Les premières nuits à Paris
(c) 1995 by Shavana & Stayka
Kapitel 1: L'Arrivée
Man schrieb Samstag, den 2. Januar 1982, etwa gegen 1 Uhr nachts.
Die Caravelle der Air France setzte auf dem neuen
Großflughafen Charles-de-Gaulle im Nordosten von Paris auf, der
etwa 30 Kilometer vom Stadtzentrum entfernt war.
"Voilà. - Jetzt bist du in Frankreich",
sagte Jean LeCartres auf Englisch zu seiner Begleiterin Anshara, als sie
die Gangway hinabgingen. Der Franzose war ein ganz in schwarz
gekleideter, hochgewachsener junger Mann Anfang zwanzig. Er sah auf die
kleine Ägypterin herab, die ihm knapp bis zur Schulter reichte und
sich neugierig umsah.
"Wow", machte sie andächtig. Bislang hatte sie die
meiste Zeit ihres Unlebens in Karnak und Luxor sowie in den Vereinigten
Staaten verbracht, und Europa war ihr weitestgehend fremd. In der
letzten Woche hatte sie das falsche Flugzeug erwischt und war
versehentlich in Frankfurt am Main gelandet, wo sie Jean kennengelernt
hatte, der ihr nun seine Heimatstadt Paris zeigen wollte.
"Endlich daheim", meinte Jean zufrieden. Er hatte etwas
über schulterlange, schwarze Haare und sah nachgerade
phänomenal gut aus, was durch seine tief türkisfarbenen Augen
noch verstärkt wurde.
Anshara sah zu ihm hoch und seufzte. 'Daheim'? Ihr Zuhause
existierte seit über 3800 Jahren nicht mehr. Einst war sie eine
Priesterin im Tempel der Ma'at in Karnak gewesen, bis ein Vampir -
Kainskind, verbesserte sie sich gedanklich - ihr den Kuß ewigen
Lebens gegeben hat. Und ewiger Dunkelheit und Verdammnis, fügte
sie melancholisch hinzu.
"In spätestens zwei Stunden sind wir bei meinem
Haus", eröffnete Jean, der seit dem Jahr 1658 zu den Untoten
gehörte. "Holen wir unser Gepäck."
Sie gingen zur Gepäckausgabe, wo die Koffer der Air
France-Maschine auf einem Laufband an den wartenden Passagieren
vorbeizogen. Schließlich erschien auf ihr umfangreicher
Koffersatz, den Jean mit einem fatalistischen Gesichtsausdruck
einsammelte.
"Wer soll das bloß wieder schleppen?" fragte er
rhetorisch und suchte nach einem Gepäckwagen.
"Du", erklärte Anshara und nahm einige kleinere
Stücke. Sie war knapp 1.60m groß und zierlich, und
Körperkraft zählte nicht gerade zu ihren herausragenden
Eigenschaften. Sie warf Jean einen koketten Blick aus ihren
bernsteinfarbenen Augen zu. Der brummelte etwas und packte die Koffer
auf einen gerade eroberten Gepäckwagen, der anschließend
reichlich überladen wirkte.
"Suchen wir uns ein Taxi", schlug er vor. "Am besten
ein großes."
"Wie wäre es mit einem LKW?"
"Ich bezweifle, daß wir einen solchen hier am Taxistand
vorfinden werden." Er schob den Gepäckwagen dorthin und lud
mit Hilfe des Fahrers die Koffer in das Auto. Dummerweise stellte sich
heraus, daß außer dem Gepäck nun nichts weiteres in den
Wagen paßte. Jean zog eine Grimasse und gab dem Fahrer an, zu
welcher Adresse er die Koffer bringen sollte. Seine Begleiterin und er
würden mit einem weiteren Fahrzeug nachkommen.
"Ich hoffe, der liefert die Sachen auch ordentlich ab",
sorgte sich Anshara.
"Doch", beruhigte Jean sie. "Ich habe die Taxe
schließlich nur angezahlt." Er hielt ihr die Tür des
nächsten Wagens auf.
"Merci", versuchte sie sich an dem einzigen
französischen Wort, das sie bislang gelernt hatte und stieg ein.
Jean grinste, kletterte ebenfalls in das Fahrzeug und gab dem Fahrer die
Adresse. Dieser machte sich gleich darauf hinter dem anderen Taxi her.
Bald standen zwei Autos vor Jeans Behausung, einem edlen
Gebäude in barockem Stil, das etwas zurückgesetzt in einem
gepflegten Garten lag.
