Paris à Nuit
(c) 1995/96 by Shavana & Stayka
Kapitel 3: Eine Nacht im Turm
Man schrieb Mittwoch, den 18. Dezember 1985, etwa 17:00 Uhr.
Anshara erwachte und fand sich in einer völlig ungewohnten und
diffus erleuchteten Umgebung wieder. Sie brauchte einige Augenblicke,
ehe sie sich orientieren konnte. Als ihr gewahr wurde, daß sie in
ihren Sachen geschlafen hatte, seufzte sie, und als sie sich in den viel
zu kleinen Spiegel betrachtete, stellte sie fest, das sie sich ja auch
nicht abgeschminkt hatte und nun die goldene Farbe
unregelmäßig über ihr ganzes Gesicht verteilt war.
Sie versuchte, das Malheur mit ein paar Papiertaschentüchern
notdürftig zu beseitigen, aber sie brauchte unbedingt eine Dusche.
Da sie sich hier nicht auskannte, guckte sie erstmal zur Tür
hinaus. Die Treppe war düster erleuchtet, und es war niemand zu
sehen. Es gab nur eine weitere Tür in Sichtweite, die etwa eine
halbe Treppe höher lag. Anshara wanderte also dorthin, und da sie
eine Aura in dem Raum spürte, klopfte sie sicherheitshalber an. Es
handelte sich um Gereints Zimmer.
"Ja bitte?" ertönte dessen Stimme.
"Huhu", machte Anshara zaghaft. "Gibt es hier
irgendwo ein Bad, wo ich mich frisch machen kann?"
"Ja, ganz unten, die weiße Tür." Gereint rollte
sich wieder zusammen. Es war noch viel zu früh zum Aufstehen.
"Prima! Danke." Sie joggte die Treppe hinab und
verbrachte erst einmal die obligatorische Stunde an Wasch- und
Restaurationsarbeiten, bis sie der Ansicht war, daß sie wieder
präsentabel aussah.
Jean schlief natürlich noch, außerdem gab es im Turm nur
ein Bad, von dem er mit hoher Wahrscheinlichkeit annahm, daß
Anshara es schon längst belegt hatte.
Schließlich kletterte Anshara die Treppe wieder hoch und
überlegte, ob sie auf eigene Faust Erkundungen anstellen oder
lieber in ihrem Zimmer noch ein Weilchen in den Zeitschriften lesen
sollte. Etwa eine halbe Stunde blätterte sie erst einmal in den
Heften herum, dann machte sie sich doch auf eine kleine Tour durch das
Gebäude.
Gereint hatte sich inzwischen dazu durchgerungen, sich aus den
Federn zu erheben und ging in die Küche, um sich ein
Frühstück zu suchen. Als er an seinem Geschenk von Branwyn
herumprobierte, trat Anshara ein.
"Guten Abend, Monsieur Gereint!" Sie betrachtete das
eigenwillige High Tech Gerät, an dem allerlei Lämpchen und
Sensorfelder funkelten. "Ist das der neue Kühlschrank?"
fragte sie fasziniert.
"Guten Abend, Mademoiselle Anshara. - Ja. Ich hoffe es
zumindest..."
"Und was hat er nun für Extras?"
"Keine Ahnung. Das muß ich erst herausfinden. Ich bin
lieber immer vorsichtig, was neue Geräte von Branwyn
betrifft."
"Weshalb?"
"Weil sie manchmal etwas ganz anderes tun als
beabsichtigt."
"Oh." Anshara beschloß, lieber einen gewissen
Sicherheitsabstand zu dem mysteriösen Haushaltsgerät
einzuhalten, während Gereint es neugierig inspizierte. "Wie
gefährlich kann so etwas werden?" wollte sie wissen.
"Es kann zum Beispiel explodieren."
"Oh-oh... Und wie sieht es bei diesem Gerät
aus?"
"Es sieht mir nicht so aus, als würde es in die Luft
fliegen."
"Beruhigend."
"Genau. Ich habe nämlich Hunger."
"Hm, Hunger habe ich eigentlich nicht - es ist mehr ein kleiner
Appetit. Was hättet Ihr denn da?"
"Leider nicht viel", meinte er bedauernd. "Nur etwas
Tütenkost."
