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Les premières nuits à Paris

(c) 1995 by Shavana & Stayka

Kapitel 5: 9. Januar 1982

Man schrieb Samstag, den 9. Januar 1982.

Anshara war schon eine halbe Stunde vor Sonnenaufgang erwacht, was normalerweise ein ziemliches Kunststück für ein Kainskind darstellte. Allerdings fühlte sie sich dermaßen aufgeregt an diesem Tag, da sie sich François Villon, dem Prinzen von Paris, präsentieren sollte, daß sie es nicht mehr in ihrem Bett ausgehalten hatte.

Sie hatte sich das speziell für diesen Auftritt geschneiderte, halbdurchsichtige weiße Kleid mit den goldenen Applikationen übergestreift, sich frisiert und geschminkt. Nun tigerte sie vor dem Spiegel auf und ab und verfiel in immer heftigeres Lampenfieber.

Jean schlief natürlich noch, aber er war auch nicht nervös.

Anshara sah sich ungeduldig um - warum war ihr Gefährte noch nicht auf den Beinen, um ihr Beistand zu leisten? Das war unfair, hier ging es immerhin um ihren weiteren Verbleib in der Stadt der Lichter!

Jean erwachte erst mit Sonnenuntergang und blieb träge liegen, da er vermutete, daß Anshara schon total aufgeregt war. Er zog sich die Decke über den Kopf; er würde nicht eine Sekunde eher aufstehen, als es unbedingt nötig war.

Derweil hüpfte Anshara wie ein untoter Gummiball herum und überprüfte gerade zum x-ten Mal ihr Make-Up. Als sie damit fertig war, zog sie zur Abwechslung erneut ihr Kleid aus und bat Jeans Ghoul Marc, den sie vorgestern endlich kennengelernt hatte, es noch einmal zu bügeln - ungeachtet der Tatsache, daß der Stoff bügelfrei war.

Marc Mathieu nahm das Kleid entgegen und schwieg vorsichtshalber, da er sich die Reaktion lieber nicht vorstellen wollte, wenn er der kleinen Ägypterin erklärte, daß es nicht notwendig war, das Kleid zu bügeln. Sie hat ein ähnliches Temperament wie Königin Cleopatra in dem Zeichentrickfilm von Uderzo und Goscinny, was sie gerade wieder vorführte, indem sie aufgeregt vor dem Spiegel hin und herlief.

Nach einer halben Stunde brachte Marc das Kleid zurück, wie er es entgegengenommen hatte. Er hatte die Zeit genutzt, um in Ruhe zu Abend zu essen.

"Danke", sagte Anshara und stieg in das hauchzarte Gewand. "Ja, so ist es besser", erklärte sie nach einem prüfenden Blick in den Spiegel, ehe sie dazu überging, sich erneut zu schminken. Marc sagte sicherheitshalber nichts, sondern verschwand wieder ins Parterre, bevor sie auf neue Einfälle kam.

Gegen 22:00 Uhr geruhte Jean, sich vom Bett zu erheben und warf als erstes einen Blick in Ansharas Zimmer. Sie war gerade dabei, ihre goldenen Sandalen auf Hochglanz zu polieren (zum dritten Mal).

"Jean! Guten Abend! - Äh, bonsoir... - Wie sehe ich aus?"

"Du hast Schuhcreme auf der Nase", behauptete er mit einem verhaltenen Grinsen und wurde mit einem entsetzten Quietscher belohnt, ehe ihr auffiel, daß er sie nur auf den Arm nehmen wollte. "Ich werde mich jetzt auch erst einmal anziehen", beschloß er.

"Jean, du kannst mich doch nicht alleine lassen..."

"Soll ich etwa so gehen?"

"Vielleicht achten die dann nicht so sehr auf mich", hoffte sie.

"Pah", machte er. "Ich lege Wert auf einen ordnungsgemäßen Auftritt."

"Naja... Aber meinst du, ich kann so vor den Prinzen treten - wie hieß er noch - François Vilain?"

Jean prustete los. "Das verzeiht er dir nie", kicherte er.

"Hm?" Anshara guckte vollkommen verdutzt.

"Vilain heißt Bauer oder Leibeigener oder auch gemein beziehungsweise widerlich."

"Oh." Sie sah schockiert drein und wäre sicherlich puterrot geworden, wenn dies für ein Kainskind nicht mit einer gewissen Anstrengung und dem Einsatz einer merklichen Menge von Blut verbunden wäre. "Und wie heißt er richtig?"

"Villon."

"Das klingt aber ziemlich ähnlich", fand sie.

"Ist aber ein bedeutender Unterschied." Er streckte sich. "Entschuldige mich für einen Moment, damit ich mich fertig machen kann. Ich will heute perfekt aussehen."

"Ich auch." Sie übte sicherheitshalber die korrekte Aussprache von François Villon. Jean schüttelte amüsiert den Kopf und wandte sich zum Gehen, als sie ihn zurückhielt.

"Sag mir bitte vorher, wie ich aussehe", bat sie.

"Wie jeden Abend", fand Jean.

"Und das heißt?"

"Gut."

"Nur 'gut'?" Sie wirkte als wäre sie am Boden zerstört, und Jean betrachtete sie sichtlich amüsiert. "Sag mir die Wahrheit", forderte sie.

"Du bist wie immer wunderschön", versicherte er ihr lächelnd, "und jetzt gehe ich mich umziehen."

Anshara atmete auf und himmelte ihn an. "Gut." Sie striegelte zur Abwechslung mal wieder ihre tiefschwarzen Haare, die ihrer Ansicht nach immer noch viel zu kurz waren.

Jean winkte ihr zu und verschwand wieder in sein Zimmer. Heute ließ er sich extrem viel Zeit, denn ein offizieller Anlaß wie eine Präsentation war doch etwas Besonderes, und da einige ihm bekannte Kainskinder anwesend waren, wollte er auf jeden Fall gut aussehen. Er suchte seine elegantesten Stücke heraus und band seine Haare zum Pferdeschwanz zusammen.

Endlich hatte Anshara beschlossen, daß sie nichts mehr an sich verbessern konnte und guckte sich nur noch ausgiebig im Spiegel an. Halt, da war noch etwas - sie ergriff einen Puderquast und bearbeitete ihre Nase damit. Perfekt.

Jean betrat erneut ihr Zimmer und gesellte sich zu ihr. Er sah einfach atemberaubend aus, fand sie, aber das half ihr in ihrer momentanen Verfassung nicht weiter.

"Ich bin absolut nervös", jammerte sie.

"Ich weiß."

"Was ist, wenn meine Präsentation dem Prinzen nicht gefällt?"

"Das wäre schlecht - aber es wird ihm schon gefallen. Du solltest nur möglichst wenig sagen."

"Eine Woche ist eben zu wenig, um Französisch zu lernen", seufzte sie. Ein paar Floskeln waren ihr mittlerweile geläufig, aber für eine Konversation reichte es immer noch nicht.

"Genau, also schweige lieber."

"Ich will ja nur tanzen..."

"Umso besser."