Jean half den Fahrern, das Gepäck auszuladen und zu seinem Haus
zu bringen, ehe er die beiden Männer entlohnte und ihnen ein
großzügiges Trinkgeld gab. Als die beiden Wagen weggefahren
waren, öffnete er die Haustür und machte eine einladende
Geste.
"Willkommen in meinem Heim", sagte er.
"Oh danke." Anshara trat in den Flur und sah sich um.
"Hübsch hast du es hier."
"Danke", erwiderte er und transportierte die Koffer
hinein. "Soll ich dir zuerst dein Zimmer zeigen, damit du dich
etwas frisch machen kannst?"
"Das wäre lieb." Anshara nahm die zwei kleinsten
Koffer von denen, die mit ihren Sachen gefüllt waren und folgte
Jean, der sich ebenfalls einige Gepäckstücke aufgeladen hatte.
Er führte sie hinauf in den ersten Stock und öffnete ihr die
Tür. Das Zimmer war mit exquisiten antiken Möbeln
eingerichtet, die alle aus einem goldschimmernden Holz bestanden und
teilweise mit passendem Stoff bezogen waren.
"Das ist ja herrlich", rief sie aus. "Da passe ich
ja richtig hinein!"
"Finde ich auch", meinte Jean und betrachtete die
hübsche junge Frau, deren helle Haut einen leichten Goldschimmer
aufwies, und die wie meist goldenes Make-Up trug, das perfekt zu ihrem
ockerfarbenen Hosenanzug paßte.
"Ich finde es erstaunlich, daß du deine Einrichtung nicht
auch in Schwarz gehalten hast wie deine ganze Kleidung."
"Du hast ja bis jetzt nur ein Zimmer gesehen."
"Oh. Ist der Rest etwa schwarz?"
"Nein", meinte Jean vergnügt. "Nur ein Zimmer.
Jedes hat eine andere Farbe. Bei diesem hier habe ich an meine Mutter
gedacht; sie liebte diese Farben." Er stellte die Koffer neben das
Bett. "Das Bad ist dort." Er wies auf eine schmale Tür.
"Ist da auch ein Ankleidespiegel?" Hier in dem Raum
vermißte Anshara ein solches Utensil.
"Nein, aber hier." Er öffnete einen Schrank, dessen
Türen von innen verspiegelt waren.
"Praktisch. Hier gefällt es mir", verkündete
sie. "Da fällt mir ein - wie sieht es mit den Fenstern aus?
Hast du lichtdichte Vorhänge?"
"Nein, aber etwas besseres. Hier sind die Schalter für
die Rolläden." Jean zog die Vorhänge beiseite und gab den
Blick auf die innen liegenden Rolläden frei. "Da die Fenster
von außen verspiegelt sind, sieht man nicht, wenn der Lichtschutz
tagsüber heruntergelassen ist."
"Du hast offenbar an alles gedacht", stellte Anshara
bewundernd fest.
"Hier gibt es viele, die mir mit Rat zur Seite standen. In
Paris leben sehr viele Kainskinder, und einige davon entwerfen
Häuser."
"Prima. Sag mal, gibt es hier auch Parties?"
"Fast jede Nacht."
"Ich glaube, hier werde ich mich rasch eingewöhnen."
Sie strahlte ihn begeistert an.
"Das würde mir gefallen. Ich suche schon länger
jemanden, der La Chambre du Soleil - das Sonnenzimmer
- bewohnen könnte."
"Jetzt hast du ja jemanden gefunden. Weißt du
eigentlich, daß mein Name auch etwas mit 'Sonne' zu tun hat?
Eigentlich heiße ich ja Anch-Ra, aber der Typ, der mir
meinen Ausweis gefälscht hat, hat das wohl nicht richtig verstanden
und mich Anshara geschrieben..."
"Wo ist da der Unterschied?"
"Hm. Moment. Hast du etwas zu schreiben?" Sie nahm einen
Stift und einen Zettel von ihm entgegen und malte die Versionen auf,
eine in Buchstaben, die andere in Hieroglyphen. "So.
Anch-Ra heißt übrigens soviel wie Ra - also
die Sonne - ist das Leben..."
"Paßt doch hervorragend."
"Seit einigen Jahren nicht mehr", seufzte sie.
"Also, ich finde, du strahlst immer noch."