"Ist vielleicht auch AB+ dabei?"
Gereint zuckte mit den Schultern. "Ich weiß nicht."
"Das sollte eigentlich auf den Tüten aufgedruckt
sein."
"Ich habe nicht draufgeguckt. Wißt Ihr, ich bin in
dieser Hinsicht nicht so wählerisch." Er inspizierte die
Blutkonserven. "Fast alles A+ und 0."
"Naja, A+ ist auch okay", erklärte Anshara, und er
warf ihr eine Tüte zu.
"Danke. - Oh, schön kalt", fand sie.
"Eigentlich mag ich es lieber warm, aber was soll's?"
"Habt Ihr keinen Mikrowellenofen?"
"Nein."
"Das solltet Ihr Euch unbedingt besorgen; es ist sehr
praktisch."
"Wir haben hier keinen Strom", machte Gereint sie
aufmerksam, woraufhin sie sehr verdutzt dreinblickte.
"Und wie funktionieren dann die ganzen Geräte?"
fragte sie neugierig.
"Fragt Branwyn."
"Werde ich tun." Anshara sah zur Decke, von woher die
Beleuchtung kam. Erstaunlicherweise waren keine Lampen zu sehen.
Gereint hatte unterdessen seine Zähne in die Packung geschlagen und
leerte diese. Anshara nuckelte ebenfalls an ihrer Blutkonserve.
"Schon besser", erklärte er, als er den halben Liter
ausgetrunken hatte.
"Stimmt", nickte Anshara. "Ist Branwyn auch für
die Beleuchtung zuständig?"
"Sie ist für die ganze Technik hier verantwortlich, denn
ich beschäftige mich nicht mehr damit."
"Nicht mehr? Warum denn nicht?"
"Das ist schon lange her, und außerdem kann ich eh nichts
mehr in dieser Richtung tun."
Anshara betrachtete ihn nachdenklich. "Nichts mehr in dieser
Richtung", widerholte sie sinnend. "Heißt das, Ihr habt
auch zu den echten Magiern gehört, bevor Ihr ein Kainskind
wurdet?"
"Ja. Obwohl ich zu einer anderen Tradition als Branwyn
gehörte. Wißt Ihr, ich war ein Mitglied des Ordens des
Hermes."
"Hm." Sie legte die Stirn in Falten. "Orden des
Hermes - sind das nicht die, von denen die Tremere abstammen?" Sie
hatte so etwas in Simons Handbuch gelesen.
"So ungefähr. Das Haus Tremere war eines der diversen
Häuser aus denen der Orden bestand."
"Hm." Anshara dachte nach. "Müßtet Ihr
dann nicht eher ein Tremere sein? So wie ich das verstanden habe, sind
die Tremere doch eigentlich auch nicht von Anfang an auf Tremere
zurückzuführen, sondern die Chefs haben sich durch einen
magischen Trank in Vampire verwandelt. Also ist das doch eigentlich gar
kein richtiger Clan, sondern von Anfang an nur eine Mixtur..."
"Ich denke, ich bin ein echter Toreador", fand Gereint.
Mit den Tremere wollte er lieber nichts zu tun haben.
"Gut", kommentierte Anshara. Sie war mittlerweile der
Ansicht, daß alle anderen Clans außer den Toreador ziemlich
daneben waren. Nun gut, bei den Ventrue konnte man notfalls eine
Ausnahme machen. "Was zeichnet denn den Orden des Hermes aus? Ich
meine, daß die Söhne - äh, Kinder des
Äthers hingebungsvolle Bastler sind, habe ich ja inzwischen
mitgekriegt."
"Nun", begann Gereint zögerlich. "Stellt Euch
die Tremere vor, nur erheblich schlimmer, was Hierarchien und Strukturen
betrifft, dann kommt es in etwa hin."
"Das klingt aber gar nicht so toll", bemerkte sie. Vor
allem, weil ihr die Tremere hochgradig suspekt waren. Das einzig
Brauchbare an ihnen war die Thaumaturgie.
"Der Orden sieht das etwas anders", entgegnete Gereint
belustigt.
"Und was ist mit den anderen Magiergruppierungen?"
