Paris à Nuit
(c) 1995/96 by Shavana & Stayka
Kapitel 6: Der Chantry-Überfall
Man schrieb Samstag, den 21. Dezember 1985, etwa 17:00 Uhr.
Es war gerade ein paar Minuten nach Sonnenuntergang, und Jean und
Gereint schliefen natürlich noch, während Anshara schon unter
der Dusche stand.
Sie war ziemlich aufgeregt, denn erst würden sie heute
auskundschaften, von wo aus sie den Tunnel anlegen wollten, und dann
würden sie vor Sonnenaufgang langsam anfangen, damit sie
pünktlich während des Tages in die Chantry einsteigen konnten.
Hoffentlich gelang es ihr, wach zu bleiben, wenn die Sonne am Himmel
stand...
Als sie endlich fertig war, ging sie in Branwyns Zimmer. Die
Magierin saß natürlich schon seit vor Sonnenuntergang an
ihrem Schreibtisch und studierte den Stadtplan.
"Hast du schon eine Idee, wo wir am besten den Tunnel bauen
können?" wollte Anshara wissen.
"Wir sollten uns einfach die Keller der umliegenden Häuser
ansehen", schlug Branwyn vor.
"Gute Idee. Aber bevor wir loskönnen, muß ich mir
erst einmal etwas zu trinken besorgen."
"Hauptsache, du stillst deinen Durst nicht an mir."
"Keine Sorge, du bist hier der Gast - Apropos, ich
hoffe, du hast schon etwas zu Essen bekommen?"
"Ja, Jeans Ghul hat mich vorhin bestens bekocht."
"Gut. Ich bin gleich wieder zurück." Anshara trabte
in den Keller.
* * *
Jean wachte irgendwann auf, blieb aber liegen, da Gereint noch
schlief, und zudem war draußen wohl auch noch nichts los.
"Seufz", machte er, während er überlegte, was
sie diese Nacht unternehmen sollten. Irgendwie wurde auch das Leben in
Paris nach einiger Zeit öde.
"Was ist?" fragte Gereint, der soeben beschlossen hatte,
wach zu sein.
"Irgendwie ist das alles langweilig."
"Da hast du recht. Vielleicht sollten wir doch mit in die
Chantry einbrechen."
"Hm, dann habe ich lieber Langeweile. Ich mag keine
Unternehmungen, die auch nur die Spur mit Magiern zu tun haben."
"Was hast du nur gegen Branwyn?" wollte Gereint wissen.
"Ich mag sie nicht, sie ist eine Magierin."
"Aber doch ganz nett", erwiderte Gereint.
"Naja." Jean seufzte. "Ich habe nicht die geringste
Lust aufzustehen."
"Ich eigentlich auch nicht, aber ich habe Hunger."
"Du kannst ja auch mal etwas holen gehen."
"Ich dachte eigentlich, ich sei dein Gast."
Da Jean aber keine Anstalten machte, irgendetwas zu tun, blieb
Gereint nichts anderes übrig, als selbst in den Keller zu gehen.
Er zog sich einen von Jeans Morgenmänteln über und stieg die
Treppe hinab.
Anshara stand vor einem Regal, hatte zwei Flaschen in der Hand und
konnte sich wieder einmal nicht entscheiden.
"Guten Abend", wurde sie von Gereint begrüßt.
"Auch hungrig?"
"Guten Abend, Gereint", erwiderte sie. "Ja. Wenn
ich nur wüßte, ob ich nun das AB+ von einem Diabetiker Typ I
oder Typ II nehmen soll..."
Er guckte amüsiert. "Ihr seid wirklich eine
Feinschmeckerin."
"Solange ich die Auswahl habe, auf jeden Fall. Zum Glück
habe ich in meiner Naturheilpraxis eine erkleckliche Anzahl von
freiwilligen Spendern, so daß ich mir immer das Beste aussuchen
kann."
Gereint griff nach einer Flasche in Reichweite.
"Möchtest du mal probieren?" erkundigte sich Anshara,
nahm einen Kelch aus dem Regal (Marc staubte alles gewissenhaft
täglich ab) und schenkte ihm etwas vom Typ I Diabetiker ein.
Gereint nahm einen Schluck.
"Naja, nicht so mein Geschmack. Ich bin eben eher an normale
Hausmannskost gewöhnt."
"Was mögt Ihr denn am liebsten?"
