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Wer suchet, der findet (1)

(c) by Michail & Shavana

 

Jean LeCartres hatte die Halle gerade zur Hälfte durchquert, als die Eingangstür hinter ihm aufgerissen wurde und eilige Schritte laut auf dem Marmorboden knallten. Voller Neugier drehte sich der Franzose um. Es war gerade die rechte Zeit, um mit einer vornehmen Unpünktlichkeit auf der Vernissage zu erscheinen, also wahrlich kein Grund, so zu hetzen.

Kaum war ihm dieser Gedanke durch den Kopf gegangen, da schoß der Ankömmling an ihm vorbei, auf die Herrentoilette zu. Nun war Jean wirklich interessiert, immerhin war die Ausstellung und ihre Eröffnungsfeierlichkeit den Kindern der Nacht vorbehalten, für die die Benutzung jener Örtlichkeit nicht mehr in Frage kam. Vielleicht war es ja nur ein jugendlicher Punk, der sich in einer schickeren Umgebung als einer öffentlichen Toilette erleichtern wollte, und sicherlich würden die anderen Vampire es Jean danken, wenn er ungebetene Gäste von den Räumlichkeiten fernhielt.

In Sekundenschnelle war er neben dem abgehetzt wirkenden Mann, der gerade mit einem Fluch die Türklinke fahren ließ. Jean grinste; natürlich war dieser nutzlose Raum abgeschlossen…

Der Neuankömmling atmete einmal tief durch, wohl um sich zu beruhigen, dann wandte er sich um. Jean hatte sich gründlich getäuscht, der andere war kein normaler Mensch, nein, so gut konnte nur ein Vampir aussehen: Langes, schwarzes Haar umrahmte ein ebenmäßiges Gesicht mit vornehm blasser Haut, die Augen waren zwei finstere Tore zur Hölle, und die schwarze Bikerkluft betonte den athletischen Körper auf gebührliche Art und Weise.

Der Fremde lächelte, und Jean lief ein Schauer den Rücken hinunter - Stunden könnte er mit der Betrachtung dieses dunklen Engels verbringen. Doch ehe er sich völlig in den Anblick verlor, bemerkte der andere mit einer Stimme wie schwarzer Samt: "Sie haben nicht zufällig den Schlüssel?"

Sein halb resignierter, halb hoffnungsvoller Ton ließ Jean alle Bedenken bezüglich Einbruch und Sachbeschädigung über Bord werfen. Er zog ein schmales Lederetui aus seiner Jacke und wählte eins der darin enthaltenen Werkzeuge aus. "Nun, nicht ganz. Aber etwas ähnliches." Er beugte sich zum Schloß hinunter und stocherte kurz darin herum, bis die Tür mit einem leisen Klacken aufging.

"Vielen Dank, Sie haben mir das Leben gerettet." Der Mann schob sich an ihm vorbei, und der Franzose folgte ihm automatisch. "Oder zumindest, was unsereins so ‘Leben’ nennt."

"Wie das?" erkundigte sich Jean neugierig. Erstaunt beobachtete er, wie der andere Lederjacke und Pullover auszog und auf einem der Waschbecken ablegte.

"Florine hätte mich umgebracht, wenn ich in diesen Klamotten erschienen wäre." Wieder lächelte der Schwarzhaarige Jean an und streckte ihm die Hand hin. "Michail Vladescu."

"Jean LeCartres", erwiderte dieser, während er den Blick nicht von dem muskulösen Oberkörper wenden konnte, der ohne Bekleidung sogar noch besser aussah.

Michail entging Jeans Bewunderung nicht, und er unterdrückte ein Schmunzeln. Daß er diese Reaktion von Leuten gewöhnt war, verminderte nicht sein Vergnügen daran, und er überlegte, ob er dieser einladenden Geste nicht eindeutige Taten folgen lassen sollte. Immerhin sah LeCartres verführerisch gut aus. Er war ein wenig größer als der Karpate, aber zierlicher, nicht so kräftig, doch geschmeidig wie eine Katze. Die leicht schrägen, türkisfarbenen Augen paßten ebenfalls zu diesem Bild, und plötzlich erinnerte sich Michail daran, woher er den Name kannte: Jean LeCartres galt als einer der besten Einbrecher unter ihresgleichen, und es gab eine ganze Reihe von Erzählungen über die gewagten Unternehmungen des Franzosen.

"Gefällt dir, was du siehst?" wechselte Michail ins vertrauliche Du, die Daumen in seinen Gürtel hakend.

Jean nickte. "Arbeitest du eigentlich auch als Modell?" erkundigte er sich, da er von dem anderen große Konkurrenz befürchten mußte.

"Kommt drauf an", wich Michail einem ehrlichen ‘Nein’ aus. "Wieso, suchst du jemanden, der dir Modell steht?"

"Oh, nein", wehrte Jean ab. "Meine künstlerischen Ambitionen erstrecken sich auf ganz andere Gebiete."

"Wenn das so ist", sagte Michail so leise, als spräche er mit sich selbst. Er fing Jeans Blick ein und schenkte ihm eines seiner verführerischen Lächeln. Er befand sich halbnackt in einer Herrentoilette in Paris - verfänglicher konnte die Situation nicht sein.

Doch Jean stand hier und jetzt nicht der Sinn nach einem Abenteuer, und er trat kaum merklich zurück.

Der Karpate seufzte in Gedanken. Doch nicht so interessiert, wie er schaut, dachte er und ging in die Hocke, um aus seinem Rucksack ein T-Shirt und einen Anzug, beides in schwarz, zu nehmen. Er zog Shirt und Jacke an, wechselte die Hosen und vertauschte die Springerstiefel gegen ein paar elegante Schuhe. Als letztes band er seine Haare mit einem dunklen Band zusammen. "Ah, schwarz", feixte er, "die Uniformfarbe der Vampire."

Der ebenfalls in schwarz gekleidete Jean erwiderte das Grinsen ein wenig gequält. Gemeinsam verließen sie das stille Örtchen, gaben ihre Jacken und Michails Rucksack an der Garderobe ab und betraten den Ausstellungsraum. Früher war das Gebäude eine Lagerhalle gewesen, bis die Kunstliebhaberin Justine Calinot es gekauft und zu einer Galerie umgestaltet hatte. Nun hingen Gemälde an den Wänden, und im Saal verteilt standen Skulpturen und andere bildhauerische Schöpfungen. In dieser Eröffnungsnacht waren Publikum und ausstellende Künstler ausschließlich Vampire, und so war es nicht weiter verwunderlich, daß die meisten der Anwesenden - wie Michail so treffend angemerkt hatte - schwarz trugen.

So ging er ja völlig unter! überlegte Jean erschrocken. Ob er sich demnächst nicht mal in einem anderen Farbton kleiden sollte, damit ihm die gebührende Aufmerksamkeit geschenkt wurde? Zum Glück hatte er eben Michail getroffen: Das Erscheinen an seiner Seite sicherte ihm genügend Beachtung. Ein Raunen ging durch die Menge, ein neues Gesicht, besonders ein so hübsches, war immer eine willkommene Abwechslung für die Vampire von Paris.

Plötzlich entstand Bewegung unter den Anwesenden. Eine zierliche Frau mit hellbraunem Haar bahnte sich einen Weg durch die Menge und stürzte sich auf Michail.

"Da sind Sie ja endlich! Und elegant sehen Sie aus", rief sie. "Ich hatte schon befürchtet…"

"Aber Florine, ich würde es niemals wagen, mir durch meine Abwesenheit Ihr Wohlwollen zu verscherzen."

Sie nickte. "Ja, wahrlich, denn welcher Idiot würde sonst Ihr Schloß restaurieren?"

"Das haben Sie gesagt." Michail zwinkerte ihr zu. "Darf ich vorstellen, Florine, Jean LeCartres."

Jean beugte sich galant über die Hand Florines. "Sehr erfreut. Ihre Werke sind wirklich einzigartig. Es ist schon länger her, daß wir eine solch phänomenale Künstlerin in der Stadt der Lichter begrüßen durften." Er lächelte sie strahlend an, während er weiter ihre Finger umfangen hielt.

"Danke", erwiderte Florine und entzog ihm ihre Hand. "Schön, daß wenigstens einem meine Werke gefallen. Nachdem sie meinem Schloßherrn", sie nickte Michail zu, "nicht gefielen, fürchtete ich schon, ich müßte sie im Wald aussetzen."

"Ich würde Ihren Werken gerne ein neues Zuhause bieten", bot Jean nicht uneigennützig an. Die außergewöhnlichen Metallskulpturen der Elsässerin waren ihm sofort ins Auge gefallen, und er war sich sicher, daß sie wunderbar in sein Haus passen würden.

Florine lächelte geschmeichelt. "Da müssen Sie mit Madame Calinot reden. Kommen Sie, Michail", wandte sie sich an Vladescu, "Sie müssen sie unbedingt kennenlernen."

Ehe dieser etwas sagen konnte, zog sie ihn quer durch den Raum. Jean folgte den beiden, da er nicht vorhatte, seinen ‘Fund’ so schnell gehen zu lassen. Er mußte unbedingt noch mehr über Michail erfahren.

Kaum, daß die Galeristin die drei entdeckte, begrüßte sie sie begeistert: "Oh, Monsieur LeCartres, es ist schön, Sie wieder einmal hier begrüßen zu dürfen. Und Sie, Monsieur Vladescu, Sie sind uns schon viel zu lange ferngeblieben."

