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Wer suchet, der findet (2)

(c) by Michail & Shavana

 

Am nächsten Abend fand Michail seine Lederkleidung gereinigt und ordentlich zusammengelegt vor seiner Tür, und nachdem er sie angezogen hatte, ging er zu Jean hinüber. Zu seinem Erstaunen war der Franzose schon auf den Beinen und widmete sich der schwierigen Aufgabe, seine Haare zu einem ordentlichen Zopf zu binden.

"Bist du aus dem Bett gefallen?" feixte Michail.

"Keineswegs", antwortete Jean vergnügt, "ich bin freiwillig aufgestanden, schließlich treffen wir uns um elf Uhr mit unserem Führer. Und bei Terminen mit dem Untergrund kommt man besser nicht zu spät."

"Und wie weit bist du?"

"Gleich fertig." Jean war endlich mit dem Ergebnis seiner Bemühungen zufrieden und betrachtete sich im Spiegel. Anschließend nahm er eine schwarze Lederjacke vom Bett und zog sie über. Auf dem Weg zur Tür schnappte er sich noch einen Werkzeuggürtel und warf ihn sich über die Schulter.

Die beiden gingen hinunter in die Eingangshalle, wo schon ein braunhaariger Mann mit zwei großen Koffern auf sie wartete.

"Hallo, Jaq", grüßte Michail und stellte vor: "Jean, dies ist Jaq, mein Verwalter. Jean LeCartres."

Jean rümpfte die Nase. Dieser Jaq sah zwar nicht schlecht aus, aber er verströmte einen recht penetranten Körpergeruch, der ihn als Werwolf verriet. Und Jean konnte Hunde und ihre entfernten Verwandten nicht sonderlich ausstehen.

Jeans Getue ignorierend erkundigte sich Michail: "Gute Fahrt gehabt?"

"Ja. Seit der Abschaffung der Kontrollen ist die Grenze kein Problem mehr." Jaq legte einen Koffer zu Boden und ließ die Schlösser aufschnappen.

"Sehr schön", kommentierte Michail die Schußwaffensammlung. Er nahm eine Pistole heraus und steckte sie im Rücken in den Hosenbund, während er Jean erklärte: "Jaq und ich sind alte Freunde, und wir haben schon öfter zusammen gekämpft."

"Das kannst du halten, wie du willst", meinte Jean nur, schließlich gingen ihn Michails Freunde nichts an.

Inzwischen hatte Jaq den anderen Koffer geöffnet und reichte Vladescu zwei unterarmlange Holzpflöcke, die Michail in die Ärmel seiner Jacke steckte, ein langes, schmales Messer und ein Schwert.

"Wir nehmen am besten den Wagen", schlug der Karpate vor. "Gestern abend rief übrigens Florine an: Sie wird sich uns anschließen."

"Hältst du das für klug?" fragte Jean. "Ich meine, Florine mitzunehmen. Mit dem Auto fahr ich gerne mit."

"Sie wird beim Wagen warten, falls wir die Kavallerie brauchen." Michail zwinkerte ihm verschwörerisch zu. "Auf geht’s."

Sie verstauten die Koffer im Kofferraum des BMW und fuhren los. Unterwegs sammelten sie die Französin ein, die schon auf sie gewartet hatte, und kurz darauf erreichten sie den Stadtrand. Jean lotste Jaq durch einige schmale Gassen, bis er ihn schließlich in einer Nebenstraße anhalten ließ.

"Der Treffpunkt ist gleich in der Nähe", sagte er und stieg aus.

"Gut." Michail folgte ihm auf die Straße, und während Jaq in Richtung Rue des Pleupliers weiterfuhr, schlang er sein Schwert über den Rücken. Sie hatten verabredet, daß der Werwolf in der Nähe des Hospitals parkte und mit Florine das Gelände im Auge behielt, um im Notfall eingreifen zu können.

Jean führte Michail um einige Ecken, bis er schließlich an einem Kanaldeckel stehen blieb. Aufmerksam betrachtete er die Umgebung, doch es war alles still. "Könntest du mal?" Er nickte zu dem Kanaldeckel hin.

"Dafür brauchst du Hilfe?" Michail schob den Deckel zur Seite.

"Ich mach mich nur nicht gerne schmutzig", grinste Jean und spähte in den Kanal. "Ganz schön finster da unten."

"Nach dir." Michail machte eine einladende Handbewegung.

Grummelnd stieg Jean die Leiter hinunter und wich zur Seite, damit Michail ihm folgen konnte, sobald er den Deckel wieder an seinen Platz geschoben hatte.

"Wir müssen hier lang", erklärte Jean und wies mit einer Taschenlampe, die er aus seinem Werkzeuggürtel gezogen hatte, in die angegebene Richtung. Zum Glück war der Kanal so hoch, daß sie aufrecht gehen konnten, aber es gab keine Möglichkeit, trockenen Fußes voranzukommen.

Nach einigen Metern blieb Jean stehen. "Hier ist der Treffpunkt." Er sah sich suchend um, konnte aber niemanden entdecken. Er haßte es, in den stinkenden Kanälen herumzulaufen, und wollte die Sache so schnell wie möglich hinter sich bringen. Plötzlich war ein leises Scharren zu hören, er wirbelte herum und entdeckte kaum drei Meter von ihm entfernt eine vermummte Gestalt.

"Ich bin’s nur", ertönte schüchtern eine vertraute Stimme.

"Verflucht", knurrte Jean, da er in eine tiefe Pfütze getreten war.

"Ich bringe euch zum Ort der Leidenden", erklärte Isi eifrig und schaute Michail auffordernd an.

"Dann geh voraus, Easy", befahl dieser, und Isi watschelte los. Es war erstaunlich, daß sie dabei kaum ein Geräusch verursachte. Sie schien auch kein Licht zu brauchen, so sicher fand sie ihren Weg, während Michail und Jean Mühe hatten, ihr zu folgen.

Isi führte sie durch ein Gewirr von Kanälen, die zum Schluß so eng wurden, daß sie auf Knien durchkriechen mußten. Jean tat seine Meinung zu diesen Aktionen deutlich kund, was Michail trotz seiner inneren Anspannung ein amüsiertes Lächeln entlockte.

Schließlich blieb Isi stehen und wies nach oben. "Wir sind da. Das ist ein Ausgang im Park des Hauses. Die näher heranführenden Kanäle sind alle zu eng für euch."

"Wurde aber auch Zeit", klagte Jean. "Ich brauche dringend frische Luft."

"Ich werde hier in der Nähe warten, falls ihr diesen Weg zurückgehen wollt", erklärte Isi, und schon war sie wieder in der Dunkelheit verschwunden.

Jean kletterte die wenigen Sprossen in der Wand hoch und schob den Kanaldeckel beiseite.

"Du kannst es also doch", neckte ihn Michail.

"Jetzt ist es auch egal, ich bin von oben bis unten verdreckt und naß." Blitzschnell kletterte Jean aus dem Kanal und duckte sich sogleich in den Busch, der sich neben dem Zugang befand. Als Michail neben ihm auftauchte, flüsterte er: "Alles klar. Wir können."

Geduckt schlich er in Richtung Haupthaus, als ihn lautes Bellen aufschreckte. Für den Bruchteil einer Sekunde war er wie erstarrt. Panik erfaßte ihn, und sein Instinkt riet ihm zur Flucht. Er wirbelte herum, da packte ihn Michail, und sie schossen über den Rasen auf das Gebäude zu. Ehe Jean sich versah, befand er sich im vierten Stock, dicht unter dem Dach. Hinter sich spürte er den Karpaten, der ihn fest um die Hüfte gepackt hielt.

"Blöde Tölen", murrte Vladescu. Er bemerkte, daß Jean immer noch reglos in seinem Griff hing, und schwebte ein Stück zur Seite und tiefer, so daß sie genau vor einem Fenster auskamen. "Nun mach schon auf", flüsterte er LeCartres ins Ohr.