"Vielleicht bin ich ja als Kainskind ein wenig
fehlgeschlagen."
"Du bist jedenfalls das einzige, das ich kenne, das in dieses
Zimmer paßt", erklärte Jean. "Allerdings bin ich
auch ziemlich wählerisch, was meine Gäste betrifft."
"Dann muß ich dir ja danken, daß du mich als
würdig empfindest, hier mein Domizil aufzuschlagen." Sie
stellte sich auf die Zehenspitzen und versuchte, ihm einen Kuß auf
die Wange zu geben, was aber leider infolge des
Größenunterschieds scheiterte. Jean sah auf sie herab.
"Was hast du vor?"
"Eigentlich wollte ich dir einen Kuß geben", seufzte
sie und sah tragisch zu ihm hinauf.
"Sag das doch." Er hob sie hoch und stellte sie auf das
Bett, und nun gelang es Anshara, ihr Vorhaben in die Tat umzusetzen.
"Du solltest immer einen Schemel bereit halten", kommentierte
er belustigt.
"Oder eine Trittleiter", ergänzte sie, und er lachte.
"Oder du könntest dir jemanden suchen, der besser zu dir
paßt."
"Ach nee, du bist schon okay", winkte sie ab. Jean
grinste.
"Trotz meiner offensichtlichen Fehler?"
"Ja." Sie musterte ihn von unten bis oben. "Immerhin
sind die zusätzlichen Zentimeter nicht überflüssig,
sondern ausnehmend gut gebaut." Sie schlang die Arme um ihn, und er
sah sie an.
"Ich finde, du paßt hervorragend in dieses Haus",
äußerte er, und Anshara strahlte ihn an wie die Sonne, die
ihren Namen zierte. "So, ich lasse dich nun besser allein, damit
du dich erst einmal häuslich einrichten kannst. Wenn ich noch
etwas von deinen Sachen in den anderen Koffern finde, bringe ich es dir
vorbei. Jetzt muß ich erst einmal nachsehen, wie es um das Haus
bestellt ist."
"In Ordnung." Sie begann, die Koffer auszupacken und den
Inhalt in den Schränken zu verstauen.
Jean machte sich auf den Weg, das Haus zu überprüfen; er
war schließlich fast drei Monate nicht mehr hier gewesen.
Vorgestern hatte er zwar seinen Hausdiener Marc angerufen, damit dieser
das Haus in einen bewohnbaren Zustand bringen sollte, aber nachschauen
war allemal besser. Vor allem wollte er wissen, ob Marc auch frisches
Blut vom Lieferservice für Kainskinder geordert hatte, denn er
hatte keine Lust, schon in der ersten Nacht auf die Jagd gehen zu
müssen.
* * *
Nach knapp einer Stunde brachte Jean Anshara die restlichen
Kleidungsstücke, die sich zwischen seinen versteckt hatten und
legte sie auf das Bett.
"Hier hast du noch etwas zum Einräumen."
"Ah, danke!" Sie stürzte sich prompt auf den
neuerlichen Berg und sichtete und faltete alles sorgfältig.
Einiges flog gleich in die Ecke; es handelte sich um die Sachen, die
unbedingt einer Reinigung bedurften.
Jean schaute ihr fasziniert dabei zu. Er fand es zu interessant,
wie jemand eigenhändig seine Sachen aufräumte. Das war
wirklich bewundernswert.
"Da hinten ist eine Kiste für die schmutzige
Wäsche", erklärte er und deutete auf einen goldbraunen,
geflochtenen Wäschekorb.
"Prima." Anshara stopfte den Haufen aus der Ecke in den
Korb, ehe sie den Deckel zuklappte und das darauf gehörende
Deckchen wieder an seinen Platz rückte.
Sie musterte die nunmehr in ihren Schränken befindlichen
Kleidungsstücke und seufzte.
"Ich brauche unbedingt noch ein paar Sachen",
erklärte sie. "Es wäre toll, wenn wir demnächst
einmal einkaufen gehen könnten."
"Machen wir auf jeden Fall."
"Hm. Und wir müssen irgendwie meine Sarkophage und den
restlichen Kram aus Karnak holen."
"Ich werde mich darum kümmern", versprach Jean.
"Es kann aber etwas dauern, da alles per Schiff hergebracht werden
muß."
