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ZSCHOKKE- Ein sanfter Rebell. Die Einladung

Die Einladung

Hinter dem harmlosen Titel Die verbirgt sich schierer Lebens-Wahnsinn. Dabei ist die Fabel des Stückes, das an Zschokkes Der reiche Freund anknüpft, relativ einfach zu skizzieren: Der reiche Freund €rmenegildo Fürst aus der Weltmetropole Saarbrücken hat seinen Besuch in Berlin angesagt bei dem Architekten Friedrich und seiner Frau Friederike, was beide in hellste Aufregung versetzt- wie den hohen Gast empfangen, wie ihn standesgemäß bewirten, wie ihm angemessene Unterhaltung bieten? Zumal der Architekt ihn als Investor gewinnen will (“FRIEDRICH: [...] Glaub mir, diesmal ist es keine Hoffnung, die ich hege und schüre, diesmal ist es der nackte Wille zum Erfolg. Fürst wird kommen, ich werde ihn überzeugen, unsere Finanzen werden aufblühen [...] Wir haben keinen Hintergrund und sind deswegen darauf angewiesen, geliebt zu werden. [...] Wer aus dem Nichts kommt, muß sich polieren, wenn er wahrgenommen werden will. Wie in der Malerei: entweder hebt dich der Hintergrund hervor, oder du mußt selbst leuchten. Wir gehören zu der zweiten Sorte, wir müssen leuchten.”)...


Plakat zur Uraufführung



In Ermangelung illustrer Gäste werden zur Tischgesellschaft der grobschlächtige Schönheitschirurg Dr. Kurz und der Schauspieler Harald, der zur Hebung des gesellschaftlichen Niveaus einen Literaturgeschichtsprofessor spielt (Paraderolle für einen Komiker), gebeten. Aber aller Aufwand ist vergebens: Fürst denkt nicht daran, in das Wohnbaumodell des Architekten, das überdies bei der Präsentation in Flammen aufgeht, auch nur einen Pfennig zu stecken.
Dr. Kurz (Jacques Roman) Harald (Laurent Sandoz)
Dr. Karnay (Monica Budde) und Calvin (Cédric Dorier) Calvin (Cédric Dorier) und Kathi (Martine Paschoud)
Parallel zur Haupthandlung läuft eine Nebenhandlung voller Leidenschaft und Dramatik ab: die Nachbarin des Architektenpaars, Frau Dr. Karnay, eine höchst erfolgreiche Wirtschaftsanwältin, ist einem göttlich schönen Gigolo namens Calvin verfallen (eine -nicht nur platonische- Sehnsucht nach Schönheit, nach Wahrheit: als Gegengift zum schnöden Mammon). Calvin: eine Pasolini-Phantasie. Zufällig - wie es Theatergötter sich eben erlauben können- kommt Calvin ebenfalls aus der Weltmetropole Saarbrücken, wo er seine Liebesdienste auch Kathi, Fürsts Haushälterin, erweist. Als er diese zurückstößt mit einer eifernden Rede, die seinem Namenspatron alle Ehre machte

