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Texte von Zschokke auf arabisch: Balz und Der Professor





Tages-Anzeiger, Zürich

11.01.2005

Eine Stadt wie staubgelbe Wogen



In den Strassen Ammans findet man alles, was den kleinen Alltag leichter und erträglicher macht. Jordaniens Hauptstadt hat einen ganz eigenen Reiz.

Von Matthias Zschokke

Als ich mich vor der Abreise in einer Buchhandlung nach einem Jordanien-Reiseführer erkundigte, hatten sie nichts vorrätig, einfach nichts. Das hat mich eingenommen für das Land: Es drängt sich nicht auf.

Angekommen in der Hauptstadt Amman, erlebte ich die zweite positive Überraschung: Geld ist hier nicht alles. Die meisten haben wenig, hängen dem fehlenden aber nicht weiter nach. Banknoten sind klebrig, zerfleddert; sie werden lose in der Kleidung getragen, feucht vom Schweiss, staubig vom Sand; sie riechen oft übel; man gibt sie leichten Herzens weiter; jeder ist froh, wenn er sie nicht allzu oft anfassen und nicht allzu viele davon mit sich herumtragen muss. Lieber rundet ein Taxifahrer den Preis auf die nächstniedrige Einheit ab, als dass er mit Münzen und Noten herumzuhantieren beginnt. Oder er erlässt einem den Preis gleich ganz, weil er den Weg sowieso gerade machen musste. Kellner verzichten eher auf Trinkgeld, als dass sie die Mühsal des Herausgebens auf sich nehmen. An oberster Stelle scheinen Haltung und Würde zu stehen, dann erst folgt der Kontostand.

Die Stadt ist gross. Sie zieht sich in einheitlich hellem Kalkstein erbaut über unzählige Hügel hin. Wo immer man steht, hat man den Eindruck, staubgelbe Wogen würden auf einen zurollen. Überragt wird das Gewoge von einem schwindelerregend hohen weissen Fahnenmast mit der grössten Flagge, die ich je gesehen habe, der des Königreichs Jordanien, die sich im Wüstenwind räkelt, dehnt und streckt, dass es ein sinnliches Vergnügen ist, ihr dabei zuzuschauen.

Obwohl viele Frauen sich in der Öffentlichkeit verschleiert zeigen: Die Atmosphäre ist in keiner Weise beengend oder verklemmt. Auch westlich angezogene Frauen bewegen sich Tag und Nacht völlig selbstverständlich in den Strassen. Nichts erinnert an Kulturkampf oder gar Religionsterror. Im Gegenteil, die Muezzins rufen verführerisch sanft; kaum erhebt der erste seine Stimme, drehen die Taxifahrer, Saftbuden- und Ladenbesitzer ihre Radios leise. Ruhe breitet sich aus über dem Häusermeer; eine milde Koloratur nach der anderen steigt auf, leicht versetzt, mit Echos und fernem Hall - jeden Tag fünf magische Momente: Fajr, Dhuhr, Asr, Maghreb, Isha. Man befindet sich in Abrahams Schoss und fühlt sich nach kürzester Zeit wohl darin, egal ob als Mann oder als Frau. Und was in den ersten Tagen besonders angenehm auffällt: keine Bettler, die einen in Verlegenheit bringen, keine Touristenabzocker, die man abschütteln muss, keine aufdringlichen Guides. Man wird als Fremder vollkommen respektiert, geradezu gehegt.

Das alte Zentrum Ammans, downtown, ist ein Wirrwarr aus Menschen, Buden, abbruchreifen Häusern, Neubauten, überdachten und offenen Lebensmittel-, Kleider-, Gold- und Silberbasaren - kein Souk, wie man ihn von orientalischen Kalenderbildern kennt, eher ein postmodernes Mosaik aus winzigen Splitterangeboten zu niedrigsten Preisen.