"Liegt die Cassette schon richtig gespult im Rekorder?"

"Keine Ahnung."

"Wo ist bloß Marc? Ich habe ihn gebeten, sich darum zu kümmern."

Jean sah auf die Uhr. "Ich vermute, er ist inzwischen zu Hause im Bett. Aber ich denke, er hat alles erledigt. Du hast es ihm doch bestimmt mindestens zehn Mal gesagt..."

"Äh, ich glaube schon", meinte sie verlegen. Vermutlich war sie dem Ghoul damit ziemlich auf die Nerven gegangen.

"Dann hat er es auch gemacht."

"Gut." Sie ging hektisch auf und ab, und Jean verfolgte sie mit seinem Blick. "Und du meinst, es wird nicht tragisch sein, wenn ich nur einen erfundenen Sire habe? Ich meine, wird nicht jemand nachforschen, wer Anetmut aus Ägypten ist?"

"Die haben besseres zu tun", vermutete Jean.

"Gut", sagte Anshara erleichtert. "Ich meine, es ist mir ziemlich peinlich, daß ich nicht weiß, wer mich gebissen hat..." Sie seufzte tragisch. "Und du bist sicher, daß ich zum Toreador-Clan gehöre?"

"Nein, aber ich vermute es."

"Und wenn jemand anders feststellt, daß ich eigentlich zu einem anderen Clan gehören müßte?"

"Das glaube ich nicht. Wenn, dann ist das garantiert eine ziemlich komplizierte Sache - aber du solltest besser Simon fragen, denn ich habe davon keine Ahnung."

"Ich kann den aber doch jetzt nicht fragen - ich muß mich gleich dem Prinzen vorstellen."

"Dann heb dir die Frage auf."

"Auf jeden Fall. Aber vorerst bin ich halt eine Toreador-Dame."

"Gut", meinte Jean. Er konnte sich auch gar nichts anderes bei ihr vorstellen.

"Und du meinst, ich kann den Prinzen ausreichend beeindrucken?" versuchte sie erneut, von Jean Zuspruch zu erhalten. Sie besah sich kritisch im Spiegel, arrangierte ihren Schmuck und polierte einen Fingerabdruck weg.

"Bestimmt." Er grinste. "Übrigens, wir müssen langsam gehen."

"Ich habe Lampenfieber", jammerte sie.

"Dann schalte die Lampe ab."

"Lieber nicht - stell dir vor, mein inneres Licht verlischt..."

Jean lachte. "Es wird schon klappen", versuchte er sie zu beruhigen.

"Hoffentlich."

* * *

Von einem Taxi ließen sich Jean und Anshara zum Seine-Ufer chauffieren, wo gerade das Schiff lag, das Le Club des Vampires beherbergte.

Nach dem Ausstieg verwandte Anshara mindestens zehn Minuten, um erst einmal ihre Gewandung neu zu arrangieren. Jean betrachtete das amüsiert und überlegte, ob er den Cassettenrekorder in der Hand behalten oder abstellen sollte. Er entschied sich zu ersterem.

"Du siehst wie immer perfekt aus", bemühte er sich, sie aufzubauen.

"Ich muß aber noch besser aussehen. Wie soll ich sonst inmitten all dieser schönen Leute bestehen?"

"Ne te fais pas de soucis", sagte er. "Du bist außergewöhnlich, und jeder wird dich bewundern."

"Gut." Sie strahlte ihn an.

"Nun komm." Sie schwebte neben ihm her und wirkte wie eine ätherische Erscheinung aus der fernen Vergangenheit.

Sie betraten das Schiff über den Steg und kletterten die Treppen herunter, um zu dem Saal zu gelangen, in dem die Vorstellung stattfinden sollte, denn dieser befand sich auf dem untersten Deck. Jean grüßte einige der Kainskinder, die ihm unterwegs begegneten, und Anshara tat es ihm unbekannterweise gleich.

Schließlich erreichten sie La parade éternelle wie der düsterrot erleuchtete Saal auch genannt wurde. Als Jean sie zur Bühne im hinteren Teil desselben führte, sah Anshara sich panisch um. Sollte sie wirklich da hochklettern und sich vor all diesen gelangweilt dreinblickenden Leuten präsentieren?

"Ich lasse dich wohl besser allein", meinte Jean und stellte den Rekorder auf der Bühne ab. "Ich möchte mir einen guten Platz zum Zusehen suchen." Er lächelte ihr aufmunternd zu und suchte sich einen Platz an der Wand, denn er hatte lieber keine Leute im Rücken.

"Osiris, verleihe mir die Stärke, das durchzuhalten", seufzte sie, "Isis, gib mir die Anmut, und Anubis, du könntest schon mal ein Loch bereithalten, in das ich mich notfalls verkriechen kann, wenn der Auftritt danebengeht..."

Während sie noch überlegte, was sie nun unternehmen sollte, trat Yves Rodé, der wichtigste Sekretär Villons, zu ihr hin.

"Mademoiselle?"

"Monsieur ...Rodé? - Ich bin Anshara und soll mich heute dem Prinzen vorstellen..." Sie bemerkte ganz zusammenhanglos, daß ihr Name ohne einen Nachnamen so trivial klang. Vielleicht sollte sie sich irgendwoher einen organisieren? Aber das hatte noch Zeit bis nach der Präsentation.

"Je sais", nickte dieser und wechselte zu Englisch. "Ich weiß. Es ist alles bereit. Was für eine Art der Aufführung soll ich ankündigen?"

"Einen altägyptischen Tanz", entgegnete Anshara mit gemischten Gefühlen. "Ich hoffe nur, daß dieser das Wohlwollen des Prinzen erregen wird..."

"Wir werden sehen", meinte Monsieur Rodé unverbindlich und stieg die fünf Stufen zur Bühne hinauf, wo er auf Französisch um Ruhe bat und Anshara ankündigte. Sie verstand nur ihren Namen und deutete dies als Aufforderung.

Mit zitternden Knien erklomm sie die Treppe, wo Rodé ihr Platz gemacht hatte. Als sie dann aber den Rekorder einschaltete und sich zu den Klängen der Musik wiegte, vergaß sie alles um sich herum. Sie stellte sich vor, sie wäre wieder vierzehn Jahre alt und durfte zum ersten Mal im Kreis der anderen Mädchen und Frauen dieses Gebet an Isis tanzen.

Die Anwesenden betrachteten ihre Aufführung kritisch und mit angemessenem Ernst, und glücklicherweise fand kaum jemand einen entscheidenden Fehler in ihrer Darbietung. François Villon saß im Kreise seiner Herde, die sich aus den schönsten Models rekrutierte, die derzeit über die Pariser Laufstege flanierten und flirtete mit ihnen herum, wobei er aber keine Sekunde die Vorführung Ansharas aus den Augen verlor.

Als die Musik des etwa fünfzehnminütigen Stückes geendet hatte, wartete alles gespannt auf die Äußerung des Prinzen. François Villon war die absolute Autorität darüber, was als Kunst anzusehen war und was nicht, und bevor er nicht sein Urteil abgegeben hatte, wagte niemand es, sich zu der Präsentation zu äußern.

