Für das Jahr 2006 geht der Solothurner Literaturpreis an den Schweizer
Schriftsteller, Theaterautor und Filmregisseur Matthias Zschokke. 1954 in Bern geboren,
lebt und arbeitet er seit 1980 in Berlin. Zschokke wird für sein poetisch und stilistisch
ausgereiftes Werk ausgezeichnet. Der Preis ist mit 20 000 Franken dotiert.
Die dreiköpfige Jury, bestehend aus Hans Ulrich Probst (Vorsitz), Christine
Tresch und Beat Mazenauer, weist in ihrer Begründung auf die aussergewöhnliche
Beobachtungsgabe und die poetische Inspiration hin, mit der Matthias Zschokke die Welt
literarisch einfängt. Ein Flaneur in der Tradition Baudelaires richtet er seinen Blick
auf das urbane Treiben, um an seinen Rändern die kleinen Begebenheiten und vergessenen
Ablagerungen zu entdecken, die den Geschäftigen verborgen bleiben. Indem Zschokke diese
ebenso präzise wie melancholisch heiter festhält, leistet er poetischen Widerstand gegen
die Hektik und die Vergesslichkeit unserer auf Effizienz getrimmten Epoche. Sein jüngster
Roman "Maurice mit Huhn" demonstriert seine poetische Handschrift in Vollendung.
Den Blick für die Absonderlichkeiten des Alltags zeichnete schon 1982 Matthias
Zschokkes erstaunliches Prosadebüt "Max" aus. Die Titelfigur flieht aus einem
Schweizer Bauerndorf in die Grossstadt Berlin - ähnlich wie Zschokke selbst -, um hier
das wirkliche Leben zu finden. Die Metropole genügt den ästhetischen Anforderungen von
Max, und sie erlaubt es ihm, sich in vielen Rollen und Masken zu erproben. Zschokkes
Auseinandersetzung mit der Identitätsfrage, die auf Anhieb durch ihre ironische
Leichtigkeit und ihren poetischen Eigensinn bezauberte, wird in "Prinz Hans"
(1984) und "ErSieEs" (1986) um neue Facetten erweitert.
Im Rollen- und Maskenspiel kennt sich Matthias Zschokke aus. Nach der Matura
besuchte er die Schauspielakademie in Zürich und wirkte danach drei Jahre als
Schauspieler unter Peter Zadek in Bochum. 1986 trat er erstmals auch als Theaterautor mit
dem Stück "Elefanten können nicht in die Luft springen, weil sie zu dick sind -
oder wollen sie nicht?" hervor. Literarische Selbstreflexion und
Identitätsproblematik erfahren 1991 im Roman "Die Piraten" und dem
dazugehörigen Stück "Brut" eine Verdüsterung. Die Piraten haben ihre wilde
Entschlossenheit längst abgelegt, ihre brütende Unruhe ist träge geworden, mit der
Freiheit wissen sie nichts mehr anzufangen.
Im nächsten Buch entwirft Zschokke eine Gegenwelt zur urbanen Betriebsamkeit.
"Der dicke Dichter" (1995) hält mit Vögeln und Katzen Zwiesprache und
verweigert sich dem falschen Leben der anderen. Auch die Protagonisten in "Das lose
Glück" (1999) tragen ihre Einsamkeit und Schwermut mit heiterer Gelassenheit.
Überall vergeht die Zeit und es geschehen grossartige Dinge. Hier nicht,
heisst es darin doppeldeutig.
Seither hat Matthias Zschokke seine poetische Handschrift kontiniuerlich
verfeinert. Wie kein anderer verleiht er dem Nichtstun und Nichtgeschehen Tiefe und
Bedeutung. Der jüngste Roman "Maurice mit Huhn" demonstriert dies
mustergültig. Das Leben des Helden geht seinen ruhigen Gang, gerade deshalb ist er fähig
und willens, auf die unscheinbaren Dinge zu achten. Seine Beobachtungen sind eine
träumerische Liebeserklärung an den profanen Alltag in Berlin. Sein vorletztes Buch, den
Geschichtenband "Ein neuer Nachbar" hat Zschokke 2002 mit dem Satz enden lassen:
Das Glück ist nicht leicht in Worte zu fassen, doch ich habe den Eindruck, es sei
mir hiermit gelungen. Präziser lässt sich die poetische Kraft seines Werks
zwischen "Max" und "Maurice" nicht ausdrücken.
Die öffentliche Preisverleihung an Matthias Zschokke findet am Montag, 3.
Juli, 19.30 Uhr im Konzertsaal Solothurn statt.
18. Mai 2006
Hans Ulrich Probst /Christine Tresch /Beat Mazenauer