Wer Durst hat, kauft sich beim fliegenden Händler einen Becher Wasser, ein Glas Schwarztee mit Pfefferminze oder einen aus Zuckerrohr frisch gequetschten Saft. Wer Lust hat auf eine geschälte Kaktusfeige, auf eine Guave, auf ein paar geröstete Alepponüsse, auf einen Pfirsich (flach gewachsen wie eine Scheibe, unansehnlich, schrumpelig, ganz und gar europauntauglich, dafür von unvergleichlicher Geschmacksintensität), wer das Bedürfnis hat nach einer einzelnen Zigarette, wer einen Knopf angenäht oder seinen Hosensaum verkürzt, die Schuhe geputzt oder geleimt, ein Dokument fotokopiert oder abgeschrieben haben möchte, wer wünscht, ein paar lose Blätter zusammengeheftet zu bekommen (wofür Männer in langen Kaftanen zuständig sind, die vor kleinen Klapptischen sitzen, auf denen nichts als ein Bostitch zu diesem Zweck liegt), wer einen Nagel braucht, ein paar alte Socken, wer sich den mechanischen Küchenwecker oder die rostige Taschenuhr seines Grossvaters reparieren lassen will - alles kann man hierfür winzige Beträge bekommen.

Selbst für das Bedürfnis, im Café die Füsse höher zu lagern, würde sich wahrscheinlich noch jemand finden lassen, ein Schemelspezialist, der verschieden hohe Hocker herbeizuschaffen wüsste: Für alles, was das kleine tägliche Leben leichter und erträglicher machen könnte, werden hier Lösungen gesucht und angeboten, wobei es um feinste Nuancen in der Ausführung geht; diese zu meistern, darauf legt man in Amman bei aller Armut grössten Wert. Dienstleistung auf höchstem Niveau.





18.01.2005

Leben mit dem Charme des Provisorischen



Die jordanische Hauptstadt ist jung und roh. Strassennamen gibt es nicht. Und im Hotel weisen Pfeile Richtung Mekka.

Von Matthias Zschokke

In Amman gibt es kaum klassische Sehenswürdigkeiten. Und so muss man sich nicht fürchten, etwas zu versäumen. Ausser einer von den Römern erbauten Zitadelle, die über der Stadt thront, und einem Amphitheater mitten drin, das mangels Touristen verlassen dasteht und den Luxus einer Privatbesichtigung bietet: ein besterhaltenes Sechstausendplatztheater ganz für sich allein!

Noch vor achtzig Jahren war Amman ein Dorf mit gerade mal dreitausend Einwohnern. Die paar stehen gebliebenen Anwesen aus jener Zeit liegen meist hinter Mauern verborgen. Eines davon ist das Darat al Funun: drei behutsam renovierte Villen in einem grossen, terrassierten Garten über der Altstadt. Kaum durchschreitet man eines der Tore in der Ummauerung, wird man von der Anmut der Anlage gefangen genommen. Sie bietet ein schlichtes Café für Besucher und hohe, helle Räume, in denen wechselnde Ausstellungen, Lesungen und andere kulturelle Veranstaltungen stattfinden. Im unteren Teil des Gartens erinnern zwei Säulenreihen daran, dass hier einmal ein römischer Tempel gestanden hat: heute ein magischer Ort für sommerliche Freiluftkonzerte.

Abgesehen von diesem Kulturzentrum sind Museen, Kinos, Theater und ähnliche Einrichtungen eine Rarität. Auch fehlen gepflegte Grossstadtcafés, alteingesessene, gediegene Restaurants oder elegante Grandhotels aus der Kolonialzeit. Die Stadt ist blutjung und rasend schnell auf inzwischen zwei Millionen Einwohner angewachsen. Ihr Erscheinungsbild ist roh, dafür von entwaffnender Offenheit und mit dem Charme des Provisorischen. So liess ich die Hoffnung, etwas besonders Stimmungsvolles zum Wohnen zu finden, fahren, und entschied mich für einen zentral gelegenen Hotelturm, das Bellevue, ein vollklimatisierter Neubau, hermetisch dicht wie ein Aquarium.

Die Zimmer und Suiten sind sehr gross und haben wandhohe Panoramascheiben. Die halbe Stadt liegt einem zu Füssen. Eigentlich sensationell, wäre da bloss eine winzige Luke zu öffnen, um den warmen, frischen Wüstenwind hereinzulassen. Das Hotel gehört einem Saudi. Auf den Nachttischen kleben Pfeile, die Richtung Mekka weisen. Im Fernseher laufen ausschliesslich arabische Sender. Alkohol wird nicht ausgeschenkt. Aus den Deckenlautsprechern in den Etagenfluren erklingt zartes Vogelgezwitscher oder Wellenrauschen, unterbrochen vom leisen, hohen Ruf eines Muezzins zu den entsprechenden Zeiten, sodass man ihn auch in den Zimmern vernehmen kann, die von den Aussengeräuschen abgeschirmt sind. Das Personal ist ausnahmslos männlich. Viele Gäste tragen dunkle Sonnenbrillen und wallende, weisse Gewänder; ihre Frauen sind schwarz verhüllt.