In der plötzlichen Stille stand Anshara verschüchtert auf der Bühne und erlebte die - wie sie fand - beinahe schlimmsten Sekunden ihres Unlebens. Sie hatte getan, was sie konnte, und nun kam alles auf den Prinzen an.

Villon ließ sich absichtlich Zeit, um wieder einmal seine absolute Macht über die anderen Kainskinder auszukosten, ehe er sich zu einem verhaltenen Applaus entschloß. Sofort folgten die anderen Anwesenden seinem Beispiel.

Anshara setzte ein zaghaftes Lächeln auf und wußte nicht, was nun von ihr erwartet wurde. Sollte sie die Bühne verlassen? Abwarten? Sie sah sich suchend um und streifte Jeans Blick, der merklich erleichtert wirkte.

Yves Rodé gab ihr ein Zeichen, daß sie die Bühne verlassen und beim Prinzen vorstellig werden sollte. Anshara beeilte sich zu tun, wie ihr geheißen wurde und beschloß, einen angemessen unterwürfigen Blick aufzusetzen.

Als sie bei Villon angekommen war, stellte der Sekretär sie noch einmal explizit vor.

"Bonsoir, Mademoiselle Anchara", begrüßte der Prinz sie. Nun hatte sie erstmals Gelegenheit, ihn genauer zu mustern. Villon war ein exquisit gekleideter, gutaussehender Mann mit schwarzem Haar und braunen Augen. Entgegen dem Standard für Vampire wirkte seine Haut leicht gebräunt, und sein Alter mochte man auf Ende Dreißig schätzen. Auf jeden Fall strahlte er ein Aura von Macht aus, die es ratsam erscheinen ließ, sich ihm nur sehr vorsichtig zu nähern.

"Bonsoir", erwiderte sie und machte einen Hofknicks, da sie leider keine Ahnung hatte, wie sie den Prinzen auf Französisch anreden sollte. 'Mister Prince' war definitiv die falsche Wahl, vermutete sie. Jean kam von der anderen Seite des Raums zu ihrer Rettung vorbei, und die Leibwächter des Prinzen ließen ihn anstandslos passieren, da er hier kein Unbekannter war. Er stellte sich neben Anshara, damit er als ihr Übersetzer fungieren konnte, weil Villon sich weigerte, eine andere Sprache als Französisch zu sprechen.

"Oh, Jean, vous êtes revenu à Paris?" fragte Villon interessiert. "Ihr seid wieder nach Paris zurückgekehrt?"

"Oui. Ich bin schon einige Tage wieder in der Stadt."

"Wie schön für uns. Ich hörte, Ihr habt jemanden aus Frankfurt mitgebracht. Handelt es sich dabei um dieses niedliche Persönchen?" Er sah zu Anshara herüber, die zwar mitbekam, daß die beiden über sie sprachen, aber leider kein Wort verstand.

"Oui."

"Es ist bedauerlich, daß sie offenbar nicht des Französischen mächtig ist", stellte er fest. "Sagt ihr, sie ist in meiner Stadt willkommen." Jean übersetzte pflichtbewußt.

"Merci", bedankte sie sich und zelebrierte noch einen Knicks.

"Und ich hoffe, Euch demnächst einmal wieder bei einer Modenschau zu sehen", wandte Villon sich erneut an Jean.

"Vielleicht", meinte Jean. "In letzter Zeit habe ich mich weniger für die aktuellen Trends interessiert."

"Das ist ein arges Versäumnis", tadelte Prinze Villon nicht ganz im Ernst. "Ihr solltet dies unbedingt nachholen. Außerdem bin ich sicher, daß Mademoiselle Anchara an der Pariser Mode interessiert sein dürfte - sie ist doch ein Mitglied des Clans Toreador? Ach, was frage ich, ihr Tanz war Ausweis genug."

Anshara schmollte. Der Typ sprach über sie, und sie hatte keine Ahnung, ob es Komplimente oder Beleidigungen waren.

"Ich bin ganz Eurer Meinung", entgegnete Jean zuvorkommend, woraufhin Villon unverbindlich lächelte und Anshara und Jean zunickte, daß sie entlassen waren. Er hatte wichtigere Dinge zu tun, als sich um neugeborene Kainskinder zu kümmern; da war zum Beispiel seine Herde, und außerdem standen zwei weitere Präsentationen auf dem Plan.

Die zweite war eine Nadine Bakary vom Clan Brujah, die für einige Zeit in Paris verweilen wollte, um Geschäfte zu tätigen, und er war gespannt, ob sie dort auf der Bühne irgend etwas Niveauvolles vollbringen konnte. Im gegenteiligen Falle würde er sie wohl nur der Stadt verweisen, denn heute war er für eine Blutjagd viel zu gut gelaunt - insbesondere da es sich bei der letzten Vorführung von heute um Francesca Taglione handelte, eine italienische Toreador-Sopranistin, die er vor zehn Jahren schon einmal hatte bewundern dürfen, als sie die Braut in Fortners Bluthochzeit gesungen hatte.

Jean nahm Anshara am Arm und führte sie in eine ruhigere Ecke des Saals.

"Was hast du denn alles mit dem Prinzen besprochen?" wollte sie wissen.

"Nur das Übliche."

"Und was ist bei einem Prinzen 'das Übliche'?"

"Sowas wie 'lange nicht gesehen', 'auch wieder im Lande' und 'wäre schön, mal wieder etwas von Euch zu sehen'..."

"Aha. Ist der Prinz eigentlich auch ein richtiger Künstler? Ein Maler oder ein Sänger?"

"Eigentlich ist er ein Lyriker."

"Oh. Hast du Bücher von ihm zu Hause?"

"Nein. Du weißt doch, daß ich selten lese."

"Schade, dabei würde es mich interessieren, etwas von ihm zu lesen. Obwohl, ich fürchte auch dabei läuft alles darauf hinaus, daß ich Französisch lernen muß..."

"Richtig", äußerte Jean vergnügt.

"Ich will es sofort können", quengelte sie.

"Keine Chance. Du wirst es nur mit der Zeit lernen."

Anshara seufzte schwer und nahm sich endlich die Zeit, sich in dem Raum umzusehen. Wenn sich die Augen an das düsterrote Licht gewöhnt hatten, konnte man entlang einer Wand dreizehn Gemälde sehen, welche die dreizehn Clans repräsentierten. An einer anderen Wand befand sich ein Wandgemälde, das den Fortschritt eines Vampirs zu Golconda, der legendenumrankten angestrebten Erlösung der Kainskinder, zeigte.

(Was bislang niemand gewagt hatte, François Villon mitzuteilen, war die Tatsache, daß der Architekt, der ihm vor gut fünfzig Jahren nahegelegt hatte, dieses Schiff zu Le Club des Vampires umzubauen, die Pläne von Sebastian Melmoths Vampire Club in San Francisco fast 1:1 kopiert hatte. Der Hauptunterschied war die Tatsache, daß es sich beim Vampire Club in den Vereinigten Staaten um ein auf Grund gelaufenes Schiff handelte, über das der Alexandrian Club gebaut worden war, während die französische Variante sich vollständig auf einem noch fahrtüchtigen Schiff befand, das von einer Anlegestelle zur anderen schipperte.)