Er spürte, wie Jeans Füße Halt auf dem schmalen Ziersims fanden, und wandte den Kopf, so daß er die Rasenfläche überschauen konnte. Erleichtert beobachtete er, wie - dank Isis Eingreifen - der Abflußdeckel sich scheinbar von Geisterhand schloß und die beiden Dobermänner erfolglos nach den Eindringlingen suchten.

Inzwischen hatte Jean das richtige Werkzeug aus seinem Gürtel gezogen und mit dem Geschick jahrelanger Erfahrung die Alarmanlage abgeschaltet. Er öffnete die Verriegelung, schob vorsichtig das Fenster hoch und sich selbst durch die schmale Öffnung in den Raum, der durch eine nahe Laterne schwach erhellt wurde.

Mit leisen Schritten durchquerte er das leere Zimmer, um an der Tür zu lauschen, und als er nichts hören konnte, drehte er sich fragend nach Michail um. "Wo bleibst du denn? Komm schon rein."

Na, endlich, dachte Michail und kletterte in den Raum. "Bin ja schon da."

Jean verschloß das Fenster und aktivierte wieder die Alarmanlage, damit die sicherlich vorhandenen Wächter nichts auffälliges auf ihren Kontrollrunden entdeckten.

"Ich hoffe, wir finden überhaupt etwas", wisperte er Michail zu, als er an ihm vorbeischlich. Er öffnete die Tür einen kleinen Spalt und spähte aufmerksam hindurch, bevor er in den dahinterliegenden Flur trat. Am anderen Ende des Korridors fiel silbernes Mondlicht durch ein Fenster und erhellte den Gang gerade genug, so daß er seine Taschenlampe nicht brauchte.

"Welche sollen wir nehmen?" fragte Jean mit leicht fatalistischem Unterton in der Stimme und deutete auf die vielen Türen, die von dem Korridor abzweigten.

"Wie wäre es mit der da?" Michail wies auf die nächstgelegene.

Jean drückte vorsichtig die Klinke herunter und spähte in den Raum. "Das ist nur eine leere Kammer", informierte er Michail und zog die Türe wieder zu.

Dieser Vorgang wiederholte sich noch ein paar Mal, und während Jeans Mißvergnügen wuchs, fragte sich der Karpate spöttisch, ob sie es schaffen würden, noch vor Sonnenaufgang das nächste Stockwerk zu erreichen.

Als sie das Ende des Korridors erreichten, meinte Jean frustriert: "Ich frage mich langsam, ob das Ganze hier nicht eine besondere Art der Einbruchssicherung ist. Die lassen einen solange nutzlose Türen öffnen, bis man durchdreht oder genervt wieder abhaut."

"Es sind ja nur noch zwei da", tröstete ihn Michail.

"Bringen wir es hinter uns." Ergeben griff Jean nach der Klinke. "Oh, die ist ja verschlossen", stellte er erfreut fest und machte sich daran, das Schloß zu knacken.

In seinem Rücken lächelte Michail, während er weiterhin den Gang observierte. Ohne in seiner Wachsamkeit nachzulassen, hatte er bemerkt, wie Jeans anfängliche Begeisterung geschwunden war, als sie ein leeres Zimmer nach dem anderen entdeckt hatten, doch nun schien der Franzose wieder hochmotiviert. Die Tür schwang auf, und Jean warf einen Blick hindurch.

"Laß mich raten: ein weiterer nicht benutzter Raum?" vermutete Michail.

"Nein." LeCartres öffnete die Tür, so daß der Karpate hindurchsehen konnte: Sie hatten das Treppenhaus gefunden.

"Sollen wir nach unten gehen?"

Michail überlegte. Das Gebäude war einst ein Château gewesen, und die niedrige Decke und die winzigen Räume sprachen dafür, daß hier früher das Personal untergebracht gewesen war. Also war die Treppe ein Dienstbotenaufgang, der vielleicht bis in den Keller führte. Die jetzigen Bewohner würden wahrscheinlich das andere, das ‘offizielle’ Treppenhaus benutzen.

"Ja. Aber leise."

Sie schlichen die schmale Stiege hinunter, und Michail fand seine Überlegung bestätigt. In den oberen Stockwerken führte jeweils eine Tür aus dem Treppenhaus heraus, und im Erdgeschoß gab es einen offenen Durchgang.

Jean, der vorne ging, entdeckte als erster die Öffnung und preßte sich gegen die Wand, während er vorsichtig in den dahinterliegenden Raum spähte. Es war tatsächlich die Küche, und das leise Summen des Kühlschranks verriet ihm, daß sie noch benutzt wurde. Plötzlich hörte er Schritte die Treppe aus dem Keller heraufkommen, und lautlos zog er sich zurück.

Schwacher Lichtschein tanzte über die Stufen, und gewohnheitsmäßig sammelte Jean die Dunkelheit um sich, wurde eins mit dem Schatten der Nacht. Er ging zwei Stufen höher, prallte gegen Vladescu und verzog das Gesicht. Warum war er bloß nicht auf die andere Seite ausgewichen?

Als Michail spürte, wie sich Jean bei ihrem Kontakt versteifte, verharrte er reglos, damit der Franzose nicht auf die dumme Idee kam, sich jetzt noch ein anderes Versteck zu suchen.

Aber Jeans Aufmerksamkeit war schon wieder auf die Treppe gerichtet. Immer mehr Licht fiel die Stufen hinauf, und die Schritte klangen jetzt lauter. Es waren mindestens drei Leute, schätzte er.

Die drei gingen in die Küche, und ein kratzige Männerstimme sagte: "Ich bringe das Zeug ins Labor, und ihr zwei macht noch mal einen Kontrollgang. Ich glaube nicht, daß die Hunde grundlos angeschlagen haben."

"Ja, Boß. Sind schon unterwegs", antwortete einer der beiden anderen. Die drei verließen die Küche, es wurde still und dunkel.

"Die kamen aus dem Keller", flüsterte Jean. "Da unten muß irgendwas sein."

"Umgekippter Wein?" witzelte Michail ebenso leise, doch sofort wurde er wieder ernst. Oder mein Spiegelbild, ergänzte er in Gedanken, während er in besorgter Erwartung LeCartres die Treppe hinab folgte.

Nur wenige Schritte unterhalb der Küche wurde die Luft kühl und feucht, und wie erwartet endeten die Stufen im Keller. Links und rechts führte je ein Gang ins Dunkle, und LeCartres sah sich kurz um. Noch während er seine Taschenlampe zückte und anschaltete, erinnerte er sich, daß rechts ein neu eingebauter Lastenaufzug lag, während die Kellerräume von dem anderen Gang abzweigten.

Er leuchtete nach links, wo der Korridor nach wenigen Metern an einer Tür endete. Sofort öffnete Jean diese, denn den Unterlagen zufolge war das gesamte Hospital unterkellert und nicht nur das relativ kurze Stück, das sie sehen konnten. Hinter der Tür entdeckte er einen kleinen, rechteckigen Raum, der im Gebäudeplan nicht eingezeichnet gewesen war.

"Hier drin muß es einen Geheimgang geben", raunte er Michail zu und begann, die Wände des Kellers zu untersuchen, während Vladescu die Treppe und den Lastenfahrstuhl im Auge behielt.

Nach einiger Zeit gab Jean auf. "Ich finde weder einen Spalt noch einen Mechanismus zum Öffnen. Aber vielleicht ist der auch gar nicht hier, sondern an einer anderen Stelle. Eine Fernbedienung könnte ebenfalls funktionieren."

"Sesam, öffne dich", scherzte Michail.

Jean ging nicht darauf ein, sondern an Vladescu vorbei zum Aufzug. "Eine Verbindung mit dem Fahrstuhl wäre auch möglich." Er dachte nach. "Hm, wir sind im Keller, richtig?"