Amman hat einen guten Ruf für seine medizinische Versorgung. Aus allen Golfstaaten reist man hierher, um sich in ärztliche Behandlung zu begeben. Hinter dem bombastischen Palasthotel Le Royal, einem Nachbau des Turms zu Babel, ist aus diesem Grund ein ganzes Viertel aus lauter Privatkliniken, Arztpraxen und Apotheken entstanden. Ein Heer von Patienten fährt in riesigen Geländewagen vor und flaniert mit Rezeptscheinen in den Händen zwischen den hier niedergelassenen Schönheitschirurgen, Röntgenologen, Augenlaserspezialisten und Zahntechnikern hin und her. Da es in der arabischen Gesellschaft unvorstellbar ist, ein Familienmitglied seinem Schicksal allein zu überlassen, begleiten Angehörige die Heilung Suchenden. So entstanden in der Nachbarschaft zahlreiche saubere, preiswerte Apartmenthotels wie die Ben Kahldoun Hotel Suites oder das Hisham.

Sie zu finden, ist nicht ganz einfach. Es gibt kaum Strassennamen und also auch keine üblichen Adressen. Man richtet sich wie ein Nomade in der Wüste nach Wind, Geruch, Sonnenstand und markanten Punkten. Auf Visitenkarten steht zum Beispiel «Bt. 5th & 6th Circle Opp. to HSBC Bank Blg.». Das bedeutet zwischen dem 5ten und dem 6ten Verkehrskreisel, gegenüber der HSCB-Bank, und ist die Adresse von einem meiner Lieblingsrestaurants, dem Amman-Holzkohlegrill.



25.01.2005

An der Luft



Nicht weit ausserhalb der Stadt liegt die weite Wüste, wo es Erstaunliches zu sehen gibt.

Von Matthias Zschokke

Verlässt man die Stadt Richtung Osten, beginnt bald die Wüste, zuerst gelb, dann schwarz und kahl. In der Ferne drehen sich elegante Windhöschen in die Höhe und ziehen neben einem her, biegen irgendwann ab und lösen sich auf; da und dort steht eine verlassene Bretterbude im Geröll, zwei dampfende Kannen davor: Tee und Kaffee für müde Fahrer; manchmal taucht aus dem Nichts ein Beduinendorf auf: zusammengeflickte braune Riesenzelte, über ein Schotterfeld verstreut, dazwischen Esel, Ziegen und Schafe, selten auch ein Kamel; mehr ist da nicht.

Schön, so unterwegs zu sein. Man fährt und fährt, nichts ändert sich, nur die Zeit, das Licht, die Farben, der Wind, alles. Irgendwann erreicht man eine Raststätte, hält an, setzt sich an einen Tisch. Ein Mann brät Hammelstücke auf einem Grill, Rauchschwaden von verbranntem Fett ziehen heran. Um die Ecke liegen im Schatten eines Vordachs zwei Matratzen hinter einem kniehohen Mäuerchen auf dem Boden: ein Freiluftgästezimmer für Fernfahrer. Zwei Saudis in weissen Gewändern sitzen mit übereinander geschlagenen Beinen da und warten. Der Mann vom Grill trägt ein Tablett mit Wasser, Salat und Fleisch zu ihnen, zieht vor dem Mäuerchen die Schuhe aus, tritt ins «Zimmer», stellt das Tablett auf die Erde, sagt zwei, drei Worte, zieht die Schuhe wieder an und geht zurück, um nun wunderbar gewürzte Hackfleischspiesse zu braten.