Um ihre Vorstellung gebracht, warf Florine Michail einen finsteren Blick zu, während dieser Madame Calinot mit einem Handkuß begrüßte. "Verzeihen Sie mir, Madame", bat er im scherzenden Ton.

"Schon geschehen", erwiderte die Galeristin großzügig. "Immerhin konnten wir dank Ihrer Vermittlung die Ausstellung um die wunderbaren Werke unserer lieben Florine hier bereichern."

"Aber nicht doch", wehrten Michail und Florine fast gleichzeitig ab. Die Bildhauerin fuhr fort: "Ich muß sogar gestehen, ich hatte schon befürchtet, gegenüber den anderen Künstlern nicht bestehen zu können. Die Arbeiten sind bemerkenswert." Sie wies in den Raum. "Insbesondere die Marmorskulpturen von Björn Torbenson. Sie können sich mit denen der Meister der Antike messen."

"Hm", machte Jean. Bis jetzt hatte er kein einziges Stück der Ausstellung in Ruhe betrachten können, und eigentlich besuchte er diese Art von gesellschaftlichen Anlässen nur, um Kontakt mit anderen Vampiren zu haben, insbesondere jetzt, wo er gerade erst in die Stadt zurückgekehrt war.

Vladescu lachte leise, als er Jeans Gesichtsausdruck bemerkte. Er hatte anscheinend eine andere Antwort erwartet.

"Ist Torbenson auch hier?" erkundigte sich Florine.

"Er hatte zusagt, aber…" Madame Calinot runzelte die Stirn. "Das ist schon eine merkwürdige Sache: Ich habe ihn schon seit ein paar Nächten nicht mehr gesehen, obwohl wir einige Termine vereinbart hatten."

"Vielleicht hat er Lampenfieber bekommen?" mutmaßte die Künstlerin.

"Das kann ich mir eigentlich nicht vorstellen, da er schon an einigen Ausstellungen beteiligt war. Ich befürchte eher, daß irgendwas geschehen ist."

"Hat denn noch niemand Nachforschungen angestellt?" wollte Jean sogleich wissen.

"Doch, natürlich", erklärte Madame Calinot. "Aber leider hat das nicht viel ergeben: Seit drei Nächten hat ihn niemand mehr gesehen, über sein Handy ist er nicht zu erreichen, und seine Sachen befinden sich immer noch im L’Hôtel Belle Nuit. Er scheint spurlos verschwunden zu sein."

"Das klingt wirklich seltsam…", meinte Jean, doch Michail unterbrach ihn: "Vielleicht ist ihm was dazwischen gekommen. Oder er hat sich eine gesellschaftliche Auszeit genommen."

"Er hätte wenigstens Bescheid geben können. Immerhin gibt es Freunde, die sich um einen Verschwundenen Sorgen machen", warf Florine überraschend scharf ein, wobei sie Michail ärgerlich anfunkelte, und Jean hatte das Gefühl, daß die beiden auf eine bestimmte Sache anspielten.

Und tatsächlich: ein Schatten huschte über Michails Gesicht, und der Ausdruck in seinen Augen verriet, daß seine Gedanken für den Moment nicht im hier und jetzt weilten. Schließlich zuckte er mit den Schultern und erklärte: "Wenn mir etwas passiert wäre, hätten Sie es früh genug erfahren."

"Ja, toll", maulte Florine. Sie wollte noch etwas hinzufügen, doch Madame Calinot kam ihr zuvor. Um die plötzliche Mißstimmung zu vertreiben, fragte sie, ob Florine nicht die anwesenden Künstler kennenlernen wollte und führte sie von den beiden Männern fort ins Gewühl der Besucher.

Jean musterte Michail neugierig: "Was war denn los?"

"Ach, nichts", winkte der Karpate ab. "Anfang des Jahres war ich für einige Zeit… in absentia." Sein Gesichtsausdruck lud zu keinen weiteren Fragen ein. "Florine hat sich ziemliche Sorgen gemacht."

"Ihr lebt zusammen?" vermutete Jean.

"Ja und nein." Michail setzte sich langsam in Bewegung, und sie begannen, sich die Ausstellung anzusehen. "Sie kümmert sich um mein Schloß, dafür kann sie dort wohnen und arbeiten. Und ich habe den Transport ihrer Werke nach Paris arrangiert."

"Woher kennst du Madame Calinot?"

"Ich war öfters hier, zuletzt in den Neunzehn-Zwanzigern. - Aber dich habe ich damals hier nicht gesehen."

"Zu der Zeit war ich auch nicht hier", erklärte Jean.

Sie blieben vor einer glänzenden Metallkollage stehen. Es war ein Werk von Florine und trug den Titel ‘Spiegelkabarett’, wie Michail auf dem Schildchen las. Er wollte etwas entsprechendes zu Jean sagen, da stellte er fest, daß der Franzose mit einem verzückten Gesichtsausdruck in die glänzende Silberbeschichtung der einzelnen Teile starrte, in der sich seine unbestrittene Schönheit widerspiegelte. Für einen Moment fühlte der Karpate Neid, dann schob er das Gefühl von sich. Was nützte schon ein Spiegelbild - oder ein Schatten - wenn die Seele fehlte.

Jammerlappen, schimpfte er sich selber, und plötzlich erhellte ein Lächeln sein Gesicht. Die Situation wollte ausgenutzt sein! Er lehnte sich zu Jean hinüber, brachte seine Lippen ganz nah an sein Ohr und flüsterte ihm zu: "Läßt du mich bei dir übertagen? Wir finden sicherlich ein Plätzchen für mich… Hm, Schweigen bedeutet Zustimmung, richtig?"

Mit einem leisen Auflachen zog er sich zurück. Dabei bemerkte er zufällig einen Mann mit einer langen, braunen Haarmähne, der durch seinen Heavy Metal Look aus der Menge der elegant gekleideten Vampire herausstach und der ihn finster musterte. Unvermittelt setzte er sich in Bewegung und kam auf Vladescu und LeCartres zu.

Um Jeans Aufmerksamkeit wiederzuerlangen, schnippte Michail mit den Fingern direkt vor dessen Nase, und mit einem Blinzeln kehrte der Narziß in die Realität zurück - gerade richtig, um den Langmähnigen begrüßen zu können.

"Salut, Marcel", sagte er ganz ungezwungen. "Darf ich dir Michail vorstellen. Michail, das ist Marcel, ein Freund von mir."

Nicht sehr alt, dachte der Karpate, ein Kind dieses Jahrhunderts. Gelassen erwiderte er Marcels kühlen Blick, während er überlegte, welche Laus dem Langhaarigen wohl über die Leber gelaufen sei. Eifersucht, vielleicht? Seine Frage wurde beantwortet, als der Jüngere Jean über die dreiste Selbsteinladung des Karpaten informierte. Er muß von Lippen lesen können, dachte Michail, er kann mich nicht gehört haben.

Bei dieser Überlegung angekommen, wandte er sich mit einem frechen Grinsen an Jean: "Und ziehst du nun meine Einladung zurück oder nicht?"

"Du kannst gerne bei mir im Haus schlafen", bot dieser an. "Ich habe mehr Platz, als ich jemals brauchen werde." Sein Haus in Saint Germaine hatte allein neun Schlafzimmer, da war mehr als genug Raum für Gäste. Ihm fiel auf, daß Marcel ziemlich nervös wirkte. "Was ist los?" fragte er. "Ist hier in letzter Zeit irgendetwas geschehen, das ich wissen müßte? Ich bin leider nicht auf dem Laufenden, da ich erst gestern nach Paris zurückgekehrt bin."

"Na ja", druckste Marcel. "Angélique hat sich nach dir erkundigt: Sie hat befürchtet, du wärst ebenfalls verschwunden."

"Ebenfalls?" hakte Jean nach, und auch Michail widmete dem Gespräch nun seine volle Aufmerksamkeit.

"Ja. Sie hatte einen Pianisten zu sich eingeladen, aber der ist nie eingetroffen. Und als sie dich nicht erreichen konnte, hat sie sich an mich gewandt."

"Das ist schon der zweite Vermißte." Jean runzelte die Stirn. "Ist sonst noch etwas Ungewöhnliches passiert?"

"Wie man’s nimmt. Ich habe gehört, daß sich in einem alten Château am Stadtrand ein paar Ghoule rumtreiben. Aber anscheinend weiß niemand, zu wem die gehören."

Das klang ja sehr interessant, und Jean fühlte, wie ihn die Abenteuerlust packte. Er war schon lange nicht mehr ‘unterwegs’ gewesen, und es juckte ihn förmlich in den Fingern, diesem Château einen Besuch abzustatten. Leider war es heute schon zu spät für eine derartige Aktion - aber die Zeit reichte noch, um sich mal in Torbensons Hotelzimmer umzusehen. Nur sollte er vielleicht nicht allein gehen.

"Hat jemand Lust, mich auf einer kleinen Nachforschungstour zu begleiten?" Er sah Michail auffordernd an.

Dieser feixte. "Irgendwie hatte ich den Eindruck, du hättest keine Lust auf ein Abenteuer mit mir."

"Hab’ ich nie behauptet", grinste Jean. "Hast du etwa Schiß?"

