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Paris à Nuit

(c) 1995/96 by Shavana & Stayka

Kapitel 2: Das Kainskind und die Magierin

Zwei Stunden später erreichten sie die kleine Stadt und fuhren daran vorbei, da die Zuflucht Gereints etwas außerhalb lag. Man spürte sofort, daß das Meer nah war. Die Luft war voller Salz und anderer Gerüche.

"Das riecht gut", fand Jean. "Ich war schon zu lange nicht mehr hier."

"Es riecht nach Fisch", entgegnete Anshara.

Jean schüttelte amüsiert den Kopf und dirigierte Anshara über diverse Feldwege zu einem alleinstehenden Turm mit rundem Querschnitt und einem Schieferdach.

"Das ist ja eine tolle Zuflucht", bewunderte Anshara den Bau. Sie parkten den Mercedes neben dem Turm und gingen zu der massiven Tür. Jean betätigte den wunderschönen goldenen Klopfer, und sie warteten gespannt auf eine Reaktion. Anshara sah nach oben und guckte genauer hin. Sie hatte den Eindruck, als ob vielfarbige Funken aus einem der Fenster oben sprühten.

Ihr Gefährte hatte ebenfalls ein komisches Gefühl, als er die Tür berührte und zog schnell die Hand weg. Vielleicht war es doch keine gute Idee gewesen, unangemeldet hier aufzutauchen. Inzwischen waren Schritte zu hören, als jemand die Treppe herunter kam. Anshara hatte sich halb hinter Jean versteckt, da sie diese Funkensprüherei höchst befremdlich fand.

Ein Schlüssel klapperte im Schloß, dann schwang die schwere Tür auf.

"Oh, hallo Jean", begrüßte Gereint diesen und lünkerte hinter der Tür hervor. Anshara erspähte einen außerordentlich hübschen jungen Mann mit einer wilden, kupferroten Mähne und tiefgrünen Augen und war entzückt.

"Der ist ja wirklich niedlich", äußerte sie.

Gereint sah etwas irritiert auf Anshara herab (er war auch fast dreißig Zentimeter größer als sie, bemerkte sie leicht frustriert) und zog sich lieber noch etwas mehr hinter die Tür zurück.

"Wer ist denn das?" fragte er mißtrauisch.

"Das ist Anshara", stellte Jean sie vor. "Mein Bruder Gereint."

"Hallo", machte sie und guckte peinlich berührt zu Boden. Manchmal sollte sie doch lieber ihren Mund halten.

"Hi", erwiderte Gereint und kam wieder ein paar Zentimeter hervor. Er mochte keine Fremden. Als Anshara feststellte, daß in Gereints Aura ebenso wilde Funken sprühten wie oben aus dem Fenster, nur in der vampirisch blassen Variante, versteckte sie sich sicherheitshalber wieder hinter Jean.

"Eh", protestierte der und zog seine Gefährtin hervor, ehe er sich erneut an Gereint wandte. "Ich dachte mir, wir könnten dich mal besuchen, oder ist es gerade ungünstig?"

"Nein. Du weißt doch, ich bin nie vorbereitet."

Anshara musterte Gereint weiterhin und guckte irgendwo zwischen entzückt und unbehaglich. Sie wußte nicht so recht, was sie von Jeans 'Bruder' halten sollte. Dieser setzte eine leicht verlegene Miene auf.

"Aber wir stehen hier...", begann er. "Kommt doch herein."

Gereint schloß erst wieder seine Haustür ab, dann führte die beiden die Treppe hinauf in einen runden Wohnraum. Anshara sah sich neugierig um. Der Raum war sehr rustikal eingerichtet mit vielen Fellen, die über den Möbeln und auf dem Boden lagen. Dazwischen standen allerdings hin und wieder völlig unpassende, chromglitzernde HiTech-Gerätschaften herum.

"Setzt Euch doch", lud Gereint seine Besucher ein und ließ sich auf einem der Fellstapel nieder. In Ermangelung anderer Sitzgelegenheiten folgte Anshara seinem Beispiel, während Jean zum Fenster ging und auf das Meer hinaussah. "Du hast mich schon lange nicht mehr besucht", eröffnete Gereint. "Ist sie der Grund?" Er betrachtete die hübsche kleine Vampirin mit wissenschaftlicher Neugierde.

"Zum Teil", erwiderte Jean.

Anshara betrachtete gerade ein besonders befremdliches elektronisches Gerät, das in ihrer Reichweite an der Wand stand. Der Hausherr sah ihr amüsiert dabei zu, denn offenbar war sie keine Gefahr für ihn, da sie mit Jean liiert war. Er haßte die übermäßige Aufmerksamkeit, die ihm überall gezollt wurde, wo er auftauchte, denn zu seinem phänomenalen Äußeren hatte er einen eher unpassenden Makel: Er war extrem schüchtern und fühlte sich in größeren Mengen überhaupt nicht wohl.

"Was sind das alles für Geräte?" konnte Anshara schließlich ihre Neugierde nicht mehr bezähmen. Sie deutete auf das Konstrukt, das ihr am nächsten war.