Der Rest des Raumes war von unterschiedlichen Sitzgelegenheiten übersät, und es gab Stühle, Sessel und Kissen in allen Stilrichtungen. In einer Ecke des Raumes befand sich die Bühne, wo Anshara ihren Auftritt absolviert hatte und daneben führte eine Tür in einen weiteren Saal.

Jean sah sich neugierig nach bekannten Gesichtern um. Erst jetzt fiel es ihm auf, wie er die Gesellschaft der anderen Kainskinder vermißt hatte.

"Ich finde dieses Etablissement faszinierend", stellte Anshara fest. "Kannst du mich hier einmal herumführen?"

"Sicher. Was willst du sehen?"

"Alles", erwiderte sie.

"Das habe ich irgendwie vermutet..."

"Was ist denn da hinter der Tür?" Sie deutete auf dem Eingang zu Le trou noir.

"Das ist ein weiterer Saal. Er wird meist als Tanzsaal und für Bandauftritte verwendet."

"Aha. Und was ist auf der anderen Seite?" Dort befanden sich neben der Treppe zum darüberliegenden Deck noch zwei Türen.

"Dort geht es einerseits zur Bibliothek und das andere ist ein Privatraum."

"Eine Bibliothek! Können wir uns die mal ansehen?"

"Wenn du möchtest." Jean führte sie zu dem Raum. Er verstand nicht so recht das Interesse, das Anshara an Büchern aller Art hatte. Gestern hatte sie Marc losgeschickt, um einige Werke über diese Computer einzukaufen, und außerdem hatte sie mittlerweile einen ganzen Stapel Französisch-Lehrbücher und Audio-Cassetten.

Anshara sah sich neugierig um. Es gab hier bestimmt einige tausend Bücher, und die freien Stellen der Wände waren mit echten Ölgemälden dekoriert. Jean blieb an der Tür stehen, da er das Interesse seiner Gefährtin nicht teilte. Sie fand es hauptsächlich gemein, daß die meisten der Bücher in Französisch waren, obwohl es auch einige Originale in Englisch, Deutsch, Rumänisch und Latein gab.

Während Anshara von einem Regal zum nächsten schwebte wie ein Schmetterling von Blume zu Blume, lehnte sich Jean an den Türrahmen und beobachtete das Treiben im nebenan liegenden Saal.

"Guck mal", rief Anshara begeistert. "Das ist ein signiertes Exemplar von Bram Stokers Dracula!"

Jean warf einen Blick über die Schulter zurück. "So?"

"Ja, und es sind noch viele andere faszinierende Bücher hier. Sogar Sachbücher über Vampire. Oh, das ist gemein. Da steht Livre du Clan Toreador drauf, aber es ist ganz in Französisch."

"Natürlich", entgegnete Jean. "Wir sind hier in Frankreich."

"Was steht hier drin?" erkundigte sie sich und hielt ihm das Buch unter die Nase. "Auch Informationen über die Gründung des Clan, wer alles dazu gehört und so?"

"Teilweise, denke ich."

"Könntest du mal nachgucken, ob hier irgendwelche Mitglieder des Clans aus Ägypten erwähnt werden?" Jean seufzte und blätterte in dem Buch herum. "Ich möchte unbedingt herausfinden, wer wohl mein Erzeuger gewesen ist", erklärte Anshara leise.

Er überflog das Buch ohne sonderliche Begeisterung. "Über Ägypten steht hier nicht gerade viel drin."

"Seufz, aber da muß es doch mindestens einen gegeben haben..."

"Ich habe aber jetzt auch nicht viel Lust, das ganze Buch durchzulesen."

"Na gut. Was meinst du, ob ich es mir wohl mal ausleihen kann, wenn ich genug Französisch gelernt habe?"

"Ich denke schon."

"Prima." Sie beschloß, sich wieder Jean zuzuwenden, da dieser offenbar kein großer Fan des geschriebenen Wortes war. Er hatte das Buch beiseite gelegt und ließ seinen Blick durch die offene Tür über die anwesenden Kainskinder schweifen.

"Was ist eigentlich hier so los, wenn nicht gerade..." Sie sah zur Bühne. "...ein Vam- Kainskind mit Messern jongliert?"

"Kommt ganz drauf an." Jean bewunderte den Jonglierakt.

"Was für einem Clan gehört die wohl an?" fragte Anshara und betrachtete die drahtige, dunkelhaarige Frau, die ganz in Leder und Ketten gehüllt war. So ein ähnliches Bild hatte sie in Simons Buch gesehen, obwohl der abgebildete Vampir im Gegensatz zu dieser Vampirin noch zusätzlich mit Nasen-, Lippen- und sonstigen Ringen verziert war.

"Brujah", meinte Jean. Yves Rodé hatte bei der Ankündigung irgendetwas von einer Nadine so-und-so gesagt.

"Aha, eine von den Brutalen", konstatierte sie.

"Sag so etwas nicht so laut."

"Äh, bestimmt nicht..." Die beiden verließen die Bücherei und gingen in den Saal zurück.

"Sie macht das nicht schlecht", fand Jean, als Nadine mittlerweile acht Messer herumwirbeln ließ.

"Das ist wahr. Ich denke, man sollte sich lieber nicht mit ihr anlegen."

"Stimmt", meinte Jean und folgte fasziniert den fliegenden Messern. Man sah der Frau an, daß es ihr Spaß machte, ihr Können unter Beweis zu stellen. Schließlich fing sie die Messer nacheinander auf und erwartete Villons Urteil, wohl wissend, daß Mitglieder des Brujah-Clans in Paris keinen guten Stand hatten.

Zum Glück war der Prinz heute gut gelaunt und applaudierte auch ihr, bevor er sich wieder seiner Herde zuwandte. Jean warf Anshara einen fragenden Blick zu.

"Genug Bücher geguckt?"

"Ja. Vorerst. - Meinst du, es gibt noch eine Präsentation?"

"Ich habe etwas von einer Toreador-Sängerin gehört, die als letzte auftreten soll."

"Oh, darauf bin ich gespannt", äußerte Anshara. "Muß sich eigentlich jeder auf diese Art vorstellen, wenn er oder sie Paris besucht?"

"Nur wer länger als eine Woche bleiben will."

"Aha." Derweil hatte die Brujah auch ihre paar Worte mit François Villon gewechselt und mischte sich nun unter die Menge. Jean folgt ihr mit seinem Blick. Er fand Brujah interessant, vor allem, da es hier selten welche gab.

Nun eilte die Sängerin auf die Bühne. Sie war eine etwas pummelige Italienierin mit einem grandiosen Sopran. Eigentlich hatte sie es gar nicht nötig, sich zu präsentieren, da der Prinz sie von einigen Aufführungen kannte, aber sie liebte es, vor einem kunstverständigen Kainskinder-Publikum aufzutreten, das ihre Fähigkeiten wahrhaft zu schätzen wußte.

