1986 erschien Zschokkes drittes Buch ErSieEs, und damit wäre eine eigentlich
nie beabsichtigte Berliner Trilogie komplett, denn Berlin, wo der Autor
seit 198o lebt, bildet in allen drei Bänden die Kulisse.
Die formale Demontage der Literatur hält sich bei Zschokkes Buch ErSieEs
in Grenzen. Seine Erzählstruktur wirkt weniger struppig als in den
vorausgegangenen Veröffentlichungen, aber es bleibt noch genug Widerborstiges
übrig, um die Lust an labyrinthischer Lektüre zu befriedigen.
Der Buchtitel bezeichnet die wundersame Eigenschaft einer der Hauptpersonen,
ist abgeleitet von ihrem Namen, der Ersiës de Glych lautet. Das klingt
geheimnisvoll türkisch-flandrisch, meint jedoch nichts anderes als
ErSieEs, der Gleiche. Wieso ErSieEs? Warum der Gleiche? Mit Ersiës
hat es eine besondere Bewandtnis: diese Person kann maskulin u n d feminin
sein, ist ein Weib-Mann: "Oft ist sie eine Frau. Das Männliche,
was hin und wieder durchglitzert, ist das übliche."
Es handelt sich keineswegs um einen transvestitischen Roman, auch nicht
um einen transsexuellen wie etwa bei Virginia Woolfs Orlando, wo ein junger
Mann innerhalb einer Zeitspanne von drei Jahrhunderten, selbst jedoch nur
um zwanzig Jahre gealtert, sich schließlich in eine Frau verwandelt.
Zschokkes Ersiës besitzt die faszinöse Fähigkeit, permanent
zwischen den sexuellen Polen zu oszillieren, wird also auch vom Autor konsequent
-wie Goethes Mignon- einmal als "sie" apostrophiert und dann wieder
als "er". Aber Ersiës ist realiter kein Zwitter, sondern
allenfalls zerebral: Metamorphose des Geschlechts ad libitum (und sei es
nur die Projektion der anderen), denn Ersiës ist eine K u n s t f i
g u r .
Schon als Es war Ersiës ein höchst merkwürdiges Balg: "Als
Kind hatte sie Turnschuhe und dünne Beine, -vielleicht HAGERE?-, mehr
zur Täuschung, denn bewegt hat sie sich nicht besonders sportlich,
nie und heute muß sich Ersiës eben einiges gefallen lassen, weil
sie ungehörig wenig weiß von dem, was zur Zeit wahr ist. Sie
hat sich einmal ein Lexikon gekauft von 19o4, jetzt weiß sie meistens
das Verkehrte oder das Halbe oder gar nichts."
Und wer ist diese/r Ersiës als erwachsene Person? Zumindest ist sie
ziemlich dubios. Das fängt schon an bei den genannten Geburtsdaten,
die alle verschieden sind. Und Ihr Beruf, meine Dame, mein Herr? Einer aus
dem Bekanntenkreis meint: "Er wisse es auch nicht genau, aber er glaube,
sie sei Lehrerin für ausgestorbene Sprachen. ...Manchmal schreibe sie
Zeichen auf ein Papier, die niemand entziffern könne. Die nenne sie
altphilologisch... Zu Korinth sagt sie Düsseldorf. ...Dann wieder sagt
sie am Ufer eines der kleinen Dreckseen: ,Das ist mein tyrrhenisches Meer',
oder so ähnlich, nur weil grade auch ein Mond drüber steht. All
das mit der größten Selbstverständlichkeit, unverblümt..."
Vielleicht ist Ersiës auch ein/e leidenschaftslose/r Tabakwarenverkäufer/in-
dieser Tätigkeit ging ja bereits "Prinz" Hans nach: "Ersiës
verläßt die Leidenschaft schnell, das stimmt. Tabak mochte er
nur drei Wochen lang leidenschaftlich gern verkaufen. Danach verkaufte er
ihn mit kühler Distanz, und zuletzt gar nicht mehr. Deswegen trifft
man selten Tabakverkäufer in Sechszimmerwohnungen an. Tabakverkäufer
sind zu wenig leidenschaftlich."
