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Paris à Nuit

(c) 1995/96 by Shavana & Stayka

Kapitel 1: Stille Nacht

Man schrieb Dienstag, den 17. Dezember 1985, 16:51 Uhr.

Ausnahmsweise war es Anshara St.Germain bereits um diese unheilige Zeit gelungen sich anzukleiden. Sie wartete auf ihren Gefährten Jean LeCartres und bewunderte sich in der Zwischenzeit im Spiegel. Doch, ihr Anblick war durchaus annehmbar, fand sie - der blauschwarze Pagenkopf, der ein ovales Gesicht mit goldschimmerndem Teint umrahmte, die großen, bernsteinfarbenen Augen mit den goldenen Flecken und dazu passend natürlich der goldockerfarbene, warme Hosenanzug. Das einzige, was sie wie stets störte, war ihre - wie sie fand - viel zu geringe Größe von nur 1.60m.

Als sie ihre Musterung im Spiegel abgeschlossen hatte, lag Jean immer noch im Bett. Vor Sonnenuntergang erhob er sich nie freiwillig aus den Federn, also trabte Anshara in sein völlig schwarz eingerichtetes Zimmer, das er folgerichtig Chambre de la Nuit, also Nachtzimmer, nannte.

Anshara hatte sich im Chambre du Soleil - dem Sonnenzimmer - häuslich eingerichtet, dessen Farben optimal zu ihr paßten, denn der Raum war mit exquisiten antiken Möbeln eingerichtet, die alle aus einem goldschimmernden Holz bestanden und teilweise mit passendem Stoff bezogen waren.

In Jeans Zimmer herrschte völlige Dunkelheit, und sie schaltete das Licht ein. Sein blasser Teint bildete einen starken Kontrast zum nachtfarbenen Interieur, und Anshara ließ ihre Blick zärtlich über seine beinahe elfenhaft schönen Züge gleiten, ehe sie sich zu ihm herabbeugte, um ihn mit einem sanften Kuß zu wecken.

Jean schlief nach dem fünften Kuß immer noch wie tot, woraufhin sie nun rabiatere Methoden anwandte und ihn rüttelte und schüttelte. Wer sich von einem Kuß nicht wecken ließ, war selbst dran schuld. Es dauerte noch eine Weile, bis er endlich die Augen öffnete.

"Jean! Anziehen!"

"Was ist denn?" knurrte er.

"Wir müssen noch die Weihnachtsgeschenke für Michelle, Natalie, Simon, Yvette, Marc und Marcel kaufen!"

Gestreßt zog sich Jean die Decke über den Kopf.

"Nun komm schon! Wie sieht es denn aus, wenn wir es dieses Jahr schon wieder vergessen?" Sie zog ihm die Decke weg.

"Ich vergesse es jedes Jahr."

"Eben. Und das finde ich sehr peinlich."

"Warum?"

"Weil wir von den genannten Personen bislang noch immer etwas bekommen haben. Naja, zugegeben, von Simon nicht, aber ich finde, wir sollten ihm auch mal was schenken."

"Muß das sein?"

"Sicher. Er hat mir ein Ritual beigebracht, mit dem ich meine Haare wachsen lassen kann. Allein schon dafür."

"Hm", machte Jean, der das nicht als Grund für ein Geschenk ansah.

"Und er hat mir wirklich viel über die Kainskinder beigebracht."

"Hm", wiederholte er. Zumindest sagte Anshara jetzt immer 'Kainskinder' und nicht 'Vampire' wie zu Anfang, als er sie getroffen hatte.

"Was könnten wir ihm denn schenken?"

"Woher soll ich das wissen?"

"Immerhin ist er dein Erzeuger." Jean seufzte. Sicher, vor etwa 350 Jahren hatte er von Simon den Kuß empfangen, der ihn in die Reihen der Untoten aufgenommen hatte, aber deshalb hatte er noch lange kein gutes Verhältnis zu ihm.

"Na und? Frag du ihn doch!" Anshara schien erheblich besser mit ihm auszukommen als er, Jean, aber vermutlich lag das daran, daß sie die meisten Männer um den Finger wickeln konnte, untot oder nicht. "Am besten, du denkst dir einfach etwas aus, immerhin kennst du ihn mittlerweile auch schon drei Jahre lang."

"Naja, so halb... Er sagt nicht sehr viel über sich", bemerkte sie. "Und jedes Mal, wenn ich irgendwo nachhake, kriege ich nur dieses dumme Grinsen als Antwort."