"Hm... Wenn ich mich recht entsinne, ist es ein 'Sonischer Extradim-Exkavator'."

"Ein was bitte?" fragte Anshara verdutzt. Gereint wiederholte den Begriff, was es ihr nicht im mindesten klarer machte. Während sie weiter darüber meditierte, ging Gereint zu Jean herüber und sah ebenfalls hinaus in die Nacht.

"Bleibt ihr hier?"

"Mal sehen", meinte Jean. "Wahrscheinlich werden wir es heute nicht mehr nach Paris zurück schaffen."

"Das macht nichts. Im Turm ist genug Platz. Wie geht es Simon und Yvette?"

"Hervorragend."

"Ich schaffe es irgendwie nie, sie zu besuchen."

Während die beiden sich über dies und das unterhielten, erhob Anshara sich, um die Geräte von näherem zu betrachten, wobei sie sorgsam darauf achtete, nichts zu berühren. Auch der zweite und dritte Apparat entzog sich völlig ihrem Verständnis. Offenbar handelte es sich hierbei um eine spezielle Form abstrakter Kunst, konstatierte sie. Gereint betrachtete sie aus den Augenwinkeln.

Etwas polterte die Treppe herunter, und ein wahrhaft riesiger Hund tapste in den Raum. Neugierig schnüffelte er hinter Anshara her, die er noch nicht kannte. Sie düste sofort zu Jean und versuchte, sich hinter ihm zu verstecken.

"Was soll denn das?" nörgelte er, da er beinahe aus dem Fenster gefallen wäre. "Der tut dir doch nichts."

"Sicher?" Sie spähte ganz vorsichtig hinter ihm hervor.

"Ja, er hat mich auch noch nie gefressen."

"Sein Name ist Odin", erläuterte Gereint und kraulte den Hund hinter den Ohren.

"Hallo Odin", grüßte Anshara pflichtschuldig, was darin resultierte, daß seine feuchte Nase an ihr herumschnüffelte. "Ieeh, laß das", schimpfte sie. "Das ist unfein und eklig!"

Odin empfand das prompt als Aufforderung zum Spielen und hopste um sie herum.

"Muß das sein?" quietschte sie entnervt und versuchte, sich hinter Jean zu retten, aber der lehnte sich demonstrativ an die Wand.

"Du wirst dich doch nicht vor einem Hündchen fürchten!"

"Ich fürchte mich nicht vor ihm, er hat eine nasse Nase!"

"Das haben Hunde so an sich", kommentierte Gereint. "Er tut aber wirklich nichts."

"Er verunreinigt nur meine Kleidungsstücke", beschwerte sie sich.

"Odin, komm her", befahl Gereint, und der Hund trabte zu ihm und legte sich hin.

"Wenigstens hört er", meinte Anshara erleichtert.

"Natürlich", empörte Gereint sich. Er empfand jedweden Zweifel an seiner Fähigkeit, Tiere zu dressieren, als Affront.

"So selbstverständlich ist das nicht."

"Bei meinen Tieren schon." Er war sichtlich verärgert, setzte sich auf die Fensterbank und streichelte weiter seinen Hund. Anshara beschloß, das Tier zu ignorieren und bewunderte lieber die Kunstwerke. Ob Gereint wohl damit schon einmal eine Ausstellung gehabt hatte? Sie fragte ihn danach.

"Nein, was sollen die Dinger da?" kann es irritiert zurück.

"Also, ich finde, Kunstwerke gehören in eine Ausstellung, damit man sie bewundern kann."

"Das sind keine Kunstwerke, sondern wissenschaftliche Erfindungen", stellte er richtig.

"Oh", machte Anshara peinlich berührt. Das nächste Fettnäpfchen... Jean betrachtete Gereint und Anshara nachdenklich. Sie schienen sich aus irgendwelchen Gründen nicht sonderlich zu verstehen. Er stellte sich neben seinen Bruder.

"Ich bin sicher, sie hat es nicht so gemeint", versuchte er zu vermitteln und angelte nach Gereints flammender Mähne, die im Nachtwind wehte.

"Hm? Was habe ich nicht gemeint?" wollte Anshara wissen.

"Alles", erklärte Jean.

"Ich weiß schon, warum ich am liebsten keinen Besuch habe", maulte Gereint.

"Nun stell dich nicht so an."

"Okay, okay, ich entschuldige mich für alles, was ich getan haben soll", sagte Anshara, obwohl sie sich keiner Schuld bewußt war.

"Sie weiß ja nicht einmal warum", stellte Gereint fest, und Jean sah sie ärgerlich an.

"Wenn mir keiner sagt, was los ist", schmollte sie.

"Du solltest keine Kinder herbringen", wandte sich Gereint an Jean. "Sie verstehen viel zu wenig." Natürlich war Anshara jetzt gänzlich eingeschnappt. Jean sah von einem zum anderen und schüttelte entnervt den Kopf.

"Ihr seid schrecklich. Seht zu, daß ihr euch wieder vertragt - ich mache derweil eine Runde durch das Haus."