"Natürlich nicht." Michail schüttelte den Kopf. "Hm, das klingt nach ein paar ‘Berühmten letzten Worten’. Aber was soll’s, es wird mich schon nicht umbringen. Wo sollen wir denn anfangen?" Er ließ einen eindeutig zweideutigen Blick von Jeans Kopf über seinen Körper zu seinen Füßen und wieder zurück gleiten.

"In Torbensons Hotelzimmer."

Michail nickte. Das ‘Belle Nuit’ war ein altes, sehr exklusives Hotel, das trotz seiner niedrigen Preise und seiner eleganten Ausstattung in keinem Reiseführer erwähnt wurde, denn es war ausschließlich Vampiren vorbehalten. Laut Madame Calinot waren Torbensons Sachen immer noch auf seinem Zimmer, und vielleicht fanden sie dort einen Hinweis auf seinen Verbleib. "Gut, fahren wir."

Sie verabschiedeten sich und verließen den Ausstellungsraum. Nachdem sie ihre Jacken und Michails Rucksack von der Garderobe geholt hatten und vor die Tür getreten waren, nickte Michail zu dem am Straßenrand parkenden Motorrad hin. "Ich bin mit dem Bike hier. Und du?"

"Taxi." Jean verfluchte wohl zum tausendsten Male die Tatsache, daß er immer noch keinen Führerschein hatte. Es wurde wirklich langsam Zeit, daß er fahren lernte! Denn wie befürchtet erwartete Vladescu nun, daß sie sein Motorrad nahmen, und ein wenig widerwillig folgte Jean dem Karpaten, da ihm diese Dinger ganz und gar nicht geheuer waren.

"Nur keine Angst", kommentierte Michail sein Zögern. "Solange du mir beim Fahren kein Kreuz unter die Nase hältst, wird schon nichts passieren."

"Das klingt ja, als hättest du das schon mal erlebt."

"Oh ja", bestätigte Michail. Erst letztes Jahr hatte jener Teufelsbraten namens Claude genau das getan, hauptsächlich zum Schaden des Motorrads, das bedauerlicherweise nicht wie ein Vampir von alleine heilte. Aber inzwischen war Claude wieder seiner Wege gezogen, was sicherlich daran gelegen hatte, daß Michail Anfang des Jahres für einige Zeit nicht auffindbar gewesen war.

Sie fuhren los und erreichten ohne einen Zwischenfall das Belle Nuit, das schon seit langer, langer Zeit als Unterschlupf für Vampire diente. Der Karpate parkte in einer Nebengasse, und sie gingen zum Hintereingang. Die Tür war verschlossen, doch kein wirkliches Hindernis für Jeans Fähigkeiten. Im Gegensatz zu der Tatsache, daß sie Torbensons Zimmernummer nicht kannten.

"Am besten, du gehst zurück, kommst durch die Vordertür herein und redest mit der Concierge Babette", flüsterte Jean im Gang. "Du kannst sie ja noch ein wenig ausquetschen, ob Torbenson sich mit jemanden getroffen hat und so weiter, während ich mich in seinem Zimmer umsehe. Wir treffen uns wieder bei deiner Maschine."

"Okay." Michail verschwand aus dem Flur, und nur wenige Augenblicke später trat er durch die Vordertür ins Belle Nuit. Mit echter Freundlichkeit begrüßte er die Concierge: "Hallo, Babette. Schön, dich wiederzusehen."

Das verhutzelte Weiblein, das eher einem der Wasserspeier von Notre Dame als dem üblichen Bild der eleganten und weltgewandten Vampirin glich, schenkte Michail ein breites Lächeln und warf ihm eine Kußhand zu. Heute war Freitag, also ein Fasttag, und in diesen Nächten redete sie mit niemanden.

"Wie geht es dir?" Michail lehnte sich an den Tresen und machte es sich bequem. Die Concierge machte mit der Hand eine schaukelnde Bewegung und schaute ihn auffordernd an. "Mir geht es gut, danke der Nachfrage. Ich war eben auf der Eröffnungsfeier von Madame Calinots neuer Ausstellung…", er machte eine Kunstpause, "…aber bedauerlicherweise vermißt die Dame einen der ausstellenden Künstler, Björn Torbenson. Er hat hier doch ein Zimmer gemietet, nicht wahr?"

Babette nickte und zeigte auf einen der Schlüssel, die an einem Bord an der Wand hinter ihr hingen.

"Zimmer 47, so so." Michail nickte ernst. "Aber er ist nicht da. Weißt du vielleicht, wo er ist?"

Babette schüttelte traurig den Kopf und zuckte mit den Schultern.

"Seit wann ist er denn verschwunden?" fragte er weiter, und die Concierge zeigte ihm im Kalender das Datum von vor drei Tagen. Außerdem teilte sie ihm auf ihre Art mit, daß Torbenson das Hotel allein verlassen hatte und daß er seit der Nacht seiner Ankunft weder Besuch empfangen noch Post erhalten hatte.

"Vielen Dank." Michail reichte Babette einige große Franc-Scheine. "Danke für alles." Er lächelte ihr noch einmal zu und verließ das Hotel.

Als er sein Motorrad erreichte, wartete Jean schon auf ihn, und er wirkte selbstzufrieden wie eine Katze, die von der Sahne genascht hatte.

"Na, was hat Babette gesagt?" flachste er.

"Gar nichts. Aber wenn man weiß wie, dann kann man von ihr selbst an Fasttagen eine Menge erfahren."

"Du kennst sie von früher?"

"Ja, sie hat mir einmal bei einer etwas delikaten Angelegenheit geholfen."

"Und warum ging’s?"

"Um eine Frau, was sonst", ließ Michail Jean abblitzen. Der Junge ist ja schrecklich neugierig, urteilte er, ob er das englische Sprichwort ‘Curiosity killed the cat’ kennt? Von der Vergangenheit wieder zur Gegenwart wechselnd erzählte er, was er herausgefunden hatte. "Und wie sieht es mit deinen Nachforschungen aus?"

Triumphierend zog Jean ein Blatt Papier hervor. "Unser erster Hinweis."

Der Karpate nahm das Blatt entgegen, und unter einer leichten Bleistift-Schraffur entzifferte er einige Zahlen. "Eine Telefonnummer?"

"Ja, Torbenson hat sie notiert, und der Stift hat sich durchgedrückt."

"Und was machen wir jetzt?"

"Nach Hause fahren und warten. Ich habe Marcel schon angerufen, er soll herausfinden, unter welcher Adresse die Telefonnummer angemeldet ist."

"Gut." Michail schwang sich auf das Motorrad. "Wo soll’s denn hingehen?"

Jean nannte seine Adresse, und sie fuhren los. Michail ließ sich von dem Franzosen dirigieren, denn er verspürte keine Lust, sich in den fremdgewordenen Straßen zu verirren. Paris war nicht nur größer geworden, sondern auch das Stadtbild hatte sich an einigen Stellen stark verändert. Doch in Saint Germaine schien die Zeit ein wenig langsamer zu vergehen, und Michail hatte das Gefühl, das eine oder andere vertraute Eckchen wiederzuerkennen.

LeCartres wohnte in der Rue des Fleurus in einem eleganten Gebäude im barocken Stil, das etwas zurückgesetzt in einem gepflegten Garten lag, und während Vladescu seine Maschine aufbockte, schloß Jean die Tür auf und bat Michail herein.

Die erste Hürde erfolgreich geschafft, dachte der Karpate, der ohne Einladung kein privates Gebäude betreten konnte, doch die nächste folgt zugleich. Denn die gesamte Eingangshalle war zugestellt mit Koffern, Holzkisten und Pappschachteln.

Geschickt umrundete Jean die größten Hindernisse und warf seinen Schlüsselbund in eine exklusive Metallschale, um sogleich nach dem daneben liegenden Berg Post zu greifen. "Entschuldige die Unordnung, aber ich hatte einfach noch keine Zeit zum Auspacken", erklärte er und sprang über einen zusammengerollten Teppich, der ihm den Weg zur Treppe versperrte.

Michail zuckte mit den Schultern, verkniff sich einen Kommentar über die Einstellung von Personal und folgte Jean in den ersten Stock.

"Du kannst das Zimmer hier nehmen." LeCartres öffnete die Tür zu einem Raum, der ganz in Gold, Orange und warmen Brauntönen gehalten war. "La chambre de l’automne."

"Gefällt mir." Michail warf seinen Rucksack hinein. Außer dem Anzug, den er immer noch trug, und seiner Ledermontur hatte er nicht viel Gepäck dabei. Sein Aufbruch nach Paris hatte äußerst schnell stattgefunden: Er hatte den Termin der Vernissage völlig vergessen, und erst heute mittag hatte ihn sein Verwalter an seine Verabredung erinnert.

"Meine Zimmer sind ganz am Ende des Ganges", erklärte Jean. "In der Nähe der Hintertreppe."

"Brauchst du sie öfter?"

"Manchmal ist es praktisch, wenn man sich ungesehen verdrücken kann."

Michail sah sich weiter um. "Wohnt hier sonst noch jemand?"

"Zur Zeit nicht." Jean betrat sein ganz in schwarz gehaltenes Zimmer, in dem Koffer, Kleidungsstücke, Schmuckstücke und Papiere überall verteilt waren.

Ah, er ist einer von denen, die das Chaos beherrschen, stellte Michail amüsiert fest.