"Hauptsache, der Zoll findet das Zeug nicht - es handelt sich
bei den restlichen Grabbeigaben von Nefer-Arishi schließlich um
wertvolle Kunstschätze, und ich bezweifle, daß die
ägyptischen Behörden akzeptieren würden, daß die
mir gehören." Dabei war das doch nur ausgleichende
Gerechtigkeit dafür, daß der Hohepriester Menekhat sie 3809
Jahre in dem Sarkophag hatte schmoren lassen, fand Anshara.
"Wir werden das schon arrangieren", beruhigte Jean sie.
"Gut. Aber erst muß ich jetzt noch etwas einkaufen. Ich
habe doch fast gar nichts anzuziehen!" Ihre Sachen lagen
schließlich größtenteils in ihrem Kleidersarkophag in
der Grabhöhle bei Karnak.
"Ich hoffe, der Schrank reicht."
"Ja, ich brauche doch aber unbedingt etwas neues, wenn ich hier
zu einer Party gehen will. Vor allem, wo die Pariser Mode so
weltberühmt ist..."
"Chacun son goût. - Das ist wohl
Geschmackssache", gab Jean zurück. "Manches ist mir
definitiv zu modisch. Aber auf jeden Fall gibt es hier viele
ausgefallene Boutiquen."
"Prima. Da muß ich überall hin."
Jean lachte. "Wir haben doch Zeit." Er sah zum Fenster
hinaus in die Dunkelheit. "Und was möchtest du jetzt
tun?"
"Wann wird es denn wieder hell?"
"In etwa vier Stunden."
"Dann lohnt es sich kaum noch auszugehen. Wie wäre es,
wenn du mir erst einmal dein Haus zeigst? Und außerdem hätte
ich nichts gegen einen kleinen Snack einzuwenden."
"Ich habe einen exquisiten Kellerbestand." Marc hatte wie
stets all seine Lieblingssorten beschafft, und vor allem war alles
absolut frisch.
"Grandios! Ganz wie ich es erhofft habe."
"Ich weiß, was ich meinen Gästen schuldig bin. -
So, und jetzt laß mich dich herumführen. Suis-moi!
Hier entlang." Jean hielt ihr die Tür auf.
"Danke - äh, merci", fand sie eine
neuerliche Anwendung für ihr ganzes Wissen an Französisch.
"S'il te plaît", meinte Jean belustigt.
"Bitte sehr. Hier in der ersten Etage sind
hauptsächlich die diversen Schlaf- und Gästezimmer
untergebracht, welche alle unterschiedliche Farben haben. Dies hier ist
La Chambre de la Mer, das Meereszimmer", sagte er
und öffnete die Tür zu einem Raum, der ganz in dunklem Holz
und leuchtend dunkelblauen Stoffen gehalten war.
"Hübsch", kommentierte Anshara. Sie gingen weiter.
"Hier siehst du La Chambre de la Forêt, das
Waldzimmer", erklärte er und gab den Blick auf einen
Raum frei, der in Mahagoni und Smaragdgrün eingerichtet war.
"Toll!" Sie wanderten durch die diversen anderen
Räumlichkeiten, die allesamt elegant und geschmackvoll dekoriert
waren. "Und was ist auf den anderen Etagen?"
"Unten befinden sich zwei Salons und ein Lesezimmer sowie der
Speiseraum und die Küche. Im Keller sind hauptsächlich Sachen
gelagert, ebenso wie auf dem Dachboden."
"Hast du auch eine Bibliothek?"
"Im Lesezimmer gibt es einige Bücher. Die meisten sind
natürlich in Französisch, aber es sind auch einige englische
darunter."
"Hm. Hast du auch ein Französischlehrbuch für
englisch- oder arabischsprachige Schüler?"
"Ich nicht, aber ich bin sicher, da läßt sich etwas
organisieren."
"Das wäre praktisch."
"Ich werde mal nachfragen."
"Merci", strahlte sie.
"Ich glaube, ich sollte dir wenigstens ein zweites Wort
beibringen. Laß mich überlegen... Wie wäre es mit
oui? Das heißt ja."
"Ah, oui", machte Anshara prompt.
"Jetzt kannst du wenigstens zu allem ja sagen."
"Hm. Nur zur Sicherheit - was heißt nein?"
"Das erfährst du morgen." Jean betrachtete sie
amüsiert. "Ich glaube, langsam habe ich Hunger."
"Ich auch." Sie musterte mal wieder seinen - wie sie fand
- überaus appetitlichen Hals. Jean gab ihren Blick ebenso
zurück. "Aber du erwähntest ja deinen gut
bestückten Getränkekeller..."