Binnen kürzester Zeit hatte sie ihr ganzes Publikum eingefangen, wobei sie eine der Clan-Fähigkeiten der Toreador nutzte, die ihrem Gesang eine wahrhaft magische Qualität verlieh. Die Anwesenden lauschten verzückt und wurden erst mit Ende der Arie aus dem Bann entlassen.

"Wow", machte Anshara, als sie aus ihrer Trance erwachte. "Welch eine Stimme! Was für eine Interpretation!"

Da die anderen ähnlicher Ansicht waren, konnte man den anschließenden Beifall nur als frenetisch bezeichnen, und diesmal hatte niemand auf François Villon gewartet.

"Ich wünschte, ich könnte so singen", seufzte Anshara.

"Lieber nicht", winkte Jean ab.

"Warum nicht?"

"Das ist mir zu laut - ich meine, vor dem Singen steht schließlich das Üben, und ich bezweifle, daß das so wohlklingend ist wie das erwünschte Ergebnis."

"Das heißt, ich sollte mich für den Anfang lieber mit einer leiseren Kunstform beschäftigen? - Was hältst du von Malerei oder Poesie?"

"Das ist akzeptiert."

"Gut. Als Toreador muß ich ja schließlich irgendetwas Künstlerisches unternehmen, oder?"

"Nun, die meisten sind Künstler..."

"Und was machen die, die keine sind?"

"Was anderes", meinte Jean vergnügt.

"Soso." Sie musterte ihn amüsiert. "Hat Simon eigentlich eine künstlerische Ader?"

"Nicht sonderlich."

"Und wieso ist er dann zum Toreador gemacht worden?"

"Weiß ich nicht", erwiderte er.

"Ob er auch ein 'Versehen' war?"

"Vielleicht legten die Toreadors früher nicht ganz so viel Wert auf die künstlerische Begabung?" sinnierte Jean.

"Gibt es eventuell einen Clan, dessen Mitglieder bevorzugt wissenschaftlich begabt sind?"

"Die Tremere."

Anshara guckte tragisch; sie mußte noch so viel lernen. "Gibt es eigentlich irgendwelche Gelehrte, die ich über die Clans ausfragen kann und die etwas gesprächiger als Simon sind?"

"Kaum. Dir gegenüber ist Simon schon ziemlich gesprächig." In diesem Augenblick erspähte Jean einen Bekannten. "Entschuldigst du mich? Ich würde gerne ein paar Freunde begrüßen."

"Darf ich dich begleiten?"

"Sicherlich." Er hakte sie unter und steuerte auf eine schlanke, rothaarige Frau mit einem modischen Lockenkopf zu.

"Bonsoir, Marie", begrüßte er sie. Die Frau war in einen extravaganten, sehr stilvollen Hosenanzug gehüllt, der ihre Figur bestens zur Geltung brachte.

"Oh, Jean - tu es revenu à Paris?" Sie strahlte ihn aus grünen Katzenaugen an, und Anshara holte tief Luft, auch wenn sie keines Atems bedurfte. Schon wieder Französisch, das wurde langsam ziemlich nervig. Sie lächelte der Frau höflich zu.

"J'espère que maintenant je puisse t'apercevoir plus souvent", meinte Marie.

"J'avait l'intention de rester à Paris pour le temps prochain."

"Bien", erwiderte Marie. "Ich könnte dich hervorragend für die Präsentation meiner neuesten Créationen gebrauchen."

"Mal sehen."

"Nun laß dich nicht so bitten!"

"Jean, wer ist die Dame?" wollte Anshara wissen. Er sah zu seiner Begleiterin herunter, die er über die Widersehensfreude fast vergessen hatte.

"Oh, das ist Marie Dupont, eine der führenden Modedesignerinnen unter den Kainskindern", erläutete er auf Englisch. Marie hob eine Augenbraue. Offenbar konnte diese ...ägyptische Prinzessin (oder was auch immer sie darstellen sollte) kein Französisch. Wo mochte Jean sie wohl aufgegabelt haben?

"Das klingt interessant", fand Anshara. "Welcherart Kleidung entwirft sie denn?"

"Mir gefällt es jedenfalls."

Marie boxte Jean in die Seite. "Ich warte auf eine Antwort, mein Lieber", machte sie ihn in Englisch aufmerksam. "Außerdem hast du mir die Dame noch nicht vorgestellt."

Er holte dies schnell nach, den Marie konnte ziemlich unangenehm werden. Anshara lächelte die Frau zuckersüß an und warf ihr einen Blick zu, der die Besitzverhältnisse in Sachen Jean unmißverständlich klären sollte. Allerdings ließ sich Marie nicht davon beeindrucken; sie sah Jean intensiv an, da sie immer noch auf seine Antwort wartete.

"Ja, ich komme", sagte er schließlich, bevor Marie ihn noch einmal schlug.

"Was will Mademoiselle Marie von dir?"

"Ich will ihn wieder auf den Laufsteg kriegen", erklärte die Modeschöpferin belustigt. "Er versteckt sich in letzter Zeit viel zu sehr."

"Als Model?" Anshara betrachtete ihn prüfend, dann nickte sie. "Ja doch, er ist bestimmt der Star." Sie warf ihm einen heißen Blick zu.

"Sagen wir einmal so - die Sachen verkaufen sich hervorragend, wenn er sie vorführt."

"Hauptsache, sie werden ihm nicht vom Leib gerissen..."

"Meine Modelle werden nur beguckt und nicht angefaßt", versicherte Marie. Jean schwieg lieber und betrachtete demonstrativ seine Schuhe.

"Gut." Anshara wirkte sichtlich beruhigt. "Entwerfen Sie auch Damenmode?"

"Manchmal."

"Es würde mich sehr interessieren, einmal ihre Kollektion zu bewundern."

"Ich habe am nächsten Wochenende eine Präsentation, und da Jean zugesagt hat, wäre es doch praktisch, wenn Sie auch kämen."

"Ich danke Ihnen für die Einladung", sagte Anshara huldvoll und lächelte Marie an, diesmal sogar ehrlich.

"Du bist so erstaunlich ruhig", wunderte sich die rothaarige Vampirin.

"Was soll ich sagen?"

"Sonst fällt dir doch auch immer etwas ein."

Amüsiert sah Anshara zu Jean hoch; sie hatte ihn eigentlich als eher ruhig kennengelernt. Er guckte auffällig in eine andere Richtung.

"Eh", machte Marie und zupfte Jean am Pferdeschwanz. "Ich rede mit dir." Anshara warf ihr einen warnenden Blick zu. Auch Jeans Pferdeschwanz war schließlich ihr Eigentum. "Tse", machte die Französin belustigt. "Wollt Ihr mich mit Blicken erdolchen?" Sie ließ ihre Hand demonstrativ auf Jeans Schulter liegen, und dieser wünschte sich nur meilenweit weg von hier. Diese Situation behagte ihm gar nicht.