Derweil hatte sich Jean auf sein riesiges Bett geworfen und ging die mitgebrachte Post durch. Außer Werbung und Rechnungen war nur ein Brief von Angélique dabei. Er überflog rasch die Nachricht seiner alten Freundin.

"Von einer Verehrerin?" erkundigte sich Michail mit Blick auf das nach Rosen duftende Papier.

"Nein, eher eine alte Freundin", erklärte Jean. "Angélique."

"Ist sie die Dame, von der Marcel gesprochen hat? Die den Pianisten vermißt?"

"Ja. Sie schreibt, daß dieser Nägeli nicht zu einem Treffen erschienen ist und bittet mich, Nachforschungen anzustellen." Er schaute auf das Datum. "Das ist jetzt einen Monat her."

"Nägeli - klingt schweizerisch." Michail ließ sich in einen Sessel fallen. "Das scheint tatsächlich kein Einzelfall zu sein. Aber ich nehme nicht an, daß wir noch einen Hinweis in Nägelis Sachen finden."

"Ich hoffe, daß diese Telefonnummer uns weiterbringt. Dieses Château mit den herrenlosen Ghoulen finde ich auch nicht uninteressant. Ich würde gerne dort mal vorbeischauen, aber ich steige nicht gerne unvorbereitet irgendwo ein, da ich etwas aus der Übung bin", erklärte Jean, während er sich diverser versteckter Waffen und Werkzeuge entledigte.

"Unvorbereitet kann man das wohl kaum nennen."

"Ein kleines schwaches Wesen wie ich muß sich doch verteidigen können", erwiderte er vergnügt.

"Zweifellos", lächelte Michail. Er wollte gerade eine anzügliche Bemerkung machen, da wurde er unvermittelt unterbrochen: "Ich bin müde", erklärte der Franzose und rollte sich im Bett zusammen. "Bis heute abend."

Michail stutzte, doch er sagte nichts, als er sich mit einem letzten nachdenklichen Blick auf Jean in sein Zimmer zurückzog.

 

Am Abend weckte Jean das Klingeln des Telefons, doch obwohl er die Decke über den Kopf zog, hörte das blöde Ding nicht auf zu läuten, so daß er schließlich nachgab und den Hörer abnahm. "Ja?"

"Hey, du Langschläfer", ertönte Marcels Stimme.

Jean brummelte etwas unverständliches vor sich hin.

"Du wolltest Infos von mir, also hör’ auch zu."

"Muß ich ja wohl, so laut, wie du schreist."

"Na denn. Also, die Telefonnummer ist die Geheimnummer einer gewissen Dr. Prees, die in der Rue des Pleupliers in einem ehemaligen Hospital wohnt. Das Haus heißt ‘Maison du Soleil’ - und da sollen wirklich seltsame Dinge vorgehen."

"Dann werde ich da wohl mal vorbeischauen müssen. Kannst du mir die Gebäudepläne beschaffen?" fragte Jean.

"Ich wußte, du würdest das fragen, also habe ich ein Treffen für dich und deinen neuen Kumpel arrangiert. Um zwölf Uhr auf dem Cimetiére de Montmatre am Grab der Kameliendame. Du weißt, wo das ist?"

"Natürlich, ich lebe schon ein paar Jahre länger hier. Wen sollen wir denn da treffen?"

"Einen Vertreter des Untergrundes selbstverständlich. Er wird die gewünschten Pläne dabei haben. Und du solltest dir genügend Kleingeld in die Taschen stecken, damit du sie auch bekommst."

"Als wenn ich es nicht erwartet hätte. Bekommt man in dieser Stadt auch mal was umsonst?"

"Wo wir gerade dabei sind, ich erwarte ebenfalls eine Belohnung für meine Mühe."

Marcel klang irgendwie schlecht gelaunt, dachte Jean. Wahrscheinlich, weil er sich Michail als Partner für diese Sache ausgesucht hatte und nicht ihn. "Klar, was sonst. Wir reden später darüber, ja?"

"Okay. Bis dann."

Wenn er heute noch was schaffen wollte, mußte Jean wohl oder übel aufstehen, also wühlte er sich aus dem Bett. Er stellte fest, daß er in seinen Kleidern geschlafen hatte, und beschloß, sich erst mal umzuziehen.

"War das dein Telefon oder die Alarmanlage?" fragte Michail in das Zimmer tretend. Da alle Apparate gleichzeitig geschellt hatten, war der Anruf nicht zu überhören gewesen.

"Mein Telefon." Jean warf die verknautschten Kleidungsstücke in die Ecke. "Marcel hat herausgefunden, daß die Telefonnummer zu einem gewissen ‘Maison du Soleil’ gehört." Er verzog das Gesicht. Der Name "Haus der Sonne" gefiel ihm absolut nicht. "Um zwölf Uhr treffen wir uns mit einem Vertreter des Untergrundes auf dem Cimetiére de Montmatre am Grab der Kameliendame. Dort sollen wir die Gebäudepläne bekommen, gegen eine entsprechende Bezahlung selbstverständlich." Ihm fiel ein, daß vermutlich der Untergrund Marcel vorgeschlagen hatte, Jean die Pläne zur Verfügung zu stellen, und nicht umkehrt. Eine weite Vorausplanung war nicht gerade Marcels Stärke.

Von Jeans spöttischen Überlegungen natürlich nichts ahnend, betrachtete Vladescu interessiert, wie sich sein Gastgeber erst auszog und dann in weiches, schwarzes Leder kleidete. Er konnte nicht bestreiten, daß ihm der Anblick gefiel, und um sich von seinen unsittlichen Gedanken abzulenken, fragte er: "Was sollen die Pläne denn kosten?"

"Keine Ahnung, normalerweise geht das eher immer Gefallen gegen Gefallen. Mir scheint, Marcel ist etwas sauer wegen dir." Jean betrachtete sein Spiegelbild und fuhr mit einer Bürste über seine langen, nachtdunklen Haare. "Aber keine Angst, ich habe auf jeden Fall genügend Geld hier."

"Sehe ich so aus, als würde ich zum verarmten Adel gehören?" spottete Michail. "Und ein Geldautomat müßte sich sogar in Paris finden lassen. Wann brechen wir auf?"

"Wir sollten etwas früher da sein, der Friedhof ist ziemlich unübersichtlich, und ich sehe mir immer lieber die Gegend vorher an. Eine Falle kann man ja nie ganz ausschließen." Eine ganze Menge Werkzeug, Waffen und sonstige Utensilien verschwand in Jeans Kleidung. Zum Glück fertigte ihm eine langjährige Freundin, die Modedesignerin Marie Dupont, immer seine ‘Arbeitskleidung’ an. "So, ich bin fertig."

"Dito", erklärte Michail. Seine Vorbereitungen hatten zwar lediglich darin bestanden, sich in seine Lederklamotten und Springerstiefel zu werfen, aber bevor sie dieses Maison du Soleil unter die Lupe nahmen, würde er entsprechende Vorkehrungen treffen. Wenn hier jemand im großen Stil Vampire entführte, dann wollte er optimal gerüstet sein.

Auf dem Weg zur Haustür fragte er: "Bestehst du auf einem Taxi oder können wir meine Maschine nehmen?"

"Immer diese Suggestiv-Fragen…" lästerte Jean.

"Ich bin gern flexibel. Und die Pariser Taxifahrer sind schlimmer als die Kölner - und das will was heißen."

"Du kommst aus Köln?" fragte Jean neugierig, da er sich eine ganze Zeit lang in Deutschland aufgehalten hatte.

"Aus der Nähe: Vom Drachenfels", präzisierte Michail. "Ich habe mir das dortige Schloß Drachenburg gekauft."

"Klingt recht nett. Ist es schön dort?" Jean hatte schon von dem Schloß gehört, es aber noch nicht gesehen, da er nie lange genug in der Gegend gewesen war, um Zeit für Besichtigungen zu finden.

"Ja." Er warf Jean einen scherzhaft prüfenden Blick zu. "Du würdest gut dazu passen."

"Vielen Dank." Der Franzose machte eine spöttische Verbeugung. "Wegen eines Termins sprechen Sie bitte mit meinem Sekretär." Inzwischen waren sie bei Michails Motorrad angelangt, und Jean erkundigte sich: "Kennst du den Weg oder soll ich dich wieder leiten?"

"Ich finde mich schon zurecht." Der Karpate zog seine Jacke auf und zeigte ihm den Stadtplan, der in der Innentasche steckte. "Ich habe mir die Karte angesehen, während du den halben Abend verschlafen hast." Er schwang sich auf die Maschine.

"Hab’ ich nicht", protestierte Jean und saß hinter ihm auf. Schließlich war er heute sogar ziemlich früh aufgestanden.

"Hast du doch."

"Hab’ ich nicht."

"Hast du doch."

"Nein."

"Doch."

"Ne…"

Das Aufheulen des Motors übertönte Jeans Protest, und die überaus intellektuelle Diskussion fand ein abruptes Ende, als Michail losfuhr. Entgegen seinen Gewohnheiten hielt er sich diesmal an die Straßenverkehrsordnung und ganz besonders an die Geschwindigkeitsbegrenzung. Nicht auszudenken, wie Jean auf einem Unfall reagieren würde, der seine Kleidung und Frisur ruinierte! Michail lächelte. Er stellte fest, daß er Jean mochte. Nun gut, der Franzose war recht eitel, aber auf eine sehr amüsante und charmante Art.

