Les premières nuits à Paris
(c) 1995 by Shavana & Stayka
Kapitel 3: 3. Januar 1982
Sonntag, der 3. Januar 1982, ca. 17:20 Uhr.
Jean erwachte und streckte sich. Er betrachtete Anshara, die noch
zu schlafen schien. Er grinste amüsiert und küßte sie,
um zu sehen, ob sie wach wurde. Da sie nur vor sich hingedöst
hatte, schlug sie prompt die Augen auf.
"Bonsoir, ma chère", sagte er.
"Guten Abend." Sie räkelte sich, ehe sie ihn
ihrerseits küßte.
"So müßte man jeden Abend beginnen", seufzte
Jean zufrieden.
"Was spricht dagegen?"
"Wer weiß, wie lange du bei mir bleibst. Vielleicht
findest du ja jemanden, der dir besser gefällt."
"Hm, momentan bin ich mit dir eigentlich recht zufrieden."
Sie lächelte ihn an und erhob sich aus den Federn.
"Dann bin ich beruhigt." Er stand ebenfalls auf und
bewunderte sie wie stets. Zwar kannte er Anshara erst seit knapp einer
Woche, aber irgendwie würde ihm wirklich etwas fehlen, wenn sie
plötzlich nicht mehr da wäre. Es war schon eigenartig, fand
er.
"Sag mal, hattest du eigentlich bei Simon angerufen?"
"Nein, aber er wäre sowieso nicht 'rangegangen."
"Und was machen wir dann? Können wir einfach bei ihm
vorbeigehen?"
"Nun, dann schmeißt er uns entweder sofort raus oder nach
zehn Minuten."
"Er scheint wirklich überaus freundlich zu sein",
kommentierte Anshara trocken.
"Ungemein."
"Gibt es denn irgendeine Möglichkeit, ihn ein
wenig gnädiger zu stimmen?"
"Hm. Wir sollten vielleicht hoffen, daß er gut
gefrühstückt hat."
"Könnten wir ihm nicht vielleicht eine besondere Flasche
mitbringen?"
"Je ne sais pas.", entgegnete Jean. "Ich
habe so etwas noch nie probiert."
"Oder wie wäre es mit irgendeinem Kunstwerk als
'Bestechung'?"
"Simon hat eine seltsame Vorstellung von Kunst. Die
Austellungsstücke, mit denen er sich umgibt, müssen
nämlich auf die eine oder andere Art lebendig sein."
"Oh."
"Ich denke, du wirst ihm bestimmt gefallen. Er hat etwas
für bernsteinfarbene Augen übrig."
"Nicht für türkisfarbene?" Anshara dachte an
Jean und dessen Katze.
"Nun, es gab eine ganze Menge Bewohner in Simons
Schloß." Jean dachte nicht gerne an seine anfänglichen
Jahre unter Simons Herrschaft nach. Mittlerweile wohnte dieser
allerdings in einem großen Haus etwas außerhalb der Stadt
und mußte sich entsprechend etwas einschränken.
"Aha." Anshara hoffte, daß der Typ nicht
beschloß, sie in seine Sammlung aufzunehmen. Jean hatte offenbar
ähnliche Gedankengänge verfolgt, denn er nahm sie
besitzergreifend in die Arme, woraufhin sie den Kopf an seine Brust
legte.
"Du paßt doch auf mich auf, ja?" Sie sah zu ihm
hoch.
"Ich versuche es jedenfalls."
"Gut."
"Und was machen wir jetzt? Frühstücken?"
"Natürlich." Sie hatte momentan zwar keinen echten
Hunger, aber sie zog es vor, ständig gut gesättigt zu sein.
Jean hob sie hoch, um ihr in die Augen sehen zu können.
"Zuerst sollten wir uns allerdings ankleiden", empfahl er.
"Stimmt", kicherte sie. "Obwohl es eine Wonne
für meine Augen ist, dich pur zu betrachten."
"So?" fragte er belustigt, ohne sie loszulassen. Sie war
leicht genug, daß er sie problemlos länger halten konnte.
"Oui. Du bist ästhetisch wertvoll."
"Soviel kannst du doch gar nicht sehen", stellte er
vergnügt fest und stellte sie auf dem Bett ab.
"Dann dreh' und wende dich mal vor mir", forderte sie.
"Dann müßte ich dir ja den Rücken zuwenden und
könnte dich nicht mehr anschauen."
"Oh, das ist ein Punkt. Wir sollten ein Zimmer einrichten, das
rundum verspiegelt ist", schlug sie vor.
"Hm", machte er. "Meinst du, wir würden es
jemals wieder verlassen können?"
"Guter Einwand. Aber allein die Vorstellung eines solchen
Raumes gefällt mir."
"Moi aussi - mir auch", meinte Jean und
küßte die Innenflächen ihrer Hände.
"Vielleicht sollten wir uns so ein Zimmer einrichten und Marc
bitten, ab und zu hineinzugucken. Wenn wir dann zu lange drin sind,
müßte er halt notfalls Tüten oder Säcke über
uns stülpen."
"Ich war mal in der Galerie des Glaces, dem
Spiegelsaal in Versailles", erzählte Jean.
"Wenn Marc mich nicht gewaltsam herausgeholt hätte, dann
hätte ich wohl die Sonne inmitten von all dem Kristall und den
Spiegeln begrüßt..."
"Oh, ich glaube, da muß ich auch einmal hin - aber nur
mit Aufpasser."
"Stimmt." Jean sah bewundernd zu Anshara auf. "Es
wäre der passende Rahmen für dich. Alles dort ist golden, und
von der hohen, gewölbten Decke hängen prunkvolle
Kristallüster herunter, die das Licht in allen Farben des
Regenbogens brechen und mit ihrem märchenhaften Glitzern den Raum
zu einem Elfenpalast verzaubern..." Gedankenverloren sah er in die
Ferne und versuchte, sich den Anblick wieder ins Gedächtnis zu
rufen.
"Du schmeichelst mir." Sie sah verlegen zu Boden, ehe sie
die Arme um seinen Hals schlang.
"Mit dem größten Vergnügen." Er musterte
sie ausgiebig. "Ich könnte dich stundenlang bewundern."
"Mir geht es ebenso." Sie vergrub ihr Gesicht in seiner
nachtfarbenen Mähne. Jean seufzte und legte ihr die Arme um die
Hüften.
"Was machen wir nun?"
"Uns ausnahmsweise mal voneinander losreißen, dann
anziehen und anschließend Simon heimsuchen", erklärte
Anshara den Ablauf dieser Nacht.
"Das gefällt mir aber gar nicht", maulte Jean.
"Nun, und wenn die Zeit nachher noch reicht, könnten wir
ja Versailles besuchen." Aber vermutlich müßten sie bis
morgen abend damit warten, denn immerhin lag Versailles einige Kilometer
nordwestlich vom Pariser Stadtzentrum. Außerdem sollte man
vermutlich schon ein wenig Zeit mitbringen, um das Schloß und die
umliegenden Anlagen gebührend zu bewundern.
"Seufz", machte Jean.
"Kopf hoch, da müssen wir durch."
"Aber deshalb muß ich es nicht mögen. Und so
einfach lasse ich dich auch nicht los, vor allem, wo ich momentan eine
ganz neue Perspektive von dir habe." Ausnahmsweise mußte er
im Augenblick zu ihr aufsehen, da sie durch ihren erhöhten Standort
etwa zwanzig Zentimeter größer war als er - im Gegensatz zu
den 35 Zentimetern, die ihr normalerweise fehlten. Übermütig
gab Anshara ihm einen Kuß auf den Scheitel. "So siehst du
gar nicht wie ein Zwerg aus", fand er amüsiert.
"Ich bin auch kein Zwerg", entrüstete sie sich.
"C'est vrai. - Stimmt. Eigentlich siehst du eher
einer der Statuen ähnlich, die ich im Museum gesehen habe."
"So? Was für Statuen denn?"
"Verrate ich nicht."
"Ooooch, Jean..." Sie sah ihm tief in die Augen, und er
erlaubte sich, ganz in ihrem Blick zu versinken. "Also - was
für Statuen?"
"Hm?" Er sah sie irritiert an, er hatte schon wieder ganz
vergessen, von was er gerade gesprochen hatte, so sehr war er von den
Goldpünktchen in Ansharas Augen fasziniert.
"Offenbar setzt bei dir tatsächlich einiges aus, wenn du
mich anguckst", seufzte sie. Sie schüttelte belustigt den
Kopf, ehe sie ihn küßte. Jean mußte sich strecken und
fand das höchst amüsant. Er sollte Anshara öfter auf
irgendwelche Sachen stellen. "Sollen wir uns nicht doch einmal
langsam anziehen?" fragte sie.
"Wenn du darauf bestehst."
"Auf jeden Fall. Wir können ja nicht die ganze liebe
lange Nacht damit verbringen, uns zu bewundern."
"Warum nicht?" Er nahm ihre Hände.
"Weil wir irgendwann hungrig werden und dann übereinander
herfallen."
"Hm, du hast recht. Du siehst sehr schmackhaft aus",
überlegte er und grinste sie an.
"Ich habe mich noch nicht probiert, da kann ich kein Urteil
abgeben."
"Obwohl du natürlich noch nicht frisch gewaschen
bist..."
"Nun, dem könntest du einfach abhelfen."
"Ich weiß", meinte Jean. "Was hältst du
von einer Dusche?"
"Viel." Sie sah ihn auffordernd an.
"Wie Ihr befehlt", sagte er und trug sie ins Bad, wo er
sie unter der Dusche abstellte und das Wasser laufen ließ.
"Und jetzt wirst du erst einmal gründlich geschrubbt."
"Dann mach mal." Sie stellte sich in Pose und strahlte ihn
an. Jean machte sich mit einem weichen Schwamm über sie her, und
Anshara gab allerlei behagliche Geräusche von sich.
Schließlich war er bei ihren Füßen angekommen und
umfaßte einen ihrer Knöchel, wobei er ihr einen
übermütigen Blick zuwarf.
"Was hast du vor?" wollte sie wissen.
"Ich überlege mir, wie ich dich unterwerfen kann."
"Schäm dich in Grund und Boden - ein Mann unterwirft sich
einer Dame, nicht umgekehrt!"
"Selbstverständlich umgekehrt", widersprach Jean.
"Wer hat dir denn diese Irrlehre beigebracht?"
"Soweit ich weiß, waren alle dieser Meinung, sowohl
Menschen als auch Kainskinder."
"Hm. Ich glaube, ich muß dich unbedingt umerziehen.
Weißt du, zu meiner Zeit galt die Gleichberechtigung von Mann und
Frau, und meist haben die Herren das getan, was die Frauen wollten, ganz
wie es sich gehört."
"Hm", machte Jean. "Zu meiner Zeit war es eher
anders herum."
"Die Zivilisation hat mit dem Niedergang des Alten Ägypten
alle Werte verloren", seufzte Anshara.
"Also, mir gefiel meine Zeit."
"So lange du mit mir zusammen bist, darfst du das vergessen.
Mich unterwirft mann nicht."
"Aber umwerfen kann ich dich", grinste er und zog sanft an
ihrem Bein. Da der Boden rutschig war, landete sie mit einem satten
'Platsch!' und einem Aufschrei auf dem Hinterteil.
"Wüstling!"
"Oh ja, erzähl' mir mehr", forderte er.
"Pöh! Du bist ein Lump, ein hinterhältiger",
schimpfte sie.
"Fein, was noch?"
Sie schaute ihn erbost an, doch ob seines impertinenten Grinsens
konnte sie nicht mehr an sich halten und prustete los. "Du bist
unmöglich", fand sie.
"Findest du?" Er legte den Kopf schief. Sie nickte heftig
und streckte ihm die Arme entgegen.
"Zieh mich wieder hoch!"
"Warum?"
"Weil du mich umgeworfen hast, natürlich."
"Ich wollte nur dein Bein bewundern", behauptete Jean und
angelte wieder nach diesem.
"Eh!" Sie lag auf dem Rücken wie ein Käfer, und
er betrachtete vergnügt ihre Zehen.
"Genau wie ich es mir dachte. Du hast wahrhaft winzige
Füße."
"Und was ist daran ungewöhnlich?"
"Nichts. Ich wollte nur wissen, ob die zum Rest passen."
"Natürlich passen meine Füße zum Rest! Die
sind zusammen designt worden. - Kriege ich meinen Fuß heute noch
zurück?"
"Nein." Er hielt diesen weiterhin fest und drehte und
wendete ihn scheinbar interessiert. Anshara guckte ihm
mißtrauisch dabei zu.
"Laß den bloß dran! Ich habe mich im Laufe der
Zeit gut mit ihm angefreundet."
"Ne te fais pas de soucis", winkte er ab.
"Keine Sorge." Er zog sie daran näher zu sich
heran, und sie quietschte entrüstet auf, ehe sie wieder platt auf
dem Boden lag.
"Aha, sehr interessant..."
"Was?" Sie stützte sich auf einem Arm auf und
schmollte ihn an.
"Ich habe so etwas mal in einem Steinzeitfilm gesehen",
grinste er.
"Chauvi!" grummelte sie. "Ich muß dir wirklich
noch Manieren beibringen."
"Versuch's doch."
"Ich arbeitete daran", versprach sie. "Wart's nur
ab."