"Nun, immerhin sind Jean und ich dazu übereingekommen, fortan unser Unleben zu teilen", erklärte Anshara hoheitsvoll.

"Soso?" Marie hob eine Augenbraue. "Dir hat es wohl total die Sprache verschlagen", wandte sie sich an das Subjekt der Unterhaltung.

"Nein", war dessen erschöpfende Auskunft.

Erheitert schaute Anshara zu ihm hinauf. Er brauchte offensichtlich unbedingt ein wenig Trost, aber vermutlich wäre er nicht hundertprozentig begeistert, wenn sie sich ihm hier widmete.

"Mir scheint, diesmal ist es dir sogar ernst", stellte Marie vergnügt fest. "Ausnahmsweise."

"Sicherlich ist es ernst", erklärte Anshara und legte ihren Kopf an seinen Oberarm.

"Erstaunlich", fand die Designerin und musterte ihn. "Aber du kommst trotzdem am Wochenende?"

"Ich halte mein Wort."

"Außerdem habe ich dich doch nicht an eine Leine gelegt", kicherte Anshara.

"Das kommt auch nicht in Frage", meinte Jean ärgerlich. Er haßte es, so zwischen zwei Leuten zu stehen.

"Und ich dachte schon, du wärst wirklich zahm geworden", spöttelte Marie, was ihr wieder einen leicht ungehaltenen Blick von Anshara einbrachte. Die Französin fand das zu amüsant und ließ sich nicht bei ihren Versuchen stören, Jean zu ärgern.

"Welcher Art ist Ihre Collection eigentlich?" versuchte Anshara sie von ihrem Gefährten abzulenken. Außerdem war sie neugierig.

"Die aktuelle Collection ist eine Auftragsarbeit."

"Hat Jean in Ihrem Auftrag auch schon mal etwas anderes als schwarze Sachen getragen?"

"Ja, warum?"

"Nun, ich dachte mir, er würde toll in Türkis oder Weiß aussehen, aber bislang hat er sich standhaft geweigert."

"Mich hat es auch einiges an Überredungskunst gekostet."

"Naja, ich hatte noch nicht zu lange Zeit", gab Anshara zu.

"Wenn man weiß wie, ist es auch leichter." Marie grinste ihn an, und er guckte betont weg.

"Geben Sie mir einen Tip?" erkundigte sich Anshara.

"Sollte ich?"

"Auf jeden Fall!" Sie nickte eifrig.

"Ich hüte meine Geheimnisse lieber."

"Schaaade."

"Ich würde es sehr bedauern, wenn ich Jean nicht mehr für meine Präsentationen gewinnen könnte, weil er böse ist."

"Keine Sorge, ich habe jedenfalls nichts dagegen, daß er sich präsentiert, dazu gucke ich ihn mir viel zu gerne an." Sie verschlang ihren Gefährten förmlich mit den Augen.

"Da sind Sie nicht alleine", lachte Marie. "Ich frage mich, ob es daran liegt, daß er sich so rar macht..." Sie musterte ihn herausfordernd.

"Du willst mich wohl ärgern", meinte Jean.

"Ich beschütze dich schon", versprach Anshara.

"Ich kann mich alleine wehren", knurrte er.

"Tse, der Kater faucht", kommentierte Marie, und Anshara seufzte hingerissen. Er war einfach zu süß. "Ich dachte schon, man hätte dir die Krallen gezogen." Marie knuffte ihn vergnügt, was Jean gar nicht nett fand.

"Treib es nicht zu weit", drohte er.

"Nun gut", sagte Marie. "Ich bin brav."

"Fein", erwiderte er und sah sie an. Sie grinste breit und verabreichte ihm einen weiteren Klaps.

"Ich verabschiede mich wohl besser jetzt", kicherte sie und ergriff die Flucht.

"Sie ist ziemlich frech", kommentierte Anshara, nachdem die Modeschöpferin verschwunden war.

"Ziemlich."

"Ich vermute, sie ist auch eine Toreador?"

"Ja."

Anshara sah sich in dem Raum um. "Gibt es hier eigentlich auch etwas zu trinken?"

"Natürlich. Hier entlang." Jean führte sie zur Bar, und sie lächelte ihn dankend an, bevor sie etwas bestellten. Gleich darauf nahmen sie die kostbaren Kristallkelche entgegen, die mit frischem, noch warmem Blut gefüllt waren. Prinz Villon wußte, was er seinen Gästen schuldig war.

Jean kam nicht dazu, sein Glas zu leeren, da ein Bekannter ihn erspäht hatte und nun eifrig auf ihn einredete. Es handelte sich um einen jungen Mann mit langem rotblonden Haar, Romain Destart, ebenfalls vom Clan Toreador. Jean warf Anshara einen gestreßten Blick zu, Romain redete ununterbrochen völlig belangloses Zeug. Sie stellte ihr halbvolles Glas ab und schwebte zu Jean herüber, wobei sie den anderen Mann huldvoll anlächelte.

"Seid mir bitte nicht böse, Monsieur, aber mein Gefährte wollte mich noch ein wenig herumführen", wandte sie sich an Romain.

"Ich begleite Euch gerne", beeilte dieser sich zu sagen, ehe er mit seinem Wortschwall fortfuhr. Jean seufzte gestreßt. Das konnte ja heiter werden...

Anshara warf ihm einen tragischen Blick zu. Sie wollte mit Jean herumziehen, nicht mit dieser Plaudertasche. Plötzlich trat ein tückisches Glitzern in ihre Augen.

"Ich habe gehört, daß Mademoiselle Dupont nach Euch geschickt hat", behauptete sie. "Sie will Euch unbedingt sprechen."

"Marie?" fragte Romain zurück. "Sie ist hier?"

"Oh ja! Sie erzählte, daß sie nächste Woche ihre neuste Collection präsentieren wollte. Vielleicht ist sie ja noch auf der Suche nach einigen weiteren ausgesuchten Models..."

"Es ist mir eine besondere Ehre, ihre Créationen zu präsentieren", erklärte Romain überschwenglich und machte sich sofort auf den Weg, Marie zu suchen. Anshara grinste ihren Gefährten an.

"Der ist eine Nervensäge", beklagte Jean sich.

"Stimmt. Aber jetzt hat Marie das Vergnügen."

"Armer Romain..."

"Die beiden haben sich verdient", erklärte Anshara gnadenlos.

"Ich mag Marie."

"Sie war reichlich frech."

"Heute war sie doch noch harmlos. Du hast sie wohl irritiert."

"Und was macht sie, wenn ich sie nicht irritiere?"

"Dann ist sie noch frecher."

Anshara schüttelte belustigt den Kopf. "Wie viele Leute kennst du denn noch hier?" wollte sie wissen, als ihm weitere Leute grüßend zunickten.

"Ich schätze so ein Dutzend, aber ich lebe ja schon länger in Paris."

"Ich hoffe, da sind nicht noch mehr Typen wie dieser Romain dabei..." Sie verzog das Gesicht.

"Nein, er ist einzigartig. - Obwohl, ich war jetzt fast drei Monate fort von Paris..."