"Ja", antwortete Michail gedehnt. So vergeßlich konnte Jean doch nicht sein, daß ihm dieser Umstand entfallen war.

"Wozu hat der Aufzug dann Anforderungsknöpfe für oben und unten?"

Der Punkt geht an ihn, dachte Michail. "Worauf willst du hinaus?"

"Ich habe schon mal einen Mechanismus für eine Geheimtür gesehen, die so aktiviert wurde. Ein wahnsinniger Vampir namens Prak hatte damit seine Zuflucht gesichert."

"Glaubst du, der hat hier seine Finger drin?"

"Weniger. Das ist vor zwei Jahren in Deutschland passiert, und seitdem hat man nie wieder was von ihm gehört. Aber wenn einer auf so eine Idee kommt, warum nicht auch ein anderer?"

Jean zog ein Prüfgerät aus seinem Werkzeuggürtel und tastete damit die Wand ab. "Hier laufen Kabel entlang… Interessant." Er tauschte das Prüfgerät gegen einen Schraubenzieher, um die Schalttafel zu öffnen. "Behalte du mal alles im Auge, und ich sehe nach, was sich hier verbirgt."

"Okay." Michail verbiß sich einen Kommentar. Immerhin hatte er schon die ganze Zeit über aufgepaßt, während der französische Einbrecherkönig seinen Job machte. Aber Jean war als Einzelgänger bekannt, also mußte es für ihn ungewohnt sein, daß ein anderer Schmiere stand.

Jean öffnete die Schalttafel und förderte einen ganzen Wust Kabel zu Tage. "Das sind auf jeden Fall zu viele Leitungen für die Anforderungsknöpfe. Falls einige davon zur Alarmanlage gehören, stehen wir aber ziemlich blöd da."

"Kannst du das nicht herausfinden?"

"Ich bin zwar gut, aber nicht allwissend." Verärgert betrachtete Jean den Kabelsalat. "Am besten probieren wir einfach mal, was passiert, wenn wir auf die Knöpfe drücken."

"Naja, mehr als den Alarm auslösen können wir ja nicht."

"Wenn du es sagst." Jean war sich da nicht so sicher, verschloß die Schalttafel jedoch wieder. "So, fertig. Ich drücke mal, und du guckst, ob sich was tut." Er probierte die Knöpfe aus. Der Nach-oben-Knopf würde sicherlich den Fahrstuhl rufen, also ließ er diese Möglichkeit gleich weg. Doch auch der Nach-Unten-Knopf oder beide zusammen gedrückt bewirkten nichts.

"Hm", meinte Jean nachdenklich. "Ich bin mir aber sicher, es hat irgendwas hiermit zu tun. Dann eben auf die harte Tour." Er zog die Kabel wieder heraus und begann, sie systematisch miteinander zu verbinden.

Schließlich wurde ein Versuch von Erfolg gekrönt. "Ich glaube, da hat sich was bewegt", meldete Michail aus dem Kellerraum. "Aber viel erkennen kann ich nicht."

Der Franzose trat neben ihn und leuchtete die Stirnwand ab. Als der Strahl über die Fläche glitt, verriet ein dunkler, schmaler Streifen eine geschickt getarnte Öffnung. Michail drückte gegen die Wand, die gehorsam zurückschwang, und wie im Gebäudeplan verzeichnet, führte dahinter der Kellergang weiter.

Der Karpate schnüffelte. "Riech mal."

Jean folgte der Aufforderung. "Riecht modrig und muffig. Wie ein schlecht belüfteter Keller."

"Aber da ist noch was anderes…" Michail runzelte die Stirn. "Kommt mir irgendwie bekannt vor. Nun, wir werden es herausfinden." Sie traten in den Gang hinein.

"Auf alle Fälle sind wir hier richtig." Jean wandte sich den Türen zu, die rechts und links von Korridor abzweigten. Die eine war aus massiv wirkendem Stahl und mit schweren Riegeln gesichert, die andere aus Holz und unverschlossen, wie er sofort herausfand. Dahinter lag ein Lagerraum, der leer war bis auf ein Schweißgerät.

"Das ist es", erkannte Michail, der ihm über die Schulter schaute. "Schweißerarbeiten. Genauso riecht es auch in Florines Werkstatt." Plötzlich war er unsicher, ob sie die Stahltür überhaupt aufmachen sollten. Wer wußte schon, was dahinter gefangen gehalten wurde. Vielleicht öffneten sie die Büchse der Pandora.

Doch er hatte die Rechnung ohne Jean gemacht, der sich schon der Stahltür zugewandt hatte. In Sekundenschnelle hatte er das Schloß geknackt und leuchtete nun in den Raum.

"Sieh dir das an", zischte er auf höchste angespannt, und Michail eilte an seine Seite. In der Mitte des Raumes stand ein metallener Sarkophag, der mit breiten Stahlbändern gesichert war.

"Sagte Navarro nicht, daß sich hier ein paar herrenlose Ghoule herumtreiben?" erinnerte sich Michail. Fast automatisch rutschte einer seiner Holzpflöcke in seine Hand.

"Und du meinst, die haben ihren Herrn hier festgesetzt?" Vorsichtig schlich Jean in den Raum hinein. Die Schnittstelle zwischen den beiden Sarkophaghälften war zusammengeschweißt worden, ebenso die Stahlbänder, aber es gab drei Klappen in dem Ding: eine, wo der Kopf drunter lag, eine über dem Herzen und eine am rechten Unterschenkel.

"Sieht ganz so aus."

"Ich würde gerne wissen, wer hier drin liegt", murmelte Jean nachdenklich, und ehe Michail Einspruch erheben konnte, schob er die kleine Klappe am Kopfende auf. In dem Sarkophag lag tatsächlich eine reglose, bleiche Gestalt: "Torbenson", erkannte er ihn.

"Der Bildhauer?" Michail schob die Brustklappe auf, und es überraschte ihn nicht, als er den Holzpflock im Herz des Vampirs entdeckte. Der Schwede lag also im Torpor, ein Zustand, der mit dem Koma der Menschen zu vergleichen war.

"Aber was soll das ganze?" wunderte sich Jean. Auf der Suche nach einer Antwort öffnete er die dritte Klappe, aber außer einem blassen, mageren Unterschenkel, der mit hellen Härchen bedeckt war, fand er nichts.

"Keine Ahnung", gestand Michail. "Aber zumindest haben wir Torbenson gefunden - und er ist bestimmt nicht freiwillig hier." Er untersuchte den Sarkophag. "Aber so einfach kriegen wir ihn nicht heraus. Das muß aufgeschweißt werden." Rasch überschlug er ihre Möglichkeiten. Torbenson zu befreien würde eine Weile dauern und auch Lärm machen. Vielleicht sollten sie zu einem späteren Zeitpunkt einen organisierten Großangriff starten.

"Und nun?" fragte Jean etwas unsicher. Er war zwar stinksauer, daß hier jemand Vampire zu einer Art Konserve verarbeitete, aber wie sollten sie ihnen helfen, ohne selbst zu sehr in Gefahr zu geraten?

"Was schlägst du vor?" erkundigte sich Michail in einem plötzlichen Anfall von Rücksichtnahme. Jean hatte herkommen wollen, also konnte der Franzose auch entscheiden, wie sie weiter vorgehen sollten.

"Wir sollten uns erst noch weiter umsehen und später vielleicht mit Verstärkung wiederkommen. Ich denke, es hat gar keinen Sinn, Torbenson jetzt zu befreien. Ihm wird so schnell nichts passieren in seiner Dose, aber uns, wenn wir nicht verdammt vorsichtig sind."

Michails Lippen zuckten verdächtig. An seine eigene Sicherheit hatte er noch gar nicht gedacht - und er mußte herausfinden, was es mit seinem Spiegelbild, das er angeblich hier wiederfinden sollte, auf sich hatte. Außerdem hatte Jean recht, was Torbenson betraf. "Gut, da sind ja noch ein paar Türen, die dich interessieren dürften."