"Ja?" Er guckte sie erwartungsvoll an. Da er sie immer
noch nicht los ließ, warf sie ihm den Schwamm an den Kopf. Dies
fruchtete immer noch nichts, und so zog sie ihn mit dem anderen
Fuß die Beine weg, woraufhin er sich zu ihr gesellte.
"Au", gab er von sich und rieb sich den Hintern.
"Das war die gerechte Strafe." Sie rutschte zu ihm
herüber und himmelte ihn an.
"Finde ich nicht", maulte Jean, stemmte sich wieder auf
die Füße und betrachtete sich im Spiegel. Endlich konnte
auch Anshara aufstehen, da ihr Fuß nun wieder in ihrem Besitz war.
Sie schlang die Arme um Jeans Mitte. Er sah auf sie hinunter und fuhr
durch ihre nassen Haare.
"Ich hab dich lieb", erklärte sie.
"Ich dich auch."
"Und jetzt sollten wir uns abtrocknen und ankleiden, ehe wir
weggespült werden."
"So?" Jean gab ihr einen Kuß und seufzte. Anshara
war ziemlich bestimmt, wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatte.
Sie unterstrich diese Einschätzung noch, indem sie das Wasser
abstellte und eins der riesigen schwarzen Badetücher holte. Jean
sah ihr dabei zu, dann wickelte Anshara sie beide in das monumentale
Tuch. Er grinste kurz, dann zog er das Tuch bis unter seine Achseln,
was dazu führte, daß Anshara komplett darunter verschwand.
"He", kam es dumpf unter dem Frotteestoff hervor.
"Hier ist es finster!"
"Ich dachte, du magst es dunkel." Er rubbelte sie schon
mal trocken.
"Ein bißchen wollte ich schon von dir sehen." Sie
seufzte. "Es ist unfair, daß du so riesig bist."
"Ich bin nicht riesig, nur ein bißchen
hochgewachsen", korrigierte Jean.
"Du bist mindestens einen halben Meter größer als
ich", übertrieb sie. Jean pellte sie wieder ein
Stückchen aus.
"Zufrieden?" fragte er.
"Ja, ich kann wieder sehen." Sie legte den Kopf an seine
Brust. Er lachte und trocknete sie fertig ab, wobei sie behagliche
Laute von sich gab. Schließlich kniete er sich hin, um auch noch
ihre Beine und Füße zu bearbeiten. Anshara gefiel das
sichtlich.
"So, jetzt bist du trocken."
"Ich danke dir, mein Herzallerliebster", sagte sie
übermütig.
"Gern geschehen, o du Strahlende."
Anshara lächelte ihn an. "So, und was soll ich nun
anziehen?" überlegte sie.
"Mußt du denn etwas anziehen?"
"Soll ich etwa so vor Monsieur Simon treten?"
"Es würde ihm sicherlich gefallen."
"Mir aber nicht. Ich bin ein züchtiges
Mädchen."
"Wo?"
"In der Gesellschaft natürlich - allerdings nicht in
deiner."
"Eh bien", meinte Jean belustigt. "Und was
wirst du also anziehen? Ich hoffe, etwas besonders Schönes, das
deine Einzigartigkeit noch betont..."
"Du Schmeichler", sagte sie und guckte leicht verlegen zu
Boden. "Schade, daß die neuen Sachen noch nicht fertig
sind."
"Wir haben noch nicht nach der Post geschaut", machte Jean
sie aufmerksam. Er hatte dem Schneider eine erkleckliche Summe
versprochen, wenn er zumindest eins der Kleider bis heute fertig hatte,
und da Monsieur Caradouc mehrere Näherinnen beschäftigte,
sollte ihm dies auch gelungen sein.
"Dann laß uns nachsehen."
Jean packte Anshara in das Badetuch und trug sie in ihren Raum.
"Ich schaue gleich nach."
"Ich werde dich freudig hier erwarten."
Er grinste sie an und verschwand erst einmal in seinem Zimmer, um
sich einen Bademantel zu holen, ehe er nach unten ging. Der Schneider
war seinem guten Ruf tatsächlich wieder einmal gerecht geworden und
hatte sogar drei der Kleider geliefert, wie Jean dem an ihn
addressierten Begleitbrief entnahm. Vermutlich hatten die
Näherinnen die letzten Stunden exklusiv für Anshara
gearbeitet. Er brachte das Paket zu ihr nach oben.
"Ein Päckchen? Für mich?" erkundigte sie sich
begeistert. Sie nahm es entgegen und stürzte sich auf den Karton.
Zunächst einmal mußte sie sich durch allerlei Lagen
Seidenpapier arbeiten, ehe sie die drei Kleider befreit hatte. Es
handelte sich um ein rot-schwarzes, wie sie es bestellt hatte und zudem
um je ein dunkelblaues und ein gold/beigefarbenes Gewand, von denen sie
nichts wußte.
"Oh! Hast du die beiden für mich geordert?" wollte
sie wissen. "Die sehen hübsch aus!"
"Ich weiß von nichts", behauptete Jean, doch sein
zufriedenes Gesicht sprach Bände.
Anshara legte zunächst das Samtkleid an, das weitestgehend
schwarz war bis auf die Korsage und einige rot unterlegte Falten im
Rock. Sie drehte und wendete sich vor dem Ankleidespiegel im Schrank.
"Du siehst wundervoll aus", fand Jean.
"Merci", strahlte sie ihn an. "Das
gefällt mir auch. - So, und jetzt muß ich unbedingt die
beiden Überraschungskleider probieren."
Sie stieg auf dem Samtkleid und hängte es auf einen
gepolsterten Bügel, ehe sie das dunkelblaue, schimmernde Satinkleid
überstreifte. Jean hatte Monsieur Caradouc während der
diversen in französisch gehaltenen Dialoge offenbar genaue
Anweisungen erteilt. Hoffentlich brachte er ihr bald diese dumme
Sprache bei!
Das blaue Kleid war schulterfrei, schmal geschnitten und hatte einen
hohen Stehkragen.
"Ts, das ist aber schwierig, sich in diesem Gewand zu
bewegen", stellte sie fest.
"Das sollst du auch gar nicht."
Kopfschüttelnd wand sie sich aus der Robe heraus und wechselte
in das Dritte. Dieses entsprach seinem Stil nach fast einem Kleid aus
dem letzten Jahrhundert, es hatte eine eng anliegende beigefarbene
Korsage mit einer goldenen Rüsche, die über die Schultern
reichte, dazu einen ebenfalls goldenen Unterrock, über den ein
weiter, beigefarbener, vorne offener Überrock drapiert war.
"Hübsches Design." Sie bewunderte sich im Spiegel.
"Finde ich auch." Jean trat hinter sie und strich ihr
sanft durch die Haare. Sie schlang ihm die Arme um die Taille und
kuschelte sich an ihn, während er an ihren Haaren herumspielte.
"Ich denke, hochgesteckte Haare würden dir auch stehen."
"Kannst du mir ja mal machen."
"Kann ich." Er küßte sie auf die Schulter.
"Zu diesem Kleid fehlt nur der passende Schmuck", stellte er
fest. "Warte mal kurz." Jean verschwand und kam gleich darauf
mit einer Schachtel zurück. "Was hältst du davon?"
Er hielt ihr die geöffnete Schatulle mit einem goldfarbenen
Topas-Collier hin.
"Wow!" begeisterte sich Anshara. "Legst du es mir
an?" Sie blickte erwartungsvoll zu ihm auf, und er leistete ihrer
Bitte Folge.
"Nun?"
"Herrlich! - Wie heißt das auf Französisch?"
"Magnifique."
"Ja, dann genau das!"
"Du bist wunderschön", erklärte er. "Ich
bin sicher, jeder wird dich bewundern."
"Merci." Sie schlug dezent die Augen nieder.
Jean trat hinter sie, um die Arme um sie zu legen und betrachtete ihr
Abbild im Spiegel. Anshara legte den Kopf in den Nacken und sah zu ihm
hoch.
"Wenn du mir deine entzückende Kehle nur noch ein wenig
länger darbietest, dann darfst du dich nicht wundern, wenn es mir
nicht mehr gelingt, meinen Appetit zu zügeln", bemerkte er.
"Du darfst dich gerne bedienen, so lange du nicht zu gierig
bist und mir mein Kleid nicht vollkleckerst."
"Ich kleckere doch nicht", erwiderte Jean mit
hochgezogenen Augenbrauen.
"Das hoffe ich für dich."
Jean lachte und strich ihr mit den Fingern über die Kehle,
woraufhin sie wohlig erschauerte. Diese Reaktion fand er um so
anziehender, und er beugte sich langsam über ihren Hals und
küßte sie dort hin.
"Du bist eine ständige Versuchung", stellte er fest
und beobachtete ihr Spiegelbild, ehe er wieder begann, an ihrem Hals
herumzuknabbern. Anshara seufzte auf; es war immer so aufregend, wenn
er mit seinen Zähnen über ihre Haut glitt. Ob er wohl
wirklich zubeißen würde? Sie wollte unbedingt wissen, wie
sich das anfühlte. 'Wahnsinnig' hatte er das Gefühl
bezeichnet - das wollte sie auch gerne erleben.
Da sie offenbar nichts dagegen hatte, beschloß Jean, sich bei
ihr sein Frühstück zu genehmigen. Außerdem
interessierte es ihn, wie ihr Blut wohl schmecken würde. Er
spielte noch ein Weilchen herum, und dann biß er zu. Anshara
hatte gar nicht mehr damit gerechnet und guckte dementsprechend
verdutzt, ehe sie sich ganz den Empfindungen hingab, die sie
durchströmten. Es war tatsächlich unbeschreiblich,
grandios... Sie lehnte sich zuück an Jean, da sie nun eine wohlige
Schwäche überkam. Er war nicht sonderlich hungrig und
beraubte sie nur ein wenig ihrer Vitæ, bevor er verliebt
ihren Hals abschleckte.
"Das war magnifique", seufzte sie.
"N'est-ce pas? - Ich habe auch nicht gekleckert."
"Stimmt." Sie betrachtete ihren Hals. Es war keine Spur
mehr zu sehen. "Aber jetzt könnte ich auch etwas zu trinken
gebrauchen."
"Ich werde dir etwas holen." Jean ließ sie
widerstrebend los und holte einige gut gekühlte Flaschen und zwei
Gläser aus dem Keller.
"Du bis überaus aufmerksam", sagte sie, als er das
Frühstück auf dem Tisch aufgebaut hatte.
"Ich will ja nicht, daß du vor Schwäche eingehst. -
Obwohl ich ja nur ein bißchen an deinem Lebenssaft genippt
habe."
"Es war aber trotzdem ...faszinierend." Sie nahm ein
gefülltes Glas entgegen und leerte es in einem Zug.
"Es ist ganz anders als einen Menschen zu beißen",
sinnierte Jean. "Irgendwie ist es ...gehaltvoller."
"Hm." Anshara lauschte in sich hinein.
"Müßte man nicht eigentlich schon etwas von diesem
Blutsband merken?"
"Soweit ich weiß, merkt man das erst richtig, wenn man
dreimal von einem anderen getrunken hat."
"Ah. Was ist eigentlich, wenn man so ein Band hat und dann
dreimal das Blut eines anderen trinkt?"
"Da dürfte dann eigentlich nichts passieren, denn man kann
nur ein Blutsband haben."
"Wenn man es recht überlegt, ist das doch sogar praktisch,
wenn man eins hat - schließlich kann man dann nicht mehr von einem
böswilligen Individuum überrumpelt werden, das einem ein
Blutsband aufzwingen will."
"C'est vrai", stimmte Jean zu. "Das ist
wahr." Allerdings hatte er schon mal Gerüchte gehört
hatte, daß es Möglichkeiten geben sollte, auch ein
bestehendes Band zu brechen.
"Hm. Wäre es dann nicht sinnvoll, vorsorglich ein
Blutsband zu jemandem zu schaffen, denn man mag?"
"Die meisten Kainskinder trauen niemandem, und schon gar nicht
soweit daß sie jemandem solche Macht über einen geben."
"Das ist ja tragisch. Kein Vertrauen..."
"Es ist auf jeden Fall sicherer. Einige der Kainskinder sind
ziemlich gefährlich." Das war eine leichte Untertreibung,
dachte Jean ironisch. Der Sabbat zum Beispiel, eine Sekte der Kainiten,
bestand aus einer reinen Ansammlung von irren Massenmördern, und
für die Chance, ihre Generation auf die Stufe von Anshara zu
erhöhen, würden auch andere diese mit Freuden umbringen, um
sie ihrer kostbaren Vitæ zu berauben.
"Aber wenn man niemanden hat, der einem den Rücken deckt,
dann kann man sich doch niemals richtig sicher fühlen", wandte
sie ein.
"Sûr, aber was meinst du, warum Paranoia und
Verfolgungswahn völlig normale Eigenschaften der Kainskinder
sind?"
"Oh. Aber ich denke, dir kann ich vertrauen", meinte sie.
"Du bist nämlich absolut lieb." Sie ergriff seine Hand
und legte sie an ihre Wange, ehe sie zu ihm auf den Schoß
herüberrutschte.
"Ich mag dich eben." Er lächelte sie an und
streichelte ihren Rücken.
"Jean, sag mal, wie wird man eigentlich ein Blutsband wieder
los, wenn man es nicht mehr will?"
"Gar nicht."
"Oh."
"Sowas ist für immer - beziehungsweise für ziemlich
lange."
"Dann sollte man es sich wirklich gut überlegen." Sie
legte den Kopf an seine Schulter.