"Gibt es hier vielleicht auch ein paar nette Leute, die du mir vorstellen mußt?"

"Ich weiß nicht", überlegte Jean.

"Irgendein hübsches männliches Wesen vielleicht?"

"Sowas kenne ich aus Prinzip nicht. - Wie wäre es mit einigen aufregenden Damen?"

"Wie wäre es mit einer ausgewogenen Anzahl von beiden?" fragte sie belustigt.

"Na gut." Jean sah sich um und steuerte auf einen jungen Mann namens Marcel Duchesnay zu, und Anshara mußte sich beeilen, mit ihm Schritt zu halten. Er stellte die beiden einander vor, und sie lächelte ihm zu. Der langmähnige Toreador war das Mitglied einer Rockband und sah auf jeden Fall niedlich aus.

Marcel hatte einen tragbaren Recorder dabei und stülpte Jean einen Kopfhörer über, um ihm seinen neusten Song vorzuspielen. Anshara hatte keine Probleme, dem Stück ohne separaten Hörer zu lauschen. Jean wurde das Teil möglichst schnell los, er war nach einer Minute schon fast taub.

"Ist Marcel per Zufall ein Musiker?" erkundigte sich Anshara amüsiert.

"Was?" Jean schüttelte den Kopf. "Ich glaube, ich bin taub." Prompt stellte sie sich auf die Zehnenspitzen und versuchte, Jean auf's Ohr zu küssen, um ihm Linderung zu verschaffen. Er hielt sie fest. "Marcel ist übrigens Mitglied einer Rockband, die sich La Mort Finale nennen."

"Ah. Ich nehme also an, der Sound, der diesem Recorder entströmte, war der neuste Song dieser Gruppe?"

"Genau."

"Es war ...kraftvoll", erklärte sie diplomatisch.

"Es ist eben Heavy Metal", kommentierte Jean.

"Ich muß zugeben, daß das nicht gänzlich meinem Geschmack entspricht."

"Ich finde es ziemlich laut", meinte Jean.

"Es muß laut gehört werden, sonst hat es nicht den richtigen Kick", verteidigte Marcel sich und stülpte sich den Kopfhörer wieder über, um die Güte der Aufnahme noch einmal zu überprüfen.

"Wenn man von der Musik absieht, ist er ein toller Kumpel", bemerkte Jean.

"Er sieht knuffig aus", stimmte Anshara zu und tippte Marcel an, der prompt seinen Kopfhörer von den Ohren schob. "Was unternimmst du denn noch außer Rockmusik zu spielen?" wollte sie von ihm wissen.

"Muß ich noch etwas anderes machen?" Er lünkerte unter seinen Haaren hervor und fixierte Anshara mit seinem Blick.

"Offenbar nicht..."

"Musik ist meine einzige Passion."

"Und was davon? Komposition, Gesang, Instrumente - oder alles?"

"Alles."

"Toll." Sie seufzte. "Jean meint, ich sollte lieber nicht singen lernen, weil ihm das zu laut ist..."

"Ich habe eben mehr für die Stille übrig", sagte Jean. Marcel lachte.

"Ich habe schon versucht, ihn zu überreden, bei uns mitzumachen, aber er will nicht."

"Irgendwie kann ich mir Jean nicht in einer Heavy Metal-Band vorstellen. Die Frisur und das Outfit passen nicht so recht."

"Momentan nicht."

"Hat er denn schon mal ein anderes Outfit gehabt?"

"Schon öfter", meinte Marcel vergnügt.

"Du hältst den Mund", beeilte Jean sich zu sagen.

"Ooch, erzähl mir mehr darüber", bat sie.

"Er kann aber ganz schön gemein sein", erklärte Marcel.

"Ich überzeuge ihn, daß er ganz lieb bleibt." Sie schlang schon mal präventiv die Arme um Jeans Mitte.

"Warum willst du das eigentlich wissen?" erkundigte der sich.

"Weil ich alles von dir wissen will." Sie rieb ihre Wange an seiner Brust. "Vor allem möchte ich wissen, wie du aussiehst, wenn du nicht entweder ganz schwarz oder gar nicht bekleidet bist."

"Eigentlich auch nicht anders", äußerte Jean. Der Musiker grinste.

"Ich finde, du hast deinen Stil schon ziemlich lange nicht mehr geändert", bemerkte er.

"Keine Lust", erwiderte Jean. "Außerdem habe ich mich daran gewöhnt."

"Was hat er denn bislang für Stilrichtungen durchgemacht?" Anshara versuchte, sich Jean in allerlei exzentrischen Kostümen vorzustellen.

"Alle kenne ich auch nicht, schließlich ist er viel älter als ich."

"Dann ein paar", bettelte Anshara. Marcel warf Jean einen vorsichtigen Blick zu.

"Nun, ich fand die Hippie-Phase am besten." Jean warf ihm einen tödlichen Blick zu, und Anshara streichelte ihren Gefährten beruhigend. "Ich glaube, es gibt da noch einige Fotos."

"Die würde ich zu gerne sehen." Sie versuchte, sich ihn schmuckbehängt, mit Stirnband und in einer weiten, bunten Hose mit einem knallbunden Hemd dazu vorstellen.

"Jean hat doch genügend davon."

"Oh, Jean", seufzte Anshara. "Läßt du sie mich sehen?"

"Nein."

"Ooooooch, Jean - bitte!" Sie sah ihn herzzerreißend an.

"Nein."

"Bitte!" Sie zog ihn zu sich herab und küßte ihn hingebungsvoll. Marcel grinste.

"Sie wickelt dich um den Finger", machte er Jean aufmerksam.

"Ich arbeite noch daran", korrigierte sie.

"Du schaffst es", behauptete der Musiker. Anshara war dazu übergegangen, Jean ausgiebig zu streicheln, soweit es im gesellschaftlichen Rahmen noch erlaubt war, und er hatte mittlerweile einen ziemlich abwesenden Blick. "In der Beziehung ist er ziemlich leicht zu erwischen", meinte Marcel amüsiert.

"Offenbar", bemerkte Anshara fasziniert.

"Das war er schon so lange ich ihn kenne", erzählte Marcel und betrachtete die beiden. "Meist hingen irgendwelche weiblichen Wesen an ihm, und er hörte nicht zu."

"Soso - und um wie viele andere weibliche Wesen handelte es sich?"

"Es waren meist zwei oder drei."

"Hm."

"Irgendwie sind die alle ganz wild auf ihn."

"Jetzt gehört er jedenfalls mir", erklärte sie kategorisch.

"Augenblicklich schon."

"Auch weiterhin." Sie bearbeitete ihn weiter, und er wirkte immer noch wie in tiefer Trance. Erneut verzog Marc sein Gesicht zu einem breiten Grinsen.

"So kannst du ihn jedenfalls immer zähmen."

"Ab und zu mag ich ihn aber auch etwas wilder." Nun konnte auch sie sich eines Grinsens nicht erwehren.

"Ich habe gehört, das könne er auch ganz gut", kam es trocken von Marcel.