Ersiës verdient den Lebensunterhalt als Versuchskarnickel der Pharma-Industrie.
Scheinbar harmlos-naiv (und also mit unglaublicher Schärfe) berichtet
Zschokke von zynisch-menschenverachtenden Experimenten- ohne die Sozialschnulze
zu dudeln.
Ersiës wird von einem Literaturbetriebsmenschen geliebt, der seinerseits
"eine Art Brieffreund" eines von ihm sehr geschätzten "Baufachmanns"
ist, mit dem er viel und gern korrespondiert. Dabei geht es um tiefe literarische
Sachen, etwa um eine Tagung zum Thema "Der Librettist und die Schaffensfrage",
zu welcher der Literaturbetriebler "von dem sogenannten Professor,
der... in Tübingen das Schriftdeutsche verwest", eingeladen worden
ist. Oder um ein anderes (in reizvoller landschaftlicher Umgebung stattfindendes)
Symposium zum Problem "Die Präsenz des Rezensenten in seiner Rezension".
Mit kühlem Techniker-Kopf reagiert der Baufachmann in seinen Briefen
(die in Versalien gesetzt sind) auf den kulturellen Schrott und Müll.
Die epistolarische Pseudodebatte über brennendste Kunstfragen ist ein
satirisches Glanzstück in Zschokkes Buch.
Zur epischen Menage à trois gesellt sich außerdem Mario Massa.
In den wiederum ist Ersiës verliebt, schnöde den Literaturbetriebler
zurückweisend, obwohl er auch an Ersiës köstliche Briefe
schreibt, mit literarischen Beigaben sogar, etwa der in einer Anthologie
aufgespürten Kurzgeschichte "Claudius Simonitsch und die Deutsche
Bundespost" oder dem in der Zeitschrift "SCHAUSPIEL" gefundenen
theatralischen Manifest "Berlinische Dramaturgie".
Aber vergeblich das Werben, Ersiës liebt Mario Massa, den "Meteorologischen
Sänger"- wen bitte? Mario Massa singt morgens im Radio den Wetterbericht
(bei seinen raren Lesungen gibt Zschokke selbstverständlich eine Probe
der eigenen Sangeskunst). Im Monat September, zum Beispiel, singt Mario
Massa:
"Ostatlantischer Tiefdruckwirbel
führt Meereskaltluft heran.
Guten Morgen, Madame, schneller
ging der Sommer, schon
Herbst schon Winter,
örtliche Frühnebelfelder,
Nieselregen.
Kalt altern
Nasenspitzen, Zehen.
Ihre Brustwarzen
hart, schon welk.
Schnaufen Sie,
nicht vergessen.
Herbstmode Tarnanzug
oder Gefieder.
Vorbei, vorbei,
Leintücher,
warm noch,
Leichentücher.
Nur mit der Ruhe,
Madame,
erst frühstücken.
Die Niederschläge kommen
im Erzgebirge auf."
ErSieEs - Zschokkes shakespearisch angezetteltes Geschlechterverwirrspiel
endet nicht harmonisch-heiter-hormonisch: Die Liebenden kommen nicht zusammen;
dem "Meteorologischen Sänger" wird beim Rundfunk gekündigt;
nachdem der Literaturbetriebler Ersiës aus den Augen verloren hat,
wird er wohl Berlin verlassen ("...es stinkt in der ganzen Stadt -
die Gesichter sind grau geworden - bleich und grau - in den U-Bahnen nur
noch bleiche, graue Gesichter, schuppige Hände - fröstelnd, gefesselt
starren wir vor uns hin, zitternd").
Und was geschieht mit Ersiës? Nach einem im Wald mißglückten
Rendezvous mit dem Tod endet Ersiës als an die Wand gehängtes
Exponat bei einer Leistungsschau des Pharmakonzerns. Ersiës ist zum
Objekt geworden, von ihm oder ihr ist nur noch ein vages Es übriggeblieben.