"Die finden sich auch toll."
"Nein, ich meine, was kann man sich unter denen
vorstellen?"
Gereint zog eine Grimasse, dann begann er, an seinen Fingern
abzuzählen.
"Die Mitglieder der Akaschischen Bruderschaft sind eine Art
Kung Fu-Mönche, die hauptsächlich meditieren, nichts tun und
wenig wissen. Der Himmlische Chor besteht aus religiösen
Dogmatikern, die nicht ganz erkannt haben, daß wir unser Schicksal
bestimmen und nicht eine göttliche Macht. Die Anhänger des
Kults der Ekstase sind leichtlebige Degenerierte, die meinen, daß
sie nur dadurch zur Wahrheit finden, wenn sie alle Regeln brechen. Die
Traumsprecher sind rückschrittliche Ökofreaks, die am liebsten
mit Geistern reden und keine Ahnung von wahrer Magie haben. Die
Euthanatos-Magier sind gefährliche Irre, die eine Freude daran
haben, anderen das Lebenslicht auszublasen. Zum Glück sind sie auf
unserer Seite und bekämpfen ebenfalls die Technokraten... Die
Verbena sind Kräuterhexen und Baumliebhaber mit einem Hang dazu,
sich magische Symbole in den Körper zu ritzen, um damit ihrer
primitiven Naturmagie zu frönen. Die Virtuellen Adepten sind
Computerfreaks mit einem kindlichen Gemüt, deren Eifer man in
sinnvolle Bahnen lenken sollte. Die Hollow Ones sind
kindisch-anarchistische Grufti-Magier, die sich als unabhängig
betrachten und deren Wissen hauptsächlich von Experimenten am
eigenen Leib stammt. Naja, und was die Technokratie betrifft - von
denen sollte man sich tunlichst fernhalten, das sind hauptsächlich
größenwahnsinnige Killer, die die Magier der Traditionen
auslöschen wollen."
Anshara hatte höchst interessiert zugehört. "Hm.
Aber ich habe den Eindruck, daß zumindest die Kinder des
Äthers auch einiges an Technik einsetzen - warum sind die denn eine
Tradition?"
"Die Kinder des Äthers und die Virtuellen Adepten waren
anfangs Mitglieder der Technokratie, haben sich aber von diesen
abgewandt, als sie erkannten, was die Technokraten vorhatten."
"Faszinierend. Das hört sich fast genauso an wie die
Clans der Kainskinder."
"Richtig. Im Prinzip ist das alles dasselbe. Ich habe
allerdings hauptsächlich oberflächliches Wissen über die
aktuellen Aktivitäten der Magier, schließlich bin ich schon
länger nicht mehr dabei. Wenn Ihr genaueres wissen wollt,
müßt Ihr schon Branwyn fragen."
"Wie lange seid Ihr denn schon ein Kainskind?"
"Über vierhundert Jahre."
"Das ist wirklich lange. Was ist eigentlich besser - ein
Magier zu sein oder ein Kainskind?" fragte Anshara neugierig.
"Nun, Magier haben es irgendwie einfacher, aber als Kainskind
gefällt es mir eigentlich auch. Der größte Vorteil ist,
daß Magier keine Probleme mit Sonnenlicht haben, und auch ihre
Essensbedürfnisse sind leichter zu erfüllen."
"Nun, Ihr lebt hier auch ziemlich weit weg von der Stadt, wo
Gefäße in Hülle und Fülle herumlaufen. Aber das
mit dem Tageslicht ist ein Problem, vor allem im Sommer. Im
Winter ist es zum Glück länger dunkel als hell. Man sollte
sich wirklich überlegen, den Winter in Europa und den Sommer in
Australien zu verbringen."
"Aber diese Reiserei ist doch sehr aufwendig. Ich bleibe
lieber hier."
"Oh, ich finde es aufregend. Ich war schon in England und
Amerika und Rumänien und Deutschland..."
"Früher bin ich auch oft gereist, aber jetzt habe ich
keine Lust mehr dazu. Was gibt es denn schon neues zu sehen?"