Der Franzose lächelte bloß, und kaum daß er Torbensons Gefängnis wieder verschlossen hatte, stand er schon vor der nächsten Stahltür und knackte das Schloß.

"Hier ist auch so ein Sarkophag", informierte er Michail und spähte sogleich in die stählerne Kiste. "Das hier ist vermutlich die Spanierin, sie sieht jedenfalls südländisch aus."

"Fehlt noch dieser Pianist."

Jean schloß die Tür wieder und deutete auf die nächste, die diesmal aus Holz war. "Der wird vielleicht hier drin sein." Er machte das Schloß auf und leuchtete in den dahinter liegenden Raum. Auf dem Boden war ein Pentagramm aufgemalt, und deutliche Spuren von Blut waren zu erkennen. "Hier hat jemand ein Blutmagie-Ritual abgehalten. Vor ein oder zwei Tagen."

"Zu welchem Zweck?" Michail bewegte die Schultern, um die plötzlich verspannten Muskeln zu locken. Er mochte keine Magie, und Blutmagie noch viel weniger; beides war das Werk des Teufels, das er mied, soweit es ging. Jeans Vorführung auf dem Friedhof hatte er ja noch als einen Taschenspielertrick abtun können, aber das hier ging zu weit.

Jean betrat den Raum, sorgsam bemüht, keinesfalls auf oder in das Pentagramm zu treten. Er kratzte ein bißchen von dem getrockneten Blut von der Erde und probierte etwas davon, um es sofort angewidert auszuspucken. "Wir haben soeben Nägeli gefunden. Oder eher das, was von ihm übriggeblieben ist." Er verließ schnellstens den Raum.

"Bist du dir sicher?"

"Natürlich", fauchte er Michail an. "Wenn ich den Verantwortlichen in die Finger kriege - er wird um sein Ende betteln!" Er ballte die Fäuste. "Wir müssen zurück. Wenn mich nicht alles täuscht, werden wir sie oben finden." Er drehte sich um und rannte den Gang hinunter.

Von Jeans heftiger Reaktion überrascht sah Michail ihm nach. Was hat den denn gebissen? Doch das würde er nur erfahren, wenn er ihm folgte. Sofort eilte er ihm hinterher, doch LeCartres entwickelte eine unerwartete Schnelligkeit, so daß er ihn erst in der Küche einholte, wo der Franzose mit steinernem Gesicht über der entstellten Leiche eines Mannes wartete.

"Ich wollte nicht, daß er schreit", erklärte Jean, als er Vladescus befremdeten Blick bemerkte.

Michail korrigierte seine Meinung über den angeblich ach so wehrlosen Narzißten. Aus ihrem kleinen Abenteuer war soeben Ernst geworden - blutiger Ernst, nach LeCartres’ Gesichtsausdruck und dem Zustand der Leiche zu urteilen. Der Mann sah aus, als hätte ihn ein Flammenwerfer erwischt.

Jean schob die Leiche mit dem Fuß zur Seite und schloß den Kühlschrank, aus dem der Mann gerade etwas hatte nehmen wollen. Er bückte sich und untersuchte sein Opfer. "Ein Ghoul."

"Okay. Ab jetzt läuft die Zeit. Früher oder später wird man ihn vermissen und ihn suchen."

"Dann wird es zu spät sein." Jean wollte sich in Bewegung setzen, doch Michail erwischte ihn gerade noch am Ärmel.

"Warte!" befahl er. "Wir können ihn nicht so einfach liegen lassen." Er packte den Toten und warf ihn sich über die Schulter. Nachdem er sich kurz orientiert hatte, verließ er zielstrebig die Küche und trat in den kleinen Flur, in dem sich der Lastenfahrstuhl befand. Mit Leichtigkeit stemmte er die Türen auf und ließ die Leiche in die Tiefe gleiten. Ein dumpfer Aufprall verriet ihm, daß der Schacht noch zwei Geschosse tiefer reichte, und er verzog das Gesicht. Hoffentlich hatte niemand das Geräusch gehört.

Und wenn schon: der Kampf hatte begonnen. Er zog sein Handy hervor und rief Jaq an. Knapp informierte er ihn über die Lage und hieß ihn, sich für einen Angriff bereitzuhalten, bevor er in die Küche zu LeCartres zurückging.

Jean hatte sich gegen die kühle Wand gelehnt und versuchte, über seinen inneren Aufruhr Herr zu werden. Die Art, wie er den Ghoul getötet hatte, machte ihn fast krank, aber er brauchte jetzt einen klaren Kopf. Später konnte er darüber noch genug nachdenken.

"Die drei aus dem Keller", sagte Michail leise, "zwei von ihnen machen einen Kontrollgang, der dritte wollte was ins Labor bringen."

"Da sollten wir dort hingehen." Jean übernahm wieder die Führung. Aus den Plänen wußte er, wo damals im Hospital das Laboratorium gelegen hatte, und es war anzunehmen, daß die Räume immer noch diesem Zweck dienten.

Dicht hinter ihm bleibend zog Michail seine Pistole und schraubte den Schalldämpfer auf. Noch besaßen sie das Überraschungsmoment, und das wollte er nicht leichtfertig verlieren.

Ohne entdeckt zu werden schlichen sie durch das Gebäude, und schließlich erreichten sie den Hauptflur im zweiten Stock. Jean wies auf eine Doppeltür mit der Aufschrift Labor, unter der Licht hervordrang.

Der Franzose setzte zum Sprechen an, doch Michail winkte ihm zu schweigen. Er preßte das Ohr gegen die Tür und lauschte, ehe er LeCartres fast unhörbar zuflüsterte: "Mindestens zwei." Er hob seine Pistole, und sein Grinsen entblößte die Fangzähne, die in den letzten Sekunden zum Vorschein gekommen waren. "Wer wieder aufsteht, ist ein Vampir. Noch Fragen?"

"Ihr Anführer gehört mir", verlangte Jean.

"Okay." In einer fließenden Bewegung fuhr Michail herum und trat die Tür auf. Schneller als das menschliche Auge zu folgen vermochte, war er im Labor und schoß auf die Anwesenden.

Drei Personen gingen getroffen zu Boden. Ein rascher Blick zeigte ihm, daß niemand mehr stand, aber ein Wimmern verriet, daß nicht alle Schüsse tödlich gewesen waren. Die Waffe immer noch im Anschlag, trat er tiefer in den Raum.

Hinter ihm untersuchte Jean die Frau, die der Tür am nächsten lag. "Ein toter Ghoul", meldete er, bevor er zu dem Mann hinüber ging, der sich jammernd auf dem Boden wand. "Der hier auch, nur weiß er es noch nicht." Jean zog einen seiner versteckten Dolche und stieß ihn dem Ghoul ins Herz. "Was ist mit dem anderen?"

Michail umrundete vorsichtig den Labortisch, dessen Unterschränke die dritte Person verdeckten. Der Mann, der sich dahinter gerade erhob, sah aus wie das Abziehbild eines zerstreuten Schullehrers. Seine Wunden schlossen sich bereits wieder, und noch während der Vampir seine blutverschmierte Kleidung richtete, schaute er Michail an.

"Du?" Er starrte ihn entgeistert an. "Unmöglich! Du kannst nicht auf mich schießen."

"Falsch!" Michail wollte feuern, doch der Mann war schneller. Er vollführte eine winzige Geste, und Vladescu wurde von einer unsichtbaren Kraft gegen die Wand geschleudert. Die Wucht des Aufpralls ließ seine Knochen bersten, er verlor das Bewußtsein, und leblos wie ein Sack Reis rutschte er zu Boden.

Jean fühlte Entsetzen. Er erkannte den Magier: "Thomas Prak!"