"Es gibt so gut wie niemanden, der weiß, was Simon verbirgt."

"Aber wenigstens ist er ein guter Lehrer. Und er ist auch nicht ganz so schlimm, wie du am Anfang immer behauptet hast."

"Das kommt immer auf seine Stimmung an, und in letzter Zeit hatte er erstaunlicherweise recht gute Laune. Vermutlich liegt es daran, daß er momentan keinen Ärger mit den anderen Kainskindern hat. Er ist wohl zu sehr mit dir beschäftigt..."

"Naja, er weiß schließlich soooo viel und ich soooo wenig..."

"Wenn Du es sagst."

"Zugegeben, in Medizin und altägyptischer Geschichte kenne ich mich besser aus, aber sonst hätte ich ja nichts, was ich ihm im Austausch für sein Wissen in Thaumaturgie und Informationen über die Kainskinder anbieten kann."

Jean guckte gestreßt. Er fand diese ganze Lernerei ziemlich öde und eroberte sich demonstrativ die Decke zurück.

"Jean, es ist schon 17:12 Uhr! Jetzt komm schon, ich habe keine Lust, alleine loszuziehen."

"Du bist ein Quälgeist." Seufzend kletterte er aus dem Bett. Er haßte es, so früh aufzustehen.

"Brav!" Zur Belohnung gab Anshara ihm einen Kuß und ein paar Streicheleinheiten, was er sich zu gerne gefallen ließ. Unterdessen dirigierte sie ihn in Richtung Bad.

"Ich hasse es, mich gleich wieder in diesen Trubel stürzen zu müssen", murrte er.

"Och Jean..." Sie klimperte mit den Wimpern. "Wir brauchen doch nur die Geschenke."

"In der Stadt ist es um die Zeit aber immer so voll."

"Dann finden wir bestimmt auch den einen oder anderen Happen zu trinken."

"Stimmt, ich bin ziemlich hungrig", gab Jean zu und streckte sich, ehe er sich kurz abduschte und danach anzog. Ganz entgegen seiner Gewohnheit brauchte er diesmal nicht viel länger als eine halbe Stunde dafür.

Anshara bewunderte ihn wie stets - die makellose, fast weiße Haut, die dunkeltürkisfarbenen Augen, das lange, schwarze Haar... Sie seufzte. Er war einfach schön.

"Ist was?"

"Dein Anblick ist wie stets unvergleichlich", erklärte sie und verschlang ihn mit den Augen. Jean grinste. "Es ärgert mich, daß du so wundervoll hochgewachsen bist und ich dagegen so klein", fuhr sie fort. Tatsächlich war er ganze fünfunddreißig Zentimeter größer als sie.

"Klein aber süß", fand er, und sie schwebte zu ihm hin und schmiegte sich an ihn.

"Laß uns loswandern", sagte sie. "Ich hoffe nur, daß Marc den Wagen vollgetankt hat. Gestern war er schon auf Reserve."

"Du fährst doch immer damit herum, also könntest du auch tanken."

"Du weißt doch, daß ich den Tankverschluß nie aufkriege."

Jean sah zur Decke und seufzte. "Frauen!"

"Der geht nun mal so schwer", schmollte sie.

"Schwächling."

"Mal sehen, vielleicht mache ich demnächst mal Bodybuilding", erklärte sie in einem Tonfall, der eher so klang wie 'so bald aber bestimmt nicht'.

"Könnte Dir bestimmt nicht schaden."

"Das ist aber anstrengend", seufzte sie. "Außerdem bist du doch groß und stark."

"Immer ich."

"Wer sonst?"

"Das ist ja das Problem", maulte Jean. "Du solltest dir vielleicht einen Bodyguard zulegen."

"Ich könnte Marc fragen..."

"Der ist mein Ghul. Such dir selber was."

"Michelle ist leider nicht stärker als ich..."

"Selbst schuld. Du hättest Dir eben auch einen Sterblichen mit Muskeln als Ghul aussuchen sollen."

"Kann ich etwas dafür, daß sie mich beim Einbruch in die Blutbank erwischt und dann erklärt, daß sie ein absoluter Vampirfan ist und auch einer werden will?"

Anshara hatte Michelle dieses so gerade eben ausreden können, aber wenigstens ein Ghul wollte die ehemalige Krankenschwester werden. Glücklicherweise hatte François Villon, der Prinz von Paris, ihr erlaubt, einen Ghul zu erschaffen, und seither waren Michelle und sie gut befreundet und hatten sogar eine gemeinsame Naturheilpraxis eröffnet.