Kathi (Martine Paschoud) vor Calvins Haustür

(“CALVIN: [Er redet auf Kathi ein.] Erstick an deiner jämmerlichen kleinen Zuneigung, die das Wort Liebe nicht wert ist, an dieser plumpen Lust, dich anzulehnen, egal wo, dich niederzulassen, egal auf was, weil ich gerade da bin auf mir, Staub, der sich auf alles setzt, was tot ist. Ich bin nicht tot! Ich verachte jede Zutraulichkeit, dieses Bedürfnis von Allesfressern, von Säuen nach Nähe. Fordere mehr von dir und von mir. Wir müssen besser werden, alle. Schau mich nicht an mit diesem dummen kalbsäugigen Ausdruck. Du meinst nicht mich, du meinst das schäbige Bißchen, wofür ich in deiner Vorstellung stehe, diesen Schlauch voll warmer Grütze. Du nimmst mich und stülpst deine schalen Träume darüber. Keine schaut wirklich hin. Ihr seid alle besoffen. Euer Blick ist vernebelt. Da ist keine Klarheit drin, keine Wahrheit. Ihr laßt euch belügen- diese Manie, alles in die Mehrzahl zu setzen! Wie ich das hasse! Du hast keinen Stolz, kein Verlangen nach Einmaligkeit, du gibst dich zufrieden mit dem erstbesten Ersatz, irgendeinem ungefähren Glück. Aber ich bin mehr, als was ihr denkt, daß ich sei. Ich traue euch nicht, kann mich nicht auf euch verlassen. Ihr sagt ich leuchte, wenn ich funsle, ihr sagt ich strahle, wenn ich matt bin, ihr verderbt mich mit eurer Anspruchslosigkeit. Wir könnten wachsen, alle- was für eine Idiotie, alles in die Mehrzahl zu setzen! Jeder kann ein Riese werden, jeder kann verglühen, wenn er sich schürt, wenn er sich antreibt. Ihr schläfert mich aber ein, ihr verratet alles mit eurer Ungenauigkeit. Das ist keine Liebe, was du empfindest, das ist Faulheit, Bequemlichkeit, ein armseliges Verlangen nach ein wenig körperlicher Wärme und Nähe. Geht in den Stall, dort ist es warm. Fällt dir die Leere nicht auf, wenn wir uns aneinander pressen, die Lächerlichkeit nicht, wenn wir uns aneinander reiben? Spürst du nicht, wie stumpf ich mich anfühle, wie zäh die Zeit sich hinschleppt, wie alle Träume zerstieben, wenn wir zusammen sind. Wie bleich die Welt wird, wenn wir darin stehen. Wie alles in uns ertrinkt, was wir sein könnten. Was für eine gähnende Abwesenheit wir um uns schaffen, wie wir uns gegenseitig auslöschen, alle, aufsaugen. Laß dich nicht so leicht abspeisen. Weg mit der Bescheidenheit. Wie die Kakerlaken fressen wir Reste, Abfall. Du hast ein Anrecht auf mehr. Wir alle, wir haben die Kraft und die Möglichkeit, wir haben die Pflicht, groß zu werden, immer größer, über uns hinauszuwachsen, doch rundherum nichts als dieses kümmerliche, winzige, geduckte, verlogene Dahinvegetieren. Das lügt und betrügt und grimassiert weiter in alle Ewigkeit. Nicht einer, für den sich die Tausende von Jahren gelohnt hätten, nicht einer, der es verdient, Mensch genannt zu werden, nicht einer, von dem wir lernen könnten zu leben. Da winselst du vor meiner Tür, um deine unwürdigen, nutzlosen Stunden mit mir zusammen in dieser trüben Alltagsbrühe verplanschen zu können. Fordere mehr von dir, von mir, verlang, daß ich uns herausziehe, ich kann das, du nasser, sinkender Sack, du erstickende Blase voll Schleim, wozu lebst du, wenn du leben willst...”), erschießt sie ihn und sich: ersteres führt zu tiefer Trauer bei Frau Karnay und letzteres zu Fürsts überstürzter Abreise. Einziger Rettungsstrohhalm: Friedrich wird nun versuchen, Frau Karnay für seine Wohnbauprojekte zu gewinnen.
Ermenegildo Fürst/ Prince (Maxime Leroux), Friedrich/ Frédéric (Laurent Deshusses), Friederike/ Frédérique (Anne Durand) und Dr. Kurz (Jacques Roman) Friederike/ Frédérique (Anne Durand) und Friedrich/ Frédéric (Laurent Deshusses)
Ermenegildo Fürst/ Prince (Maxime Leroux) Friederike/ Frédérique (Anne Durand)
Die schrille Komik des Stückes resultiert aus den teils skurrilen, teils tiefen Ideen der schrägen Personen (“HARALD: Wie ich da im Bad so mein zerschmettertes Knie betrachtet habe, dachte ich: Kommen wir nicht alle aus dem Nichts, aus Schutt, sind aus Resten zusammengeflickt, notdürftig geklebt, mit Strohhaar, stromern über unsere versteppten Areale, auf denen man eigentlich Schafe weiden sollte, mit Märchen in unseren Köpfen, finsteren Märchen von Krieg, von Schlächtern, von blinder Gefolgschaft, von Kadavergehoram und blutig zerfetzten Rümpfen, Märchen von Hunger und Tod und Geilheit, vom großen Zusammenbruch, in dem alles zerplatzte, zerstob? Aus diesen rauchenden Trümmern zuckte und ringelte ein Gewürm, schiefe, bleiche, erinnerungslose Wesen erhoben sich, das sind wir, die jüngste Rasse; die alten Tugenden fanden nicht mehr zurück in uns, sie verflüchtigten sich, und wir leeren Hülsen geistern nun blicklos durch die Ruinen, die Sonne brennt, in den Ritzen zittern vertrocknete Grashalme- manchmal tauchen Fremde auf, aus fernen Ländern, die nach dem großen, alten Abendland suchen, von dem sie gelesen haben, mit neugierigen Augen streunen sie über das monumentale Leichenfeld, schauen in unsere hohlen Gesichter, stehen vor altem, ausgebranntem Gemäuer und staunen, hier ging also Heine, dort Hölderlin, da Schubert, wir schauen ihnen verkniffen zu... - FRIEDRICH: [Er macht Zeichen und flüstert:] Schlanker, schlanker... - Dr. KURZ: Lassen Sie ihn, bitte! Die Zeit verstreicht dabei sehr schön. - FRIEDRICH: In richtig feiner Gesellschaft, dachte ich, wird eher diskutiert als deklamiert?”) und den gedrechselten, artifiziell hochgeschraubten Dialogen.

Die ist Zschokkes bislang gedankenschwerstes und wortgewaltigstes Theaterstück. Ist es überhaupt eine Komödie? Wenn ja, dann eine sehr moralische, und also: verzweifelte.

Die Uraufführung hat am 26. September 2oo6 in Genf stattgefunden (Regie: Michel Kullmann, Bühne und Kostüm: Jean-Claude Maret).



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