"Eigentlich mag ich fast alles, hauptsache, es ist nicht
verseucht."
"Das Blut meiner Patienten wird bei mir genaustens auf alle
Erreger, Antikörper und etwaige Giftstoffe untersucht, daher sind
meine persönlichen Anfüllungen garantiert sicher." Da sie
immer noch nicht zu einer Entscheidung gekommen war, leerte sie
kurzerhand beide Flaschen.
"Was habt Ihr heute vor?" fragte Gereint.
"Wir begeben uns zum dritten Distrikt und suchen uns einen
verlassenen Keller, von wo aus Bran den Tunnel zur Chantry
gräbt."
"Aha. Branwyn ist bestimmt begeistert von diesem
Abenteuer."
"Und wie! Sie hat schon zig geheimnisvolle Geräte
zusammengesetzt und mir sogar eine 'Kälteschleuder' gebaut, die
Flüssighelium verschießt."
"Das ist typisch für sie. Sie ist immer schnell für
so etwas zu begeistern. Aber ich glaube, ich sollte Jean langsam sein
Frühstück bringen."
"Dann laß uns nach oben gehen."
Gereint packte ein paar Flaschen in einen Träger, und die
beiden machten sich auf den Weg nach oben, wo sich ihre Wege trennten.
"Hier ist dein Frühstück", sagte Gereint zu
seinem Bruder und stellte den Träger ab.
"Oh, danke!" Jean angelte nach einer der Flaschen.
Natürlich trödelten die zwei weiter herum. Sie
bewunderten sich ausgiebig im Spiegel, bevor sie beschlossen, sich
endlich fertig anzuziehen.
Anshara gesellte sich wieder zu Branwyn, und sie begannen, ihre
Ausrüstungsgegenstände zusammenzusuchen. Die Magierin
ließ ihren Kram komplett in ihrem phantastischen Rucksack
verschwinden.
Schließlich waren sie fertig und sahen noch einmal bei den
Männern vorbei. Die beiden waren gerade mit dem Anziehen fertig,
und Jean striegelte Gereints Mähne. Endlich hatte er mal ein Opfer
mit langen Haaren vor sich, bei dem sich das Bürsten lohnte.
"Wir machen uns jetzt auf ins Abenteuer", verkündete
Anshara strahlend.
"Viel Spaß", wünschte Gereint.
"Den werden wir bestimmt haben", versicherte Branwyn. Sie
trug wieder den Ghostbusters-Overall und hatte auch Anshara passend
eingekleidet. Anstelle der klassischen Lichtkanonen der
Geisterjäger hatten sie den Flammenwerfer bzw. die
Kälteschleuder umgeschnallt, aber der Unterschied würde kaum
jemandem auffallen. "Und was habt ihr heute vor?"
"Ich weiß noch nicht. Eigentlich ist hier in der Stadt
auch nicht sehr viel los."
"Ihr könnt euch immer noch uns anschließen."
"Wir sind eh nur im Weg", warf Jean ein.
"Um die Bücher herauszutragen könnten wir zwei starke
Männer gebrauchen."
"Wer ist hier stark?" fragte Jean zurück.
"Du bist auf jeden Fall stärker als ich."
"Es gefällt mir aber besser, wenn ihr beiden sie schleppt
als ich."
"Du warst auch schon mal mehr Kavalier."
"Höchstens als ich dich noch nicht so gut kannte." Er
grinste. "Ich bin eben faul."
"Ein bißchen Bewegung täte dir schon gut."
"Ich will aber nicht dahin. Das ist mir viel zu
gefährlich."
"Na gut, dann gehen wir eben alleine."
Anshara winkte Jean zu und verschwand mit Branwyn in Richtung
Garage.
Jean sah Gereint an. "Warum gibt sie in letzter Zeit so
schnell nach? Ich glaube, sie ist lieber mit Branwyn zusammen als mit
mir."
"Kann sein", meinte sein Bruder schulterzuckend.
"Ich finde ohnehin, daß ihr nicht zusammenpaßt."
"Hm", machte Jean. "Und was machen wir jetzt?"
wechselte er das Thema.
"Ich würde sagen, wir folgen den beiden
unauffällig."
Sie riefen ein Taxi und ließen sich nach Marais in die
Nähe der Rue de Turenne fahren. Dort angekommen, suchten sie sich
einen guten Beobachtungsplatz auf einem der Dächer, von dem aus sie
die Straßen vor der Chantry gut übersehen konnten.