"En effet", stimmte Jean gedankenverloren zu.
"In der Tat."
"Sonst werde ich dich nämlich gleich mit Haut und Haaren
auffuttern..."
"Kannst du gerne tun", meinte er grinsend.
"Huch! Aber dann bleibt von dir ja gar nichts mehr
übrig..."
"Dann hättest du jedenfalls das Haus für dich
allein."
"Ooch, weißt du, eigentlich gefällt mit der Inhalt
ja..."
"Die Möbel?"
"Eher das unlebende Inventar."
"Das hast du noch gar nicht gesehen."
"Ich dachte dabei an dich." Sie runzelte die
Stirn. "Äh, wer unlebt denn noch hier?"
"Niemand von besonderer Bedeutung. Nur ein paar
Dienstboten."
"Männlich oder weiblich, lebendig oder nicht?"
"Drei weiblich, einer männlich."
"Hübsch?"
"Selbstverständlich."
"Hm. Ich hätte gerne auch einen oder zwei hübsche
Herren als Dienstboten", überlegte sie.
"Dann schaff dir doch welche an. Aber du mußt dich
alleine um sie kümmern. Solange sie mich nicht nerven, können
sie auch hier unterkommen."
"Keine Sorge, ich sperre sie in einen Schrank, so lange ich sie
nicht brauche. - Aber wie kriege ich die dazu, mir zu gehorchen?"
"Am besten, indem du sie zu Ghoulen machst. Das heißt,
du mußt sie dein Blut trinken lassen."
"Oh." Anshara guckte fasziniert. "Und die tun so
etwas freiwillig? Als ich noch ein Mensch war, hätte ich den
Gedanken, Blut zu trinken, total widerlich gefunden."
Jean lachte. "Jetzt aber nicht mehr, hm?"
"Nein, jetzt nicht mehr. Sonst hätte ich vermutlich auch
ein Problem."
"Stimmt. - Allerdings brauchst du die Erlaubnis des Prinzen,
um einen Ghoul zu schaffen", erklärte er. "Und die
bekommt man nicht so einfach."
"Und wie hast du sie erlangt?"
"Ich habe so lange genörgelt, bis er sie mir erteilte.
Aber ich habe ja auch nur einen Ghoul. Die anderen sind ganz normale
Menschen, die keine Ahnung haben, was ich bin. Für's Saubermachen
und Wäsche wegbringen etc. reichen die aus."
"Ach so. Hm. Ich hatte bislang noch keine Diener",
sinnerte Anshara.
"Ich putze doch nicht selbst", erklärte Jean.
"Dienstboten sind sehr praktisch. Vor allem, wenn man so
unordentlich ist wie ich. Ich kann alles herumliegen lassen, es wird
schon weggeräumt." Er bot ihr seinen Arm an. "Darf ich
dich nun ins Gewölbe führen, wo ich meine erlesenen
Getränke lagere?"
"Natürlich darfst du."
Sie gingen in den Keller herab. "Was darf es denn sein?"
fragte er.
"Hast du etwas leckeres Süßes da?"
"Bien sûr. - Aber sicher." Jean
suchte eine Flasche aus den Regalen. "Da vorne in dem Schrank sind
die Gläser."
Anshara nahm zwei heraus und reichte ihm eines, nachdem er die
Flasche geöffnet hatte. Er schenkte ein, und sie schnupperte an
der tiefroten Flüssigkeit.
"Riecht nach mehr." Sie nippte daran. "Schmeckt auch
so."
"Ich habe davon jede Menge. Wenn ich da bin, wird es
täglich vom Lieferdienst gebracht, Marc kümmert sich
darum."
"Es gibt extra einen Lieferdienst für Blut? Wie
praktisch! Und Marc, das ist wohl dein Ghoul?"
"Richtig."
"Mh, wie heißt diese Marke denn? Die ist echt
lecker."
"Das ist Lundi, meine Lieblingssorte aus der
Collection de la Semaine."
"Muß ich mir merken. Gibt es noch mehr in der
Richtung?"
"Naturellement.."
"Hier gefällt es mir immer besser." Sie leerte ihr
Glas und hielt es ihm zum Auffüllen hin. Er schenkte ihr nach.
Schließlich war die Flasche leer.
"Noch mehr?"
"Nein danke, ich bin rundum satt."
"Und jetzt? Ab in die Heia?"