"Du solltest ja nicht alleine losziehen. Ich hatte dir doch gesagt, daß du das noch nicht kannst."

"Püh!" Sie schmollte ihn an. Jean gan ihr einen Kuß, ehe sie zur Garage gingen, wo ihr silbergrauer Mercedes 230 Automatik stand. Die Farbe war ein Kompromiß gewesen, da Jean lieber einen schwarzen Wagen gehabt hätte und Anshara weiß bevorzugte.

Sie fuhren durch den dichten Abendverkehr in die City, wo sie mit viel Glück einen Parkplatz fanden. Von dort war es nur ein kurzer Weg bis zu den Hauptgeschäftsstraßen.

"Jetzt müssen wir nur sehen, wo wir am besten die Geschenke bekommen."

"Du bist der Experte."

"Hm... Michelle kaufe ich einen schönen Seidenschal", begann Anshara mit ihrer Aufzählung. "Marc mag doch alte Sherrys, oder habe ich das falsch in Erinnerung?"

"Nein, das stimmt."

"Für Marcel dachte ich an einen neuen Walkman, da auch sein letzter vorgestern wegen Überbeanspruchung den Geist aufgegeben hat, Yvette... Hm, was kann man Yvette schenken?"

"Keine Ahnung", entgegnete Jean schulterzuckend.

"Was mag sie zum Beispiel an Musik?"

"Weiß ich nicht."

"Hm... Sie sagt so selten etwas über sich."

"Ich weiß nur, daß sie permanent liest oder vor dem Computer hängt."

"Dann sollten wir ihr ein paar interessante Bücher besorgen."

"Das wird ihr bestimmt gefallen."

"Gut. Natalie bekommt Pastellkreiden, und dann bleibt eigentlich nur noch Simon. Was für ein Glück, daß ich das Geschenk an Chris schon abgeschickt habe."

"Die Post braucht um die Weihnachtszeit auch ewig."

"Eben. Habe ich noch jemanden vergessen?"

"Ja, mich."

"Gar nicht wahr. Das Geschenk für dich habe ich schon bestellt, als du noch geschlafen hast. Es ist manchmal sehr praktisch, daß du so lange und tief schläfst."

"Schmoll", machte Jean. Zu seinem Bedauern war er furchtbar neugierig.

"Es ist ein sehr schönes Geschenk", erzählte sie. "Genau das richtige für dich. Ich bin sicher, du bist begeistert, wenn du es Weihnachten auspacken darfst."

"Weihnachten", seufzte Jean.

"In einer Woche", stimmte Anshara zu, und Jean seufzte. "Du bist nicht zufällig neugierig?"

"Ich? Nö, überhaupt nicht", behauptete er. "Ich habe leider noch gar kein Geschenk für irgendjemanden. Mir fällt einfach nichts ein."

"Das solltest du aber ändern. Laß einfach deine Phantasie spielen."

"Ich habe keine, das weißt du doch."

"Also, wenn du mich verwöhnst, kann ich mich eigentlich nicht über einen Mangel an Phantasie beklagen."

"Dann ist es ja gut", kommentierte er belustigt.

"Ich könnte dich ja beraten. Oder wir könnten den Leuten gemeinsam etwas schenken."

"Wie du willst." Jean betrachtete ein Schaufenster. "Vielleicht fällt mir ja auch selber etwas ein. Mal sehen, was ich so finde."

"Hast du auch schon etwas für mich?"

"Nö. Mir ist noch keine Idee gekommen."

"Oh." Anshara setzte einen Schmollmund auf.

"Ich hasse diese Überlegerei am frühen Abend. Aber es hat ja auch noch etwas Zeit."

"Eine Woche."

"Also massig Zeit - wo willst du nun hin?"

"Gibt es hier irgendwo einen esoterischen Buchladen?"

"Ja, da vorne. 'Akchara' heißt das Geschäft. Yvette hat dort schon öfter eingekauft, und sie erzählte, daß sie dort auch Material von Wert neben dem ganz normalen esoterischen Kram entdeckt hatte."