"Sehr viel", widersprach Anshara. "Wißt Ihr,
daß die in Amerika jetzt ein 'Space Shuttle' gebaut haben, mit dem
man einfach so in die Erdumlaufbahn fliegen kann? Aber leider ist da
oben ziemlich viel Sonne", seufzte sie bedauernd.
"Also nichts für uns", konstatierte Gereint.
"Dabei würde ich zu gerne im Flugzeug aus dem Fenster
sehen, wenn es dem Tag entgegenfliegt... Aber was bleibt uns
Kainskindern? Nur Reisen als Gepäckstück im Laderaum. Das
ist frustrierend."
"Ist aber sicherer", stellte er belustigt fest.
"Zu meiner Zeit hat man an Flugzeuge nicht einmal gedacht, und
jetzt, wo ich sie sogar benutzen kann, kann ich sie nicht
genießen", schmollte Anshara.
"Jeder muß sein Schicksal tragen."
"Aber man muß es nicht mögen!" Sie setzte sich
auf einen der Stühle und seufzte. "Wenden wir uns lieber
einem erfreulicheren Thema zu. Wo habt Ihr eigentlich Branwyn
kennengelernt?"
"Im Wald."
"Im Wald?" echote Anshara erstaunt. "Was hat sie
denn im Wald getan?"
"Sie wollte irgendso ein Dings testen."
"Und? Hat es funktioniert?"
"Eher nicht..."
"Inwiefern?"
"Es machte ziemlich laut 'Puff!', und der halbe Wald war
weg."
"Oh je - wohin? Und ist er wieder aufgetaucht?"
"Nein, er war einfach weg. Und wohin? Keine Ahnung."
"Das ist dumm. Aber sonst ist doch hoffentlich nichts
passiert, oder?"
"Nicht besonders viel." Gereint wollte lieber nicht an das
Paradox denken, das Branwyn durch ihren Fauxpas auf sich gezogen hatte.
Eine ganze Woche hatte sie sich praktisch nicht aus dem Bett getraut,
und er mußte sie füttern, da alles, was sie mit ihren Fingern
anfaßte, plötzlich zu Tannennadeln wurde. Sie konnte nicht
einmal zur Toilette gehen, sich anziehen oder waschen. Es hatte zwar
sehr amüsant ausgesehen, wenn sich das Wasser prompt in grüne
Nadeln verwandelte, sobald sie versuchte, sich die Finger zu waschen,
aber irgendwie war es auch hochgradig lästig gewesen. Zum
Glück war ihr eigenener Körper offenbar immun gegen diese
Paradox-Auswirkung gewesen, sonst hätte sie diese Woche kaum
überlebt. "Ich denke, ich sehe rasch nach Branwyn",
meinte er dann. "Bis gleich."
"Gut. Bis gleich." Anshara fragte sich, wo Jean wohl
gerade steckte und beschloß, ihn suchen zu gehen.
* * *
Jean war endlich aufgestanden und hatte sich in das Wohnzimmer
begeben, von dessen Fenster er das Meer bei Nacht bewundern konnte.
Als Anshara den runden Raum betrat, sah sie ihren Gefährten auf
der Fensterbank sitzen und in die glitzernde Dunkelheit hinausschauen.
"Hallo Jean! Gut geschlafen?"
"Hallo Anshara! - Aber ja, wie ein Toter", erwiderte er
vergnügt.
"Ich auch, obwohl es auf den ganzen Fellen ungewohnt war."
"Ich fand es schön bequem."
"Das schon, aber ich war irgendwie so müde, daß ich
ganz vergessen habe, mich meiner Kleidung zu entledigen." Sie
guckte tragisch an sich herab. Ihr Hosenanzug war zwar angeblich
bügelfrei, aber irgendwie schien der goldockerfarbene Stoff nicht
hundertprozentig davon überzeugt zu sein.
"Was hast du nur wieder angestellt, um so erschöpft zu
sein?"
"Ich habe gelesen. Diese ganze Magie-Sache ist einfach
hochinteressant! Ich muß mich unbedingt in der
Thaumaturgie üben, auch wenn die Rituale wohl nicht ganz so einfach
sind..."
"Stimmt. Es sah sehr amüsant aus, wie die vor die
Wände gerannt bist."
"Es tat weh", jammerte sie.
"Du hättest Gereint glauben sollen."