"Das wäre sinnvoll, aber meistens wird man vorher gar
nicht erst gefragt. Ein neuerschaffenes Kainskind weiß in der
Regel gar nichts über die Bedeutung des Blutsbands und trinkt
widerspruchslos mehrfach das Blut seines Erzeugers, und schon ist es
geschehen."
"Das ist aber nicht fein", sagte Anshara
mißbilligend. "Kann man sich denn nicht irgendwo
darüber beschweren? Zum Beispiel beim zuständigen
Prinzen?"
"Der wird bestimmt nichts unternehmen, schließlich
benutzt er ja auch Blutsbänder, um andere an sich zu fesseln."
"Alles korrupt", mokierte sie sich.
"Exakt."
Sie löste sich aus Jeans Armen und stand auf.
"Wir sollten wirklich langsam los. Außerdem mußt
du dich noch anziehen." Sie musterte seinen makellosen Körper
in dem schwarzen Bademantel voller Wohlgefallen. "Oder willst du
die Aufmerksamkeit aller auf dich ziehen, indem du nackt
erscheinst?"
"Ich glaube nicht, daß das irgendjemanden besonders
interessieren würde."
"Nicht?" Sie guckte leicht irritiert.
"Ich ziehe mich ja schon an", lachte er.
"Gut." Irgendwie wollte ihr der Gedanke nicht gefallen,
daß andere Personen Jean in seiner vollen Pracht erspähten.
Er warf ihr einen belustigten Blick zu.
"Bis gleich." Er verschwand in seinem Zimmer.
"Bleib nicht zu lange", rief sie ihm hinterher. "Ich
kann doch nicht solch eine Ewigkeit ohne dich sein. Ich würde vor
Sehnsucht vergehen!"
"Ich beeile mich aber trotzdem nicht", ertönte es
amüsiert von der anderen Seite des Flurs. "Die Wahl meines
Gewandes will wohlüberlegt sein."
"Dann werde ich mich zu dir gesellen, um dich dabei zu
unterstützen und meinen Augen den Genuß deines Anblicks nicht
zu verwehren."
"Ich würde sagen, mit deiner Anwesenheit werde ich ewig
und drei Tage brauchen."
"Aber zumindest muß ich dich dann nicht missen."
Jean kramte derweil weiter in seinem Schrank herum und warf ihr ab
und zu belustigte Blicke zu, da sie die Wand neben der Tür elegant
mit ihrer werten Person dekorierte. Natürlich wurde die Zeitdauer
des Anguckens immer länger, während die Suche nach den Sachen
untergeordnete Bedeutung erhielt.
"Hast du schon eine Entscheidung getroffen?" fragte
Anshara, als sie den Flug eines schwarzen Sporthemdes verfolgte, das
hinter dem Bett landete.
"Was für eine Entscheidung?" fragte er verwirrt und
betrachtete sie gebannt.
"Was du anziehst."
"Äh, nein..."
"Such etwas elegantes Schwarzes aus", bestimmte sie.
"Bien..." Er wandte sich widerstrebend abermals
dem Schrank zu und war wirklich kurz darauf ansprechend gewandet.
"So, und nun sollten wir aufbrechen."
"Wenn du darauf bestehst..."
"Allerdings. Ich hoffe, daß Simon mir etwas Brauchbares
erzählt. Wie soll ich ihn eigentlich anreden? Monsieur
Simon?"
"Er heißt Simon de Sanquere, aber ich bezweifle,
daß er darauf achtest, wie du ihn anredest, wenn er dich
erblickt."
"Oh. Ich hoffe, er kann Englisch?"
"Er beherrscht eine ganze Menge Sprachen außer
Französisch", erzählte Jean. "Englisch, Deutsch,
Altgriechisch, Latein, Hebräisch und bestimmt noch einige
mehr."
"Wow!" machte sie bewundernd. "Wobei mir wieder
einfällt, daß ich immer noch Französisch lernen
muß. - Wann bringst du es mir denn endlich bei?"
"Wenn wir Zeit haben."
"Oooch Jean, wenn du täglich zwei, drei Stunden intensiv
mit mir übst, dann sollte es doch klappen..."
Jean verzog das Gesicht. "Sowas ist doch langweilig",
beschwerte er sich.
"Und wie soll ich es sonst lernen? Ein Wort pro Tag wie
bisher?"
"Sicher. Das macht immerhin 365 pro Jahr und in Schaltjahren
sogar 366."
"Dann ist es mir in zehn Jahren vielleicht möglich, eine
Konversation zu führen", grummelte sie. "Unter hundert
Vokabeln am Tag läuft nichts."
"Das sind zu viele. Ich biete dir maximal fünf pro
Tag", widersprach er.
"Das dauert doch eeewig!"
"Du hast auch ewig Zeit. Wie viele Worte kannst du denn
schon?"
"Nur drei!"
"Ist doch prima. Mal sehen, vielleicht bringe ich dir nachher
noch zwei weitere bei." Er grinste. "Immerhin will ich dich
nicht überanstrengen."
"Bestimmt nicht! Laß mal überlegen - ich kann
oui, merci und magnifique. Wie wäre es
mit nein und bitte?"
"Non und s'il vous plaît", gab er
an.
"Bitte auf französisch klingt ja nach einem
halben Roman!"
"Nun, es heißt wörtlich wenn es Ihnen
gefällt."
"Ziemlich umstandlich", fand Anshara. "Und
überhaupt - gibt es das auch in du?"
"Sicherlich. S'il te plaît."
"Französisch ist schon eine komische Sprache. Ich dachte
immer, bitte wäre bitte... Brauche ich noch
irgendwelche wichtigen Worte?"
"Na gut. Was hältst du von bonsoir,
bonjour und bonne nuit?"
"Ah, stimmt, das hattest du schon mal gesagt. War das nicht
guten Morgen etc.?"
"Genau. Guten Abend, guten Morgen bzw.
Tag und gute Nacht."
"Bon", kommentierte Anshara, da dies offenbar
gut bedeutete.
"C'est assez pour aujourd'hui", sagte Jean
kategorisch. "Das reicht für heute. Wir wollten
doch gehen."
"Oh, sicher." Sie stieg in ihre Schuhe und den Mantel, und
auch Jean zog sich seine Jacke über.
* * *
"Warum hast du eigentlich keinen eigenen Wagen?" wollte
Anshara wissen, als sie auf das Taxi warteten.
"Ich kann nicht fahren", antwortete er.
"Oh. Ich habe in den Vereinigten Staaten den Führerschein
gemacht. Allerdings nur für Automatikwagen."
"Prima, dann kannst du ja demnächst fahren", freute
er sich.
"Wenn ich ein Auto hätte, schon."
"Dann kaufen wir eben eins. - Ah, voilà le
taxi!"
Sie kletterten in den Fond des Wagens und ließen sich zu Simon
de Sanquere chauffieren.
Die Fahrt nahm einige Zeit in Anspruch, da er etwas außerhalb
von Paris wohnte, und Jean betrachtete die Umgebung. Er war
ungewöhnlich schweigsam, und da Anshara auch die Landschaft
betrachtete, sagte sie ebenfalls nichts.
Schließlich hielt das Fahrzeug vor einem altertümlichen
Haus.
"Sollen wir das Taxi warten lassen, falls Simon uns
rausschmeißt?" wollte Anshara wissen. "Ich habe
nämlich keine Lust, die Strecke zurücklaufen zu
müssen."
"Wäre sinnvoll. Vor Sonnenuntergang würden wir mein
Haus nie erreichen."
"Wir sollten dem Fahrer genug Geld geben, damit er so lange
wartet, bis wir entweder rausgeworfen werden oder ihm sagen, daß
er zurückfahren kann", empfahl sie.
"Gut", stimmte Jean zu und sprach kurz mit dem Fahrer,
wobei er ihm einige Geldscheine in die Hand drückte.
Sie stiegen aus, und Anshara begutachtete den edlen Bau.
"Gehen wir also in die Höhle des Löwen",
sinnierte sie.
"Du gehst vor!"
"Ich weise darauf hin, daß Simon dein Erzeuger
ist."
"Aber dir schlägt er vielleicht nicht sofort die Tür
vor der Nase zu. Ich glaube nämlich nicht, daß er über
mein Auftauchen in irgendeiner Art und Weise begeistert ist."
"Was hat er denn gegen dich?"
"Ich habe nie das gemacht, was er wollte, und dann gab es da
noch so ein kleines Problem wegen der Erlaubnis zu meiner
Erschaffung..."
"Ist das denn nicht sein Problem?"
"Natürlich. Aber mach das mal Simon klar. Er sagt doch
immer, ich wäre an allem schuld." Er zog eine Grimasse und
ging zur Tür, dicht gefolgt von Anshara. Mit dem Gesicht eines
römischen Gladiators vor dem tödlichen Zweikampf
betätigte er die Klingel, woraufhin ein melodischer Gong zu
hören war.
Nach einiger Zeit ertönten Schritte, und die Tür wurde
geöffnet. Ein niedliches Dienstmädchen in einem schwarzen
Kleid mit weißer Schürze und Spitzenhäubchen fragte nach
ihrem Begehr.
"Wir würden gerne Monsieur de Sanquere besuchen",
eröffnete Anshara auf Englisch.
"Bitte treten Sie ein", erwiderte das Dienstmädchen
in der gleichen Sprache. "Ich werde sehen, ob Monsieur zu sprechen
ist." Sie musterte Jean mit einem leicht amüsierten Blick.
"Merci", sagte Anshara und trat ein. Das
Dienstmädchen führte sie in einen eleganten Salon und
verschwand. Anshara sah sich interessiert um. Der Raum war in barockem
Stil eingerichtet, mit allerlei verschnörkeltem Zierrat auf
Kommoden und in Vitrinen sowie einigen Ölgemälden, die
Landschaftsbilder aus der Provence und der Camargue zeigten.
Jean blickte aufmerksam zur Tür.
"Das Haus ist hübsch", fand Anshara und bewunderte
eine goldene Uhr unter einer Glasglocke.
"Simon hat einen exklusiven Geschmack. Die Gemälde finde
ich immer wieder wunderschön."
"Stimmt." Eines der Bilder zeigte eine weite Ebene unter
einem sturmgepeitschten Himmel, wo eine Herde Wildpferde entlang
galoppierte.
Unvermittelt klopfte es, und das Dienstmädchen kehrte
zurück. "Monsieur erwartet Sie im oberen Salon."
"Dann laß uns nach oben gehen", sagte Jean
fatalistisch.
"Ich habe das Taxi entlassen", fuhr das Dienstmädchen
an Jean gewandt fort. "Monsieur sagte, Sie bleiben zum Abendessen.
- Wenn Sie mir nun folgen würden?"
Sie führte die beiden die breite Treppe hinauf in dem oberen
Salon. Die Wände entlang der Treppe waren mit kleinen
Landschaftsaquarellen geschmückt, die Anshara ausgiebig bewunderte.
Der obere Salon war noch kostbarer ausgestattet als der Empfangsraum
im Parterre. Auch hier hingen Ölgemälde, die jedoch
hauptsächlich Portraits zeigten.
"Hier bräuchte man bestimmt ein, zwei Tage, um alles zu
bewundern", fand Anshara begeistert.
"C'est vrai. Das Haus ist ein Museum", meinte
Jean und betrachtete Porzellanfiguren in einer Vitrine. Das
Dienstmädchen war inzwischen wieder gegangen und hatte sie alleine
zurückgelassen.
Anshara trat neben ihn und sah sich ebenfalls die zierlichen Figuren
an.
"Sind sie nicht wundervoll?" fragte Jean fasziniert.
"Stimmt. Magnifique."
"Du erinnerst dich noch daran?" Er sah sie überrascht
an.
"Sicher. Es war das dritte französische Wort, das ich
gelernt habe."
Jean konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.
"Bonsoir, mes amis", ertönte plötzlich
eine neue Stimme. Lautlos hatte Simon de Sanquere den Raum betreten und
trat auf sie zu. Er wirkte wie Anfang dreißig, hatte blondes Haar
und hypnotisch wirkende, tiefschwarze Augen.
"Bonsoir, Monsieur", erwiderte Anshara und machte
einen dezenten Knicks.
Auch Jean begrüßte seinen Erzeuger, bedachte ihn aber mit
einem trotzigen Blick, was Simon aber nur ein amüsiertes
Lächeln entlockte.
"Was verschafft mir die Ehre Eures Besuches?" erkundigte
er sich auf Englisch. Da Jean nichts sagte, ergriff Anshara die Flucht
nach vorn.
"Oh, wißt Ihr, mein Sire hat mich ziemlich unwissend
allein gelassen, und Jean meinte, Ihr wüßtet so viel
über die Kainskinder und alles, was dazu gehört, und da dachte
ich, vielleicht wäret Ihr ja so lieb, mir ein wenig darüber
beizubringen", sprudelte es aus ihr hervor.
Simon maß sie mit einem belustigten Blick.
"Ich muß mich für meine Manieren entschuldigen.
Bitte, nehmt doch zunächst einmal Platz." Er wies auf die
Sitzgelegenheiten, und Anshara leistete der Aufforderung mit einem
strahlenden Lächeln Folge. Sie ordnete den Rock ihres Kleides und
ließ sich in einem der Sessel nieder. Jean blieb stehen, was
seinen Erzeuger nicht weiter interessierte. Er war ganz auf Anshara
fixiert und setzte sich ihr gegenüber in einem weiteren Sessel.