Ohne einen Unfall und mit nur einer minimal zerzausten Frisur, erreichten sie schließlich den Cimetiére de Montmatre. Sie ließen die Maschine nahe des Einganges zurück und sprangen über die Friedhofsmauer. Sie waren sehr früh am vereinbarten Treffpunkt, also wanderten sie noch über die kiesbestreuten Wege, entlang der Gräber von bekannten, weniger bekannten und unbekannten Menschen.

Als sie am Grab von Heinrich Heine vorbeikamen, konnte sich Michail ein Zitat nicht verkneifen: "Denk ich an Deutschland in der Nacht, da bin ich um den Schlaf gebracht."

Jean schaute ihn skeptisch an. "Na, da kenn’ ich doch bessere Aufputschmittel."

Für einen Augenblick sahen sie sich schweigend an, dann lachten sie gleichzeitig los. Doch plötzlich verstummte Jean und deutete dem anderen, still zu sein. "Da war was."

Michail lauschte nun ebenfalls. Schließlich nickte er. "Klingt nach Menschen."

"Ein paar Teenies."

In stillem Einverständnis verschmolzen die beiden Vampire mit der Nacht und bewegten sich lautlos, unsichtbar über den Friedhof. Sie verharrten in der Dunkelheit, als sie die sterblichen Besucher entdeckten: Drei Mädchen, siebzehn oder achtzehn Jahre alt, hatten sich vor dem Grab der Kameliendame eingefunden. Eine von ihnen, offensichtlich die Anführerin, kniete vor der Gedenkstätte und wie die rechts und links von ihr stehenden Teenager trug sie dunkle, wahrscheinlich schwarze, spitzenbesetzte Kleidung, die schon seit einiger Zeit aus der Mode gekommen war.

Die Anführerin entzündete eine Kerze, hob die Arme gen Himmel und deklamierte: "Oh du, die geliebt hast. Oh du, die du wiedergeliebt wurdest. Aus dem Reich der Toten rufen wir dich. Erscheine, Alphonsine, oh erscheine."

Michail biß in den Ärmel seiner Lederjacke, um nicht laut loszuprusten. Er fühlte Jeans Bewegung neben sich, und was immer der Franzose vorhatte, er wollte es ihm nicht verderben, indem er die drei Gören mit seinem Gelächter vertrieb.

Jean mußte sich ebenfalls gewaltsam das Lachen verkneifen, die Szenerie war einfach zu albern. Was die Mädchen wohl erwarteten - daß der Geist der Kameliendame herbei geschwebt kam? Und wenn, was wollten sie wohl von ihm? Ein breites Grinsen stahl sich in sein Gesicht, als ihm eine Idee kam. Er zog sich noch tiefer in den Schatten zurück und legte die Hände schalenförmig zusammen, bevor er ein leises Summen anstimmte. In seinen Händen begann es sacht zu glimmen, das Leuchten wurde rasch heller, und schließlich warf Jean einen kleinen, blauschimmernden Lichtball in die Luft. Die Kugel sauste erst in die Höhe und sank dann ganz langsam über dem Grab herab. Jean behielt sie fest im Auge, denn sobald er die Konzentration verlor, würde die Kugel verblassen.

Als der Lichtball erschien, erstarrten die drei jungen Frauen, und stocksteif vor Schreck blickten sie auf die Kugel, während Michail den Zaubertrick mit leichtem Mißfallen beobachtete. Doch er schwieg und ließ Jean seinen Auftritt.

Nach einer Minute atemloser Stille fand das kniende Mädchen langsam seine Sprache wieder: "Oh, Leuchtende, wir danken dir für dein Erscheinen und bitten um eine Gunst: Mach, daß wir auf ewig geliebt werden, daß alle Männer uns begehren."

Eine weitere Minute verging in Schweigen, anscheinend warteten die drei auf eine Antwort. Die Kugel begann unruhig auf und ab zu hüpfen, da Jean darum kämpfte, ernst zu bleiben, aber die Mädchen faßten es als ein Zeichen auf. Unisono keuchten sie auf, und die Anführerin flehte atemlos: "Bitte, sprich zu uns!"

Jean stieß Michail an. "Was hältst du von einem kleinen Snack?"

"Gute Idee. Du links, ich rechts?"

"Okay." Jean ließ den Lichtball noch einmal wild aufleuchten, dann löste er ihn auf. Er schlich sich nach links, während Michail die andere Seite übernahm. Die Mädchen bemerkten nichts, bis die beiden aus dem Dunkel der Nacht auftauchten und sich je ein Opfer schnappten.

"Buh!" machte Jean, und ein dreistimmiger Aufschrei zerfetzte die Stille des Friedhofs. Ein Mädchen stob mit wehenden Kleidern davon, während die anderen beiden von den Vampiren in den Bann geschlagen wurden.

"Ihr wolltet doch begehrt werden", meinte Jean belustigt. Das Mädchen starrte ihn offenen Mundes an. Er strich ihre Haare beiseite und versenkte seine spitzen Zähne in ihrem Hals. Sie war nicht sein Typ, warum also Zeit vertrödeln? Er trank nur wenig von ihrem Blut, schließlich war er nicht sonderlich hungrig, und fuhr ihr anschließend mit einer raschen Bewegung übers Gesicht, um sie alles vergessen zu lassen.

Ihm gegenüber ließ Michail ebenfalls von seinem Opfer ab, und mit den sachten Schritten von Traumwandlern verließen die Mädchen, der Erinnerung an den Vorfall beraubt, den Friedhof.

Sobald die beiden außer Hörweite waren, brachen Jean und Michail in Gelächter aus.

"Oh, Apfelsine, sprich zu uns", imitierte der Karpate die Anführerin und hielt sich den Bauch, als sein Zwerchfell gegen die heftige Lachattacke protestierte. "Autsch, tut das weh!"

Jean erging es auch nicht besser, und minutenlang kehrte keine Ruhe zwischen den Gräbern ein. Sobald die beiden sich anschauten, lachte einer wieder los und riß den anderen mit. Doch schließlich versiegte das Gelächter, und erschöpft ließ sich Michail zu Boden sinken. Er lehnte sich gegen den Grabstein und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. "Du wolltest doch noch die Gegend sichern… Ich warte solange hier. Ist ja bald Mitternacht. Geisterstunde - buhuu."

Sie teilten ein weiteres Lachen, dann machte sich Jean auf und sah sich gründlich um. Kurz vor zwölf kehrte er zurück und lehnte sich malerisch gegen einen Baum, doch bevor er es sich zu gemütlich machen konnte, erklang ein leises "Pst".

"Was heißt hier ‘pst’?" maulte Jean. Nicht mal fünf Minuten Pause gönnte man ihm.

"Ich bin Isi." Eine düstere Gestalt schälte sich aus dem Schatten, und Jean rümpfte die Nase, als er den Abwassergeruch bemerkte, der sie umgab. Viel konnte man nicht erkennen, da Isi in mehrere Lagen zerlumpter Kleidung gehüllt war, die keinerlei Aufschluß über ihr wahres Aussehen zuließen. Das Gesicht war auch nicht zu erkennen, da sie sich eine viel zu große Kapuze über den Kopf gezogen hatte, doch ihre Stimme verriet eindeutig ihr Geschlecht.

"Hier sind die Pläne, die Ihr haben wolltet." Schüchtern hielt Isi Michail einen Umschlag hin.

Jean schnaufte ärgerlich, er haßte es ignoriert zu werden, und das tat diese Isi gerade. "Was willst du für die Pläne haben?" mischte er sich ins Geschehen ein, während Michail den Umschlag öffnete und den Inhalt überprüfte: Es waren tatsächlich die Pläne des Hospitals, anscheinend Kopien alter Zeichnungen. Als er bemerkte, daß Isi auf Jeans Frage noch nicht geantwortet hatte, warf er einen herrischen Blick auf die zerlumpte Gestalt, die prompt ein wenig kleiner wurde.

"Oh, nichts", beeilte sich Isi zu sagen, und an Vladescu gewandt erklärte sie: "Ich soll Euch ausrichten, der Drache möge die Ratte nicht vergessen."

Michail nickte langsam. "Bestelle deinem Herrn meine untertänigen Grüße und meinen Dank."

Mit einer knappen Geste entließ er Isi, die daraufhin wieder im Schatten der Nacht verschwand. Schon nach einigen Metern konnte Jean keine Spur mehr von ihr ausmachen; vermutlich war sie in die Abwasserkanäle zurückgekehrt. Aber egal, dachte Jean, jemand, der ihn so mißachtete, verdiente seine Aufmerksamkeit einfach nicht. Er fragte sich allerdings, was diese seltsame Botschaft bedeuten sollte. Die Ratte, das war der Anführer des Untergrundes, Jean hatte schon öfter mit dessen Abgesandten zu tun gehabt. Aber wer war der Drache? Michail? Naja, immerhin wohnte dieser auf Schloß Drachenburg.

"Was nun?" fragte er. Seiner Stimme war seine Mißstimmung deutlich anzuhören.

Michail sah ihn ein wenig verdutzt an. "Jetzt brauchen wir einen Plan, wie wir in das Gebäude kommen." Als ihm der Grund für Jeans Unmut aufging, funkelten seine Augen belustigt auf.

Jean verschränkte die Arme vor der Brust und warf ihm einen herausfordernden Blick zu. Wenn selbst der Pariser Untergrund Michail für den Anführer in dieser Sache hielt, dann sollte er mal machen. "Was schlägst du vor?"

