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Der dicke Dichter



In drei Prosabänden war Matthias Zschokke mit dem Kopf über den Wolken und verwöhnte seine Leser durch humoresken Charme und formal-kühne Schreibraffinessen. Mit seinem vierten Roman Piraten begann ein melancholischer Sog, in dessen Strudel auch sein Fünftling Der dicke Dichter geriet, der im Mai 1995 erschien.

Ein depressiver Sturzflug des Autors und eine literarische Punktlandung: Mit diesem Werk, kaschiert unter alliterierendem Kinderbuchtitel, hat sich Zschokke schreibend erlaubt, "erwachsen" geworden zu sein; und seinen "Urstil" aufgegeben, den kecken, frechen, obwohl er in seinen Kunstmitteln auch weiterhin subversiv bleibt, sie nun jedoch subtiler einsetzt. Man mag den Verlust originärer Unschuld beklagen, begreiflich ist es schon, wenn einer, der schreibt, wahrgenommen wissen möchte, daß bei ihm hinter einer witzigen Fassade gleich der Abgrund beginnt.

Abgrund diesmal schon auf dem Cover: ein fetter Mann (mit roter Badekappe und riesiger Badehose) steht hoch oben auf dem Sprungbrett eines Schwimmbads- gleich wird er sich ins schwarze Cover-Nichts stürzen. Und stürzen wird auch er, aber ins reale Nichts, der "dicke Dichter".

Alden heißt er, wie Zschokke gegen Ende raunt, oder Ingold, er kommt schon bald zu Tode, ganz profan, bricht einfach zusammen in einem Bahnhofsrestaurant: "So erreichte er, daß zuletzt, als er starb, tatsächlich niemand sein Fehlen bemerkte." Keine erschütterte Nachwelt.

Der Rest der Biographie ist eine Rekonstruktion aus dem Nachlaß. Eine große Literaturleuchte war dieser dicke Dichter anscheinend nicht, erbärmlich-grausam knirscht der Reim: "Schon wieder ist ein Jahr vorbei, diesmal ist kein Vers dabei."

Zschokkes Romane sind von Anfang an immer Roman-Simulationen gewesen, Roman-Romane, die das Genre glänzend-perfide konterkarieren- auch beim Dicken Dichter dürfen sich die Gralshüter der reinen Form die Haare raufen (falls noch vorhanden). Der dicke Dichter spricht über sich und charakterisiert zugleich treffend Zschokkes Opus: "Ich schreibe zur Zeit an einem Buch. Darin soll nichts geschehen, die Zeiten sind Zeiten, mehr nicht, die Geschichten folgen brav eine hinter der anderen, manchmal geht ihnen die Luft aus, kleine Geschehnisse, Anekdoten, Zeug, von einem Dichter aufgeschrieben, der sich des schönen Titels wegen als dick bezeichnet. Manchmal gerät der Schreibende selbst ins Zentrum, ins Visier des Lesers, deckt sich mit dem Buchhelden, der ich bin, der jeder ist, erbarmungslos." Mit diesem Credo entpuppt sich der dicke Dichter als Zschokkes Strohmann. Und ist unser aller Sensenmann.

Traum eines jeden wahren Dichters dürfte wohl sein, ohne Haupt- und Staatsaktion auszukommen und ein Buch über "NICHTS" zu schreiben (das, freilich, geheckt -nolens volens- wieder zu einem Etwas wird, werden muß): Stifter, Handke & Co. haben sich diesen Traum erfüllt, und Zschokke hat es im Dicken Dichter auch getan, denn es "steht längst alles geschrieben, die schönsten, wahrsten Seiten liegen herum auf den Wegen zwischen den Mauern, wobei wir wissen, daß auch sie letztendlich aus lauter Irrtümern bestehen, diese schönsten, wahrsten Seiten, daß sie uns ablenken, uns irremachen, daß sie die Mauern sind und daß wir uns hüten sollten davor, immer neue Seiten draufstapeln zu wollen, Schicht auf Schicht, Geschichten, und tun es doch, verzweifelt, lenken ab, bringen die liebenswürdigsten Romanhelden erbarmungslos immer wieder um, murksen zarte Fräuleins ab..., nur um der Stille zu entrinnen, und tritt sie trotz aller Vorkehrungen ein, die Stille, so starren wir uns entsetzt in die Gesichter, in die Augen, die weit offen stehen, und sehen darin, daß auch das Gegenüber weiß, wie verkehrt alles ist, wie falsch, das Denken, die Richtung des Denkens, das Aufstehen, das Ins-Bett-Gehen, das Bett an sich, die Hosen, die Schuhe, die Haarschnitte, die Wissenschaften, die Religion, die Philosophie..."