Riesenlastwagen donnern am Tisch vorbei und stauben Teller und Wassergläser ein. Die Laster kommen von der syrischen Mittelmeerküste und fahren in den Irak oder nach Saudiarabien, hoch bepackt mit chromstahlglänzenden Limousinen und Pick-ups, oder sie bringen mehlig gelbe Kalkfelsen nach Amman, aus denen auf den Baustellen dort Steine für die Hausmauern zurechtgehauen werden. Auf dem heissen Asphalt platzt dann und wann einem dieser Ungetüme ein Reifen. Funkensprühend schlittert das Gefährt schräg weiter und kommt im Wüstensand zum Stehen.

Manchmal kippt auch eines um, dann bleiben die Felstrümmer im Sand liegen, zwischen lauter verzettelten schwarzen Gummifetzen - und sonst nur diese unendlich leere Ebene, manchmal purpurschwarz (dann ist man in einem Basaltabschnitt), manchmal weiss (Salz), manchmal gelb (Sand oder Schafe), alles übersät mit Resten von weggeschmissenen Plastiktüten, die sich wie Konfetti übers Land gelegt haben - einem Umweltschützer wird bei diesem Anblick das Herz bre-chen -, dazwischen da und dort eine verlorene, zerfranste Palme und staubiges, dorniges Gestrüpp, sonst nichts als gleissender Horizont . . . Schön.



01.02.2005

Wunderbare Schwermut



Zum Alltag in Amman gehört das Leben im Café. Mit warmer Milch und leichtem Schwindel.

Von Matthias Zschokke

Obwohl Amman jung ist, gibt es auch hier ein Traditionslokal, das Arab League Café. Es liegt downtown, schräg gegenüber der zentralen Moschee. Ein schattiger, schmucklos lackierter Saal mit dem Charme einer stillgelegten Fabrikhalle und dem Geruch von Niedergang und Fernweh in der wackeligen Ausstattung. Kaum betritt man es, werden die Bewegungen langsamer. Man setzt sich auf einen Stuhl und schaut durch die geöffneten Fenster in den weiten, blassblauen Himmel - da das Café in der ersten Etage liegt, sieht man ausser ein paar Flachdachkanten nichts weiter.

Die grossen Deckenventilatoren drehen sich, ein paar Männer spielen Karten (es sind ausschliesslich Männer hier), ein paar schauen zu, ein paar lesen Zeitung, ein paar trinken Kaffee, ein paar denken nach, ein paar rauchen Wasserpfeife, und eine wunderbare Schwermut breitet sich aus.

Dann und wann geht ein dürrer, kleiner Angestellter durch die Halle, einzig und allein dafür da, die Wasserpfeifen zu stopfen und zu bringen, sie anzurauchen und bei Bedarf frische glühende Holzkohlenstücke nachzulegen. Dafür bekommt er von jedem Raucher ein paar Fils (= Rappen), wovon er offenbar leben kann, und die Raucher sind dank ihm der mühseligen Fron enthoben, Tabak und Streichhölzer mit sich schleppen zu müssen; ein sympathischer Luxus.

Zur Pfeife bekommt man heisse Milch serviert (heisse Milch! ein Kindheitsgeschmack; habe ich immer bekommen, wenn ich krank war, vor dem Einschlafen). So sitzt man da, nuckelt an der Milch und an der Pfeife, ein besänftigendes Blubbern erklingt, der Kopf wird eingenebelt (ungeheure Rauchwolken stösst man aus, ohne es zu realisieren), die Zeit beginnt zu verschwimmen, man redet nicht, liest nicht, betätigt sich nicht, sitzt nur da. Nach etwa zehn Minuten tritt leichter Schwindel ein. Man raucht weiter, sieht, dass auch die anderen Raucher immer tiefer in Gedanken versinken, dass sie vor sich hindämmern und träumen, man sitzt da, döst, zieht einen weiteren Stuhl heran, auf den man den schwer gewordenen Arm stützt, denkt nach, zieht einen dritten Stuhl heran für den anderen Arm, die Deckenventilatoren drehen sich, der Strassenlärm dringt von unten herauf . . .

Später habe ich erfahren: So eine Pfeife ist mit reinem Orienttabak gestopft, am besten aus Bahrain, und zwar mit der Menge einer ganzen Packung Zigaretten! Selbstverständlich werde einem davon schummerig; schliesslich rauche man ja genau zu diesem Zweck.



15.02.2005

EinfarbigeGrandiosität



Ein Besuch am Toten Meer, das alles aufschluckt, was einen plagt: an einem Ort des Trostes.