"Wie wäre es, wenn wir uns erst einmal die Gebäudepläne ansehen?" Michail amüsierte sich königlich über Jeans Schmollen und seine bockige Haltung, er hütete sich jedoch, das zu sehr zu zeigen. Er steckte den Umschlag in seine Jacke. "Laß uns zu dir nach Hause fahren."

Jean maulte und brummelte etwas vor sich hin, trabte aber hinter Vladescu über den Friedhof in Richtung Eingang. Als sie beim Motorrad ankamen, murmelte Michail: "Irgendwas stinkt hier."

"Hm?" machte Jean nicht sonderlich intelligent. Abrupt wurde er von Vladescu gepackt und rückwärts geschoben, bis er mit dem Rücken gegen die Friedhofsmauer stieß.

"Hast du denn gar nicht aufgepaßt?" zischte Michail. "Warum, meinst du, hat der Souverain Souterrain einen zukünftigen Gefallen von mir verlangt - und nicht von dir?"

Jean zog eine Grimasse. Das wurde ja immer schlimmer mit Michail. Erst hielt ganz Paris ihn für den Anführer dieser Aktion, und jetzt stellte er sich selbst als den Mittelpunkt der Welt dar.

"Er muß etwas über dieses Hospital wissen, das mich betrifft. Mich persönlich." Michail nahm die Hände von Jeans Kragen, legte sie auf seine Schultern. "Wenn er was von mir will - mir als Söldner braucht er nur ein gutes Angebot zu machen."

"Vielleicht sollst du irgendwann etwas für ihn tun, das nicht für Geld zu haben ist."

"Aber für die Beschaffung läppischer Gebäudepläne?" Er schüttelte den Kopf, dann wechselte er unvermittelt das Thema: "Übrigens siehst du ziemlich niedlich aus, wenn du schmollst." Ein Funkeln trat in seine Augen, und er lehnte sich weiter nach vorne.

"Ach ja?" So zwischen der Mauer und Michail eingeklemmt, fühlte Jean sich plötzlich gar nicht mehr wohl.

"Das hast du doch bestimmt schon öfter gehört."

"Kann sein." Fast panisch stemmte er die Hände gegen Michails Brust. Er mußte hier weg und zwar schnell!

Das Aufheulen eines Motors befreite Jean aus seiner mißlichen Lage: Eine Horde Motorradfahrer kam die Avenue Rachel hinuntergefegt, doch voller Unbehagen erkannte Jean, daß es keine normalen Biker, sondern Vampire waren.

"Les Dragons", sagte er zu Michail, der zurücktrat und sich halb umdrehte. "Ihr Anführer heißt Navarro." Er nickte zu dem Fahrer hin, der seine Maschine vor ihnen zum Stehen brachte.

Wie befürchtet pöbelte dieser: "Na, was haben wir denn hier hübsches: Unseren lieben Jean mit seinem neuen Spielzeug…"

Innerhalb einer Sekunde verschwand Michail von Jeans Seite, tauchte neben Navarro auf und riß ihn von seiner Maschine. Die beiden Vampire gingen zu Boden, Vladescu schlug auf Navarro ein, doch der Biker hatte sich von seiner Überraschung erholt und parierte die Attacke. Als der Kampf an Länge zunahm, umrundeten zwei Biker die Kontrahenten und sperrten sicherheitshalber die Straße ab; noch ließ sich kein Sterblicher blicken, aber das konnte sich ändern.

Fasziniert beobachtete Jean, wie sich die beiden Kämpfenden über die Straße wälzten. Sie waren gleich groß, und was Navarro durch seinen kräftigeren Körperbau gewann, glich Michail durch Gewandtheit aus. Fleisch klatschte auf Fleisch oder Leder, je nach Trefferzone, und rasch lag ein schwacher Geruch nach Blut in der Luft. Als der Biker einen besonders kraftvollen Hieb landete, hörte Jean Knochen knacken, und Michail schrie verhalten auf. Doch seine Verwundung schien ihn anzuspornen, und seine Schläge hagelten mit neuer Härte auf Navarro nieder, bis der Biker aufgab.

"Hüte deine Zunge, Freundchen", fauchte der Karpate, "sonst könntest du sie verlieren!"

"Okay", keuchte Navarro, "schon gut."

Ruckartig ließ Michail von ihm ab und erhob sich. Er wischte sich das Blut aus der Stirn, das aus einer schon wieder verheilten Platzwunde gequollen war, und preßte die andere Hand auf die gebrochene Rippe, die zum Heilen ein wenig länger brauchen würde.

"Mann, Sie haben vielleicht einen Schlag am Leib", knurrte Navarro, während er sich ebenfalls auf die Füße kämpfte. "Kein Wunder, daß Jean Sie vorzieht."

"Vorzieht, vor wem?"

"Ihm." Navarro nickte zu den Bikern hin, unter denen Michail ein vertrautes Gesicht entdeckte: Marcel. Der Jüngere maß ihn mit einem mißmutigen Gesicht; anscheinend hatte er erwartet, daß der Karpate mehr abbekommen würde. Doch ehe Michail reagieren konnte, wurde der Braunhaarige von LeCartres verdeckt, der zu ihm hinübergeschlendert war.

"Du hast mit der Sache hier natürlich gar nichts zu tun?" fragte Jean ärgerlich.

"Nein, natürlich nicht", wehrte Marcel ab.

"Und du meinst, ich glaube das? Für wie blöd hältst du mich eigentlich?" knurrte Jean ihn an, und als der andere stumm seinem Blick auswich, streckte er mit einem heimtückischen Lächeln die Hand nach ihm aus. "Du weißt doch, ich kann es absolut nicht leiden, wenn meine Freunde mich belügen." Er konnte ziemlich gemein werden, wenn man ihn betrog.

"Ist ja gut." Marcel wich zurück und gestand hastig: "Okay, ich habe Navarro überredet, hierher zu kommen."

"Und warum?"

"Ich war ein wenig eifersüchtig, weil du Michail mir vorziehst", kam es kleinlaut vor Marcel.

"Du bist kindisch", warf Jean ihm vor. Falls es zu einem Kampf kommen sollte, war Michail auf jeden Fall die bessere Wahl, denn Marcel war ebensowenig ein Kämpfer wie er selbst.

"Und ziemlich dumm", kommentierte Vladescu, der inzwischen mit Navarro zu ihnen herüber gekommen war. "Wir spielen einfach nicht in der gleichen Liga."

Marcel funkelte ihn an. "Ach wirklich, Superman?"

"Michail Prinz Dracul", nannte der Karpate seinen Titel, wobei er sich spöttisch verbeugte. "Und ich glaube, ich bin der einzig wahre Drache hier", spielte er auf den Gangnamen ‘Les Dragons’ an.

"Scheiße", entfuhr es Navarro. "He, Mann, das hab’ ich nicht gewußt", erklärte er entschuldigend.

Jean runzelte die Stirn. Hatte Michail wirklich etwas mit dem Dracula zu tun, oder war das nur ein Bluff, um Marcel einzuschüchtern?

"Pech gehabt." Michails Lächeln zeigte bedrohlich viele Zähne. Abrupt fragte er: "Gibt es eigentlich auch einen vernünftigen Grund, warum ihr hier aufgetaucht seid, oder wolltet ihr euch bloß verprügeln lassen?"

"Nun, unser Freund hier", Navarro nickte zu Marcel hin, "sagte, ihr würdet nach ein paar verschwundenen Künstlern suchen."

"Und?"

"Mir ist auch jemand abhanden gekommen, eine Spanierin namens Feliciana."

Der Name kam Michail bekannt vor. "Die Glücksspielerin?"

"Nun, so wie sie spielt, hat es wenig mit Glück zu tun." Navarro grinste.

"Ich verstehe. Und seit wann vermissen Sie sie?"

"Seit etwas über zwei Wochen." Er lehnte sich gegen Marcels Motorrad. "Sie hat mich zwar angerufen, daß sie gut angekommen ist, ist aber nicht zum vereinbarten Termin erschienen. Wir haben nach ihr gesucht, aber vergeblich."

"Nun, vielleicht haben wir ja mehr Glück." Michail sah Jean an. "Immerhin habe ich einen Spezialisten an meiner Seite - auch wenn er im Moment etwas abgelenkt ist." Er feixte, Navarro lachte leise, und mühsam riß sich LeCartres von der Betrachtung seiner Reflexion im Rückspiegel des Motorrads los.

"Ich würde ja gerne unseren Besuch im Maison du Soleil vorbereiten", murrte Jean, "aber dafür brauche ich mehr Licht und einen ruhigeren Ort."

"Das Maison du Soleil?" stutzte Navarro. "Dann seid mal vorsichtig. Als ich letztens daran vorbeifuhr, trieben sich da ein paar Ghoule herum - und ich habe keine Ahnung, wer für sie verantwortlich ist. Nun, auf alle Fälle wünsche ich euch viel Erfolg!"

Er winkte seinen Leuten, und während die Motorräder davonknatterten, dachte Michail: Schon wieder herrenlose Ghoule - oder sind das die aus diesem alten Château, das Marcel gestern erwähnte?

