, glättet und schafft so einen »Erzählband sui generis«. Gleichsam unter der Hand werden die E-Mails zu Literatur, alltäglicher Verdruss verwandelt sich in literarischen Genuss.
»lrgendwie bin ich drin, verstehe aber nicht, wie.« Das Geheimnis von Lieber Niels steckt eigentlich schon in diesem ersten Satz, der die Verwandlung des Autors in eine literarische Figur im elektronischen Zeitalter ankündigt.
Eine Zuspitzung erfährt dieses Verfahren der Autofiktion in dem in diesem Sommer erschienen Buch Die strengen Frauen von Rosa Salva. Was zunächst wie die lose Sammlung der E-Mail-Korrespondenz während eines Venedig-Aufenthalts erscheint, erweist sich als höchst raffiniert durchkomponierte >Doku-Fiktion<. Bald schon packt den Consigliere Zschokke (wie Stendhal in Florenz) das »Venedig-Syndrom« und er verfällt der Pracht der Lagunenstadt und in einen Zustand des Glücks. Das Erleben dieses »Märchens« schließt jegliche dichterische Betätigung aus - und während Zschokke diese »Schreibimpotenz« beklagt, entsteht, gleichsam hinter seinem Rücken, ein hinreißendes Venedig-Buch.
Das Rollenspiel des Autors wird hier auf die Spitze getrieben, wenn er einmal sein Leben selbst nach den Notwendigkeiten des entstehenden E-Mail-Romans zu richten scheint und das andere Mal behaupten kann: »All das, was Du gern in Wirklichkeit überprüft hättest, existiert nur in der virtuellen Mailwelt. Ich bin im wahren Leben >der Alte< geblieben [...].«
Die beiden Werklinien, die Romane und die dokumentarischen Texte, zielen auf eine Autofiktion in einem umfassenden Sinn. Zschokke unterwandert die Grenze zwischen Autobiographischem und Fiktivem, zwischen Ego-Dokument und Roman, wohl wissend, dass eine Identität von Leben und Literatur Utopie bleibt, denn:
[D]as Leben ist keine Geschichte. Die Leben laufen immer schief, Geschichten gerade - und die seltenen Momente, in denen sie sich kreuzen, verpaßt man, weil sie immer schon vorbei sind.