Sie beschloßen, Wache zu halten, damit niemand Bran und
Anshara hinterrücks überfallen könnte. Da aber weit und
breit niemand in Sicht war, begannen sie schon bald, sich ziemlich zu
langweilen.
* * *
Mit dem Mercedes fuhren die beiden Frauen zum dritten Distrikt, wo
sie den Wagen am Straßenrand parkten, ehe sie sich diverse
Häuser ansahen, ob deren Keller für den geplanten Tunnelbau
geeignet waren.
Nach kurzer Suche fanden sie ein passendes Haus, das der Besitzer
offenbar hatte ziemlich verkommen lassen. Nachdem sie die Bewohner -
drei Clochards - vertrieben hatten, machte Branwyn sich an die Arbeit.
Anshara hielt einen Kompaß in der Hand und wies der Magierin
die Richtung, während diese kontinuierlich mit dem
Materietransformatorstrahler Erde in ein Sauerstoff/Stickstoff-Gemisch
verwandelte. Langsam aber sicher wuchs der Tunnel, auch wenn Bran ab
und zu Pausen machen mußte, um sich eine kleine Stärkung zu
genehmigen.
Schließlich ging es auf die Morgendämmerung zu, was
Anshara besonders stark merkte, da sie allmählich eine bleierne
Müdigkeit in ihren Gliedern verspürte.
Jean und Gereint hatten sich rechtzeitig nach Hause verzogen, denn
schließlich hatten sie nicht vor, irgendetwas über den
Ausflug zu erzählen.
Im Tunnel war es zum Glück dunkel, aber Branwyn hatte ihre
liebe Mühe, Anshara wachzuhalten, da diese alle paar Minuten
einzunicken schien. Sie schüttelte das Kainskind mal wieder, und
Anshara zuckte zusammen.
"Hm, bin ich schon wieder...?"
"Ja", seufzte die Tochter des Äthers gestreßt
und verwandelte den nächsten Meter Erde in Gasgemisch.
"Wie weit ist es denn noch?" fragte Anshara und riß
sich zusammen, als ihr wieder die Augen zufallen wollten. Tagsüber
wach zu bleiben war schwieriger als sie gedacht hatte.
"Eigentlich müßten wir jetzt unter der Chantry
sein", meinte Branwyn und sah auf ein Meßgerät, das sie
aus einer Tasche ihres Overalls gezogen hatte. "Doch, es sieht gut
aus." Sie nahm ihren Rucksack, den sie zur Zeit wegen des
Flammenwerfers nicht auf dem Rücken trug und kramte nach ihrem
Tricorder. Schließlich hatte sie den zugehörigen Salzstreuer
in der Hand und richtete ihn nach oben. "Der Life-Scan ortet acht
menschliche Lebensformen in dieser Richtung."
"Das sind dann wohl die Ghule."
"Oder wir sind doch noch nicht unter der Chantry und es handelt
sich um eine ahnungslose Familie beim Frühstück."
"Sag das lieber nicht so laut..."
"Egal, ich werde jedenfalls jetzt den Durchbruch nach oben
machen." Diesmal schuf die Magierin nicht nur einen einfachen
Tunnel, sondern baute direkt Treppenstufen ein, über die sie sich
weiter der Erdoberfläche näherten. Auf einmal hielt Bran
inne. "Augenblick, Anshara, ich würde vorschlagen, du steigst
jetzt mal präventiv in die Tüte. Falls ich nämlich
versehentlich nicht unter dem Haus auskomme oder mich nur um ein
Stück vertran hätte, würdest du dich sonst in ein
Rauchwölkchen auflösen, und das wollen wir doch nicht,
oder?"
"Äh, da sagst du etwas Wahres..."
Anshara beeilte sich in den lichtundurchlässigen Plastiksack zu
steigen. Als sie ihn sicher verschlossen hatte, überkam sie eine
neuerliche Welle der Müdigkeit, und sie sank zusammen.
Bran vollendete nun den Durchbruch und war zufrieden, daß alle
Sorgen umsonst gewesen waren. Sie waren in einem nicht erleuchteten
fensterlosen Keller ausgekommen.
"Anshara? Du kannst wieder rauskommen", flüsterte
sie. Keine Antwort. "Anshara?"