Jean schien die gleichen Gedanken zu hegen. Er wandte sich an Marcel, der sich in seiner Haut gar nicht mehr wohlzufühlen schien. Immerhin hatte er Navarro gegen Vladescu aufgehetzt, nur um festzustellen, daß sogar der Anführer der Dragons vor Michail den Schwanz einzog. "Du kontaktierst heute noch den Untergrund und bittest um weitere Informationen", orderte LeCartres. "Enttäusche mich nicht."

"Ich mache mich sofort ans Werk." Marcel schwang sich auf seine Maschine und donnerte ebenfalls davon.

"Und wir fahren jetzt zu mir, damit ich die Pläne studieren kann."

Michail lächelte über Jeans plötzliche Aktivität.

"Warum siehst du mich so komisch an?" fragte Jean und verschränkte die Hände vor der Brust.

"Du hast vielleicht einen Kommandoton am Leib."

"Hast du etwas dagegen?"

"Nein, absolut nicht. Ich mag entschlossene Männer." Er schwang sich auf seine Maschine. "Laß uns fahren."

Jean stieg hinter ihm auf, wobei er sich bemühte, einen gewissen Abstand zu der verschmutzten Kleidung des Karpaten zu wahren. Andererseits war diese Sitzhaltung nicht sonderlich verkehrssicher, so daß er sich in dem Dilemma wiederfand, entweder seine Kleidung zu ruinieren oder seine Gesundheit und seine Kleidung, falls er von dem Motorrad stürzen sollte.

Michail spürte die Notlage seines Mitfahrers, und obwohl er Jeans Verhalten ein wenig lächerlich fand, fuhr er extra vorsichtig, so daß er LeCartres unbeschadet vor seiner Haustür absetzen konnte.

Kaum hatte Michail die Türschwelle passiert, orderte Jean: "Zieh die dreckigen Sachen aus, sonst machst du mir noch Flecken in die Polster! Ich sehe mir inzwischen schon mal die Pläne an." Er hielt Michail auffordernd die Hand hin.

Der schüttelte den Kopf, verkniff sich aber einen Kommentar, denn schließlich hatte Jean recht. Er zog den Umschlag aus der Jacke und reichte ihn dem Franzosen.

"Du kannst deine Klamotten hier unten ins Bad hängen", erklärte Jean. "Marc wird sich um sie kümmern."

"Marc?"

"Mein Ghoul."

Aha, dachte Michail, das erklärt zumindest, warum Jean noch nicht in seiner Unordnung erstickt ist. Und wer hier gestern aufgeräumt hat.

Während er die verdreckten Sachen auszog, kniete sich Jean auf den Boden, wo er die Pläne des Hospitals ausbreitete. "He, das sind ja zwei Gebäude…", er überflog die komplexen Zeichnungen, "…das Hospital war früher…" Er sah hoch und brach mitten im Satz ab. So, wie Michail vor ihm stand, nur mit einem Slip bekleidet, war er einfach atemberaubend und weitaus faszinierender als die Pläne.

"Ein Château", ergänzte Michail. "Lenke ich dich irgendwie ab?"

"Nein, wie kommst du darauf?" erklärte der Franzose hektisch und heftete den Blick auf die Karte. "Das Gebäude ist ziemlich schlecht zugänglich, da es frei in einem Park steht. Ein Einsteigen von oben können wir vergessen."

"Und wie sieht es von unten aus?"

"Viel besser", erklärte Jean, während er wieder bewundernd an Michail hochsah. "Ich denke, der Keller ist der schwache Punkt an dem Gebäude. Dort ist die Alarmanlage auch leichter außer Kraft zu setzen."

"Du bist der Experte."

"Vielleicht sollten wir versuchen, über die Abwasserkanäle dorthin zu gelangen. Dazu brauche ich aber die Pläne vom Kanalsystem. Sie müßten in meinem Zimmer sein." Die Pläne hatten ihm schon öfter nützliche Dienste erwiesen.

"Laß uns raufgehen." Michail sah an sich herab. "Jetzt besteht ja keine Gefahr mehr für deine Möbel." Er ließ Jean vorgehen und machte einen kleinen Abstecher in sein eigenes Zimmer, wo er die Hose seines Anzuges und ein Unterhemd überstreifte: Im Moment wollte er seinen Gastgeber nicht verführen, sondern einen Schlachtplan entwerfen.

Während Jean nach den Karten der Kanalisation suchte, legte Michail die Grundrisse des Maison du Soleil auf dem Bett ab, da die vorhandenen Tische einfach zu klein waren, und studierte sie. Schließlich hatte Jean die gewünschten Pläne entdeckt und breitete sie ebenfalls aus.

"Ich denke, wir versuchen, über diesen Kanal zum Hauptgebäude zu kommen." Jean fuhr mit einem Stift den Weg nach. "Hier im Keller gibt es eine Kanalöffnung, die vielleicht groß genug ist um durchzukommen. Ansonsten könnten wir hier im Garten raus und durch eines der Kellerfenster einsteigen." Er markierte die Stellen auf den Karten mit Kringeln.

"Du kennst dich wirklich damit aus", bemerkte Michail.

"Natürlich, ich mache das nicht erst seit gestern." Jean grinste. "Wir brauchen auch noch ein paar Waffen."

"Ich hätte gerne meine eigenen… Kann ich mal telephonieren?"

"Ja, klar." Jean angelte nach dem Telefon und reichte es Michail, bevor er sich wieder über die Karten beugte. Natürlich lauschte er dabei gespannt dem einseitigen Dialog des Karpaten.

"Hey Jaq, Michail hier…" Kleine Pause. "Dem Motorrad geht es gut", er klang ein wenig ungehalten, "und nein, ich hatte keinen Unfall… ich rufe an, weil ich eine kleine Aktion plane und noch ein bißchen Ausrüstung brauche." Er gab Jaq seine Wünsche bezüglich der Schußwaffen durch und ergänzte: "Ein Schwert wäre auch nicht schlecht… Nein, kein altes, dieser neue Damaszener aus Solingen wäre gut. Den kann ich problemlos ersetzen. Und ich brauche die Sachen bis Sonnenuntergang. Geht das?… Gut." Er nannte die Adresse und beendete das Gespräch.

Plötzlich gab der Computer, der in der Ecke des Zimmers stand, ein Piepen von sich. Jean ging hinüber und schaltete den Bildschirm an. "Da ist eine E-Mail vom Untergrund", er überflog die Nachricht, "aber ich verstehe sie nicht. Schon wieder was mit Drachen."

"Lies vor."

"‘Wenn der Drache das Haus der Leidenden betritt, wird er sein Spiegelbild finden’. Mit ‘Drache’ bist du gemeint?"

"Hm", machte Michail nachdenklich. Er ließ sich in einen Sessel fallen und pochte mit den Fingern auf die Lehne. "Das gefällt mir nicht, überhaupt nicht." Er nickte zu dem Schrank hin, in dessen verspiegelter Front er nicht zu sehen war. Jean schaute ihn fragend an.

"Sag, Jean, wie hältst du es mit der Religion?"

"Nicht sonderlich." Er überlegte, ob Michail nun das Thema gewechselt hatte oder nicht. "Und du?"

"Streng orthodox", antwortete der Karpate mit einer Grimasse. "Und das ist, glaube ich, auch der Grund, warum ich im Gegensatz zu dir kein Spiegelbild habe. Ich bin überzeugt, daß ich meine Seele verloren habe - und damit mein Spiegelbild. Und meinen Schatten."

"Und jetzt glaubst du, wenn du in diesem ehemaligen Hospital auftauchst, wirst du deine Seele wieder kriegen?" Jeans Blick verriet seinen Zweifel an dieser These. Er fragte sich eh, warum es manchen Leuten so wichtig war, eine Seele zu haben. Und warum sollte er eine haben, und Michail nicht?

"Genau das befürchte ich." Michail machte eine unbestimmte Geste. "Was sonst könnte die Mail bedeuten?"

"Vielleicht will er uns bloß verunsichern." Jean wußte schließlich, daß die Ratte nichts lieber machte, als anderen Rätsel aufzugeben.

"Vielleicht. Aber vielleicht lassen wir uns auf mehr ein, als wir erwarten. - Noch können wir aussteigen…"

Hatte Michail etwa Schiß, dachte Jean überrascht. Laut sagte er: "Denn geh’ ich halt allein."

Vladescu schüttelte den Kopf, und ein leichtes Lächeln kehrte auf seine Züge zurück. "Laut Ratte muß ich ja wohl mitkommen. Sonst werden wir nie erfahren, was seine Nachricht bedeutet."

"Um so besser." Jean schob die Pläne auf dem Bett zur Seite und ließ sich auf der Kante nieder. Michail war von Minute zu Minute rätselhafter geworden, wodurch seine Neugier geweckt worden war. Bevor sie weiterplanten, wollte er noch ein bißchen mehr über seinen Gast wissen. "Wie kommt es eigentlich, daß die Ratte dich als Drache bezeichnet?"

"Mein Vater war Ritter des Drachenordens, daher unser Familienname: Dracul bedeutet Drache - aber auch Teufel."

"Paßt auch, so wie du auf Navarro losgegangen bist."

"Niemand nennt mich ein Spielzeug!" entfuhr es Michail heftiger als erwartet, und Jean zuckte zurück. Der Karpate fand, daß eine Erklärung angebracht war. "Ich hatte einst noch einen zweiten Bruder, Radu. Der Sultan hat ihn zu seinem Lustknaben gemacht…" Michail zog eine Grimasse. "Naja, und deshalb lehrte mich der Woiwode, bei solchen Bemerkungen fest zuzuschlagen."