"Ja, langsam bin ich doch ein wenig müde."
"Schaffst du es noch bis oben?" erkundigte sich Jean
amüsiert.
"Wie weit ist es? Zwei Treppen?" Sie guckte zweifelnd.
"Kannst du mich tragen?"
"Will ich dich tragen?" fragte er zurück.
"Oui!"
"Ich hätte dir doch das Wort für nein
beibringen sollen", seufzte er.
"Oui", grinste sie.
"Ausnahmsweise, weil es heute deine erste Nacht unter meinem
Dach ist", meinte er und hob sie hoch. Sie schlang ihm die Arme um
den Hals und himmelte ihn an. "Falls ich nicht unterwegs
zusammenbreche, heißt das..." Er machte sich also an den
Aufstieg.
"Oooch Jean, ich bin doch ganz leicht", beruhigte Anshara
ihn. Tatsächlich brachte sie kaum 45 kg auf die Waage, was sich
aber bei zwei Stockwerken dennoch bemerkbar machte. Endlich war Jean
oben und legte sie auf ihrem Bett ab. Sie zog ihn zu sich herab.
"Merci..."
"Ich dachte, du bist müde?"
"Sicher, aber ich hätte gerne eine Zudecke."
"Dafür bin ich doch zu schmal."
"Hm, dann muß ich dich wohl auf die Hälfte
falten..."
"So?" machte Jean vergnügt. "Ich glaube, eine
richtige Decke wäre wesentlich praktischer."
"Hm. Vermutlich. Auf jeden Fall wäre sie leichter."
Sie gab ihm einen Kuß, und er drohte wieder, in ihren
Bernsteinaugen zu versinken.
"Et après?" wollte er wissen.
"Und nun?"
"Was immer du möchtest..."
"Was möchte ich denn?"
"Bei mir bleiben?" schlug sie vor.
"Dem wäre ich nicht abgeneigt. Aber so ist es etwas
unbequem."
"Du kannst dich ja hinlegen."
Jean stieg aus seinen Stiefeln und ließ sich auf das Bett
fallen. Anshara kuschelte sich an ihn; er war zwar nicht warm, aber
knuffig. Jean brummte zufrieden. Er war froh, wieder zu Hause zu sein,
und diesmal sogar mit netter Gesellschaft. Diese strahlte wieder einmal
vor sich hin, und als er vergnügt durch ihre Haare wuschelte,
begann sie prompt zu schnurren.
"Sowas Kuscheliges wie du hat mir hier noch gefehlt",
stellte er fest, und sie gluckste auf, ehe sie ihn erstaunt ansah.
"Du hast in der ganzen Zeit nichts passendes gefunden?"
"Das ist gar nicht so einfach", machte er sie aufmerksam.
"Wer will schon mit mir kuscheln?"
"Du bist doch so süß - wer will
nicht?"
"Die meisten haben irgendwelche Hintergedanken", seufzte
er, und Anshara schmiegte sich an ihn, um ihn zu trösten. Er fand
das sehr nett und lächelte. "Du bist auch sehr
süß."
"Ich bemühe mich." Sie gab ihm einen Kuß.
"Aber du bist auch immer lieb zu mir, ja?"
"Bien sûr." Jean knabberte an ihr herum,
und sie kicherte amüsiert.
"Oui! Oui!"
"Tse", machte Jean. "Heißt das, du willst
mehr?"
"Oh, oui!"
"Ah, tu es vraiment jolie." Er sah Anshara tief
in die Augen. "Hm. Mir scheint, du bist immun gegen meine
Versuche, dich zu beeinflussen."
"Wieso? Wolltest du mich denn beeinflussen? Und in
welche Richtung?"
"Ich wollte nur wissen, ob ich dich hypnotisieren
kann."
"Kannst du denn andere Leute hypnotisieren?"
"Manchmal."
"Wovon hängt das ab?"
"Ob sich derjenige beeinflussen läßt."
"Hm." Sie runzelte die Stirn, und Jean betrachtete sie
ausgiebig. "Also, irgendwie werde ich jetzt doch langsam
müde..."
"Dann schlaf."
Sie schloß die Augen und rollte sich zusammen. Jean deckte
sie zu.
"Merci", murmelte sie. "Und guten
Tag."
"Bonjour, ma belle", sagte er leise.
Als Anshara in tiefem Schlummer versunken war, steckte Jean die
Decke um sie fest und begab sich in sein Schlafzimmer.
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