Sie wanderten zu der Buchhandlung, wo Anshara prompt einen Vorhang aus schwarzblauem Samt erspähte, der mit allerlei silbernen antiken magischen Symbolen dekoriert war. Sie hatte die Zeichen schon einmal auf einigen der Schriftrollen des Thoth gesehen, die sie vor Urzeiten aus dem Tempel der Ma'at geklaut hatte, als sie noch unter den Lebenden weilte. Schnurstracks steuerte sie auf den Vorhang zu und passierte ihn, da ihre vampirischen Sinne allerlei mystische Energien dahinter verspürten. Jean folgte ihr neugierig.

Eine Verkäuferin versuchte, sie aufzuhalten, wurde aber von einem herrischen Blick auf ihren Platz verwiesen, und Anshara betrat den indirekt erleuchteten Raum hinter dem Vorhang.

"Was suchst du hier?" fragte Jean neugierig.

"Interessante Lektüre für Simon und Yvette." Die prallgefüllen Regale, die einen Großteil des Raumes einnahmen, waren mit antiken Bänden überladen, aber neben ledergebundenen Wälzern fanden sich auch Schnellhefter mit Computerausdrucken auf Endlospapier.

Lautlos trat ein schwarzgekleideter junger Mann zu ihnen. Bis auf ein aufrechtes silbernes Pentagram an einem Lederband um den Hals trug er keinen Schmuck.

"Suchen Sie etwas Bestimmtes?" Er hatte eine angenehme Stimme, mit der er seinen Kunden offenbar Vertrauen einzuflößen versuchte.

"Ja", entgegnete Anshara, die just in diesem Moment einen Entschluß gefaßt hatte. "Einmal bräuchte ich Schriften zur Pflanzenmagie der Schamanen und zum anderen würde mich interessieren, ob sie auch neuzeitliche Kommentare zu den Schriften des Djehuti - pardon, Thoth - haben."

Jean guckte ziemlich gelangweilt in die Regale. Fast ausschließlich Bücher, stellte er fest. Wie öde. An einer Seite des Raumes stand ein kleiner Tisch mit einer Decke aus schwarzem Samt, auf der ein silberner Kerzenleuchter stand. Ein Tarotdeck aus anscheinend antiken, mit Blattgold verzierten Karten lag darauf. In einer hohen Glasvitrine neben dem Tisch befanden sich diverse magische Gegenstände, einige davon offenbar aus echten menschlichen Knochen. Jean war besonders von den silbernen Talismanen fasziniert.

Der Verkäufer führte Anshara zu einem Regal, in dem mit Leder und Menschenhaut eingebundene Bücher standen, und sie nahm das eine und andere alte Buch heraus und blätterte darun, wobei sie sich ärgerte, daß sie weder Latein, noch Altgriechisch, noch Hebräisch beherrschte. Aber wenigstens sprach sie mittlerweile Französisch perfekt. Naja, nicht ganz perfekt, denn Jean fand bei ihrer Aussprache immer etwas, an dem er herummäkeln konnte.

Da sie sich offenbar ernsthaft für die Ware interessierte, wurde Anshara ausführlich beraten. Zwischendurch wandte sie sich kurz an Jean.

"Die Sachen hier sind fast alle sehr interessant für Simon und Yvette", bemerkte sie.

Jean sah von einem magischen Talisman aus Federn und Zinn auf. "Das meiste ist hier nicht viel wert. Sowas kann man doch nicht verschenken!" Er deutete auf eine Kette aus Holzperlen, die sich mit Metallstücken abwechselten. 'Orgon-Ladekette' stand darunter. Anshara runzelte die Stirn, irgendwo hatte sie schonmal von Orgon-Energie gehört, konnte diese aber beim besten Willen nicht einordnen.

"Also, die Bücher sind jedenfalls authentisch", widersprach sie. "Riech mal!" Sie hielt ihm ein uraltes Werk unter die Nase, das offenbar mit Menschblut geschrieben worden war.

"Eh", machte Jean und drehte den Kopf weg. "Ich hatte noch kein Frühstück!"

"Excuse-moi", sagte Anshara und stellte den Band wieder ins Regal zurück. "Aber du siehst, was ich meine."

"Ja", gab er zu.

"Also, ich nehme das, das und die beiden", eröffnete Anshara dem Verkäufer und deutete auf vier der Bücher, ehe sie sich der Vitrine zuwandte. Der Verkäufer nickte würdevoll und verpackte die Bände in schwarzes Seidenpapier.

"Noch was?" wollte Jean wissen.

"Augenblick, ich wollte nur mal die Sachen in der Vitrine begutachten." Sie peilte in den Glasschrank, wo neben undefinierbaren Talismanen allerlei magische Ingredienzen in Apothekerfläschchen standen und Amulette und Ketten funkelten.