"Zudem bitte ich, über meine mangelhafte Kleidung
hinwegzusehen", fuhr Simon fort. "Ich war im Labor." Er
strich ein paar imaginäre Stäubchen von seinem makellosen
Anzug. "Aber Ihr habt mir noch gar nicht Euren Namen
verraten."
"Oh, entschuldigt vielmals", sagte sie bestürzt.
"Ich bin Anshara."
"Anshara", wiederholte Simon gedehnt.
"Ägyptisch?"
"Ja." Sie sah ihn erstaunt an. "Eigentlich
heiße ich Anch-Ra, aber das können die wenigsten richtig
aussprechen, und deshalb nenne ich mich lieber gleich Anshara."
"Die Welt ist es auch nicht Wert, solch einen erlesenen Namen
zu benutzen", erklärte er.
"Ihr schmeichelt mir." Sie schlug verlegen die Augen
nieder.
"Ich spreche nur die Wahrheit", widersprach er.
"Ihr seid ein Charmeur."
"Das hat man mir schon häufiger versichert", meinte
Simon erheitert. "Was wünscht Ihr nun von mir zu
erfahren?"
"Hm. Naja, Jean erzählte mir von den Traditionen
- aber wie wäre es mal mit dem Anfang? Wo kommen die Vamp-
äh, Kainskinder, überhaupt her?"
"D'accord... Das ist eine Geschichte, die viele
Varianten hat, und welche davon die Wahrheit ist - wenn es denn
überhaupt eine wahre Version gibt - ist schwer zu sagen." Er
lehnte sich in seinem Sessel zurück.
"Verzeiht mir, wenn ich nur eine gekürzte Form
erzähle, denn wenn ich so weit aushole, wie ich es könnte,
dann würde ich noch in einer Woche reden... Es begann alles mit
der christlich biblischen Geschichte, da Kain, der erstgeborene Sohn
Adams und Evas seinen Bruder Abel erschlug. Die genauen
Hintergründe davon könnt Ihr gerne in der Bibel nachlesen, es
steht alles ziemlich weit vorne, in der Genesis. Kain wurde von Gott
daraufhin verflucht und zum Vampir verwandelt. Im Laufe der Zeit lernte
er allerlei Fähigkeiten - das könnt Ihr im Buch von Nod
nachlesen, falls Ihr einmal eine der weitgehend restaurierten Kopien des
Aristotle deLaurent findet - und schuf schließlich drei Kinder.
Diese drei erzeugten ihrerseits insgesamt dreizehn Nachfahren. Es ist
jetzt müßig, die genauen Hintergründe über das
Leben in der Ersten Stadt darzulegen - es sei nur soviel gesagt,
daß es einen Aufstand der Dreizehn gab, bei dem deren Erzeuger
vermutlich alle den Tod fanden. Es geht zwar das Gerücht um,
daß Arikel, die Gründerin unseres Clans, ihren Erzeuger
verschonte, aber darüber sind keine genauen Fakten bekannt. Nun,
auf jeden Fall stammen alle heute lebenden Kainskinder von diesen
dreizehn der dritten Generation ab, und sie sind ihren Schöpfern
nach in dreizehn Clans eingeteilt, bei denen jedes Mitglied etwas von
den Talenten des ursprünglichen Clangründers erhalten hat.
Arikel sagt man nach, daß sie von unvergleichlicher Schönheit
war und dazu eine begnadete Bildhauerin, deren Werke niemals wieder von
anderen erreicht wurden."
"Das ist ja faszinierend", fand Anshara. Jean hatte
gesagt, daß sie vermutlich der fünften oder sechsten
Generation angehörte - das hieße ja, daß sie eine
Enkelin bzw. Urenkelin dieser Clangründerin sein müßte!
Sie fragte sich, in welchem Umfang sie wohl etwas von deren Talenten
mitbekommen hatte, und eine steile Falte erschien auf ihrer Stirn.
"Heißt das, daß auch Leute ohne irgendwelchen Hang
zur Kunst durch den Kuß eines Toreador-Clanangehörigen zu
Künstlern werden können?"
"Nein, ich denke, man muß von Geburt an ein Künstler
sein - dazu kann man nicht gemacht werden."
"Und was machen dann Toreador ohne ein Talent?"
"Die werden zu Kunstkritikern", antwortete Simon trocken.
"Hm. Wißt Ihr, ich zum Beispiel halte mich nicht
für sonderlich künstlerisch talentiert."
"Die eigene Meinung darüber ist nicht Ausschlag
gebend", gab Simon zu bedenken. "Nur die Meinung der anderen
bestimmt, ob man ein Künstler ist oder nur ein Poseur."
"Ich habe leider bislang noch nichts produziert", seufzte
sie. "Dabei würde ich gerne etwas schaffen."
"Probiert es einfach aus. Irgendwann werdet Ihr sicherlich
Eure Berufung finden."
"Vielleicht sollte ich mich ja mal an der Bildhauerei
versuchen", überlegte sie. Hieroglyphen in Wände
meißeln konnte sie ja.
"Tut einfach das, wonach es Euch drängt", empfahl
Simon.
"Hm." Momentan drängte es sie hauptsächlich
danach, sich mit Jean zu vergnügen, aber das war wohl kaum
künstlerisch wertvoll. Sie warf diesem einen verliebten Blick zu.
Simon folgte ihrem Blick amüsiert.
"Ich vermute, Ihr seid augenblicklich zu beschäftigt, um
Eure künstlerischen Neigungen zu erforschen."
"Äh, ja..." Anshara guckte ausgesprochen verlegen
drein, was Simon mit einem belustigten Lächeln quittierte. Anshara
versuchte angestrengt, im Sessel zu versinken, und Simon mußte
sich bemühen, ernst zu bleiben.
"Kann ich Euch etwas offerieren?" überspielte er als
Gentleman den peinlichen Moment.
"Gerne, Monsieur, Ihr seid überaus zuvorkommend." Sie
war froh, daß er das Thema gewechselt hatte und guckte erneut zu
Jean herüber. Der tat, als ginge ihn das alles überhaupt
nichts an.
Simon betätigte den Klingelzug, und das Dienstmädchen
erschien. Er gab ihr einige Anweisungen auf Französisch. Durch
die offene Tür huschte eine crèmefarbene Langhaarkatze
herein. Anshara war entzückt; sie liebte doch Katzen und
versuchte, das Tier zu sich zu locken. Die Katze guckte interessiert
und sprang ihr auf den Schoß. Anshara war begeistert und
streichelte sie ausgiebig, was das monumentale Fellknäul mit einem
unüberhörbaren Schnurren dankte. Simon lehnte sich in seinem
Sessel zurück und betrachtete die beiden.
"Ihr Name ist Champagne", eröffnete er.
"Ah. Hallo, Champagne", sagte Anshara und kraulte sie
unter dem Kinn. Die Katze purrte und rollte sich auf den Rücken.
"Ist die süß!"
"Selbstverständlich."
"Jean erzählte mir, daß ihr auch eine schwarze Katze
mit türkisfarbenen Augen hattet, die Diavolo hieß..."
"Ah, non - Ihr meint Diable. Insgesamt habe ich zwei
bis drei Dutzend Katzen hier."
"Ich sollte mir auch mal eine zulegen. Immerhin sind Katzen
heilig."
"Ich habe darüber gelesen." Er zitierte eine
ägyptische Inschrift über die Heiligen Katzen von Bubastis.
"Ihr sprecht ja Altägyptisch", stellte sie
entzückt fest. "Nur die Aussprache stimmte nicht ganz."
Sie verbesserte zwei der Worte.
"So?" meinte Simon irritiert. Er mochte es gar nicht,
korrigiert zu werden. "Woher stammt die Weisheit?"
"Ich habe es so gelernt."
"Nach Meinung der führenden Wissenschaftler war meine
Version richtig."
Das Dienstmädchen betrat den Raum und servierte die georderte
Erfrischung.
"Die wissen auch nicht alles", meinte Anshara. "Oder
es hat sich im Laufe der Zeit geändert." Zumindest in der 12.
Dynastie sprach man das Ägyptische nicht so, wie Simon
meinte.
"Ihr wart wohl dabei?" erkundigte sich Simon ironisch.
"Äh", machte Anshara peinlich berührt und sagte
lieber nichts weiter. Simon betrachtete sie interessiert, während
er sein Glas zur Hand nahm.
"Auf Euer Wohl." Er sprach kurz mit dem
Dienstmädchen, und diese verließ wieder das Zimmer.
"Und auf das Eure", entgegnete sie und stieß mit ihm
an. Irgendwie war Simon doch nicht so schlimm, wie Jean behauptet
hatte. De Sanquere erhob das Glas auch in Jeans Richtung, und dieser
erwiderte die Geste.
"Pourquoi es-tu si silencieux, mon ami?" wollte
er wissen. "Warum bist du so schweigsam, mein
Freund?"
"Je n'ai rien à dire", entgegnete er.
"Ich habe nichts zu sagen."
Simon zuckte mit den Achseln und wandte sich wieder Anshara zu. Er
hatte zumindest versucht, ein Gespräch mit seinem mißratenen
Sprößling zu beginnen.
"Warum setzt du dich nicht zu uns, Jean?" fragte Anshara.
"Ich stehe lieber. Außerdem hatte ich mir gerade diese
Figuren angesehen."
"Aha." Sie zog eine Augenbraue hoch und widmete sich
lieber wieder ihrem Getränk. Es handelte sich um ganz frisch
gezapfte Gruppe AB positiv mit einem Hauch von erhöhtem
Blutzuckerspiegel. "Das ist höchst schmackhaft, Monsieur de
Sanquere", lobte sie.
"Ich habe eine Vorliebe für alles Auserlesene." Das
Dienstmädchen brachte einen geschlossenen Korb und ging
anschließend wieder.
"Ich habe schon Euren Kunstgeschmack bewundert. Die Bilder,
die ich bislang in Eurem Haus sehen konnte, sind wundervoll. Hm.
Vielleicht sollte ich ja einmal versuchen zu zeichnen oder zu
malen."
"En effet! Die Malerei ist eine faszinierende Kunst.
Das Entstehen eines Bildes aus weißer Leinwand und Farben ist fast
ein wahrer Akt der Schöpfung."
"Das kann ich mir gut vorstellen." Sie fragte sich, ob es
hier wohl irgendwo echten Papyrus zu kaufen gab. Simon öffnete den
Korb und trug ihn zu Anshara herüber.
"Ich dachte mir, daß Ihr vielleicht einmal Champagnes
Nachwuchs begutachten wollt."
"Sind die niedlich", begeisterte sie sich und
bewunderte die winzigen Flauschknäule. Champagne lag noch auf
ihrem Schoß und schien sich dort recht wohl zu fühlen.
"Sie werden bestimmt wie ihre Mutter", bemerkte Simon.
"Ihre Namen sind Une, Deux und Trois." Er wies dabei auf das
beigefarbene, das rote und das gefleckte Katzenkind.
"Das klingt hübsch", fand sie. "Haben die Namen
auch eine Bedeutung?"
"Ja. Eins, Zwei und Drei", antwortete Simon belustigt.
"Ihr sprecht wohl überhaupt kein Französisch?"
"Jean hat mir bislang nicht einmal ein Dutzend Worte
beigebracht", seufzte sie. "Ich kann nur Ägyptisch,
Arabisch und Englisch." Sicherheitshalber ließ sie das 'Alt'
beim 'Ägyptisch' weg.
"Ihr solltet Euch bemühen, das Französische alsbald
zu erlernen", riet er. "Der Prinz spricht niemals eine andere
Sprache."
"Jean meinte, er wolle mir pro Tag ein Wort beibringen",
schmollte sie.
"Typisch", war Simons einziger Kommentar, ehe er einen der
Katzenwinzlinge in die Hand nahm, um ihn zu streicheln.
"Habt Ihr vielleicht ein Französischlehrbuch
für englisch- oder arabischsprachige Schüler?" wollte
Anshara wissen.
"Ich vermute nein, dazu hatte ich bislang keinen Bedarf. Aber
es gibt einige gute Buchhandlungen in der Stadt, die Euch mit Sicherheit
weiterhelfen können. Ich werde Euch die Adressen zusenden."
"Das wäre nett."
Simon setzte das Kätzchen wieder zu seinen Geschwistern und
ging zu Jean herüber, der immer noch die Figuren anstarrte.
"Was hältst du von meinen Neuerwerbungen?"
"Sie sind exquisit." Jean schaute Simon an. Die beiden
waren fast gleich groß, so daß sie sich ohne Probleme direkt
in die Augen sehen konnten. Schweigend starrten sie sich eine Weile an,
bis Jean den Blick senkte. Diese Duelle hatte er noch nie gegen seinen
Erzeuger gewonnen. Simon war zufrieden, daß Jean ihm nachgegeben
hatte und legte ihm die Hand auf die Schulter, während er auf ihn
einredete. Jean blickte ein wenig düster drein, denn es war nicht
zu übersehen, daß Simon sich ungemein für Anshara
interessierte.
Diese peilte in den Korb mit den Minikätzchen, aus dem es
kläglich miaute, als die Kleinen versuchten, herauszukrabbeln. Sie
nahm das crèmefarbene Kätzchen heraus und legte es neben
Champagne. Die Farben waren absolut identisch. Die Mutter begann, ihr
Junges abzulecken. Anshara war absolut entzückt und legte die
anderen Kleinen dazu, und die Kätzchen tappten unbeholfen aber
nichtsdestotrotz neugierig über den weichen Stoff ihres Kleides.