Seufzend kletterte Bran zurück und zog die Vampirin aus der
Plastikhülle. Natürlich war sie prompt eingeschlafen, und es
bedurfte einigen Rüttelns und Schüttelns, um sie wieder wach
zu bekommen. Warum hatte sie diese Aktion nicht alleine unternommen?
Tagsüber war ein Kainskind definitiv mehr Last als Hilfe.
"Sind wir da?" brummelte Anshara verschlafen.
"Ja. Und jetzt komm." Branwyn zog sie hinter sich her in
den Keller. "Wir müssen herausfinden, wo die okkulte
Bibliothek ist."
"Gut, gut..."
Sie trabten durch den Keller, wobei Branwyn unentwegt nach
Lebensformen scannte. Auf diese Art gelang es ihnen, die Ghule zu
umgehen, denn diese nicht zu treffen, war allemal sicherer als sich auf
einen Kampf mit ihnen einzulassen.
Nach etwa zwei Stunden der Suche waren sie endlich am Ziel. Die
nächste Tür, hinter der sich auch niemand befand, gab den
Blick auf gewaltige Regale voller antiker und neuer Bücher frei.
"Bei Thoth", entfuhr es Anshara. "Wie sollen wir die
alle abtransportieren?"
"Mir ist vorhin die Idee dazu gekommen", meinte
Bran. "Wir packen sie einfach in meinen Rucksack. Ich hoffe nur,
ich habe genug Platz zu Hause... Naja, wir müssen eben die
interessantesten Werke aussuchen."
"Und woran erkenne ich die?"
"Raten", empfahl die Magierin. Sie hatten keine Zeit,
erst alle Bücher durchzulesen, denn je länger sie hier
verweilten, desto gefährlicher würde es.
Also begannen sie, mehr oder weniger wahllos alle Bücher, die
ihnen vom Outfit her interessant erschienen in den Rucksack zu stopfen.
Die Arbeit hielt das Kainskind zum Glück wach, so daß Bran
sie nicht immer wachrütteln mußte. Sie trugen gut zwei
Stunden schwere Bände in den Rucksack, und dieser faßte
einiges, doch nach dem ersten deckenhohen Regal war Sense.
"Hm, und nun?" fragte Anshara.
"Wir müssen eben noch einmal vorbei kommen, wenn ich etwas
Platz geschaffen habe."
"Aber wenn die Tremere die fehlenden Bücher entdecken,
werden sie in Raserei verfallen, alles absperren, durchsuchen, Wachen
aufstallen etc."
"Hm. Also, die Sachen, die wir eingepackt haben, sahen
ziemlich eingestaubt aus. Ich vermute, so schnell werden die das gar
nicht merken."
"Meinst du nicht, daß das leere Regal
auffällt?"
"Das läßt sich ändern."
Branwyn konzentrierte sich und plötzlich standen wieder lauter
staubige, ledergebundene Bücher in den Fächern.
"Wow", machte Anshara. "Wie hast du das denn
gemacht! Hast du die aus dem Nichts erschaffen?"
"Äh", kam es von Branwyn. "Das kann ich leider
noch nicht richtig - ich habe nur einen Teil der Materie der dahinter
liegenden Wand in Bücher-Imitate umgewandelt. Ich hoffe, daß
auf der anderen Seite niemand auf den Gedanken kommt, einen Nagel in die
Wand zu schlagen. Außerdem sollten sie in die Bücher lieber
nicht hineinsehen, das sind nur hohle Pappkartons mit
Lederrücken."
"Aber auf den ersten Blick sieht es täuschend echt
aus."
"Das war der Gedanke. So, und nun laß und
zurückgehen."
Wieder schlichen sie durch die Gänge, wichen allen etwaigen
Ghulen aus und kletterten wieder in das Loch. Branwyn versiegelte es
sorgfältig, ließ aber den Gang bestehen. Nur auf der anderen
Seite im Keller des heruntergewirtschafteten Hauses schuf sie ebenfalls
eine steinerne Abschlußmauer.
Nun durfte Anshara wieder in den Plastiksack klettern, und Branwyn
transportierte sie zum Mercedes zurück. Endlich waren sie wieder
im Haus, und Anshara schlief sofort ein, nachdem sie ihre
Ausrüstung von sich geworfen und sich auf das Bett geworfen hatte.
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