"Der Woiwode?"

"Vlad."

Jean sah Michail groß an, als sein Verstand endlich ein paar Puzzleteile zusammensetzte. "Reden wir hier von Vlad, dem Pfähler? Willst du mir etwa allen Ernstes sagen, du bist Draculas Sohn?"

"Nein." Der Karpate grinste. "Sein jüngerer Bruder."

Jean sprang auf und betrachtete ihn zweifelnd. "Ich kann das nicht glauben."

"Warum nicht?"

"Dracula ist eine Legende. Ich kenne niemanden, der ihn je wirklich getroffen hat. Obwohl seit dem Erscheinen von Stokers Roman einige Vampire aufgetaucht sind, die behaupten, von ihm abzustammen…" Jean verstummte, denn immerhin saß so einer direkt vor seiner Nase. Und endlich fiel ihm auch ein, daß er den Namen Vladescu genau aus diesem Zusammenhang her kannte.

"Nun, Vlad lebt ziemlich zurückgezogen, und er war nicht sonderlich glücklich über den Roman. Und dank Miss Lucy hat unsere Familie noch ein bißchen Zuwachs bekommen."

"Der Roman basiert also wirklich auf Tatsachen?" fragte Jean immer noch skeptisch. ‘Dracula’ war eines der schwachsinnigsten und ödesten Bücher, die er je gelesen hatte, und daß dies Realität gewesen sein soll, störte ihn irgendwie.

"Bis auf den Schluß."

"Wie ging es denn wirklich aus?" Jean ließ sich auf der Lehne von Michails Sitzplatz nieder. So wenig ihn der alte Dracula interessierte, sein kleiner Bruder war es bestimmt wert, erforscht zu werden.

"Wir haben uns Elisabeta zurückgeholt und Rache an den Jägern genommen", erklärte Michail fröhlich. Es war nicht zu übersehen, daß dem anderen tausend Fragen auf der Zunge brannten, er sich aber zusammenriß, um das nicht zu zeigen.

Jeans Blick fiel in den Spiegel, in dem nur er zu sehen war, und von sich selbst fasziniert strich er ein paar widerspenstige Haarsträhnen glatt. "Sag mal, ist es eigentlich nicht kompliziert, so ohne Spiegelbild zu leben?"

"Nein, nicht sonderlich. Aber ich muß mich ja auch nicht dauernd selbst bewundern."

"Behauptest du etwa, ich sei eitel?" Jean schmollte zehn Sekunden lang, bevor er wieder grinste. "Na ja, ich denke, du hast recht."

"Natürlich habe ich recht."

"Du bist aber auch überhaupt nicht von dir eingenommen", behauptete Jean. "Wie alt bist du eigentlich?"

"Kannst du dir das nicht ausrechnen?"

"Hm, ich spüre, daß du alt bist, mindestens 500 Jahre." Er musterte den Karpaten prüfend und versank in die Betrachtung der tiefdunklen Augen.

"552, um genau zu sein", antwortete Michail weich. "Hoffentlich hast du nichts gegen einen älteren Liebhaber."

Mit einem Satz war Jean auf den Beinen und beim Computer, der genau in diesem Moment gepiept hatte. "Schon wieder eine Mail", meldete er und setzte sich an den Schreibtisch.

Mit einem Seufzen ging Michail zu ihm hinüber und spähte über seine Schulter. "Von wem?"

"Diesmal von Marcel. Die Ratte stellt uns einen Führer durch die Kanäle zur Verfügung. Dadurch fallen einige Probleme weg, denn meine Kanalkarten sind leider nie ganz aktuell."

"Panther", las Michail in der Mail. "Damit bist du gemeint?"

"Paßt doch zu mir, oder?" Jean sah ihn mit grünschillernden Augen an.

Der Karpate musterte ihn nachdenklich. "Du hast tatsächlich etwas katzenhaftes an dir."

"Miau", machte Jean und warf ihm einen übermütigen Blick zu.

"Schnurrst du auch schön, wenn dich jemand streichelt?" Michail fuhr ihm durch das lange schwarze Haar.

"Laß das." Jean stand auf. "Du zerzaust meine Frisur." Die Ausrede war nicht gerade intelligent, und Vladescu schien das ebenfalls bemerkt zu haben, aber ihm war so schnell nichts anderes eingefallen.

"Was ist eigentlich dein Problem?" fragte Michail ein wenig verärgert. Dauernd flirtete der Franzose mit ihm, aber sobald er darauf einging, zog sich der andere zurück. Was war nur mit ihm los?

"Daß du eines werden könntest", sagte Jean mit einem leichten Lächeln.

"Ach ja?"

"Die ständige Versuchung vor meiner Nase ist schwer zu ignorieren, aber wenn wir Erfolg haben wollen, dann kann ich keine Ablenkung gebrauchen."

"Und auf die platonische lenke ich dich nicht ab?" Michail zog die Augenbrauen hoch.

"Ähm", machte Jean. "solange ich nicht weiß, was ich verpasse, ist es nicht ganz so schwer, darauf zu verzichten." Das war natürlich Unsinn, aber irgendwie wollte ihm nichts Vernünftiges einfallen.

"Ich glaube dir kein Wort", fegte Michail die Ausflüchte beiseite. Er packte Jean an den Armen und hielt ihn fest. "Also, was hast du…" Er verstummte, als er die aufsteigende Panik in den Katzenaugen bemerkte, und sofort ließ er den anderen los. Er wich ein paar Schritte zurück. "Du hast Angst vor mir", erkannte er überrascht.

Jean atmete tief durch und sah Michail nur schweigend an. Es hatte zwar keinen Sinn zu leugnen, daß er sich fürchtete, aber zugeben wollte er es natürlich auch nicht.

"Okay, hör zu." Michail streckte die offenen Hände zur Seite. "Du brauchst nicht zu befürchten, daß ich dich zu irgend etwas zwinge, das du nicht willst." Seufzend ließ er sich in einen Sessel fallen. "Als wir uns auf der Vernissage begegneten, hatte ich bloß einen kleinen Flirt, maximal einen One-Day-Stand im Sinn - und du brauchst auf keinen Fall zu befürchten, daß ich hier einziehe und in den nächsten paar Jahrhunderten den eifersüchtigen Liebhaber spiele. Oder daß ich dich über die Schulter werfe und auf meine Burg verschleppe. Glaubst du etwa, ich würde irgend jemandem, egal ob Mann oder Frau, das gleiche Schicksal zufügen, das meinem Bruder Radu widerfuhr?" Er stand auf und ging einen Schritt in Richtung Tür. "So, und nun gehe ich schlafen. Oder soll ich bleiben?"

Jean schüttelte nur stumm den Kopf, und so verließ ihn Michail. Im Gästezimmer angekommen warf sich der Karpate auf das Bett und rieb sich mit beiden Händen über das Gesicht. War er wirklich so ein Kinderschreck - oder lag es an Jean? Wer wußte schon, was ihm in der Vergangenheit passiert war, als Mensch oder junger Vampir… Andererseits hatte Michail ja selbst dafür gesorgt, daß man ihm, dem Karpaten, mit gehörigem Respekt begegnete. Nun, vermutlich war es eine Mischung aus beidem, die Jeans Scheu verursachte.

Das Klingeln seines Handys riß Michail aus seinem philosophischen Exkurs. Er schob seine tiefschürfenden Gedanken beiseite und nahm den Anruf entgegen.

"Ich bin’s, Florine", meldete sich die Französin. "Ich wollte fragen, wie es mit Ihren Nachforschungen aussieht."

"Ganz gut. Wir werden morgen nacht einem ehemaligen Hospital einen Besuch abstatten und sehen, was wir dort finden."

"Dürfte ich Sie vielleicht begleiten?"

Michail überlegte kurz. Bei ihrem letzten Abenteuer in London hatte sich Florine als nützliche Begleiterin erwiesen, andererseits konnte er nicht gleichzeitig auf sie und Jean aufpassen, sollte es zu dem ernsthaften Kampf kommen, mit dem er inzwischen rechnen mußte. "Nicht ins Hospital", beschied er ihr, "aber ich würde mich freuen, Sie als Rückdeckung dabei zu haben. Für alle Fälle."

Sie verabredeten einen Treffpunkt und eine Uhrzeit, beendeten das Gespräch, und Michail legte sich schlafen. Morgen würde eine lange Nacht werden, und er fragte sich, was sie ihm bringen mochte. Würde er tatsächlich sein Spiegelbild zurückerhalten? Und auch seine Seele - oder nur ihre Reflexion? Und woher wußte der Herr über den Pariser Untergrund soviel über das Maison du Soleil? Er hatte es beobachten lassen, keine Frage. Aber warum?

Seufzend verschränkte er die Arme hinter dem Kopf. Ihm fiel ein, daß der Souverain Souterrain immer über alles informiert war, aber niemals selbst in die Ereignisse eingriff. Wahrscheinlich überwachte die Ratte schon länger das Hospital und wollte jetzt die Gelegenheit nutzen, um mehr über die Familie Dracul zu erfahren. Irgendwie gefiel Michail die ganze Sache nicht, aber er wußte keinen anderen Ausweg; entweder begleitete er Jean oder er würde nie herausfinden, was die Ratte wohl schon wußte.

 

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