Während sie an ihrem Glas nippte, streichelte Anshara abwechselnd
alle vier Stubentiger.
"Ein Bild des Entzückens", kommentierte Simon, als er
sich Anshara zuwandte.
"Ja, die sind wirklich allerliebst."
"Leider werden sie alle groß."
"Aber die Große ist doch auch süß!"
Simon lachte. "Katzen sind meine große
Leidenschaft", erzählte er.
"Wir hatten auch mehrere Katzen zu Hause."
"Interessant", bemerkte Simon. "Und nun habt Ihr
keine mehr?" Er sah ihr in die Augen.
"Ich bin sehr viel unterwegs, und das ist nichts für eine
Katze. Zunächst bin ich durch Ägypten gezogen, dann durch
England und Amerika, bis ich auf der Rückreise aus Rumänien in
Frankfurt auf Jean traf."
"Solche Ortswechsel sind wirklich nichts für Katzen",
stimmte er zu. "Wie hat es Euch denn in den diversen Ländern
gefallen?"
"Nun, Ägypten hat mich sehr traurig gestimmt. Die ganze
Kultur ist in den letzten zweitausend Jahren völlig verfallen.
England war ganz nett, aber es war dort nicht viel los. Die Vereinigten
Staaten waren sehr interessant, aber an Kultur habe ich auch dort wenig
entdecken können; es ist alles sehr schnellebig. Rumänien war
eine völlige Enttäuschung, und in Frankfurt war ich nur
fünf Tage, bis ich Jean nach Paris begleitete."
"Ich muß zugeben, ich liebe Paris und verlasse die Stadt
der Lichter nur selten", erklärte Simon.
"Ich bin ja erst zwei Tage hier und hatte noch gar keine Zeit,
alles zu erkunden. Ich habe von Versailles gehört und dem
Spiegelsaal, ein wenig sah ich vom Louvre, als ich dem Prinzen meine
Aufwartung machte, und dann bin ich durch den Park Monzo gewandert.
Bislang gefiel es mir sehr gut. Ich glaube, ich könnte mich hier
eingewöhnen."
"Das wäre eine Bereicherung unserer Gesellschaft."
"Meint Ihr? Jean erzählte mir, daß es hier
häufig interessante Festivitäten gäbe."
"Eigentlich ist es eine ewig andauernde Feierlichkeit",
meinte Simon. "Aber ich besuche selten gesellschaftliche
Anlässe, denn meine Interessen sind anderer Natur. Hier in meinem
Heim habe ich ausschließlich die Gesellschaft, die mir genehm
ist."
"Was sind denn Eure Interessen? Oder ist es zu indiskret von
mir, dies zu fragen?"
"Ich beschäftige mich hauptsächlich mit den
Wissenschaften."
"Mit allen?"
"Ich hatte viel Zeit."
"Das ist ja faszinierend. Was macht Ihr denn?"
"Eigentlich alles."
"Ich habe bislang hauptsächlich Bücher darüber
gelesen", sinnierte sie.
"Bücher haben auch ihre eigene Faszination. Ich habe eine
riesige Bibliothek."
"Habt Ihr? Fantastisch! Ich denke, ich sollte mir auch eine
solche anlegen."
Simon musterte Anshara amüsiert. "Seid Euch im Klaren,
daß so etwas zu einer Passion werden kann."
"Sicher. Mein großes Problem war früher, daß
ich zuviel las. Ich habe deshalb immer Ärger bekommen. Aber nun,
wo mir niemand da hineinreden kann..."
"Ich bin sicher, man hatte lediglich Angst, daß Ihr Euch
diese wundervollen Augen verderben könntet."
"Nein, das nicht", winkte sie ab. "Es lag daran,
daß es sich um die geheimen Bücher im Tempel handelte, die
mir als Novizin nicht zustanden, wie der Hohepriester meinte."
"Im Tempel?" fragte er interessiert. "Verratet Ihr
mir, um welchen es sich handelte?"
"Um den Tempel der Ma'at in Karnak", erwiderte sie
selbstverständlich.
"Davon ist mir nichts bekannt." Er guckte ein wenig
zweifelnd drein.
"Außerhalb von Ägypten scheint er auch nicht
sonderlich bekannt zu sein", gab sie zu. "Ich weiß auch
nicht, woran das liegt, immerhin ist Ma'at eines der höchsten
Prinzipien."
Simon hob fasziniert die Augenbrauen. Entweder war die kleine
Ägypterin eine ziemliche Aufschneiderin, oder sie gehörte doch
eher zu den Malkavianern als zu den Toreador...
"Wenn Ihr es sagt", kommentierte er mit einem unbestimmten
Tonfall.
"Nun, aber leider muß ich mich jetzt nach einer anderen
Beschäftigung umsehen", seufzte sie. "Ich suche noch
nach einer geeigneten Profession."
"Ich bin sicher, Ihr werdet eine finden." Eigentlich
würde es ausreichen, wenn sie Parties mit ihrer Anwesenheit
dekorierte, dachte er.
"Wißt Ihr, ich dachte an einen medizinischen Beruf.
Heilpraktikerin zum Beispiel. Dabei habe ich nur ein Problem - ich
weiß nicht, wie ich meine Abschlußprüfung und die
Praktika machen soll, die tagsüber stattfinden. Ich habe in
Amerika zwar einige Jahre Medizin im Fernstudium absolviert und sogar
häufig Nachtwachen in Krankenhäusern abgehalten - die haben
dort immer frische Blutkonserven! - aber mir fehlen die Papiere, um das
alles beweisen zu können. Irgendwie ist das unfair." Sie zog
einen Flunsch.
"Das ist ein Problem", stimmte Simon zu. "Aber es
gibt immer Wege und Möglichkeiten - allerdings sind diese meist
nicht ganz billig."
"Geld ist ein minderes Problem", erklärte sie.
"Und außerdem bin ich qualifiziert - ich brauche nur diese
Papiere."
"Man muß nur die Verbindungen haben", sagte er.
"Und, hättet Ihr denn welche?"
"Ich denke, sie reichen aus, um Euch das Gewünschte zu
beschaffen."
"Würdet Ihr das für mich tun? Und wieviel würde
es kosten?"
"Mal sehen. Ich werde mich einmal umhören."
"Ihr seid überaus zuvorkommend." Sie schenkte ihm ein
hinreißendes Lächeln. "Aber das war nicht der
eigentliche Grund meines Kommens. Ich suche nach Wissen über die
Kainskinder, die Clans, eben alles. - Zum Beispiel, wo sind eigentlich
die Gründer der dreizehn Clans? Leiten die immer noch deren
Geschicke?"
Simon de Sanquere schaute sie belustigt an. Anshara schien ganz
schön wissensdurstig zu sein.
"Die Gründer der Clans sind weitestgehend
verschollen."
"Oh. Und wer leitet dann die Clans?"
"Das ist mir auch nicht so ganz klar." Simon vermutete,
daß es vielleicht den einen oder anderen Nosferatu gab, der die
verschlungenen Wege der Clanpolitik durchschaute, aber ihm war es
bislang noch nicht gelungen, hinter die Kulissen zu sehen.
"Hm." Anshara runzelte die Stirn. "Und wer hat dann
das Sagen bei den Kainskindern?"
"Hier in Paris ist es auf jeden Fall François
Villon."
"Gibt es denn eine Rangordnung unter den Clans?"
"Das kommt wohl auf die Sichtweise an." Er verzog ironisch
das Gesicht. "Wollt Ihr eine Lobpreisung des Toreador-Clans
hören oder meine wirkliche Meinung?"
"Da ich erst seit etwa einer Woche überhaupt weiß,
daß es so etwas wie diese Clans gibt, bin ich nicht sonderlich an
irgendwelche Clankodexe und -vorurteile gebunden", meinte Anshara
trocken. Sie war immerhin sechzehn Jahre ganz ohne weitere Kainskinder
ausgekommen. "Aber jetzt, wo ich mir deren Präsenz
bewußt bin, halte ich es schon für sinnvoll, etwas mehr
darüber zu erfahren. Sagt also Eure Meinung."
"Ich finde, jeder Clan hat sein Für und Wider", holte
Simon aus. "Natürlich legt jeder Wert darauf, seinen Clan
möglichst hochzuloben und die anderen abzuwerten. Ich habe nicht
viel mit anderen Kainskindern zu tun, weshalb ich mir nicht
anmaße, irgendwelche Kritik zu üben."
"Und wie sieht also das Verhältnis der Clans untereinander
aus?" hakte sie nach.
"Meist haben sie irgendeine Art von Abkommen miteinander,
obwohl es natürlich auch tiefverwurzelte Feindschaften gibt."
"Hm." Bislang hatte Simon nicht mehr als Gemeinplätze
von sich gegeben, dachte Anshara unzufrieden. "Woran erkennt man
denn die anderen Clans?" versuchte sie einen weiteren
Vorstoß.
"Das ist nicht so einfach zu sagen. Ich verlasse mich meist
auf meine Erfahrung mit den Mitgliedern der Clans. Außerdem gibt
es in meiner Bibliothek eine Sammlung von Abbildern, die ich Euch
vielleicht einmal zeigen kann."
"Oh, bitte, das fände ich überaus interessant."
"So eifrig? Eigentlich hätte Euch Euer Erzeuger all das
beibringen sollen."
"Ich erwähnte doch, daß dieser mich schmählich
im Stich ließ", schmollte sie.
"Das ist unverantwortlich. So etwas gehört
geahndet."
"Finde ich auch." Anshara stieß einen Seufzer aus.
"Aber ist das meine Schuld? Ich weiß ja nicht einmal, wo
mein Sire heute ist."
"Ihr seid zu bedauern. Aber dann müßt Ihr halt
alleine lernen, wie das Leben in der Gesellschaft der Kainskinder
funktioniert."
"Wenn mir niemand etwas erzählt, wird es mir wohl nie
gelingen." Sie guckte, als ob sie gleich in Tränen ausbrechen
wollte. Simon betrachtete das eher amüsiert. Anshara wußte
entschieden, wie man seinen Willen durchsetzte. "Bitte, seid doch
so lieb und helft meinem Mangel ab."
"Da gibt es soviel, daß ich Wochen, wenn nicht Monate
brauchen würde."
"Könnt Ihr nicht schon mal anfangen und gucken, wie weit
Ihr kommt?" Sie schaute ihn hoffnungsvoll an.
"Ich könnte schon - wenn es sich für mich lohnt. Was
Ihr mir bieten wollt, das überlasse ich ganz Euch."
"Was haltet Ihr davon, wenn ich Euch ab und zu das
Vergnügen der Anwesenheit meiner Person schenke?"
"Haltet Ihr das für einen angemessenen Preis für
meine Weisheit?"
"Natürlich", verkündete Anshara überzeugt.
"Tse", machte Simon. Diese jungen Dinger wurden auch
immer selbstbewußter und frecher den Älteren gegenüber.
"Seid Ihr anderer Ansicht?" erkundigte sie sich
hoheitsvoll.
"Ihr glaubt doch nicht, daß ich Euch widersprechen
würde."
"Ihr seid nett." Sie strahlte ihn an.
"Wenn Ihr es sagt", meinte Simon amüsiert. Als
'nett' hatte ihn eigentlich selten jemand bezeichnet.
"Wärt Ihr nun so lieb, Eure Weisheit mit mir zu
teilen?" Sie warf ihm einen schmelzenden Blick aus ihren
Bernsteinaugen zu.
"Ich finde es süß, wie Ihr Euch bemüht, mich zu
überzeugen", sagte Simon vergnügt. "Aber ich finde,
nun ist Zeit für das Abendmahl. Darf ich Euch zu Tisch
führen?"
"Sicherlich. - Heißt das, es gelingt mir nicht, Euch
dazu zu bringen, mich ein wenig über die Kinder Kains zu
lehren?"
"So jedenfalls nicht." Anshara setzte einen Schmollmund
auf, und Simon lachte. "Es ist erstaunlich, welche
Wandlungsfähigkeit in Euch steckt."
"Ihr macht Euch über mich lustig", klagte sie.
"Ich amüsiere mich nur über Eure kindlichen Versuche.
Ich hätte auf etwas Eleganteres und Ausgefalleneres gehofft, das
mich ein wenig herausfordert."
"Da wage ich mich lieber nicht heran, denn Jean erwähnte,
daß Ihr ziemlich stark seid. Ich bin es leider nicht." Sie
guckte tragisch.
"Eure Schwäche ist aber auch eine Stärke",
stellte Simon fest. "Ihr sprecht sicherlich bei den meisten den
natürlichen Beschützerinstinkt an."
"Aber offenbar leider nicht bei Euch."
"Vielleicht habe ich ja keinen. Ich halte mich nicht immer an
die Höflichkeitsregeln."
"Weshalb denn nicht?"
"Warum sollte ich das? Ich lege wenig Wert darauf, den
Mitgliedern der Gesellschaft zu gefallen."
"Aber das heißt ja, daß Ihr ganz allein und einsam
seid. Das ist sehr traurig."
"Ich bin nicht allein", wandte Simon belustigt ein.
"Stimmt. Hier lebt ja auch noch dieses Dienstmädchen -
hat sie eigentlich einen Namen?"
"Ja. Yvette."
"Ist sie auch ein Ghoul, oder ist sie eine menschliche
Dienerin?"