"Ich wollte es ausprobieren. Außerdem sagte er, nur
Übung hilft. Also werde ich üben! Vielleicht klappt
es ja dann irgendwann..."
"Wir werden es ja sehen."
"Genau. - Vielleicht kann mir Gereint auch noch andere Sachen
beibringen. Er scheint ja noch viel mehr über Thaumaturgie zu
wissen als Simon."
"Soweit ich weiß, hat Simon das alles von ihm
gelernt."
"Ah! Dann ist man hier also an der Quelle. Praktisch."
"Allerdings ist Gereint manchmal ziemlich schwierig. Er
vergräbt sich hier und will nichts mit anderen zu tun haben."
"Und was ist mit Branwyn?"
"Die ist eine Magierin. Mit der will ich nichts zu tun
haben."
"Hm. So schlimm kommt sie mir nicht vor."
"Ich mag sie einfach nicht."
"Warum nicht?"
"Darum."
"Wenn du meinst..." Anshara zuckte die Achseln.
"Also, ich fand sie bis jetzt ganz nett. Sie hat mir auch noch
nichts getan."
"Das war reines Glück", kommentierte Jean, ehe er
abwinkte. "Ach, ich mag sie einfach nicht."
"Gereint hat offenbar keine Probleme mit ihr."
"Meinst du? Mir scheint eher, die beiden leben in einer sehr
merkwürdigen Art von Gleichgewicht. Sie lassen sich meistens in
Ruhe."
"Hm. Momentan steckt er allerdings bei ihr..."
"Er sieht meist nur schweigend zu."
"Er traut sich wohl nicht, ihr zu helfen", mutmaßte
Anshara.
"Er hat wohl eher keine Lust", widersprach Jean.
"Könnte auch sein. Gereint erzählte mir, daß
er nicht mehr richtig dabei mitmischen kann."
"Eben."
"Anshara seufzte mitfühlend. "Und ich kann bei sowas
auch nicht mitmachen, sagte er. Ich finde das unfair."
"Da kann man eben nichts ändern."
"Leider." Sie schmollte. "Na gut, dann muß ich
eben bei der Thaumaturgie bleiben... Wenigstens kann man damit auch
schon einiges machen - nur das Üben ist ziemlich lästig."
"Dir bleibt wohl nichts anderes übrig."
"Aber irgendwie kriege ich das Ritual noch hin!"
"Dann mußt du fleißig trainieren."
"Tue ich. Obwohl, momentan habe ich genug davon, vor
irgendwelche Mauern zu rennen."
Jean sah wieder hinaus auf das Meer. "Ich finde das Wasser im
Mondlicht zu schön."
"Stimmt. Ich sollte wirklich mal gucken, ob ich nicht malen
oder fotografieren lernen kann."
"Ich wünschte, ich könnte so etwas auch lernen, aber
ich kann das nicht."
"Du mußt es nur mal versuchen. Am besten wäre es
vielleicht, mit dem Fotografieren anzufangen."
"Ich hasse diese Apparate!"
"Aber du probierst es?"
"Nein."
"Oooch, Jean", seufzte Anshara.
"Schade, daß wir nicht am Meer wohnen."
"Hier gibt es viel zu wenige Gefäße, und man kann
auch nirgendwo in Ruhe einkaufen."
"Dafür ist es schön ruhig."
"Das ist wahr. Aber hier gibt es keine Parties."
"Darauf könnte ich verzichten, glaube ich."
"Hm, und wo soll man sich sonst zeigen und bewundern lassen?
Außerdem sind da die ganzen Künstler zu finden."
"Auf die kann ich erst recht verzichten."
"Aber die produzieren Kunstwerke!"
"Na und? Es gibt doch schon genug davon."
"Es kann niemals genug Kunstwerke geben."
"Du bist der Kunstfan."
"Klar. Schöne Bilder, schöne Musik, schönes
alles. Schöne Glitzersteine..."
"Letzteres schon eher."
"Ist aber auch Kunst."
"Weißt du, es würde mir gefallen, jetzt durch die
Nacht zu jagen", erklärte Jean spontan.
"Warum nicht? Leider sind wohl kaum Menschen da."
"In der Nähe nicht."