Sofort schickte ihm Prak ebenfalls einen Kraftstoß entgegen. LeCartres schaffte es gerade noch, sich zur Seite zu drehen, so daß der Schlag ihn nur streifte. Doch selbst das war genug, um ihm einige Knochen zu brechen. Jean stöhnte gequält auf. Er wußte, er hatte keine Chance gegen den Blutmagier, zu sehr widerstrebte es ihm, seine Magie ernsthaft einzusetzen. Er war fest davon überzeugt, die Anwendung von Magie raube einem Vampir seine geistige Gesundheit - sein eigener Erzeuger und Prak waren die besten Beispiele dafür.

Halbherzig schleuderte er Prak einen Feuerball entgegen, doch ohne die geringste Mühe wehrte der Blutmagier diesen ab, und der Zauber verpuffte wirkungslos.

"Ist das alles, was du kannst?" höhnte der Wiener. "Mit diesen Lächerlichkeiten kannst du mich nicht besiegen."

Verdammt, wo blieb nur Michail? schoß es Jean durch den Kopf. Er wagte einen blitzschnellen Blick und mußte feststellen, daß der Karpate immer noch reglos am Boden lag.

Prak bemerkte seine Geste und lächelte höhnisch: "Du magst vielleicht das Blutband gebrochen haben, der Teufel weiß wie, aber so schnell wird unser hübsches Spielzeug nicht wieder auf die Beine kommen. Dazu ist es viel zu schwach."

Jean hörte nicht auf Praks Geschwätz, sondern nutzte die Zeit, um einen zweiten Feuerball zu zaubern, doch wieder ohne Erfolg. Den Ghoul in der Küche zu töten, hatte ihn einen großen Teil seiner Kraft gekostet, und inzwischen waren seine Energien fast erschöpft. Verzweifelt suchte er nach einer anderen Möglichkeit, doch Prak hinderte ihn daran.

"Aber jetzt ist Schluß", erklärte der Wiener plötzlich, und eine unwiderstehliche Kraft packte Jean, drückte ihn zu Boden, hielt ihn fest. Eisige Kälte fraß sich in seinen Körper, lähmte ihn schier.

"Ich hasse Verschwendung", fuhr Prak fort, "also nehme ich dir erst dein Blut, bevor ich dich töten werde." Von einem Beistelltisch nahm er einen merkwürdig geformten Dolch und ein Gefäß und kniete sich auf Jeans Brust. "So wirst du wenigstens einmal zu etwas nütze sein." [Prak kann eigentlich Jeans Namen nicht wissen, er hat ihn nie gesehen.]

Jean schaute ihn entsetzt an, doch dann fiel sein Blick hinter den Blutmagier, wo sich Michail wie in Zeitlupe erhob. Die Schatten des Raumes sammelten sich um den Karpaten und hüllten ihn ein wie die Schwingen eines Drachens.

Prak schien etwas gehört zu haben und wollte sich umdrehen, doch Jean wimmerte: "Bitte nicht… Ich…"

"Halt’s Maul." Prak sah ihn verächtlich an und setzte ihm den Dolch an die Kehle. Jean erstarrte, als ob er sich vor der Klinge fürchtete. Und blitzschnell kniff er die Augen zusammen, um nicht von dem Blut geblendet zu werden, das plötzlich aus Praks Halsschlagader schoß. Der Kopf des Magiers fiel zu Boden und sein Körper zur Seite. Jean schaute auf und grinste erleichtert Michail an, der über Praks sterblichen Resten stand, sich schwer auf sein Schwert stützend.

"Hier", Vladescu zog einen Holzpflock aus dem Ärmel und warf ihn Jean zu. Der fing ihn auf, trieb ihn in Praks Herz, und schweigend sahen die beiden Männer zu, wie der Körper des Blutmagiers langsam zu Staub zerfiel.

"Niemand…", brachte der Karpate zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, "nennt… mich… ein Spielzeug." Seine Augen brannten, und die langen Reißzähnen funkelten Jean gefährlich an. Der Franzose ahnte, daß Michail am Rande der Raserei stand, daß sein Körper nach Blut schrie, um die Wunden zu heilen, die ihm Praks Kraftstoß zugefügt hatte.

Die eigenen schmerzenden Knochen ignorierend stand er auf und suchte nach etwas Trinkbarem, doch das einzige, was er fand, war ein Beutel Blut, den die Ghoule wohl von Torbenson oder Feliciana abgezapft hatten und den er Vladescu reichte.

Ohne nach dem Vorher oder Warum zu fragen, schlug der Karpate die Fänge in den Beutel und schluckte gierig. Das kalte Blut drehte ihm fast den Magen rum, aber er spürte, wie es in seine Glieder strömte und die Heilung seiner Wunden beschleunigte. Mit seiner Gesundheit kehrte auch sein Galgenhumor wieder zurück, und er zog Jean auf: "Du siehst grauenhaft aus."

Der Franzose ächzte gequält auf, als er an sich herabblickte. Seine Kleidung war ja völlig ruiniert. "Laß uns hier verschwinden", murrte er. Am liebsten wollte er sich umziehen, aber dazu war jetzt wohl keine Zeit. Noch waren sie hier nicht fertig.

"Nicht so hastig." Ein Stöhnen unterdrückend lehnte sich Michail gegen ein Tisch. Er war immer noch ziemlich angeschlagen, und außerdem hatte er jetzt ein paar Fragen, die er geklärt haben wollte. "Dieser… Prak. Ist er ein Einzelgänger, oder müssen wir jetzt mit einer Horde Kinder und Kindeskinder rechnen?"

"Nein, er war ein Einzelgänger", sagte Jean. Wenn Michail im Labor ein Schwätzchen halten wollte, konnte er sich ja derweil umsehen. Er ging zu der zweiten Tür in dem Labor und entdeckte dahinter ein Arbeitszimmer. "Außer seinen Ghoulen wird niemand hier sein."

"Du vergißt die Hunde." Michail ignorierte LeCartres’ abfälliges Schnauben und zog sein Handy aus dem Gürtel, um Jaq anzurufen. Doch das Gerät hatte den Angriff des Magiers nicht überlebt. "Scheiße", kommentierte er. "Aber egal." Er wandte sich an LeCartres. "Woher kennst du eigentlich Prak?"

"Persönlich kannte ich ihn eigentlich gar nicht", erklärte Jean, während er in den Schränken stöberte, "ich habe bloß von ihm gehört, als ich in Deutschland war. Er hat ein paar von uns durch seine Blutmagie getötet und versucht, so einen Krieg zwischen zwei Städten anzuzetteln. Er hoffte wohl, die Parteien würden sich gegenseitig vernichten, um so den Platz für ihn freizumachen. Aber seine Pläne wurden durchkreuzt und eine Blutjagd auf ihn ausgerufen." Plötzlich merkte er auf. Täuschte er sich oder hatte sich die Doppeltür ein winziges Stück bewegt? Nach ihrem Überraschungsauftritt war sie wieder zugefallen, aber sie war nicht verschlossen…

Er deutete zum Ausgang, und Michail packte sein Schwert. In der nächsten Sekunde war der Karpate an der Tür und riß sie auf. Dahinter stand einer von Praks Schergen, Michail hob das Schwert - doch mitten in der Bewegung erstarrte er. Fassungslos blickte er sein Gegenüber an. Nein, das konnte nicht sein. Unmöglich! Er hatte das Gefühl, als griffe die Vergangenheit nach ihm, als wären die letzten fünf Jahrhunderte wie fortgewischt und er stünde wieder als junger Mann in einer zugigen Burg. Unwillkürlich formten seine Lippen ein leises Wort: "Radu?"

Auch der andere erkannte ihn, und sein Gesicht, das so sehr Michails Antlitz glich, zeigte den gleichen Unglauben. "Michail?"

Der Karpate faßte sich als erster. Er packte den anderen, zog ihn ins Labor hinein, und nach einem raschen Blick den Gang hinunter schloß er die Tür.