"Weder noch. Sie ist eins meiner Kinder."
"Macht es ihr denn nichts aus, immer das Dienstmädchen
spielen zu müssen?"
"Wer sagt, daß sie das immer tut?" Simon
lächelte. "Vielleicht gefällt sie mir ja einfach nur in
dieser Kleidung."
"Ah. Ich würde allerdings andere Gewänder
bevorzugen..."
"Ich denke, es würde nicht zu Euch passen. Außerdem
gehört Ihr nicht zu meiner Brut - obwohl Ihr dazu passen
würdet."
"Hm. Ich bleibe lieber bei Jean", erklärte sie.
"Das kann ich mir denken. Immerhin ist er jung, hübsch
und leicht zu beeinflussen."
"Er ist lieb", stellte sie ihre Prioritäten
klar.
"Das auch." Simon sah zu seinem Sprößling
hinüber, der immer noch in der Ecke stand.
"Ich muß sagen, Ihr scheint gar nicht so schlimm zu
sein." Nachdenklich betrachtete Anshara Simon.
"Ich kann eben auch nett sein. - Darf ich Euch nun in den
Speisesaal geleiten?"
"Gerne." Sie lächelte ihm zu, woraufhin er ihre Hand
nahm und sie nach nebenan führte. Jean folgte ihnen, nachdem Simon
ihm einen befehlenden Blick zugeworfen hatte.
Der Speisesaal war ebenfalls sehr elegant eingerichtet und wurde von
einem Tisch beherrscht, der mit silbernem Geschirr gedeckt war.
"Das ist wirklich erlesen", bewunderte Anshara.
"Ich hasse es, wenn etwas nicht meinen Sinnen
schmeichelt." Simon rückte ihr den Stuhl zurecht, bevor er
selber Platz nahm. Jean war schweigsam wie bereits die ganze Zeit und
ließ sich ebenfalls nieder.
"Danke", sagte Anshara huldvoll.
"Was darf ich Euch kredenzen?" Simon deutete auf diverse
gut gekühlte bzw. erwärmte Karaffen.
"Habt Ihr etwas angenehm süßes?"
"Selbstverständlich." Simon schenkte ihr ein
(unbehandelter Diabetiker Typ I, Blutgruppe A positiv) und tat gleiches
bei Jean, dessen Geschmack er ja kannte.
"Ich danke Euch." Sie hielt ihm ihr Glas entgegen, und er
stieß mit ihr an. Jean betrachtete hauptsächlich den Grund
seines Glases, und Simon war amüsiert darüber, daß sein
Sprößling immer noch solche Angst vor ihm hatte.
"Erzählt Ihr mir nun von den Clans?" wollte Anshara
wissen. "Was macht sie aus? Bislang habe ich eigentlich nur
gehört, daß die Toreador Schönheit und Kunst lieben.
Was machen zum Beispiel die Ventrue?"
"Politik."
"Und die Setiten?"
"Korruption."
"Ist das nicht dasselbe wie bei den Ventrue?"
"Eigentlich nicht." Simon lachte. Prinzipiell hatte
Anshara ja nicht ganz unrecht...
"Oh. Was gibt es denn noch an Clans?" Sie sah
hilfesuchend zu Jean herüber.
"Insgesamt gibt es dreizehn Clans", dozierte Simon.
"Assamiten, Brujah, Gangrel, Giovanni, Lasombra, Malkavianer,
Nosferatu, Ravnos, Setiten, Toreador, Tremere, Tzimisce und
Ventrue." Er warf Jean eine leicht enervierten Blick zu. Das hatte
er länger mit ihm gepaukt.
"Ah. Und könnt Ihr mir dann auch sagen, was diese
dreizehn Clans auszeichnet?"
"Wie schon erwähnt ist die Passion der Toreador Kunst und
Schönheit, die Ventrue verfolgen Politik und Macht und Setiten
streben danach, alle anderen zu korrumpieren. Die Assamiten sind
Killer, die Brujah weitgehend anarchistisch veranlagt, die Gangrel haben
viele Eigenschaften mit Tieren gemein, die Giovanni stehen mit der Mafia
in Verbindung (so sagt man jedenfalls), die Malkavianer sind irre, die
Nosferatu sind begnadete Informationssammler, auch wenn sie
häßlich wie Ungeheuer sind, die Ravnos ziehen haltlos herum
und klauen alles, was nicht angenagelt ist, die Tremere sind
undurchsichtige Magier und Lasombra und Tzimisce gehören zum Sabbat
und sollten gemieden werden."
"Ah!" Anshara war begeistert. Endlich wurden ihr einige
Sachen klarer. Andere jedoch... "Was ist der Sabbat?"
"Der Sabbat ist eine Sekte der Kainskinder. Sie halten sich
nicht so unbedingt an die Maskerade. Ihre ganzen unheiligen Taten
lassen sich nicht in einem Satz erläutern, man sollte einfach
nichts mit ihnen zu tun haben, da sie gefährlich sind und ihnen
weder das Leben noch das Unleben etwas bedeutet. - Aber jetzt muß
ich diese Lehrstunde leider abbrechen, da ich noch einiges zu tun
habe."
"Schade. Dürfte ich Euch bei Gelegenheit noch mal
besuchen und zu all diesen Dingen befragen?"
"Ihr könnt kommen, wann immer Ihr wollt."
"Danke. Merci. Vielleicht gelingt es mir ja dann
auch irgendwann einmal, ein vollwertiges Mitglied in der Gesellschaft
der Kainskinder zu werden..."
"Falls Euch das erstrebenswert erscheint."
"Ich bin lange genug alleine gewesen."
"Da habt ihr nicht unrecht. Einsamkeit ist sicherlich kein
erstrebenswerter Zustand."
"Stimmt." Sie warf zur Abwechslung mal wieder einen
glühenden Blick in Richtung Jean, der von diesem eher
zurückhaltend erwidert wurde. "Ihr seid nicht so gerne in der
Gesellschaft der Gesellschaft, nicht wahr?" erkannte
Anshara.
"Nein", gab Simon zu. "Vielleicht sollte man eher
sagen, die Gesellschaft schätzt meine Gesellschaft
nicht."
"Warum nicht? Ihr scheint doch geistreich und ein angenehmer
Gesprächspartner zu sein."
"Ich hatte einige Meinungsverschiedenheiten mit dem
Prinzen."
"Oh. Ich hörte, daß so etwas zu Problemen
führen könnte."
"So könnte man es sehen", kommentierte Simon
erheitet. "Er ist zudem sehr nachtragend."
"Aber offenbar liegt Euch nicht sehr viel daran, dies zu
ändern."
"Nein."
"Ich muß zugeben, ich will lieber erst einmal einen guten
Eindruck beim Prinzen hinterlassen."
"Das wäre angebracht. Ich nehme an, Eure Aufführung
steht noch bevor?"
"Stimmt." Sie guckte tragisch drein. "Ich hoffe, ich
blamiere mich nicht. Was meint Ihr, wird er es akzeptieren, wenn ich
einen alten Tanz aus Ägypten aufführe?"
"Jedenfalls hatten wir so etwas schon länger nicht
mehr."
"Das wäre ja dann auf jeden Fall von Vorteil."
"Das ist anzunehmen."
"Gut." Anshara wirkte ein wenig beruhigt. Sie beendeten
das Abendessen, und Simon erhob sich.
"Ich muß Euch nun bitten, mich zu entschuldigen",
erklärte er und reichte Anshara die Hand. "Ihr könnt
gerne noch bleiben, solange Ihr möchtet. Yvette wird ein Taxi
rufen, wenn Ihr es wünscht."
"Das wäre sehr zuvorkommend, schließlich
möchten wir Euch nicht zur Last fallen. - Bitte sagt Yvette wegen
dem Taxi Bescheid."
"Selbstverständlich. Ich hoffe, Euch demnächst
wieder begrüßen zu dürfen."
"Auf jeden Fall", versicherte Anshara. "Und dann
werden wir uns auch vorher anmelden", versprach sie.
"Das wäre sinnvoll", meinte Simon. "Ich bin
meist sehr beschäftigt."
"Ich entschuldige mich auch noch einmal nachträglich
für diesen Überraschungsbesuch."
"Das ist nicht notwendig. Ich hätte ohnehin eine Pause
eingelegt."
"Gut." Bald darauf klingelte es.
"Ich vermute, das ist Euer Taxi", sagte Simon und
geleitete Anshara zur Tür. Jean folgte ihnen.
"Auf Wiedersehen, Monsieur de Sanquere."
Unbemerkt von Simon und Anshara reichte Yvette Jean ein
voluminöses Päckchen, das dieser sicherheitshalber vor seinem
Erzeuger verbarg.
"Au revoir, Mademoiselle Anshara."
Die beiden stiegen in das Taxi und machten sich auf den
Rückweg. Wie bei allen Taxen trennte sie eine stabile Scheibe vom
Fahrer, so daß sie sich in Ruhe unterhalten konnten.
* * *
"Also, ich muß sagen, Monsieur de Sanquere ist doch
eigentlich gar nicht so schlimm", stellte Anshara fest.
"Wieso hast du so eine Panik vor ihm?"
"Du hast keine Ahnung, wie Simon wirklich ist", meinte
Jean düster und las den Zettel, der an dem Paket angebracht war.
"Möglicherweise", gab sie zu. "Jedenfalls war
er mir gegenüber höflich und zuvorkommend."
"Das ist er am Anfang immer." Jean legte ihr das Paket auf
den Schoß. "Für dich."
"Für mich?" Sie guckte erstaunt und packte es aus.
Es handelte sich um einen Ordner mit zig Kopien zu allen Themen, die ein
neu erschaffenes Kainskind interessieren könnten. "Hey, das
ist ja fantastisch", rief Anshara, als sie die Bilder betrachtete.
"Es hat nur einen Nachteil - es ist alles auf
Französisch!" Sie setzte einen Schmollmund auf.
"Selbstverständlich", meinte Jean, und sie grummelte.
"Und du mußt es mir wirklich so schnell wie möglich
beibringen."
"In der Zwischenzeit kannst du dir ja die Bilder
angucken."
"Nun gut. - Hm, die Nosferatu sehen ja wirklich eklig
aus."
"Ich weiß."
"Hast du schon mal einen live gesehen?"
"Nein."
"Ich fürchte, ich würde schreiend davonrennen."
"Wahrscheinlich. - Für den Ordner solltest du dich
übrigens bei Yvette bedanken."
"Oh, es ist von ihr und nicht von Monsieur Simon?"
"Simon hätte es dir nicht einfach so gegeben. Nicht ohne
Gegenleistung."
"Oh. - Kennst du Yvette schon länger? Warum ist sie denn
immer noch bei Simon, wenn er so schlimm ist, wie du meinst?"
"Yvette ist etwas älter als ich. Sie war schon da, als
ich zu Simon kam, und sie bleibt bei ihm, weil sie es will."
"Hm. Hältst du es für wahrscheinlich, daß sie
ihn manipuliert? Sie scheint mir in keinster Weise von ihm
eingeschüchtert zu sein."
"Ich bin sicher, daß sie es tut, obwohl sie es selten
nötig hat. Simon vergräbt sich in der Regel völlig in
seinen Forschungen."
"Und warum hat er dich dann so schlecht behandelt?"
"Je ne sais pas", seufzte Jean. "Wir sind
wohl einfach zu unterschiedlich. Yvette war schon immer sein
Liebling."
"Wie viele Kinder hat Simon denn insgesamt?"
"Ich weiß von fünf, aber ob das alle sind, kann ich
nicht sagen."
"Und alle sind illegal?"
"Nein, nur ich. Die anderen sind alle älter als ich, und
ich vermute, der Prinz war der Ansicht, Simon hätte schon eine
ausreichend große Brut. Jedenfalls gab es nach mir keinen
mehr."
"Wenn er damit den Prinzen verärgert hat, war es
vermutlich sicherer für ihn."
"Seitdem beschäftigt er sich nur noch mit der
Wissenschaft."
"Ah." Anshara blätterte interessiert in dem Ordner
herum. "Die ist ja hübsch!" Sie betrachtete das Bild
einer Toreador. "Geneveve Orseau", las sie vor, allerdings
mit englischer Betonung.
"Stimmt", nickte Jean. "Sie ist hübsch."
Es hieß, daß sie ein Kainskind war, das Elfenblut in den
Adern hatte, aber das war vermutlich nur eine Legende.
"Simon hat wirklich recht - irgendwie wirken die diversen
Clanangehörigen tatsächlich unterschiedlich."
"Manche sind gut zu erkennen."
"Die meisten der Brujah sehen ziemlich ...vulgär
aus."
"Die sehen nicht nur so aus", kommentierte Jean.
"Ts. Drei der fünf Malkavianer tragen Zwangsjacken",
stellte Anshara fest.
"Nach meiner Einschätzung sollten alle eine tragen."
"Die beiden anderen sind eine Psychiater - das steht was von
Léon Jolliffe, psychiatre drunter - und ein ziemlich
merkwürdig dreinblickendes unidentifizierbares Etwas. Hm. Shari
Tallakha, archange des sottises - was ist das?"
"Hm", machte Jean. "Wörtlich übersetzt
heißt das Erzengel der Streiche. Ich vermute, das ist
sein oder ihr Spitzname."
"Das steht aber da, wo bei dem anderen der Beruf steht."