"Zu weit laufen wäre nichts für mich."
"Ach ja, du bist ja unsportlich..."
"Eben!" Sie sah ihn jammervoll an.
"Vielleicht hat Gereint Lust, mich zu begleiten."
"Das wäre vermutlich eine bessere Idee. Dann kann ich ja
mal gucken, was Branwyn so macht."
"Sei aber vorsichtig."
"Klar."
Als ihr Gefährte sich auf die Suche nach Gereint machte, trabte
Anshara hinter ihm her. Sie wollte doch zu gerne wissen, wie so eine
Mag- äh, Wissenschaftlerin arbeitete.
Vorsichtig spähte Jean in das Labor der Äthertochter, denn
man wußte ja nie, wann hier wieder etwas explodierte.
"Gereint?" fragte er halblaut.
"Ja? Was ist?" kam die Antwort.
"Hast du Lust auf eine Jagd?"
"Immer." Der rothaarige Vampir gesellte sich zu seinem
Bruder, als Anshara endlich auch ankam. Ihr fehlte dringend ein Lift in
diesem Turm.
"Huhu", machte sie. "Darf ich hier mal
zugucken?"
"Aber nichts anfassen", warnte Branwyn hinter einem
komplizierten Versuchsanbau hervor.
"Ehrenwort."
"Wir gehen dann", meinte Jean und zerrte Gereint hinter
sich her. Er war froh, daß er sich wieder in Sicherheit bringen
konnte.
"Tschüs", sagte Anshara und betrachtete das Labor.
Es sah hier aus wie in einem antiken Science-fiction-Serial, nur
weitaus bunter. Vielleicht konnte man es eher als Remake eines solchen
bezeichnen, wobei ein bißchen Frankenstein-Laboratorium, ein
bißchen HiTech und Computer und ein bißchen moderne Kunst
beigemischt worden waren, dachte Anshara amüsiert. Sie ging in dem
Raum herum und bestaunte die halb futuristischen, halb antiken
Gerätschäften, blieb aber mindestens einen halben Meter von
jeder der bunt blinkenden Konsolen entfernt. Anfänglich verfolgte
Branwyn jede ihrer Bewegungen, als sie aber tatsächlich nichts
berührte, wandte die Wissenschaftlerin sich wieder ihren Versuchen
zu.
Unterdessen streiften Gereint und Jean durch die Gegend, weniger, um
Nahrung zu finden als aus reiner Spielerei. Erst einige Stunden
später kehrten die beiden wieder zurück.
Anshara saß derweil im Labor und betrachtete völlig
verzückt die bunten Flüssigkeiten in der Anordnung aus
Bunsenbrennern, Röhren, Schläuchen, Erlenmeyerkolben und
Reagenzgläsern.
"Hallo, da sind wir wieder", rief Jean, als er seine
Gefährtin erblickte. Sie nahm ihn gar nicht wahr, während
Branwyn die Männer begrüßte.
"Huhu!" Jean winkte vor Ansharas Nase hin und her.
"Huh?" machte sie. "Oh, Jean! Ich dachte, du
wolltest jagen gehen?"
"Ich war drei Stunden weg", maulte er, "und du hast
mich nicht mal vermißt."
"In den Kolben waren so schöne bunte Chemikalien."
"Tse."
"Guck mal! Diese Flüssigkeit hat ein Blümchenmuster
- sogar Rosen! - und die Blüten wechseln dauernd die Farben."
"Eben Magierkram."
"Genau. Ist das nicht toll?"
"Naja, wenn man das zum ersten Mal sieht."
"Es ist ästhetisch wertvoll. - Da! Jetzt werden aus den
Blumen kleine Pentagramme..."
"Wie aufregend."
"Genau", meinte Anshara verzückt.
"Was hältst du davon, wenn wir noch mal nach draußen
gehen?" fragte Jean Gereint.
"Immer", erwiderte dieser. "Ich habe so selten
Gesellschaft von Gleichgesinnten."
Anshara nahm das gar nicht wahr, sie betrachtete gerade fasziniert
die leuchtenden Glühbirnen, die nun in dem großen
Erlenmeyerkolben herumschwammen.