Jean spielte derweil mit dem Tarot herum. Ganz nett, fand er.

"Guck mal, die haben sogar lebende Moskitos und echte Frauentränen hier", staunte die Ägypterin. Ihr Begleiter guckte neugierig.

"Aber leider können wir das kaum gebrauchen."

"Stimmt... - So, ich hätte jetzt alles. Was ist mit dir?"

"Ich weiß nicht", zögerte er. "Ein paar Sachen gefallen mir schon."

"Ich möchte ja gerne ein Tarot haben, aber von denen hier gefällt mir keins." Sie fächerte das Deck auf, das auf dem Tisch gelegen hatte.

"Nö, das ist viel zu golden", meinte Jean. "Und außerdem ist es eine Fälschung."

"Sie glauben doch wohl nicht, das wir das echte Tarot der Päpstin Johanna offen hier liegen lassen?" meinte der Verkäufer belustigt. Er hatte Haare von der selben Farbe wie seine Kleidung, aber seine Augen waren von einem strahlenden Grün, das höchst beunruhigend wirkte.

"Natürlich nicht", erwiderte Jean. "Aber das hier vergrault ja jedes Fünkchen Interesse."

"Es ist Dekoration. Ein Tarot, daß durch so viele Hände geht wie dieses hier ist für einen echten Okkultisten zur Divination wertlos."

"Es ist häßlich", sagte Jean gnadenlos.

"Die Darstellungen sind Geschmackssache", bemerkte der Verkäufer.

"Keine Frage." Jean gefiel das Teil einfach nicht. "Ich habe für Tarots eh nicht viel übrig", sagte er abfällig.

"Das ist kein Makel", erklärte der Mann mit einem amüsierten Funkeln in den Augen. Er war ungemein selbstbewußt und schien in keinster Weise von Jean oder Anshara beeindruckt zu sein, obwohl Menschen normalerweise eher unbehaglich auf Vampire reagierten, vor allem, wenn diese ungehalten waren.

"Sie sollten beim Verkaufen ihres Krams bleiben und sich herablassende Bemerkungen über mögliche Kunden verkneifen, wenn Sie etwas loswerden wollen", knurrte Jean.

"Meine Kundschaft weiß üblicherweise, was sie will." Der Verkäufer verkniff sich das 'und wenn Sie es nicht wissen, dann sind Sie in dieser Abteilung falsch' so gerade eben. Jean wurde langsam wirklich ärgerlich. Er haßte solch eine pampige Anmache vor dem Frühstück.

Anshara, die mittlerweile sah, daß die Aura des Verkäufers förmlich Funken sprühte, sah Jean warnend an und zog ihn zu sich, doch das paßte ihrem Gefährten überhaupt nicht.

"Was soll das?" fuhr er sie an.

Anshara zog ihn ein Stück zu sich herab, damit sie ihm ins Ohr flüstern konnte. "Der Typ kann echte Magie", sagte sie leise, aber eindringlich.

"So?" machte Jean verächtlich. Der Magier hob belustigt eine Augenbraue.

"Die sind gefährlich", warnte sie.

"Ach ja?" fauchte Jean sie an. "Und was soll ich da tun? Weglaufen?"

"Es wäre auf jeden Fall eine sichere Option", kommentierte sie trocken.

"Ach", machte er ungehalten.

"Simon hat schließlich immer wieder betont, daß Magier erheblich stärker sind."

"Das weiß ich."

"Gut."

Obwohl die beiden ihre Diskussion sehr leise geführt hatten, war sie dem Verkäufer nicht entgangen, denn Magier besaßen Fähigkeiten, die den geschärften Sinnen der Kainskinder vergleichbar waren, auch wenn sie auf anderen Prinzipien beruhten. Er amüsierte sich sichtlich über die beiden Untoten, die offenbar nicht vorhatten, ihm etwas anzutun (obgleich er sich sicherheitshalber bereithielt, die Sphären Leben und Materie einzusetzen, mit welchen die Magier sich gegen die Vampire zu verteidigen wußten). Vermutlich gehörten sie noch zu den Jungen ihrer Art.

"Vor allem kann ich es überhaupt nicht leiden, wenn sich jemand über mich amüsiert", beschwerte sich Jean etwas lauter.