"Für die Malkavianer ist es eine Berufung, anderen auf die
Nerven zu gehen und Streiche zu spielen."
"Aha. - Die Ventrue sehen alle total normal aus", fand
sie. "Gut, manche wirken etwas altmodisch, aber ich glaube nicht,
daß ich einen Ventrue unter all den Menschen erkennen würde.
Das gilt auch für einen Großteil der Toreador - nur,
daß die weit moderner gekleidet sind als die Ventrue."
"Nun, es gibt nicht zu viele Kainskinder, die extrem
herausstechen. Anderenfalls hätten wir auch größere
Probleme, die Maskerade aufrecht zu erhalten."
"Die Nosferatu bilden wohl die große Ausnahme, nicht
wahr?"
"Sicher, aber die leben in der Regel auch fast
ausschließlich in Katakomben und unterirdischen Gängen. Da
ist alles aber so heruntergekommen, die möchtest du nicht
besuchen."
"Klingt nicht sehr verlockend", stimmte Anshara zu.
"Diese Gangrel sind auch irgendwie ...anders", bemerkte sie.
"Der hier auf dem Bild hat eher Fell als Haare, und komische Augen
hat er auch."
"Die Gangrel sind eben ziemlich tierhaft. Sie können sich
auch in verschiedene Tiergestalten verwandeln."
"Auch Fledermäuse?"
"Ja, auch Fledermäuse."
"Dann ist ja an den Vampirfilmen doch etwas dran." Sie
blätterte weiter. "Hier sind aber kaum Bilder von den
Lasombra und diesen Tschimi-, Zimi... Naja, den Clans, von denen Simon
riet, die Finger zu lassen."
"Die lassen sich wohl nicht photographieren."
"Dasbei sollte man doch gerade bei denen wissen, wie sie
ausschauen, damit man sie meiden kann. Von den Lasombra ist sogar nur
eine - ziemlich miese - Zeichnung dabei!"
"Lasombra..." Jean dachte nach, dann fiel ihm wieder ein,
was an denen Besonderes war. "Stimmt, die kann man - glaube ich -
nicht fotografieren, immerhin haben sie auch kein Spiegelbild."
"Kein Spiegelbild? Wie Dracula?"
"Genau."
"Vielleicht war Dracula ja ein Lasombra."
"Ich kann nicht das Gegenteil beweisen."
"Gibt es eigentlich auch Kainskinder, die Kreuze nicht
vertragen?"
"Das kann man nicht so pauschal sagen. Es hängt davon ab,
wie stark eine Person, die ein heiliges Symbol hält, an dieses
glaubt. Zumindest hat Simon mal so etwas erwähnt."
"Ich verstehe. Dann könnte man sich heutzutage auch als
Kainskind beruhigt in eine Kirche setzen..."
"Richtig."
Anshara stöberte weiter in dem Ordner herum und ärgerte
sich über ihre Unkenntnis des Französischen. Jean lehnte sich
an sie, um auch etwas sehen zu können, und sie kuschelte sich an
ihn.
"Kannst du mir das bitte mal übersetzen?" Sie deutete
auf eine Passage, die mit L'importance de l'art pour les
Toreador überschrieben war. Sie vermutete zwar die Bedeutung,
da die französischen Worte den englischen ähnelten, aber sie
wollte sichergehen.
"Die Bedeutung der Kunst für die Toreador."
"Und weiter?"
"Soll ich das jetzt wirklich alles
übersetzen?" wollte Jean wissen.
"Nun, wir könnten auch mit dem Französisch-Unterricht
weitermachen."
"Wenn wir zu Hause sind. Es sind ja nur noch ein paar
Minuten."
"Na gut." Sie legte den Kopf an seine Schulter.
"Weißt du, ich komme mir immer so... unbeholfen
vor, weil ich hier nichts verstehe."
"Arme Anshara, was machen wir da nur?"
"Es gibt doch diese Sprachkurse mit Audiocassetten - vielleicht
wäre das eine gute Idee."
"Ich werde dir welche besorgen."
"Das wäre fabelhaft!"
"So, wir sind da." Jean stieg aus und half Anshara aus dem
Taxi, ehe er bezahlte. Das Auto fuhr ab, und sie gingen zum Haus.
"Und was machen wir nun?"
"Kuscheln und mir dabei französisch beibringen",
schlug Anshara vor.
Jean prustete los. "Ich glaube, ein paar Redewendungen sollte
ich dich auf jeden Fall lehren."
"Äh, was habe ich denn gesagt?"
"Nun, etwas, was du lieber nicht in der Gesellschaft
äußern solltest."
"Was? Daß ich Französisch lernen will?
Warum?"
"Nein, daß du französisch kuscheln willst."
"Wie kuschelt man denn auf Französisch?" erkundigte
sie sich. "Oder in anderen Sprachen?"
Jean grinste sie an. "Vielleicht bringe ich es dir mal
bei."
"Dein Gesichtsausdruck läßt nichts Gutes
vermuten", fand sie mißtrauisch.
"Aber erst solltest du wirklich einmal die französische
Sprache beherrschen." Er schloß die Tür auf, und sie
traten ein.
Im Vorbeigehen angelte Jean nach der Post, die Marc inzwischen dort
hingelegt hatte und ging nach oben.
"Ist auch was für mich dabei?"
"Nein, sind alle für mich." Jean sortierte die
Werbung aus und warf sie in die Ecke, bevor er den Rest der Kuverts
begutachtete. "Nur normale Briefe", antwortete er auf ihren
fragenden Blick hin. Er öffnete zuerst den Brief von
Angélique, die sich erkundigte, wie er mit seiner
ägyptischen Prinzessin zurecht kam. Er faltete das Blatt wieder
zusammen und steckte es in die Tasche, bevor er sich dem nächsten
widmete. Anshara spähte neugierig zu ihm hinüber.
"Ah, eine Einladung zu einer Galerie-Eröffnung",
kommentierte er. Er war sie in eine silberne Schüssel auf dem
Schrank. "Sowas kriegt man andauernd hier."
"Gibt es denn hier so viele Galerien?"
"Unzählige."
Jean las den nächsten Brief, der einen ziemlich aufdringlichen
Duft verströmte, ehe er das Teil genüßlich zerfetzte.
"Was war das denn?" Anshara rümpfte die
Nase. Veilchenduft! "Eine Verehrerin?"
"Der gehört zu den Briefen, die man am besten sofort
vergißt." Er warf die Schnipsel in den Papierkorb. "Du
wirst auch noch früh genug erfahren, wie ekelhaft diese Briefe
sind." Er verzog das Gesicht. "Die kriegt anscheinend jeder
hier, der einigermaßen gut aussieht."
"Dann hast du vermutlich ein definitives Problem."
"Naja, man gewöhnt sich daran."
"Ich bin mal gespannt, ob ich auch welche bekomme."
"Bestimmt."
"Weißt du zufällig, wie spät es gerade
ist?"
"Hm, 4:17 Uhr", erwiderte Jean nach einem Blick auf die
Uhr.
"Sollen wir noch etwas unternehmen?"
"Eigentlich habe ich keine Lust, noch auszugehen."
"Was würdest du denn vorschlagen?"
"Ich muß noch einen Brief schreiben, und es gibt auch so
noch was zu tun. Schließlich muß ich noch Rechnungen
nachsehen, Überweisungen unterschreiben etc."
"Papierkrieg", seufzte sie mitfühlend.
"Genau." Jean setzte sich an seinen Schreibtisch und
öffnete die Mappe, die Marc ihm schon zurechtgelegt hatte. Anshara
stellte sich hinter ihn und legte ihm das Kinn auf die Schulter. Jean
zog ihr an den Haaren, die ihm über die Schultern hingen, denn es
irritierte ihn, wenn sie ihm beim Schreiben zusah. Entrüstet
quietschte Anshara auf, ehe sie begann, an seinem Ohr und seinem Hals
herumzuknabbern. Nun bekam sie den Stift auf die Nase.
"Püh!"
Unbeirrt nahm Jean einen Briefbogen und begann zu schreiben.
Anshara guckte zu und schmollte. Das war ja schon wieder
Französisch! Sie konnte nur dem Namen nach erkennen, daß der
Brief an Angélique gerichtet war.
"Ist das ein Liebesbrief?" wollte sie mißtrauisch
wissen.
"Natürlich", erklärte Jean übermütig.
"Du bist niederträchtig! Hm. Was heißt denn 'Ich
liebe Dich' auf Französisch?" Sie starrte inquisitorisch auf
das Papier, um irgendwelche verdächtigen Worte umgehend zu
identifizieren.
"Sage ich nicht."
Natürlich wurde das von einem schmolligen "Ooooch,
Jean!" quittiert, doch er ließ sich nicht stören,
sondern schrieb eifrig weiter auf, was Anshara gerade tat.
"Jean, was heißt das? Was schreibst du da
über mich?" wollte sie plötzlich wissen, als sie ihren
Namen erspähte.
"Das ist ein persönlicher Brief", machte er sie
aufmerksam.
"Aber du schreibst etwas über mich - das geht mich doch
an!"
"Nein. Ich will ja auch nicht wissen, was du deinen Freunden
schreibst."
"Ich habe doch niemanden, dem ich einen Brief schreiben
könnte", deklamierte sie.
"Oooch", bedauert er sie und wendete das Blatt, um dort
weiterzuschreiben. Er hatte Angélique eine Menge über die
'Prinzessin' zu erzählen. Um ihn abzulenken, fuhr Anshara mit
ihren Fangzähnen an seinem Hals entlang, und Jean erschauerte.
"Du willst mich wohl nicht arbeiten lassen?"
"Ich will wissen, was du da über mich schreibst",
beharrte sie.
"Die Wahrheit."
"Und? Die wäre?"
"Mußt du doch wissen. - Und ich sage dir trotzdem nicht,
was ich schreibe."
"Auch nicht, wenn ich dich ganz lieb bitte?"
Er sah sie an. "Du willst mich schon wieder
'überreden'?"
"Natürlich."
"Nein." Er schob sie ein Stück weg und widmete sich
seinem Brief, obwohl es ihm ziemlich schwer fiel, insbesondere, da sie
ihm nun ins Ohr pustete. "Hier, guck nach", meinte Jean
schließlich und drückte ihr ein
Französisch/Englisch-Englisch/Französisch Wörterbuch in
die Hand.
"Ah!" Sie strahlte ihn an und begann, eifrig zu
blättern. "Chère..." Sie runzelte die
Stirn. "Das heißt lieb oder teuer. Hm,
hm." So hatte Jean Angélique in dem Brief angeredet. Dieser
ließ sie blättern und beendete den Briefe in aller Ruhe.
Anshara beeilte sich mit dem Suchen, aber sie hatte gewisse
Schwierigkeiten, bestimmte Vokabeln zu finden. "Was heißt
denn était? Das steht hier gar nicht drin."
"War", antwortete er ohne Aufzublicken.
"War?" Sie blätterte herum, bis sie die
Seiten mit den Hilfsverben und unregelmäßigen Verben fand und
quietschte geschockt auf. "Ist das kompliziert",
beschwerte sie sich. Jean lachte.
"Finde ich nicht." Er setzte seinen Namen unter den Brief
und suchte nach einem Umschlag.
"Da hat ein einzelnes Verb zig Formen - wer soll sich die alle
merken?"
"Du, wenn du Französisch lernen willst." Jean
adressierte den Umschlag, faltete den Bogen und packte ihn hinein.
"He, ich habe den Brief doch noch gar nicht gelesen",
protestierte Anshara.
"Sollst du auch nicht." Er klebte den Umschlag rasch zu,
ehe er die anderen Sachen aus der Mappe nahm und begann, systematisch
überall seine Signatur auf die Schriftstücke zu setzen. Da er
sie gerade nicht beachtete, beschloß Anshara, in der Zwischenzeit
nachzusehen, was es mit dem Ich liebe dich auf sich hatte.
"Je aimer tu", fand sie heraus. Jean verzog das
Gesicht. Das war ja grausam, was sie seiner geliebten Muttersprache
antat, aber er verkniff sich lieber einen beißenden Kommentar.
Anshara dachte derweil nach, ob sie diese Kombination irgendwo in
dem Brief gesehen hatte, aber nein, daran konnte sie sich nicht
erinnern.
Endlich hatte Jean die Unterschriften erledigt und klappte die Mappe
zu.
"Fertig?" fragte Anshara.
"Ja."
"Und was unternehmen wir nun?"
Jean legte den Stift weg und streckte sich. "Hm. Eigentlich
wollte ich mir noch ein paar Kataloge ansehen."
"Was für Kataloge?"
"Für alles, was man gebrauchen kann."
"Klingt interessant. Einkaufen gefällt mir immer."
"Ich gehe eben nach unten." Er nahm den Brief an Angelique
und die Mappe.
"Aber laß mich nicht zu lange warten!"
"Mal sehen", erwiderte er amüsiert und warf ihr eine
Kußhand zu.
"Nicht 'mal sehen' - Spute dich!"
Jean grinste und verschwand ins Erdgeschoß, wo er die
erledigten Sachen im Arbeitszimmer von Marc ablegte. Der würde
sich über Tag darum kümmern. Anschließend lief er in
den Keller, wo er sich erst einmal eine Flasche seiner Lieblingsmarke
genehmigte.