Von Matthias Zschokke

Das Tote Meer ist eine monochrome Grossartigkeit, je nach Sonnenstand changierend vom spiegelglatten Bleigrau ins Petrolgrün, Rosa oder Lila. Es liegt in einer dunstig-sandigen Tiefebene, etwa eine Stunde südlich von Amman. Die Luft ist angenehm fett und weich, das Licht sticht weniger in die Augen als am sommerlichen Mittelmeer. Trotzdem sieht man fast nichts. Nur einen flirrend schwebenden Streifen am Horizont: Das ist entweder eine Fata Morgana, oder es sind die fernen Talwände des Kessels, in dem man sich befindet. Sonst ist da nichts ausser staubiges Geröll, pudrig zart wie der Pelz auf Schmetterlingsflügeln. Dazwischen ruht, vierhundert Meter unter null, das tote Wasser.

Es fühlt sich ölig an, wenn man hineinsteigt. Ist man bis zur Brust drin, wird der Auftrieb zu stark, es hebt einem die Beine, man kippt um und treibt ab da obenauf. Rundum ist alles still und warm, man könnte einschlafen. Am Ufer gibt es vereinzelte graue Kuhlen. Mit dem klebrigen, anthrazitfarbenen Modder darin kann man sich einschmieren, um danach auf einem Stein hocken zu bleiben und einzutrocknen wie eine Mumie. Nach ein, zwei Stunden wäscht man sich unter einer Dusche mit Süsswasser ab und kehrt zurück ins Leben, um Jahre verjüngt (oder um zwei, drei Stunden), in der festen Überzeugung, diese bittersalzige Lake habe einem gut getan und jeder müsse unbedingt hierher fahren, zum Kuren. Es ist nicht leicht zu ertragen, dieses absolute Nichts, aber was immer einen plagt, es löst sich darin auf.

Danach setzte ich mich an der Strasse unter das Schattendach einer Hähnchenbraterei und wartete in der flimmernden Helligkeit auf einen Bus. Eine Stunde, zwei. Autos fuhren vorüber, Fliegen setzten sich auf mich, ein Esel trottete vorbei, eine Ziegenherde, ein Knabe, es folgte ein Lastwagen, eine alte Frau, die Fliegen liefen mir übers Gesicht, über die Hände.

Endlich angekommen. Das ist es: hier sitzen, warten, mit den Fliegen, dem samtenen Wind, dem Staub. Dazu überall die sanfte Freundlichkeit der Einheimischen! Jeder ist herzlich, mit Gespür für Distanz und Respekt vor der Privatsphäre des anderen. Hier sind sie zu Hause, die Figuren aus den Kindheitsträumen, aus den Märchen, aus der Sonntagsschulbibel, aus der Welt von Karl May und Lawrence von Arabien: höflich, edel, und schön anzuschauen in ihren langen Gewändern mit den dramatischen Falten. Jeder Tag unter ihnen ist eine Erholung fürs Gemüt und für die Seele.



22.02.2005

Unter roten Bergen und putzwütigen Fischen



Ein letzter Ausflug - an einen unwirtlichen Ort mit einem Hotel, das sensationell ist. Weniger wegen des Hauses an sich, sondern weil es seine Gäste am realen Leben teilhaben lässt.

Von Matthias Zschokke

Am äussersten Südzipfel Jordaniens liegt Aqaba, eine kleine, desolate Industriestadt, alltäglich, wenig charmant. Doch sie liegt am Ufer des Roten Meers und bietet ein Hotel, das zu besuchen sich lohnt. Drei Besonderheiten heben das Mövenpick Resort über das Übliche hinaus und lassen manches Grandhotel an mediterranen Nobelgestaden daneben alt aussehen.

Zuerst der rege Frachtschiffverkehr, der direkt vor den Zimmerfenstern stattfindet. Ein faszinierender Anblick, der Sehnsucht nach fernen Kontinenten weckt und dem Gast das wunderbar beruhigende Gefühl vermittelt, noch am Leben zu sein und am Handel und Wandel der Welt teilzuhaben. Keine Chance für das All-inklusive-Getto-Elend, das einen in so genannten Ferienparadiesen so leicht in den Würgegriff bekommen kann.