"Na, da hast du dein Spiegelbild", meinte Jean erstaunt.

"Nein, nicht mein Spiegelbild." Michail schüttelte den Kopf. "Meinen Bruder." Er wandte sich an den Radu genannten. "Aber du bist tot, am Fieber gestorben", warf er ihm vor, und sein Blick bohrte sich drohend in den Mann, der ihm wie ein Zwilling glich.

Dieser senkte ergeben den Kopf. "Kein Fieber, ein Vampir."

"Das scheint uns im Blut zu liegen", sagte Michail verbittert. Tausend Fragen gingen ihm durch den Kopf. Welcher Vampir? Wie kam Radu hierher? Und warum hatte es ein halbes Jahrtausend gedauert, bis sie sich begegneten? Er wußte nicht, ob er dem anderen glauben sollte, war er wirklich sein Bruder? Er fühlte Mißtrauen, aber auch Freude darüber, Radu wiedergefunden zu haben. Ein zweite Chance… Energisch schob Michail diese Gedanken beiseite und brachte seine Gefühle unter die Herrschaft des Verstandes. Im Moment war keine Zeit für diese Sachen, er mußte erst das Haus sichern. Er wandte sich an Radu: "Okay, wie viele Ghoule hat Prak?"

"Monsieur Prak hat vier Ghoule", antwortete dieser. "Und Doktor Prees."

"Wer ist das?"

"Eine Magierin."

"Und wo ist sie jetzt?"

"Sie ist bei einer Schwarzen Messe. Sie ist gerade losgefahren."

"Mit einem Ghoul als Chauffeur?" fragte Michail.

Radu nickte bestätigend. "Sie kommt frühestens in drei Stunden zurück."

"Okay, damit sind wir erstmal sicher." Er winkte zu der Tür in der Seitenwand. "Gehen wir ins Arbeitszimmer, dort wird es gemütlicher sein."

Still folgte Jean ihm und Radu. Der Franzose fragte sich, welche Rolle Radu wohl in dem ganzen Spiel hatte. Und ob es auch wirklich Radu war? Michail schien da keine Zweifel zu haben. Aber er wirkte auf einmal so kalt, daß Jean sich fürchtete, Fragen zu stellen. Am besten wartete er erst einmal ab.

Im Arbeitszimmer blieb Radu mitten im Raum stehen, als erwarte er weitere Anweisungen.

"Setz dich", befahl Michail und lehnte sich an den Schreibtisch, während Radu sich in einem Sessel niederließ.

Jean suchte sich einen Platz mit dem Rücken zur Wand, so daß er beide Männer im Auge behalten konnte. Fasziniert sah er von einem zum anderen. Die Ähnlichkeit der Brüder war wirklich verblüffend, aber bei genauerer Betrachtung waren Unterschiede zu erkennen. Radu wirkte weitaus weicher und schwächer als Michail, und während Vladescu blutbespritztes, schwarzes Leder trug, war Radu in ein weites, weißes Hemd und eine enge, graue Jeans gekleidet, die die Schönheit seines Körpers betonten. Außerdem trug er ein kaum auffälliges Make-up, was Jean zu der Überzeugung kommen ließ, daß der Hübsche eher Prak oder Prees - oder beiden - zum Vergnügen gedient hatte, denn als Schläger oder Dienstbote.

"Okay", sagte Michail unvermittelt. "Also, Radu. Was ist mit dir geschehen, seit ich dich der Obhut der Klosters anvertraute? Pater Chesare schickte eine Nachricht, du seist an einem Fieber dahingesiecht…"

"Es war kein Fieber", begann Radu langsam, als suche er nach Worten, und den beiden anderen wurde klar, daß das Französische noch eine sehr fremde Sprache für ihn war. "Es war eine Vampirin. Eines Nachts nahm sie mein Blut und gab mir ihres zu trinken. Es war schrecklich." Radu zog die Beine an und schlang die Arme um die Knie. "Die Mönche bestatteten mich in der Krypta, und dann kam die Vampirin wieder, und sie… sie…" Radu schluckte, rang um Fassung und erst, nachdem er sich wieder im Griff hatte, fuhr er fort: "Sie hat mir einen Pflock ins Herz gerammt, und danach… ich weiß nicht, was geschah. Ich habe geschlafen und doch nicht geschlafen…"

"Wer war diese Vampirin?"

"Ich weiß es nicht."

"Und wie lange hat du… geschlafen?"

"Bis vor einem halben Jahr."

Michail krallte die Hände in die Tischplatte. Was mußte Radu für einen Schrecken erlebt haben, als er in diesen verrückten Zeiten aufgewacht war. Der Kulturschock mußte gewaltig gewesen sein - vorausgesetzt, seine unglaubliche Geschichte stimmte.

"Monsieur Prak und Dr. Prees haben mich gefunden und den Pflock herausgezogen. In den nächsten drei Nächten gab mir Monsieur Prak sein Blut zu trinken…" Radu brach ab, schüttelte unwillig den Kopf. "Anschließend haben sie mich hierher gebracht."

"Prak hat dich also blutgebunden", erklärte Michail und fügte einen sehr unfeinen Fluch hinzu. "Das erklärt seine Reaktion."

"Aber was ist nun mit Prees: Wie steht sie zu ihm?" fragte Jean, der endlich wissen wollte, was hier in diesem Hospital gespielt wurde.

"Ich weiß es nicht genau. Sie ist eine Magierin wie er, aber keine Vampirin. Sie dient ihm aus freiem Willen, und um sie bei Laune zu halten, hat er mich immer wieder zu ihr geschickt." Seine Stimme klang tonlos, als wäre er es gewohnt, so behandelt zu werden.

Jean erinnerte sich an Michails Erzählung über Radus Schicksal als Lustknabe des Sultans. Dieses Geschöpf schien einiges durchgemacht zu haben, wenn seine Geschichte wirklich stimmte. Jean empfand Mitleid mit Radu, er wußte ja selber, wie es war, wie ein Objekt behandelt zu werden. Diese Zeiten aber lagen hinter ihm, er war seinem Erschaffer entkommen und frei. Dennoch gab es immer noch Tage, an denen er aus Alpträumen erwachte, die ihn wieder in die Hände von de Sanquere geführt hatten… Aber das konnte auch alles ein Trick sein und dieser Typ eine geschickte Fälschung.

Jean schaute Michail an, der erschreckend still geworden war. In den dunklen Augen des Karpaten irrlichterte es, doch äußerlich schien er ruhig zu sein - bis das leise Knacken der Tischplatte unter seinen Händen das Ausmaß seiner Erregung verriet.

"Und was haben die beiden hier getrieben?" erkundigte sich Jean, und Radu berichtete, daß Dr. Prees seit einiger Zeit Schwarze Messen zelebrierte und dabei ihren Anhängern aufbereitetes Vampirblut verabreichte. Zum einen wollten Prak und sie neue Ghoule schaffen, und zum anderen sehen, wie das veränderte Blut auf die Menschen wirkte.

Kaum hatte er geendet, griff Michail nach dem Telefon auf dem Schreibtisch und rief Jaq an. Er teilte ihm mit, daß sich das Gebäude in ihrer Gewalt befand und daß er sich der Wachhunde im Garten annehmen sollte. Anschließend telefonierte er mit Navarro und hieß ihn, mit seinen Leuten und reichlich Blut für Feliciana und Torbenson herzukommen.

Als er den Hörer auf die Gabel legte, schreckte das Geräusch Jean aus seinen Überlegungen auf. Während der Telefonate war er nochmal die erhaltenen Informationen durchgegangen und ihm war eine Diskrepanz aufgefallen, die ihn fragen ließ: "Wie kam Radu eigentlich ins Kloster? Sagtest du nicht, er wäre beim Sultan gewesen?"

"War er auch", Michails Stimme klang erschreckend emotionslos, "bis ich davon erfuhr und ihn vom Sultan befreite."