Anshara schmollte, denn das dauerte ziemlich lange. Sie
beschloß, erst einmal alle Flüche auf Französisch zu
lernen, die das Wörterbuch hergab. Jean ließ sich
absichtlich Zeit. Nachdem er seinen Hunger gestillt hatte, suchte er im
Erdgeschoß nach den bewußten Katalogen. Er brauchte
dringend etwas neues zum Anziehen.
Derweil versuchte sich Anshara an der Aussprache der Redewendungen,
aber irgendwie hatte sie Probleme mit der Lautschrift. Auch wenn sie
kein Französisch konnte, war sie sich sicher, daß das, was
sie da von sich gab, nicht im entferntesten danach klang. Irgendwann
kam Jean mit den Katalogen sowie zwei Flaschen wieder nach oben.
"Endlich!" rief Anshara. "Ennfinn!"
(Dieses Wort hatte sie speziell für Jeans Wiedererscheinen
herausgesucht.)
"Was?" fragte der irritiert.
"Na, ennfinn!" Sie deutete auf das Wort
enfin im Wörterbuch. Jean warf einen Blick darauf.
"Ach so." Er ließ sich mit seinem Kram auf dem Bett
nieder.
"Was hast du denn alles mitgebracht?"
"Etwas zu essen und etwas zu gucken."
"Ah." Sie setzte sich neben ihn und sah ihm dabei zu, wie
er den Korken mit den Zähnen aus der Flasche zog, da er die andere
Hand zum Blättern in dem Katalog benötigte.
"Sind da auch ein paar hübsche Sachen für mich
dabei?"
"In diesem Katalog wahrscheinlich nicht; das ist nur
Männermode. Aber ein paar von den anderen müßten
gemischt sein."
"Also, wir brauchen demnächst auch unbedingt welche
für mich", fand sie.
"Dann bestell dir welche", empfahl Jean und betrachtete
fasziniert diverse schwarze Outfits, wobei er ab und zu einem Schluck
aus der Flasche nahm.
"Wo denn? Und wie?" Sie kuschelte sich an ihn.
"In den Katalogen sind überall Bestellkarten für
andere drin. Du füllst einfach diese Karten aus und legst sie in
den Postausgang, dann bringt Marc sie zur Post."
"Das klingt einfach. - Äh, sag mal, wie lautet eigentlich
deine Adresse?"
"Da ist sie." Er deutete auf einen Adressaufkleber eines
Katalogs.
"Prima." Begeistert ging Anshara auf die Fahndung nach den
Bestellkarten und füllte einfach alle aus, die sie fand, da sie das
Französische ohnehin nicht verstand. Währenddessen war Jean
weiter in die Betrachtung der Kataloge versunken und verzierte
interessante Seiten mit Eselsohren. Schließlich warf er einen
Blick auf das Kartenhäufchen, das Anshara mittlerweile produziert
hatte.
"Was willst du denn mit Umstandskleidung?"
"Oh." Sie sah an sich herab. "Ich glaube, das ist
eigentlich nicht notwendig..."
Jean nahm die Karten auf und blätterte sie durch.
"Damenmode für die reife Frau", übersetzte er.
"Mode für 12-15jährige, 'Lack Total'..." Er grinste
und las weiter. "Mode für den Liebling - oh, und das da ist
ein Antifaltenmittel, das du bestellt hast."
Anshara prustete los. Jean suchte drei der Karten heraus und warf
die anderen weg.
"Die drei sind für Damenmode", erklärte er.
"Du kannst sie am besten schon mal in den Postkorb legen."
"Gut." Anshara tat dieses und sah ihm anschließend
bei der weiteren Klamottenwahl zu. Sie schmiegte sich hingebungsvoll an
ihn.
"Was hast du vor?"
"Kuscheln."
"So?" Jean legte ihr einen Katalog auf den Bauch und
blätterte weiter darin.
"Mit dir, nicht mit den dummen Katalogen."
"Ich bin beschäftigt."
"Du bist ganz schön unverschämt."
"Immer." Er bedachte sie mit einem amüsierten Blick,
woraufhin sie sich schüttelte und den Katalog herunterrutschen
ließ. Jean plazierte ihn wieder fein säuberlich auf ihr und
hielt ihn fest.
"Eh!" Sie bäumte sich auf, und Jean versuchte, sie in
die Kissen zu drücken, was ihm dank seiner größeren
Stärke auch gelang. Anshara schmollte. Er betrachtete sie und
bemühte sich, in eine bequemere Position zu rutschen, da er
momentan auf dem Katalog lag, den er wiederum auf Anshara drapiert
hatte. "Das ist unbequem", maulte sie. "Nimm sofort das
Teil weg."
"Welches?"
"Den Katalog natürlich!"
"Ach so." Er tat wie ihm geheißen und ließ
sich wieder ins Bett fallen; Anshara beschloß, sich auf ihn zu
rollen.
"Und was hast du nun vor?"
"Ich will dich mir unterwerfen."
"Meinst du, du schaffst das?"
"Ich arbeite zumindest angestrengt daran." Sie musterte
seinen Hals.
"Guck nicht so gierig", lachte er.
"Dabei bist du so appetitlich... Und auch sehr
gehaltvoll."
"Und momentan bin ich sogar ziemlich voll", erklärte
er vergnügt, was darin resultierte, daß Anshara an seinem
Hals herumknabberte. Sie hatte das Adjektiv 'schmackhaft' vergessen,
stellte sie fest.
Jean versuchte, ihr zu entkommen, und Anshara krabbelte ihm bis zum
Rand des Bettes hinterher. Dort blieb er an der Bettkante sitzen und
rollte einen dünnen Katalog zu zusammen.
"Ich warne dich", meinte er und erhob die Rolle wie zum
Schlag.
"So?" Sie schlang von hinten die Arme um ihn und bekam
prompt eins mit dem Katalog auf die Finger. Sie quietschte
entrüstet auf, hielt ihn aber umso vehementer fest.
"Willst du mich erdrücken?"
"Das gelingt mir ohnehin nicht - ich bin doch soooo
schwach..." Jean versuchte, ihren Griff zu lockern, was ihm auch
gelang. "Willst du mir etwa entfliehen?"
"Natürlich." Er dreht sich ihr zu, und sie zog ihn
schwungvoll an sich. Jean zog eine Schnute. Immer diese Klammerei! Er
stemmte sich gegen sie, um nach seiner zweiten Flasche Blut angeln zu
können.
Anshara seufzte und ließ den Blick zwischen dem Blut in der
Flasche und seinem Hals hin und her schweifen.
"Das ist meins", erklärte Jean. "Beides. - Ich
bin heute ausgesprochen selbstsüchtig."
"Ich merke es", deklamierte sie betrübt. Er hielt
sich an der Flasche fest und betrachtete sie. Anshara hatte wieder
einmal einen ihrer höchst gefährlichen tragischen
Bernsteinblicke aufgesetzt. "Bekomme ich auch einen Schluck?"
Sie klimperte mit den Wimpern.
"Warum?" Er nahm die Flasche besitzergreifend in den Arm.
"Weil es mich dürstet, oh du mein Liebster!"
"Na gut."
"Das war aber nicht sehr überzeugend."
"Muß ich das sein?"
"Klar! Du solltest mich mit glänzenden Augen und einem
strahlendem Lächeln auf den Lippen auf Händen tragen und
verwöhnen."
"Kommt gar nicht in Frage. Du bist zu schwer."
"Ich wiege gerade mal 45kg! Du kannst viel schwerere Dinge
tragen."
"Naja..."
"Siehst du."
"Ich tue es aber nicht."
"Ooch Jean..."
"Darauf falle ich nicht rein."
"Hm. Aber ich bekomme doch etwas zu trinken?" Sie legte
den Kopf schief und musterte ihn.
"Bevor ich in den Keller laufen muß..."
"...oder ich mich an dir gütlich tue..."
"Das weiß ich schon zu verhindern. Schließlich bin
ich schneller als du."
"Das ist gemein. Ich mag es nicht, wenn sich meine Opfer
wehren."
"Finde ich nicht. Immerhin bin ich nicht dein Opfer."
"Schaaade..."
Jean schaute sie belustigt an. "Du bist nur zu faul zum
Jagen."
"Nein. Ich bin aber so zart, daß mich die Jagd
ungebührlich anstrengt." Sie versuchte, möglichst schwach
und zerbrechlich zu wirken, was er ihr nicht abnahm. Anshara war auf
keinen Fall so schwächlich. Vor allem, wenn sie sich so
verführerisch an ihn schmiegte wie gerade im Augenblick.
"Was hast du vor?"
"Ich möchte mir nur etwas zu futtern organisieren."
"Bei mir?"
"Warum nicht? Du hast ausgiebig gespeist."
"Ich habe keine Lust, dich mit durchzufüttern. Es ist
schon anstrengend genug, mich zu sättigen."
"Aber du bist so schmackhaft..." Anshara fuhr sich
genießerisch mit der Zungenspitze über die Lippen, und Jean
betrachtete aufmerksam jede ihrer Bewegungen. Als sie intensiv seinen
Hals musterte, warf er sich demonstrativ in Positur und warf ihr
auffordernde Blicke zu. Natürlich konnte Anshara der Versuchung
nicht widerstehen, und sie stürzte sich auf ihn, und Jean gelang es
gerade noch, von ihr wegzurollen. "Eh, du wehrst dich ja schon
wieder!"
"Klar", meinte er vergnügt. "Ich mag es eben,
wenn du mich jagst."
"Aber du bist doch so viel schneller."
"Nur, so lange ich genug Blut habe."
"Momentan müßtest du eigentlich komplett
abgefüllt sein - die Mahlzeit bei Simon, dann jetzt die beiden
Flaschen... Ich sollte dich wirklich von all dem Überschuß
befreien."
"Dann mach mal." Er warf ihr einen verführerischen
Blick zu, und sie versuchte erneut, ihn einzufangen, allerdings
vergeblich.
"Eh! Du willst mir wohl nichts mehr übrig lassen",
beschwerte sie sich, denn jedesmal, wenn er seine überlegene
Geschwindigkeit einsetzte, brauchte dies etwas von seinem Blutvorrat.
Jean streckte sich aufreizend.
"Das ist doch mein Blut."
"Wie egoistisch!"
"Außerdem habe ich doch noch eine ganze Menge
intus."
Sie sprang wieder auf ihn zu und prallte gegen ihn, da er diesmal
stehengeblieben war. Die Kollision warf sie zu Boden, und sie setzte
sich unsanft auf ihren Po.
"Ups! Ich dachte, du würdest wieder abhauen",
grummelte sie und rieb sich ihr malträtiertes Hinterteil.
"Ich dachte, du wolltest, daß ich mich einfangen
lasse", grinste Jean und ließ sich auf dem Bett nieder.
Anshara erhob sich und setzte sich neben ihn, ehe sie versuchte, ihn in
die Kissen zu drücken. Er ließ sich zurücksinken.
"Ah, jetzt komme ich doch noch zu meinem
Appetithäppchen." Sie schleckte über seinen Hals.
"Ich beiße zurück", warnte er.
"Das wollen wir sehen." Sie biß ganz vorsichtig zu.
Eigentlich hatte sie ja keinen Hunger, aber der Geschmack von Jeans Blut
und die Gefühle, die sie durchströmten, wenn sie von ihm
trank, waren einfach zu verlockend. Nach nicht mehr als einem moderaten
Schlückchen hielt sie inne; sie wollte ihn ja nicht gefährden.
Da er nun doch ein wenig hungrig wurde, biß Jean tatsächlich
zurück, und Anshara wehrte sich nur pro Forma ein bißchen.
In dieser Richtung war der Kuß gleichfalls
überwältigend, fand sie.
"Und was hat das jetzt gebracht?" meinte Jean
vergnügt, als er von ihr abließ.
"Spaß?" schlug sie vor und kuschelte sich
hingebungsvoll an ihn.
"Auf jeden Fall bleibt man im Training."
"Bist du denn schon häufiger gejagt worden?"
"Nicht so oft. Meist jage ich."
"Und dein Lieblingsopfer sind wohl arme, kleine,
ägyptische Priesterinnen."
"Also, dich habe ich noch nie gejagt."
"Aber zur Strecke gebracht." Sie räkelte sich wohlig.
"Das war aber keine Anstrengung. Ich werde bestimmt noch total
faul."
"Du bist schon total faul", korrigierte sie.
"Nicht immer. Aber es muß sich schon lohnen. Zum
Beispiel, wenn es etwas besonders Appetitliches zu erobern gilt..."
"Bin ich nicht appetitlich genug?"
"Schon, aber keine Herausforderung." Er musterte sie
intensiv. "Du bist eine wundervolle Blume", erklärte er.
"Du bist ein Charmeur." Anshara strahlte ihn an.
"Und überaus süß." Sie schmiegte sich an ihn.
"Ich glaube, langsam wird es Zeit für das Bettchen."
"Wir sind doch schon drin."
"Eigentlich wollte ich ja in Ruhe schlafen."
"Was ist das Problem?"
"Nicht was, wer", meinte er.
"Ich tue doch gar nichts."
"Du hinderst mich nur am schlafen."
"Na gut, dann werde ich mich in mein Zimmer
zurückziehen." Sie warf ihm einen herzzerreißenden Blick
zu.
"So ungern gehst du?" fragte Jean amüsiert. Anshara
nickte heftig. "Dann bleib eben hier - ich werde es
überstehen."
"Wie nett", seufzte sie, als Jean sich zusammenrollte.
Sie betrachtete ihn liebevoll, ehe sie ebenfalls die Augen schloß
und sich in die Decke rollte.
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