"Allerdings..." Sie seufzte und kuschelte sich an ihn.

"Tse", machte Marcel. "Ich glaube, langsam verstehe ich, was die Frauen so an ihm finden. Er widerspricht nicht, läßt sich widerstandslos knuddeln..."

"Stimmt. Das ist auf jeden Fall sehr praktisch." Sie beguckte Marcel neugierig. "Geht das bei dir auch?"

"Wer weiß", meinte er belustigt.

"Ich frage mich nämlich, ob das bei allen Männern eingebaut ist oder nur bei ein paar."

"Jean ist jedenfalls ein schlimmer Fall." Insbesondere, wenn er noch nicht einmal mitbekam, wenn man über ihn redete... Marcel lachte und packte Jean im Nacken. "Hallo? Bist du noch anwesend?"

Jean sah seinen Freund irritiert an. "Was hast du vor?"

Anshara schüttelte amüsiert den Kopf und hörte nicht auf, Jean zu bearbeiten.

"Mir scheint, diesmal hast du dir jemanden angelacht, der dich vollständig unter Kontrolle hat."

"Pah", machte er und befreite sich aus Marcels Griff.

"Gar nicht wahr", schmollte Anshara. "Ich kontrolliere ihn nicht, ich habe ihn nur ganz lieb."

"Ihr seid alle ganz schrecklich", maulte Jean.

"Ich doch nicht", widerspracht Marcel entrüstet. "Nicht nach dem, was wir zusammen alles erlebt haben."

"Erzähl doch mal", bat die Ägypterin ihn prompt.

"Das sind aber keine Geschichten für junge Damen", machte er sie vergnügt aufmerksam.

"So jung bin ich nun auch wieder nicht", stellte sie fest.

"Ach ja? Ich lade aber lieber keine Schuld auf mein Haupt - zum Beispiel, daß dann der Haussegen schiefhängt..."

"Und warum sollte das passieren?"

"Weil das schon öfter passiert ist, wenn ich Jeans Flammen von unseren Abenteuern unterrichtete."

"Ich bin ganz harmlos", behauptete Anshara.

"Das sagen sie alle", kommentiertte Marcel. Jean war schon wieder ganz weggetreten ob der von seiner Gefährtin angebrachten Streicheleinheiten. "Leider muß ich mich jetzt verabschieden, denn ich habe noch eine Bandprobe."

"Schade. Ich würde zu gerne von diesen Abenteuern hören..."

"Ein andermal. Vielleicht können wir uns ja mal etwas privater treffen."

"Mal sehen", wich Anshara aus, und der Musiker lachte.

"Keine Panik, ich bin ganz harmlos!"

"Hm, wo habe ich das nur schon mal gehört?" sinnierte sie. Marcel grinste sie breit an. "Hm, ich glaube, langsam brauche ich doch noch ein Schlückchen zu trinken..."

"Dann laß dich nicht aufhalten", sagte Marcel und winkte ihr noch einmal zu. Anshara erwiderte die Geste und dirigierte Jean mit in Richtung Buffet.

"Wo willst du denn hin?" fragte Jean.

"Etwas zu trinken holen." Sie schenkte zwei Gläser ein und reichte ihm eins davon.

"Oh ja, ich habe auch Durst."

"Prost!" Sie nahm einen Schluck und genoß die warme, gehaltvolle Flüssigkeit. Jean leerte sein Glas und sah sich schon wieder neugierig um. "Weißt du, hier gefällt es mir", fand Anshara. "Interessante Leute, exzellente Getränke, stimmungsvolles Ambiente... Dieser Marcel ist übrigens sehr niedlich."

"Ich weiß."

"Kennst du noch mehr solcher putzigen Typen? Jetzt, wo ich meine Aufenthaltserlaubnis habe, will ich unbedingt alle Leute, die hier in Paris herumspringen, kennenlernen und mich mit ihnen anfreunden."

"Da wirst du einiges zu tun haben. Insbesondere Toreadors gibt es hier ziemlich viele."

"Das finde ich gut. Die sind mir nämlich auch am liebsten. Obwohl die Ventrues auch ganz nett zu sein scheinen."

"Meistens." Jean spähte in die Menge um zu gucken, ob er hier noch jemanden kannte.

"Willst du noch ein Glas?" Anshara hatte sich gerade ein weiteres Mal eingeschenkt, doch er winkte ab.

"Nein danke, ich bin satt."

"Gut." Sie nippte graziös an ihrem Kelch, während Jean aufgeregt auf den Fußspitzen hin und her wippte. "Ist etwas?"

"Nein, ich fühle mich bloß wohl. Ich war schon zu lange nicht mehr auf einer solchen Party."

"Ich war noch nie auf so einer Party - außer auf der von Chris, heißt das."

"Das war etwas andere", stellte Jean fest. "Hier bin ich zu Hause."

"Hm, ich muß erst einmal herausfinden, wo ich zu Hause sein kann. Aber Paris ist auf jeden Fall eine Option."

Jean grinste. "Irgendwie habe ich Lust, etwas anzustellen", überlegte er, ohne auf Ansharas Gedankengang einzugehen.

"Was denn?"

"Ich weiß noch nicht", sinnierte er. "Darüber muß ich noch meditieren, denn alles kann ich mir hier bestimmt nicht erlauben."

"Wenn es etwas intelligentes ist, dann mache ich mit", erklärte Anshara.

"Was erwartest du von mir? Intelligenz?"

"Naja, ich dachte nur..."

"Sollte man eben nicht machen."

"Kennst du denn nicht den Spruch von Descartes 'Denkend erkenne ich mich selbst', denn die Lateiner fälschlicherweise mit 'Cogito ergo sum' übersetzten?"

"Nö. Sollte ich?"

"Natürlich. Descartes war Philosoph und Mathematiker. Ein echter Klassiker. Er war sogar ein Franzose!"

"Kenne ich aber trotzdem nicht", meinte Jean und drehte sich übermütig im Kreis. "Du weißt doch, ich lese nicht. Und wenn Simon mir so etwas erzählt hat, bin ich immer eingeschlafen."

"Du bist ein Banause."

"Klar", erwiderte Jean ungerührt. "Aber was mache ich nun?"

"Du wolltest etwas anstellen", erinnerte sie ihn.

"Ja, aber was?" Er schaute sich weiter suchend um. "Es ist leider niemand da, den ich ärgern kann."

"Wen ärgerst du denn üblicherweise?"

"Nur Leute, von denen ich weiß, daß sie mich nicht gleich umbringen - aber hier sind leider keine davon. Das ist in höchstem Maße unbefriedigend."

"Dann mußt du eben abwarten, bis du einige einfachere Opfer findest."

Jean seufzte herzergreifend, und Anshara konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen.

"Vielleicht haben sie ja erfahren, daß du wieder da bist."

"Frust."

"Soll ich dich trösten?"

"Natürlich."

Anshara tat wie ihr geheißen, und die beiden zogen sich kurz darauf zu Jeans Haus in Paris/St.Germain zurück.

Ce conte sera continué à Paris à Nuit

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