"Dann laß uns flüchten", schlug Jean vor.
"Mir ist es hier nicht geheuer."
"Guck mal, jetzt sind es bunte Fensterrahmen", stellte
Anshara fest. Die Objekte schwammen in einer hellblauen
Flüssigkeit mit Wolkenmuster.
"Hm, ob das was zu sagen hat?" fragte sich Jean.
"Ich habe dabei so ein ungutes Gefühl."
"Ist 95 eigentlich eine magische Zahl?" wollte Anshara
wissen, als plötzlich solche Nummern durch die Substanz geisterten,
sich dann aber spontan in 96en, 97en und 98en verwandelten.
"Nicht daß ich wüßte."
Auf einmal verschwand der Spuk wie im Nichts, und der Inhalt des
Gefäßes wurde undurchsichtig schwarz. Branwyn stieß
eine Verwünschung aus.
"Mist, diese Version war schon wieder nicht stabil!" Sie
schüttete die Flüssigkeit weg und begann mit einer neuen
Versuchsreihe.
"Ich will hier raus", erklärte Jean.
"Dabei ist es hier wirklich völlig
ungefährlich", fand Anshara. "In den ganzen vier
Stunden, die ich hier bin, ist noch nichts explodiert."
"Das ist ein Rekord. Aber mir gefällt es hier trotzdem
nicht."
"Dabei ist es hier so schön bunt und es blinkt alles so
geheimnisvoll."
"Du kannst gerne hierbleiben. Ich bin draußen, wenn du
mich vermissen solltest."
"Gut, gut..." Anshara juckte es förmlich in den
Fingern, bei den Experimenten mitzumischen, aber sie durfte leider
nichts anfassen.
Gemeinsam mit seinem Bruder verschwand Gereint, da Branwyn offenbar
gerade wieder in einer Arbeitsphase war. Er ging mit Jean zum Meer
hinunter, wo die beiden mit Odin Stöckchen holen spielten und die
Landschaft bewunderten.
Im Labor betrachtete Branwyn gerade ein Gerät auf einem Regal,
das verdächtig nach einem Tricorder aus der Fernsehserie
Raumschiff Enterprise aussah, obwohl sie nicht wußte, was
der neben dem Gerät liegende gefüllte Salzstreuer zu sagen
hatte.
"Was ist das?" wollte sie wissen.
"Ein medizinischer Tricorder", sagte Branwyn
selbstverständlich. "Das ist mein Fokus für die
Lebenssphäre."
Anshara beguckte sich die anderen Gerätschaften und bekam gar
nicht mit, wie die Zeit verging, als sie wieder in der Betrachtung der
hypnotisch schillernden Chemikalien versank.
Kurz vor Sonnenaufgang kehrten Gereint und Jean zum Turm zurück
und betraten das Labor. Jean seufzte, als er Anshara immer noch vor den
Gläsern sitzen sah.
"Willst du nicht langsam zu Bett gehen?" fragte er.
"Hm? Oh! Ist es schon so spät?"
"Fast Sonnenaufgang."
"Oh je... Ja, dann muß ich wohl langsam."
Branwyn musterte das Kainskind leicht belustigt. Sie war eine
angenehme Gesellschaft gewesen, denn sie hatte die meiste Zeit
schweigend vor dem Erlenmeyerkolben meditiert. So eine Zuschauerin war
akzeptabel.
Jean hingegen strafte seine Gefährtin mit Mißachtung,
denn er war beleidigt, daß sie ihn nicht vermißt hatte.
Anshara guckte ihn leicht irritiert an, dann seufzte sie. Er war
immer so furchtbar empfindlich. Sie trabte also zunächst in ihr
Zimmer, wo sie sich diesmal ihrer Kleidung entledigte (die Sachen waren
zerknittert genug). Tragisch bemerkte sie, daß sie unbedingt
versuchen mußte, sich etwas neues anzuziehen besorgen.
Mittlerweile waren ihre Sachen reichlich inakzeptabel.
Schließlich schlief sie traumlos ein.
Immer noch verstimmt, beschloß Jean, bei Gereint zu bleiben.
Außerdem wollte er versuchen, diesen dazu zu überreden,
für eine Weile mit nach Paris zu kommen.
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