Anhand einer dritten Werklinie lässt sich vielleicht trotzdem so etwas wie eine Mitte identifizieren, nach der Zschokkes Werk ausgerichtet ist: und zwar im Bild des Schiffes. Der Philosoph Hans Blumenberg hat den Schiffbruch als Metapher menschlicher Selbstverortung aufgefasst, die zwischen der distanzierten Betrachtung des Zuschauers am sicheren Ufer und dem unmittelbaren Erleben des Schiffbrüchigen im Sturm aufgespannt ist. Bei Zschokke wird diese Figur nun gerade umgekehrt: Bei ihm ist es das schwankende Schiff, das vorübergehend Schutz bietet und vor allem ein von Vergangenheit und Zukunft losgelöstes Da-Sein ermöglicht.
In Zschokkes zweitem Theaterstück Brut, 1988 uraufgeführt, tritt die Besatzung eines Piratenschiffes auf und muss feststellen, dass sie im Kreis herumfährt. Der Traum vom Aufbruch wird mit der Erfahrung der Sinnlosigkeit konfrontiert.
Einen Versuch, diese Aporie, auf die das Theaterstück hinausläuft, nämlich dass Sehnsucht darin besteht, dass sie nicht erfüllt wird, kurz: dass Sehnsucht verzehrt, erzählerisch aufzulösen, legt Zschokke drei Jahre später mit Piraten vor, dem Roman über die Schauspieler des Theaterstücks Brut. Diese Piraten blicken an der Wirklichkeit vorbei in die Weite und sind dauernd in Erwartung von etwas Großem, Umwälzendem. Doch der Inhalt ihrer Sehnsucht ist ihnen abhanden gekommen; die Schauspieltruppe erleidet Schiffbruch. Am Schluss gibt den Gestrandeten nur noch ein Stammtisch – eine Art Floß der Medusa? - Halt. Das ist gar nicht so trostlos, wie es tönt. Denn indem sie sich von den gesellschaftlichen Erwartungen auf Verwirklichung lösen, sind die Piraten in ihrer anarchischen Verweigerung konsequent.
Die bei den irrfahrenden Piraten angedeutete Alternative einer schöpferischen Melancholie rückt 1999 in Das lose Glück - für mich Zschokkes Buch, das am unmittelbarsten berührt – ins Zentrum.
Auf einer Jacht auf einem meist ruhigen See versammeln sich vier alte Bekannte und ein Gast und erzählen von der Verzweiflung des Alterns, der Schwermut des Verfalls und einer Gegenwart, die nunmehr Zitat von längst Gesagtem ist. Zur Ruhe und zu sich selbst finden sie nur noch auf dem Wasser. Das Schiff steht für Unabhängigkeit vom Festland, von den Zumutungen der Mitmenschen, von den Heimsuchungen der Vergangenheit und den Aussichten der Zukunft. Auf dem See sei man diesem »dramatische[n] Ort ohne Anfang und Ende » am nächsten, der >dunklen Leere<, »die in zu hoher Dosis tödlich wirkt, in der richtigen aber heilend und belebend« - der schwarzen Galle der Melancholie.
Erweisen sich im Mann mit den zwei Augen die »Hoffnungsschalen‚ welche jeder um sich herum zimmert; um darin einigermaßen trocken in die Zukunft hineingondeln zu können«, noch als löchrig, so versetzt im neusten Buch die perpetuierte Fahrt mit Vaporetto und Gondel den Autor in einen veritablen Glückstaumel. Unter diesem utopischen Horizont ersetzt das Erleben das Schreiben, die Präsenz die Reflexion, das Ding seinen Namen.
Versucht man, diese Mitte in Zschokkes Werk begrifflich zu fassen, so handelt es sich inhaltlich um Sehnsucht, d.h. um eine Beschreibung des Anderen in dem Einen, und formal um Ironie, d. h. um eine Behauptung des Gegenteils des Behaupteten.
Diese ironische Sehnsucht oder sehnsüchtige Ironie kann sich realisieren im Spiel wie im Fall der Piraten, in der Melancholie wie im Fall des losen Glücks oder im Humor wie im Fall des Mannes mit den zwei Augen oder der Strengen Frauen von Rosa Salva.
Ausgezeichnet wird - und damit kehre ich von der Vermessung von Zschokkes Textwelt zur Aufgabe des Laudators zurück - ein herausragendes literarisches Gesamtwerk, das inhaltlich durch die äußerst vielgestaltige Figurenzeichung und den abgründigen Humor, formal durch eine erzählerische Vielschichtigeit und eine virtuose Sprachkunst überzeugt.
Lassen Sie mich diese Überzeugungskraft in zwei Behauptungen übertragen: Zschokkes Werk ist radikal poetisch: »Kunst«, schreibt er, »ist das andere«, geradezu die Gegenwelt zum »Markt«; sie macht nicht das Machbare, sondern ermöglicht das Unmögliche. Er »vermisse die Dichtung in der Literatur«, hat Zschokke in einem Interview festgestellt und gefordert, dass sich die Literatur so weit wie möglich vom Leben entferne und so einen Freiraum für die Dichtung schaffe. In ihrer Frontstellung zum Bestehenden wird Kunst bei ihm zur permanenten Herausforderung der Wirklichkeit.
Zschokkes Werk ist radikal politisch: Sein Darstellungsverfahren versteht er als ein flaches Dahingleiten »knapp über dem Boden der Realität, den Alltag sehend, die Mauern, die Furchen, die Schrecken der Banalität«. Durch seine programmatische Hinwendung zum Überflüssigen findet das Müßige, Kleine, Marginalisierte, das sich dem totalen Anspruch des Ökonomischen entzieht,zum Poetischen, koinzidieren Wirklichkeit und Kunst.
Zschokke ist der große Erzähler von der Melancholie nach dem Ende der >großen Erzählungen<, er ist der große Verkünder der ironischen Sehnsucht nach Unmittelbarkeit, er ist aber auch der große Humorist, der uns mit seiner rhetorischen Überlebenskunst glücklich macht.
»Pro Jahrzehnt darf es fünf Künstler geben, pro Jahrhundert einen.« So endet Zschokkes fulminantes Debut Max. Das klingt dezidiert, ist aber bei näherer Betrachtung ganz der abgründig-großzügige Humor Zschokkes. Denn was macht man mit einem Autor, der sich durchs vierte Jahrzehnt schreibt, und dessen Werk sich auf zwei Jahrhunderte, zwei Jahrtausende gar, verteilt? - Man zeichnet ihn mit einem großen Literaturpreis aus, der aber von zwei Literaturkommissionen verliehen wird. Und selbstverständlich gibt es auch hier ein Drittes, nämlich: Die Auszeichnung erfolgt im vorfreudigen Wissen darum, dass dieses Werk, das bereits Literaturgeschichte geschrieben hat, weiterwachsen wird.