Der Satz geht kaskadisch noch eine Seite weiter (und es gibt viele andere Kaskaden), schreit existentielle Verzweiflung heraus, die leitmotivisch - brutal Zschokkes Dicken Dichter ins Düstere färbt: "Es ist die Hölle, nichts zu tun zu haben und erbärmlich ist es, etwas zu tun. Wenn wir innehalten im Tun, dann schweifen unsere Blicke ab, werden stumpf und leer, wir erschrecken, erblassen vor dem Nichts, in das sie gleiten, also halten wir uns fest an den winzigen Hälmchen des Alltags, am Fensterputzen und Einkaufen, am Briefeschreiben und Haarewaschen, wie entsetzlich die Leere... der erschreckende Stumpfsinn des Alltäglichen; wo man gut daran tut, sich -solange man noch gelenkig genug ist- hinten auf die Karren der Besserwisserei zu schwingen, die ab und zu hochrädrig vorüberrollen, schnell und leicht, zu den Höhen der Herrschaft. Abends ist es besser. Es sollte immer Abend sein."

So klingt die Melodie, die Zschokkes gesamten Roman dominiert. Und Berlin, der Hauptschauplatz, ist längst Moder und Verfall, ohne Zukunft. Zschokke hat sich vom Autor als "lustiger Person" verabschiedet- auch wenn sein alter Schalk immer wieder noch einmal aufblitzt, etwa in den hemmungslos geflunkerten Geschichten, die der dicke Dichter seinem unterhaltungssüchtigen geliebten Severinchen erzählt: Gute Nacht, Welt!

Matthias Zschokkes morbides Werk Der dicke Dichter ist der erste Fin-de-siècle-Roman der Jetztzeit- etliche Bücher anderer werden wohl noch folgen zur nahenden Jahrhundert- und Jahrtausendwende.

Der dicke Dichter wurde in Deutschland von der maßgeblichen Kritik fast völlig ignoriert, in der Schweiz jedoch hymnisch rezensiert. "Ein Wunderding, dieses kapriziöse Buch", war in der "Neuen Zürcher Zeitung" zu lesen. Und der Schriftsteller Urs Allemann schrieb in der "Basler Zeitung": "Ein Buch, das unsere Ratlosigkeit um nichts verringert- und warum sollte es, bitte? Ein zauberhaft ratloses, mutloses, mattes Buch über <<uns>> (wer immer das sein mag: <<Dieses Wir immer, das tröstliche Wir, das nicht existiert...>>, über unsere Ratlosigkeit, Mutlosigkeit, Mattigkeit: <<...wir alle wissen alles, das lähmt, verstehst du...>> Ein Buch über <<die Menschen mittleren Alters>>, die endlich gelernt haben, sich auszudrücken, <<und schon geht ihnen auf, dass das nichts hilft>>. Ein gelassen schwarzgalliges Buch. Ein Buch, in dem Tod, Staub, Leere, Verwahrlosung allgegenwärtig sind. Ein Buch, das einen Zustand anpeilt, <<wo jede Spitzfindigkeit schal und trüb wird, wo mit unverblümter Offenheit hinter allem die Banalität hervorgrinst>>. Ein Buch über das schäbige Geschäft des Schreibens, über das abgekartete Spiel mit Figuren- und über <<diese unendliche Angst, die uns treibt zu schreiben und zu schreiben>>. Ein Buch, das es <<Nichtigkeiten>>


(einer rennenden Maus in der Tordurchfahrt, einer ziehenden Wolke) zutraut, <<von einem Moment auf den andern Glück auszulösen>>. Ein Buch, das uns poetisch streunend, <<ins fahle Licht der Wahrheit>> zerrt- und wir und es und einfach alles fällt darin, wie Hefeklösse, zusammen."




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