"Und bist du dir sicher, daß das dein Bruder ist?" Michails Kopfschütteln verriet Jean, daß dem nicht so war, und so ging er zu Radu hinüber. Er ließ sich neben dem Sessel auf die Knie nieder. "Gib mir deine Hand", befahl er Radu, der prompt gehorchte.

Er drehte die Innenseite des Handgelenks nach oben und fuhr mit seinem Fingernagel darüber, so daß einige Tropfen Blut herausquollen. Instinktiv wollte Radu seine Hand zurückziehen, doch Jean hielt sie fest umklammert. Er tupfte seinen Zeigefinger in das Blut, um es dann abzulecken. Der Geschmack verriet ihm so einiges. Radu war alt, ungefähr so alt wie Michail, vermutete Jean, und er war tatsächlich erst kürzlich aus dem Torpor erwacht. Da war zwar noch mehr, doch Jean verlor seine Konzentration, als sich sein Magen bemerkbar machte. Er war hungrig, das Heilen seiner Verletzungen hatte eine Menge Blut gekostet, da sollte er eigentlich nicht versuchen, Magie anzuwenden.

"Sein Alter stimmt zumindest", erklärte er. "Auch was das lange Torpor angeht. Aber der Rest…" Er zuckte mit den Schultern.

Vladescu trat zu Radu und erklärte kurz etwas in Rumänisch. Radu biß sich auf die Lippen, und wieder konnte er seinem Bruder nicht ins Gesicht sehen, während er in der gleichen Sprache antwortete.

Als quäle ihn eine alte Erinnerung, verzog Michail kurz das Gesicht. Er streckte die Hand aus und streichelte Radu über die Wange. "Schon gut." Wieder ins Französische wechselnd wandte er sich an Jean. "Ich habe ihn etwas gefragt, das nur wir beide wissen können." Ein Lächeln stahl sich auf seine Züge. "Er ist es." Er zog Radu auf die Füße und umarmte ihn herzlich. "Willkommen zu Hause."

Jean betrachtete die beiden Brüder mit einem Anflug von Neid. Da er sich zudem ziemlich überflüssig vorkam, begann er, nach Unterlagen zu suchen, die Aufschluß über Praks Versuche gaben, während Michail leise mit Radu in rumänisch redete. Er wurde in der Schreibtischschublade fündig: Dr. Prees hatte jeden einzelnen Vorgang sorgsam dokumentiert, und wie er feststellte, hatten sie und Prak auch mit Radu einige Versuche unternommen.

Er wollte die drei Kladden in seiner Jacke verschwinden lassen, doch Michail war sein Fund nicht entgangen. "Alles, wo Radus Name drinsteht, geht an mich", sagte er, und obwohl er ruhig geklungen hatte, war seine Bemerkung unmißverständlich ein Befehl gewesen.

Ohne zu zögern legte Jean eine Kladde zurück auf den Schreibtisch. Er war sich sicher, er wollte nicht am eigenen Leibe erfahren, was Michail tun würde, wenn jemand seine Anordnungen nicht befolgte. Aber da er nun alles hatte, was ihn interessierte, beschloß er, nach Hause zu gehen; um den Rest würden sich schon Michail und Navarros Dragons kümmern.

Er wollte gerade davonschleichen, da rief ihn Michail zurück. "Sag Isi, sie soll ihrem Herrn ausrichten, ich bräuchte einen Magier, um Dr. Prees zu erledigen."

"Gut, ich werde es ihr sagen." Ohne Michails fragenden Blick zu bemerken, verließ er das Arbeitszimmer und verschwand in Richtung Garten. Unbehelligt erreichte er den Kanaleinstieg und kletterte in den Untergrund hinab. "Isi?" rief er leise.

"Ich bin hier", erwiderte die Vermummte. "War Euer Besuch ein Erfolg?"

"Wir haben zwei der Verschwundenen gefunden und einen Blutmagier ausgeschaltet." Er zog die beiden übrigen Kladden aus der Jacke. Die Ratte wollte bestimmt wissen, was darin stand. Als Gegenleistung für seine Dienste. "Gib dies hier deinem Herrn, er wird wissen, was damit zu tun ist. Und richte ihm aus, der Drache braucht innerhalb der nächsten Stunden jemanden, der mit einer Magierin fertig werden kann. - Aber zuerst bringst du mich nach Hause."

Isi nickte und ließ die Hefte in ihren Lumpen verschwinden, bevor sie sich schlurfend auf den Weg machte. Jean folgte ihr seufzend, er wollte nur noch ein schönes Bad, eine ausgiebige Mahlzeit und möglichst alles vergessen.

 

Leise öffnete Michail die Tür zu Jeans Schlafzimmer und trat in den Raum. Er hatte sich Sorgen gemacht, nachdem der Franzose gestern nacht nicht wiedergekommen war, und er fragte sich, warum den anderen die ganze Angelegenheit so mitnahm. Nun, irgend jemand muß ihm das Zaubern beigebracht haben, und wie ich die Hexer unter uns kenne, waren seine Lehrjahre bestimmt schlimmer als die meinigen…

Ein Aufstöhnen ließ ihn ans Bett eilen, wo Jean sich unruhig von einer Seite zur anderen warf, während er kaum verständliche Worte murmelte. Offensichtlich quälte ihn ein Alptraum.

"Jean?" Michail packte ihn an der Schulter und schüttelte ihn sanft. "Jean, wach auf!"

"Nein, nicht!" LeCartres fuhr hoch und hob abwehrend die Hände.

"Jean, ich bin’s, Michail." Er griff nach den Gelenken und hielt sie fest. "Wach auf. Es ist nur ein Traum." Seine Stimme drang zu Jean durch, der die Augen öffnete und sich verwirrt umsah. Langsam wich das Entsetzen aus seinen Zügen, und das Glühen in seinen Augen verlosch, bis sie ihre normale türkise Farbe angenommen hatten.

Michail nahm die Hände runter und setzte sich auf die Bettkante.

"Ach, du bist es", murmelte Jean schließlich und rieb sich das Gesicht. "Du bist aber früh wach."

"Ich war den ganzen Tag auf den Beinen." Michail unterdrückte ein Gähnen. "Irgend jemand mußte sich ja um den ganzen Kram kümmern, nachdem du dich so einfach verdrückt hast."

Jean zuckte mit den Schultern. "Du schienst alles unter Kontrolle zu haben", schmollte er ein wenig. "Ich nehme an, du hast deinen Magier bekommen?"

"Ja. Sie war rechtzeitig da und hat der Prees das Lebenslicht ausgeblasen." Michail unterdrückte ein Schaudern, als er an das Duell der Magierinnen dachte. Schon nach wenigen Augenblicken war es vorbei gewesen: Dr. Prees war tot zu Boden gegangen, ertrunken an dem Wasser, das auf magische Weise in ihre Lungen gelangt war. "Wir haben ihre Leiche in der Seine versenkt; man wird denken, sie hätte Selbstmord begangen." Für einen Moment schwieg er und musterte Jean prüfend. Dann fragte er teilnahmsvoll: "Alles in Ordnung mit dir?"

"Natürlich."

Michail nickte langsam. Er glaubte Jean kein Wort. "Ist es wegen Prak? Haben wir etwas übersehen - hat er Freunde oder Blutsverwandte, die sich wegen seines endgültigen Ablebens beschweren könnten?"

"Nein, keine Bange. Prak war ein Einzelgänger. Und ein Wahnsinniger. Ich bin froh, daß wir ihn los sind."

"Was ist es dann?" Es war unübersehbar, daß es Jean nicht gut ging. Irgend etwas nagte an ihm.

"Nichts", murrte Jean. Er stand auf, ging zum Kleiderschrank hinüber und suchte etwas zum Anziehen.