Verwendete Literatur

Niels Höpfner: Zschokke - Ein sanfter Rebell. Monographie & Bibliographie (1981-2010). München 2010
Carl Seelig: Wanderungen mit Robert Walser. Frankfurt a. M. 2013
Robert Walser: Sämtliche Werke. Zürich/ Frankfurt a. M. 1985 f.
Matthias Zschokke: Max. München 1982
Matthias Zschokke: Piraten. Frankfurt a. M. 1991
Matthias Zschokke: Das lose Glück. Zürich 1999
Matthias Zschokke: Ein neuer Nachbar. Zürich 2002
Matthias Zschokke: Maurice mit Huhn. Zürich 2006
Matthias Zschokke: Walserfieber. In: NZZ, 27. 5.2006
Matthias Zschokke: Lieber Niels. Göttingen 2011
Matthias Zschokke: Der Mann mit den zwei Augen. Göttingen 2012
Matthias Zschokke: Die strengen Frauen von Rosa Salva. Göttingen 2014

Der Text ist eine leicht bearbeitete Version der Laudatio auf Matthias Zschokke anlässlich der Verleihung des Großen Literaturpreises von Stadt und Kanton Bern 2014.
In: „die horen“, 59. Jg./ Nr.256, Göttingen 2o14

Bern-Preis-Dankesrede (vorgelesen am 20.08.2014 in Bern)


(Vorweg: Dass es gerade Bernhard Pulver ist, der diese Feier offiziell eröffnet hat, freut mich ganz besonders. Sie werden gleich erfahren, warum.)

Geboren worden bin ich im Salemspital, auf der anderen Seite der Aare. Heute lebt meine siebenundneunzigjährige Mutter in einem Haus direkt nebenan. Wenn ich sie besuche, sehen wir aus ihrem Fenster zu unseren Füssen den türkisenen Fluss, gegenüber die alte, grüne Stadt mit den roten Dächern, in der Ferne das weiße Alpenpanorama – eine einzige Pracht.

Trotzdem bin ich kein richtiger Berner. Würde ich Schweizerdeutsch zu sprechen beginnen, würden Sie zusammenzucken. Bis zu meinem zwölften Geburtstag lebten meine Eltern mit uns Kindern im Kanton Aargau; erst dann zogen wir ins Seeland, nach Ins. Mein Dialekt ist ein misstrauenerweckender Mischmasch. Wenn ich bei Eichenberger am Bahnhof einen Hasel-nusslebkuchen kaufe, klinge ich in den Ohren der Verkäuferin ungefähr so wie ein deutscher Tourist, der gerade aus dem Zug gestiegen ist und in seiner Ankunftsbegeisterung beim Betreten der Confiserie Grützzzi sagt. Irgendwie habe ich wohl aus Trotz nie Berndeutsch gelernt; vielleicht brodelte in mir verborgener Widerstand gegen die Berner Herrschaft. Als Knabe war es mit meinem Aargauer Dialekt naturgemäß nicht ganz einfach, von der seeländischen Dorfjugend akzeptiert zu werden.

Mein Vater ist in Südwestafrika aufgewachsen. Er kehrte mit zwölf Jahren zurück in die Schweiz, nach Zürich, und sprach bis zu seinem Tod einen noch dubioseren Dialekt als ich.

Warum ich davon rede? Weil man sich in letzter Zeit im Ausland über die Schweizer Fremdenfeindlichkeit lustig macht – das heißt, die Schweizer fürchten, man mache sich im Ausland über sie lustig; tatsächlich werde ich in Berlin von vielen durchaus vernünftigen Leuten eher nachdenklich-verträumt gemustert wegen der brüskierenden Hemdsärmligkeit, mit der bei uns vor ein paar Monaten über das Thema Einwanderung abgestimmt worden ist.

Im Ausland weiß man nichts von den Animositäten zwischen unseren Kantonen. Man meint, Deutschschweizer sei gleich Deutschschweizer. Sie und ich wissen, dass dem nicht so ist und dass es von einiger Souveränität zeugt, wenn Berner ihren wichtigsten Literaturpreis einem Zugelaufenen verleihen. Das erfordert Überwindung und Toleranz, um nicht zu sagen: Weltoffenheit; danke.