Zwei Rentnerinnen wollen an dem Ausstellungsgegenstand Flügel entdecken,
aber "ein junger Assistent in weißem Kittel" klärt
die Besucher auf: ",...das sind Ablagerungen von Fluocortinbutyl nach
rektaler und intravenöser Abgabe im crossover Vergleich. Sie sind absolut
unbrauchbar, unbeweglich. Eine Art Höcker eher. Sehen Sie, Sie können
sie anfassen. Schlecht durchblutet...'"
Im Vorwort verrät Matthias Zschokke ironisch: "Im Grunde genommen
würde ich mich auf den Barrikaden besonders wohl fühlen."
Und auch das Wohlgefühl des Autors auf den W o r t - Barrikaden ist
offenkundig: "Wie bin ich froh um krummgehauene Sätze. Oder rostige
Sätze. Und wie schäm ich mich in der Öffentlichkeit für
sie! ,Du Hundssatz! Willst mich der Lächerlichkeit preisgeben, vor
allen Leuten!' zieh ich über ihn her- aber zu Hause, wenn ich allein
bin, umarme ich den Satz und gebe ihm einen Kuß."
Und wieder wird in Jean-Paul-Karl Valentin -Manier ein prächtiges Pointen-Feuerwerk
gezündet. Daraus eine Rakete: "Eine heute besonders bewunderte
Art, sich zu bewegen, ist das Grenzenüberschreiten.... Wer jemanden
treffen möchte, begibt sich an die Grenzen; dort vertreibt sich die
Zeit, was Rang und Namen hat. Vor dem Zollhaus herrscht ein buntes Treiben.
Bei schönem Wetter finden sich Tausende hier ein, um der Grenzüberschreitung
eines Tollkühnen beizuwohnen, welcher grade dabei ist, ein Paillettenkleid
über seinen durchtrainierten, wohlgenährten Körper zu streifen.
Ist alles vorbereitet, stellt er sich an die Grenze, konzentriert sich,
ruft: ,Ich wage nun das Chaos', oder ,Ich überschreite nun meine Grenzen'..."
Und noch ein schneller Kracher: "...wer das Wahre sagt, wird geliebt.
Das Bekannte ist das Wahre. Eine friedliche Herde, die sich gegenseitig
hütet... es ist schwer, der Zeit zu entkommen, wenn einer nicht schön
ist wie ein Sigurd und beredt wie ein begüterter Sohn."
Nein, zur Herde der Augenblicks - Schriftsteller gehört dieser Matthias
Zschokke nicht. Und von besonders witziger Delikatesse sind erneut seine
das eigene Schreiben umrankenden Reflexionen, denn die auktoriale Handschrift
verhehlt er nie: "Hier folgt eine Naturbeschreibung, um dem Ganzen
epische Breite zu geben: es windet. Die Blätter halten fest an den
Bäumen, wird wohl nicht Herbst sein. Und vielleicht kommt Regen. Oder
sogar die Sonne. Je nachdem, was der Bauer sich wünscht."
Zschokke schreibt Literatur-Literatur. Bereits im ersten Buch hat er unverwechselbar
seinen Stil gefunden (Le style, c'est le poète- was sonst? Aber anscheinend
ist dies in Vergessenheit geraten...), und sein ureigener literarischer
Ton macht Zschokke unter den Autoren seiner Generation zu einem Exponenten
der neuen deutschsprachigen Belletristik in den achtziger und neunziger
Jahren. Und ganz en passant wurde er einer der Begründer der literarischen
Postmoderne (vgl. zur Begriffsdefinition: Ihab Hassan, Postmoderne heute.
In: Wolfgang Welsch (Hg.), Wege aus der Moderne. Weinheim: VCH, Acta Humaniora,
1988) hierzulande, unter dem fröhlichen Banner ANYTHING GOES.