Als er nach fünf Minuten immer noch reglos dastand, ging Michail zu ihm hinüber und legte ihm die Hand auf die Schulter. "Hast du schon mal jemanden getötet, oder waren diese beiden Ghoule die ersten?"

"Natürlich habe ich schon früher getötet. Ich bin ein Vampir - ich lebe davon, Menschen zu töten." Jean schüttelte Michails Hand ab und riß die ersten Sachen aus dem Schrank, die ihm unter die Finger kamen.

Der Karpate packte seine Hände und hielt sie fest. Er erinnerte sich an zu viele junge Männer, die in dem einen oder anderen Krieg das erste Mal getötet und daran zu zerbrechen gedroht hatten. Und in seiner Lieblingsrolle als Offizier hatte er sich um sie gekümmert und durch die ersten Alptraumtage des Soldatenseins geleitet. "Weder muß man ein Vampir sein, um zu töten, noch muß man töten, um als Vampir zu überleben", erklärte er Jean. "Wenn du willst, können wir darüber reden…"

Er sah ihn auffordernd an, doch der Franzose blickte zur Seite. Mit einem Ruck machte er sich los und begann sich anzuziehen.

Vladescu seufzte innerlich. Nun, Jean mußte wissen, was er tat, immerhin war er alt genug - und er, Michail, nicht sein Kindermädchen. Der Karpate wechselte das Thema. "Jaq und ich haben gestern aufgeräumt, alle Spuren beseitigt und den ganzen Papierkram erledigt. Wenn du einverstanden bist, behalte ich das Haus und du kriegst die Hälfte des Wertes ausgezahlt."

"Wie du willst." Jean hatte absolut kein Interesse an dem Gebäude, und auch das Geld interessierte ihn nur wenig; er hatte soviel davon. "Und was wirst du nun tun?"

"Ich wollte nur meine Sachen abholen, ehe ich mit Radu nach Hause fahre." Er verstummte, ein gequälter Ausdruck huschte über sein Gesicht, und er ergänzte leise: "Nachdem ich diesmal ein Zuhause habe". Dann war der Moment vorüber, und er grinste wieder. "Ich hoffe, du hast Verständnis dafür, daß ich unter diesen Umständen nicht weiter versuche, mich in dein Bett zu kriegen." Er ließ seinen Blick offen über Jeans Körper gleiten. "Obwohl es kein leichter Verzicht ist."

"Aufgeschoben ist nicht aufgehoben", antwortete der andere unverbindlich, und langsam fand sein Lächeln den Weg zurück in seine Züge.

"Du kannst ja mal auf Schloß Drachenburg vorbeischauen, wenn du in der Gegend bist", lud Michail ihn ein. "Hier ist meine Adresse." Er zog eine Visitenkarte aus der Brieftasche und legte sie auf den Nachttisch. "Ich warte unten. Florine ist übrigens auch da. Sie möchte sich bei dir bedanken." An der Tür drehte er sich noch mal kurz um und zwinkerte dem Franzosen zu. "Und laß uns nicht zulange warten - sonst komme ich rauf und fange an, mich auszuziehen."

"Ph", machte Jean und wandte ihm demonstrativ den Rücken zu. Während er sein schwarzes Hemd zuknöpfte, mußte er noch einmal an Michails Worte denken. Hatte er wirklich angenommen, er hätte noch nie getötet? Jean lächelte über die Abwegigkeit dieses Gedankens: Er hatte in den 356 Jahren seiner Existenz schon so manches Leben beendet, und nicht immer war es wie jetzt in einem Kampf gewesen. Nein, was ihn so beschäftigte, war die Art und Weise, wie er den ersten Ghoul im Hospital getötet hatte.

Die Magie war ein Teil von ihm, und er benutzte sie immer wieder, sei es für solche Spielereien wie auf dem Friedhof oder um mit den Schatten zu verschmelzen, wie er es im Hospital getan hatte. Bei magischen Angriffen jedoch… Solange er ruhig und konzentriert war, gab es nie Probleme, verlor er aber die Beherrschung, geriet die Magie außer Kontrolle. Sie machte sich selbständig und verdrängte sein Ich, so daß von ihm, von Jean LeCartres, nichts übrigblieb. Es konnten Wochen, sogar Monate vergehen, bis er wieder zu sich fand, und selbst dann konnte er sich nie daran erinnern, was in dieser Zeit geschehen war. Und mit jedem Mal wuchs die Gefahr, daß er es nicht schaffte zurückzukommen, daß er gefangen sein würde in einem Körper, der erneut beginnen würde, alles Lebendige zu vernichten. Vielleicht würde er eines Tages darüber mit jemanden reden können, aber jetzt war alles noch zu nah, zu beängstigend…

Jean schob die Gedanken gewaltsam beiseite. Ein rascher Blick in den Spiegel versicherte ihm, daß er recht passabel aussah, bedachte man die nahezu rekordverdächtige Zeit, in der er sich angekleidet hatte, und mit seinem Äußeren einigermaßen zufrieden ging er nach unten, wo Michail, Florine, Radu und Jaq auf ihn warteten.

"Mademoiselle Florine, wie schön, Sie wiederzusehen", wandte er sich an die Künstlerin, nachdem er den Männern grüßend zugenickt hatte, und schenkte ihr ein strahlendes Lächeln.

"Die Freude ist ganz meinerseits, Monsieur LeCartres", erwiderte sie. "Ganz besonders, nachdem Sie an dem Wiederauffinden und der Befreiung von Torbenson und den anderen maßgeblich beteiligt waren. Und dafür möchte ich mich ganz herzlich bei Ihnen bedanken."

"Nicht der Rede wert", wehrte Jean ab.

"Nun, sicherlich wäre Torbenson - und auch Feliciana - das gleiche Schicksal wie dem armen Nägeli widerfahren, wenn Sie nicht rechtzeitig aktiv geworden wären. Und deshalb habe ich Madame Calinot gebeten, Ihnen das ‘Spiegelkabarett’ zu überlassen, sobald die Ausstellung vorbei ist."

Michail erkannte, daß der Titel Jean nichts sagte, und erklärte: "Das ist diese Metallkollage, die dir so gut gefallen hat, weil du dich in ihr spiegeln kannst."

Jean warf ihm einen abfälligen Blick zu, ehe er Florine ein noch strahlenderes Lächeln als eben schenkte. Vladescus leisen Kommentar, der etwas über Sonnenbrillen beinhaltete, überging er einfach und bedankte sich stattdessen bei der Künstlerin.

"Schon gut. Immerhin besser, als sie im Wald aussetzen zu müssen", spielte Florine auf ihr erstes Gespräch auf der Vernissage an.

"Wir sollten aufbrechen", unterbrach Michail ausufernde Dankesbezeugungen, und die fünf begaben sich zur Haustür, wo sie sich verabschiedeten. Jaq würde das Motorrad überführen und Michail mit Radu und Florine den BMW nehmen. Während die anderen drei schon zu den Fahrzeugen gingen, blieb der Karpate neben LeCartres im Eingang stehen. Er musterte den Jüngeren durchdringend. "Und vergiß nicht, Jean, falls du jemanden zum Reden brauchst: Anruf genügt." Er lächelte. "Und wenn du mal in der Nähe bist, mußt du mich unbedingt besuchen kommen. Drachenburg wird dir sicherlich gefallen."

"Irgendwann komme ich bestimmt einmal." Er hielt dem Karpaten die Hand hin. "Gute Reise."

"Danke." Michail ergriff die Hand, benutzte sie als Hebel, um den anderen zu sich heranzuziehen und drückte ihm einen Kuß auf den Mund. Gerade, als Jean seinen Widerstand aufgab, ließ Michail los und sprang die Treppenstufen hinab in den Vorgarten. An seinem Wagen angekommen, drehte er sich noch einmal um und winkte Jean zu, der ihm fasziniert nachsah und zu entscheiden versuchte, ob er Michail nun jemals wiedersehen wollte oder nicht.

 

Ein Wiedersehen

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