Ich hatte das Glück, von Bern gleich mit meinem ersten Buch literarisch adoptiert zu werden. Elsbeth Pulver, die Mutter von Bernhard Pulver, saß in der Jury des Walserpreises, der damals noch ganz jung war und stark mit der Stadt Biel und dem Kanton Bern identifiziert wurde. Der Bieler Heinz Schafroth war Präsident der Jury. Beide gehörten zu den wichtigsten Literaturkritikern der Schweiz. Weil ich Schafroths Schüler im Gymnasium Biel war, fühlte er sich befangen und hielt sich in Bezug auf mein eingereichtes Manuskript bedeckt. Er schickte es kommentarlos an die Mitjuroren weiter. Bei der Preisverleihung erzählte er mir, Elsbeth Pulver habe ihn am selben Abend, an dem sie das Manuskript erhalten habe, noch angerufen und gesagt, für sie stehe das Preisträgerbuch 1981 fest, es müsse Max heißen. Ob er, Schafroth, das Manuskript schon angeschaut habe?

Von diesem Tag an wurde ich der Berner Literatur zugerechnet.

Kritiker hatten damals einen langen Atem. Und sie waren treu. Elsbeth Pulver hat meinen Büchern und Filmen jahrzehntelang öffentlich und mir privat Geleitschutz gegeben, ebenso wie Heinz Schafroth. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ihnen alles gefallen hat, was ich hervorbrachte, doch dass sie mich deswegen hätten fallen lassen, das stand nie zur Debatte. Ich konnte auf sie bauen; sie ermutigten mich weiterzumachen und hielten mir den Rücken frei. Ich weiß nicht, ob ich ohne sie heute hier stehen würde.

Während ich über meinen Bernbezug nachdenke, fallen mir weitere Namen ein, lauter Berner, die mich durch die Jahre begleitet haben, alles eher zurückhaltende Menschen, die kein großes Aufhebens machen um sich. Ich nenne ihre Namen nicht – einige von ihnen sitzen hier im Saal und würden, wenn ich sie nennte, unwillig abwinken, wodurch ein Gefuchtel entstände und Unruhe, die den geordneten Ablauf der Veranstaltung stören würden (oder doch, wenigstens die Vornamen will ich nennen, ganz rasch nur: Samuel, Ruth, Peter, Dominik, Daniel, Ruedi, Andreas, Maja, Liliane – um nur ein paar zu nennen): Ohne sie hätte ich längst aufgeben oder mindestens meine Lebensweise von Grund auf ändern müssen.

Und einen, den ich nie persönlich kennen gelernt habe, möchte ich noch mit vollem Namen erwähnen. Er hat einen Rekord aufgestellt: Charles Cornu, ein Kritiker, der dreißig Jahre lang, bis zu seinem Tod (vor zwei Jahren), ausnahmslos jedes meiner Bücher sorgfältig geprüft und den Bund-Lesern ans Herz gelegt hat. Danke ihm auch.

Ein Lebenswerkpreis verführt naturgemäß zum Blick zurück. Lucas Gisi hat dieses Problem in seiner Laudatio elegant umschifft mit der kühnen Prognose, mein Werk sei noch nicht abgeschlossen, sondern werde weiter wachsen. Trotzdem schwebt das Thema des Bilanzierens als melancholische Wolke über diesem Abend: Man kriegt so einen Preis schließlich (nun mal) nicht für den letzten Schrei, den man ausgestoßen hat, oder gar wegen einer vielversprechenden Zukunft, sondern für eine mit Anstand hinter sich gebrachte Vergangenheit, als eine Art Abschiedsgeschenk in den wohlverdienten Ruhestand.

Zwar habe ich nichts gegen Ruhestand; ich würde lieber heute als morgen einen Ruhesitz beziehen (in Berlin heißen Altersheime oft Ruhesitz), und ich fühle mich in keiner Weise gekränkt, wenn ein Jüngling für mich im Tram aufsteht. Im Gegenteil, ich nehme den freigemachten Platz gern in Anspruch und bliebe am liebsten sitzen bis zur Endstation. Trotzdem will ich den Großen Berner Literaturpreis nicht als Erinnerungstrophäe verstehen, sondern ich will mir vorstellen, wie sich eine Jury aus leidenschaftlichen Lesern vier Jahre lang damit auseinandergesetzt hat, was im nahen und fernen Umfeld von Bern geschrieben wurde, und wie sie zum Schluss gekommen ist, meine Sachen hätten es verdient, heute ins Rampenlicht gerückt und näher betrachtet zu werden, weil sie nicht nur nach hinten sondern auch nach vorne reflektierten. Ich verstehe den Preis also nicht als Einladung zum Aufhören sondern als Aufforderung, den eingeschlagenen Weg weiter zu verfolgen in der Hoffnung, Helligkeit und Klarheit zu finden.