Da der Wind permanent von der heissen Wüste aufs offene Meer hinaus weht, sind Luft- und Badequalität trotz der nahen Industrie hervorragend. Ausserdem leidet man kaum unter Schweissausbrüchen, obwohl es häufig weit über dreissig, manchmal sogar über vierzig oder fünfzig Grad heiss wird: wegen des trockenen Windes fühlt man sich immer ausgesprochen wohl.

Zweitens bietet das Hotel einen eigenen Zugang zum Meer. Das ist eine Rarität hier, wo das Ufer sonst entweder im Industriegebiet liegt oder zugebaut oder in privater Hand ist. Der Gast kann als einer der wenigen Privilegierten morgens vor dem Frühstück im glasklaren Meer schwimmen, die aufgehende Sonne im Rücken, das Schauspiel ein- und auslaufender Frachter vor Augen.

Erfrischt und angeregt davon begibt er sich - das ist die dritte Sensation - in den grosszügigen Garten zum Frühstück. Es ist eine Lust, hier länger zu verweilen (die Sonne hält sich bis elf Uhr dezent hinter dem Gebäude verborgen). Ohne die Augen zusammenkneifen zu müssen, mag man immer wieder das ausladende Buffet entlang flanieren und kann dabei die feinsten Delikatessen entdecken (unter anderem den besten Brot-Butter-Vanille-Auflauf, den ich jemals gegessen habe).

Anschliessend empfiehlt es sich, den Gratisbus zu den Korallenriffen zu nehmen, die etwa zehn Kilometer ausserhalb der Stadt beginnen. Die Landschaft, durch die man fährt, sieht aus wie versteinerter, in der Hitze geborstener Milchkaffee. Am linken Horizont stehen dunkle Berge (die in der Abendsonne rot leuchten und dem Meer seinen Namen gaben). Rechts tauchen im Geröll zwei, drei Badeanstalten auf, vorbildlich gepflegte Anlagen mit allen Annehmlichkeiten, die man sich nur wünschen kann.

Da die Stadt keine klassische Badedestination ist, sind nicht allzu viele Touristen unterwegs. Man bleibt ziemlich ungestört beim Schwimmen und Hinunterstaunen ins tiefe Blau.

Ich habe noch nie zwischen bunten Fischen gebadet. Es ist ein grosses Vergnügen. Was man sieht, leuchtet so farbenprächtig und vielfältig wie eine Voliere voller Kanarienvögel. Ab und zu hört man durch einen fernen Schnorchel einen entzückten oder erschreckten Schrei röhren, sonst herrscht andächtige Stille.

Ein Putzerfisch (er sah aus wie ein kleiner Hai, etwa fünfzehn Zentimeter lang, mit abgeflachtem Schädel, um sich von unten an den Bäuchen der Grossen festsaugen zu können) verwechselte mich mit einem Wal und wollte mich unbedingt putzen, was mich in grösste Verlegenheit brachte und aus dem Wasser trieb. Wer solche Begegnungen jedoch nicht scheut, kann in der faszinierenden Unterwasserwelt die Zeit vergessen und schwimmen, bis er blaugefroren ist, den Sonnenbrand hat oder von einer der Wellen, die manchmal unverhofft entstehen, auf ein Riff geworfen wird.

Abends dann spaziert man los. Es gibt eine Strandpromenade. Hier gehen die Einwohner nach Sonnenuntergang baden, die Frauen mitsamt Kopftüchern, Handschuhen, Strümpfen, Sandalen und in langen Gewändern, die Väter mit kleinen Kindern an der Hand. Der Mond scheint, die Luft ist mild, alles verkehrt sanft und leise miteinander, keine plärrende Musik aus Lautsprechern, keine Reklamen. Es gibt Strandhüttencafés, wo Wasserpfeifen geraucht werden, ein paar Beduinen haben ihre Pferde dabei, die ganze Atmosphäre ist sehr beschaulich und sehr fremd. Sie hat nichts mit dem kreischenden Sommerbadespass in unseren Regionen zu tun und ist doch eine vollwertige Alternative dazu.

Das gilt für ganz Jordanien: Es hat wenig zu tun mit dem Hochglanztourismus aus westlichen Reiseprospekten. Es ist einfach da, auf eine unaufgeregte Art, seit Jahrtausenden, und bringt den Gast dadurch auf andere Gedanken.



Im Morgenland