"Ich mag es auch nicht", meinte Anshara leise, "aber wenn derjenige höchstwahrscheinlich stärker ist als ich, dann überlege ich mir dreimal, was ich unternehme..."

"So? Das wüßte ich aber." Anshara war seines Erachtens eine Meisterin im übereilten Handeln.

"Humpf", machte sie, ehe sie beschloß, das Thema zu wechseln. "Laß mich rasch bezahlen, dann können wir gehen. Es sei denn, du willst dir auch noch etwas zulegen."

"Ich kann mich beherrschen."

Bald darauf waren sie wieder draußen auf der überfüllten Geschäftsstraße, und der frostige Dezemberwind kühlte Jeans Ärger ein wenig ab, obwohl ihm die Lust aufs Einkaufen ziemlich vergangen war.

Anshara sah sich nach einem Laden für Designermoden um, um den geplanten Seidenschal für Michelle zu erstehen. Jean trottete hinter ihr her, als sie in das Geschäft ging und knurrte vor sich hin. Binnen fünf Minuten hatte sie sowohl das Geschenk für Michelle als auch zwei weitere Schals für sich erstanden.

Als sie einige Zeit später vor einem Geschäft für Künstlerbedarf standen, hatte Jean sich endlich beruhigt.

"Was brauchst du noch?" wollte er wissen.

"Pastellkreide, Sherry und den Walkman."

"Dann sind wir hier ja richtig."

"Stimmt. Mal sehen, dann kann ich mir auch gleich ein paar Blei- und Tuschestifte kaufen."

Anshara setzte ihr Vorhaben gleich in die Tat um, und auch dieses Paket nahm Jean entgegen, ebenso wie die vier Flaschen alten Sherrys aus dem nächsten Geschäft und dem Walkman aus dem dritten.

"Noch etwas?" erkundigte er sich schließlich.

"Wir sollten die Einkäufe ins Auto packen und uns anschließend einen kleinen Snack genehmigen."

"Gut."

Nach der Mahlzeit war Jean wieder richtig guter Laune und sah sich unternehmungslustig um. "Und was machen wir heute nacht?"

"Hm... Hast du einen Vorschlag?"

"So langsam haben wir schon alles in und um Paris besichtigt", meinte er nachdenklich. "Wie wäre es, wenn wir einfach so 'rausfahren? Die einzige Frage wäre dann allerdings - wohin?"

"Wir könnten ja jemanden oder etwas besuchen", schlug Anshara vor. "Aber leider fällt mir außer Le Club des Vampires nichts ein."

"Da waren wir doch erst vorgestern. Außerdem ist heute Rocknacht."

"Rocknacht? Du meinst, Marcel und La Mort Finale verpassen den Anwesenden mal wieder eine Dröhnung?"

"Richtig. Eigentlich brauche ich mein Gehör noch."

"Seufz. Wüßtest du nicht jemanden, den man besuchen könnte?"

"Du kennst doch alle meine Bekannten in Paris." Jean dachte nach. "Obwohl, wir könnten Gereint besuchen."

"Gereint?" Anshara konnte sich nicht entsinnen, diesen Namen schon einmal gehört zu haben.

"Er ist einer meiner 'Brüder'."

"Oh ja, das würde mich schon interessieren, denn außer Simon und Yvette kenne ich ja immer noch nichts von deiner 'Verwandschaft'."

"Ich befürchte nur, du könntest mich dann verlassen wollen..."

"Warum das?"

"Du hast Gereint noch nie gesehen."

"Ist er noch hübscher als du?"

"Finde ich schon."

"Hm. Aber ich glaube nicht, daß ich dich verlasse. Dazu habe ich dich viel zu lieb." Abgesehen davon hatten sie und Jean ein beidseitiges Blutsband, das dafür Sorge tragen würde, daß sie zusammen blieben.

"Es ist aber eine längere Fahrt", sagte er. "Gereint wohnt etwa zwei Autostunden von hier an der Küste, in der Nähe von St-Valéry an der Somme."

"Das geht noch."

"Du fährst ja..."

"Zwei Stunden machen mir nichts. Wir sollten aber sicherheitshalber gucken, wo wir notfalls unterwegs übertagen können."

"Es ist gerade mal 19:30 Uhr", machte Jean sie aufmerksam.

"Das heißt, wir haben etwa zwölf Stunden. Doch, das sollte reichen."

Ohne noch einmal bei Jeans Haus vorbeizufahren, um die Geschenke auszuladen, machten sie sich auf den Weg nach St-Valéry.

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