Außerdem ist der Preis glücklicherweise noch nicht so genau definiert. Er kommt mir nigelnagelneu vor, maßgeschneidert ganz für mich allein. Zwar wurde er vor vier Jahren schon einmal vergeben, und in vier Jahren soll er wieder vergeben werden. Ich stehe somit in einer Reihe. Doch das lässt sich leicht vergessen (ich bin von Natur aus vergesslich und empfinde das zunehmend als befreiend). In meinen Augen ist der Große Berner Literaturpreis etwas Einmaliges, und Sie erfüllen mir heute einen Traum, den jeder Kunstschaffende träumt: Sie verleihen mir für ein paar Stunden das Gefühl, einmalig zu sein.

Als ich anfing zu schreiben, war freier Schriftsteller in der Schweiz kein erfolgversprechendes Geschäftsmodell. Sicher, es gab Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt, doch die kamen aus einer anderen Epoche, waren zwei historische Sonderfälle in unerreichbarer Ferne. Zeitgenössische Schriftsteller verdienten in den siebziger und achtziger Jahren bei uns ihr Brot in der Regel als Lehrer, Arzt oder mit Gelegenheitsarbeiten. Dass einer vom Schreiben leben konnte und wollte, war die Ausnahme. Doch nun gab es plötzlich den mit zwanzigtausend Franken dotierten Walser-Preis für ein Erstlingswerk. Von diesem Geld konnte ein junger Mensch damals länger als ein Jahr ohne Nebenerwerb leben. Außerdem wurden Stipendien ins Leben gerufen, Buchpreise, Werkaufträge usw. Obwohl ich mit meinen Büchern, Theaterstücken und Filmen nie ein großes Publikum erreicht und dementsprechend immer nur wenig verdient habe, konnte ich mich dank der behutsam ausgebauten Kulturförderung freischaffend durchs Leben bewegen und bis heute am Traum festhalten, eines Tages etwas zu kreieren, von dem ich würde sagen können: Und er sah, dass es gut war.

Inzwischen zweifle ich zwar daran, dass das irgendwem jemals gelingt. Es scheint, jeder muss immer mehr oder weniger unglücklich sein mit dem, was er hervorbringt. Warum das so ist, verstehe ich nicht. Wohl: auf dass der Mensch nicht übermütig werde; auf dass er nicht stolz und hoffärtig werde. Anders ist nicht zu begreifen, wie beispielsweise Heinrich von Kleist noch an sich zweifeln konnte, nachdem er Michael Kohlhaas geschrieben hatte oder den Prinzen Friedrich von Homburg – aber offenbar war es ihm verwehrt, die Schönheit dieser Werke selbst wahrnehmen zu können.

Ob ich also das Buch, das Theaterstück, den Film jemals werde schaffen können, die mir vorschweben, weiß ich nicht. Dass ich die Möglichkeit bis heute hatte, es zu versuchen, verdanke ich Preisen wie diesem hier. Mit dem Geld werde ich mir eine weitere Frist leisten können, um das zu tun, was ich für wichtig und richtig halte: Grübeln und Brüten. Und falls ich bis zuletzt keine vorzeigbaren Quoten erreichen sollte mit dem, was dabei herauskommt, wäre die Auszeichnung umso bemerkenswerter: Die Jury – und damit die Bürger von Kanton und Stadt Bern – hätten dann in einer Zeit, die unter dem strengsten Diktat der Gewinnoptimierung steht, etwas unterstützt, das sich nicht gerechnet hat. Das könnte man dann ideell deuten und als Ermutigung interpretieren für nachwachsende Autoren, darauf zu bestehen, dass Literatur mehr sein darf als nur gerade eine leicht an den Mann zu bringende Ware.

In dem Zusammenhang möchte ich abschließend auf etwas hinweisen, das an so einem Tag leicht vergessen wird: Ein Buch – und noch vielmehr ein Werk – will nicht nur geschrieben werden, sondern auch veröffentlicht. Ich kann hier nur so großartig daherposaunen von Literatur, die mehr sein soll als leicht zu verkaufen, weil ich das Glück habe, von einem Verlag begleitet zu werden, der diese Überzeugung nach innen wie nach außen vertritt und mich in guten wie in schlechten Zeiten an sie und an mich glauben lässt.

Vielen herzlichen Dank.



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