"Ich habe doch gar nichts getan", verteidigte Anshara sich.

"Ist mir egal", äußerte er und ging aus dem Wohnraum, in dem sich nun eine ungemütliche Stille ausbreitete, da Gereint aus dem Fenster sah und das Meer beobachtete, während Anshara über die Kunstw- äh, Geräte meditierte.

Da er trotz allem viel zu neugierig war, spähte Gereint immer wieder zu ihr herüber, um in Erfahrung zu bringen, was sie unternahm. Sie umkreiste gerade einen besonders komplexen Apparat und ging in die Knie um auch die tiefer liegenden Ebenen mit gebührender Aufmerksamkeit zu bedenken.

"Das ist ein subastraler Entropieverstärker mit einem Materie/Lebens-Wirkungskreis", eröffnete Gereint.

"Und was ist das genau?" fragte Anshara beinahe verzweifelt. Irgendwie war das wohl etwas zu hoch für sie.

"Hm", begann Gereint. "Es ist ein Gerät, mit dem Magie fokussiert werden kann. Ich meine, echte Magie, nicht so etwas wie die Thaumaturgie bei uns Kainskindern."

"Hm. Und wo ist der Unterschied? Ich dachte immer, die Tremere wären Magier..."

"Sie waren Magier, bis sie ihren Versuch starteten, der sie schlußendlich in Kainskinder verwandelte. Der Unterschied ist, daß Kainskinder sogenannte 'statische Magie' verwenden, während die Magier mit den neun Sphären arbeiten."

"Äh... Ich muß zugeben, daß ich so gut wie gar nichts verstehe... Was ist statische Magie?"

"Statische Magie ist Magie, die dem kollektiven Unterbewußtsein entspricht. Sie ist von sehr starren Mustern abhängig."

"Was sind Sphären?"

"Sphären sind bestimmte Elemente der Realität, die von Magiern manipuliert werden können."

"Oh." Anshara musterte ihn intensiv. "Seid Ihr ein Magier? Ich dachte, Kainskinder könnten keine echte Magie ausüben."

"Das kann man so oder so sehen. Aber ich denke nicht, daß ich ein Magier bin."

"Ihr seid ein Kainskind vom Toreador-Clan wie Simon und Jean, nicht wahr?"

Gereint nickte.

"Ist es nicht ungewöhnlich, wenn sich Toreadors für Magie interessieren?" Normalerweise war das definitiv die Domäne der Tremere.

"Eigentlich schon, aber wir - die Kinder von Simon und er - sind anscheinend alle etwas anders."

"Naja, ich kann ja mittlerweile auch ein bißchen Thaumaturgie", erklärte Anshara stolz. "Ich kann mir endlich meine Haare wieder wachsen lassen."

"Wenn man genügend Kinder findet", schränkte Gereint amüsiert ein.

"Stimmt. Das Problem habe ich auch schon bemerkt", seufzte sie. Gereint lachte.

"Wer schön sein will, muß sich eben anstrengen."

Ansharas setzte einen tragischen Blick auf. "Ich habe erst vier Strähnen zusammen, das lohnt sich noch nicht. Ich habe zwar schon versucht, in ein Schullandheim einzubrechen, aber da waren zwei Wachhunde."

"Ich wette, sie waren riesengroß."

Anshara nickte heftig.

"Das ist ein wirkliches Problem."

"Eben! Einer von ihnen hat mein Kleid zerrissen!" Anshara schniefte. Es war so eine schöne, schneeweiße Robe gewesen...

"Ihr hättet den Tieren eben Einhalt gebieten müssen. Ihr seid schließlich größer als ein Hund."

"Nicht größer als die. Außerdem waren sie in der Überzahl."

Gereint sah wieder schweigend auf das Meer.

"Habt Ihr eigentlich diese ...Apparate gebaut?"

"Ich? Nein."

"Wer dann? Ein echter Magier?"

"Genau. Aber sie hat keinen Platz mehr dafür in ihrem Labor, und ich finde die Dinger sehr interessant."

"Stimmt. Sie sind definitiv künstlerisch wertvoll." Sie musterte ein anderes der Objekte, und Gereint sah ihr dabei zu. "Ich verstehe das zwar nicht, aber es sieht toll aus", erklärte sie.

"Es paßt nur leider nicht so recht zu meiner Einrichtung. Ich muß zugeben, bei den meisten der Geräte verstehe ich den Sinn auch nicht ganz."

"Oh. Habt Ihr immer noch Kontakt zu dem Magier, der die Sachen gebaut hat?"

Just in diesem Moment öffnete sich die Tür, und eine hübsche, hochgewachsene Frau in einem schneeweißen Arbeitsoverall mit vielen Taschen betrat den Raum. Sie hatte ihre rotgoldenen Haare aufgesteckt, und nur ein paar widerspenstige Strähnen umrahmten ein blasses Gesicht mit ein paar Sommersprossen und einem blauvioletten und einem smaragdgrünen Auge.

"Guten Abend", sagte sie. "Ich habe gerade die letzten Sätze gehört und muß eine Sache unbedingt klarstellen. Ich bin keine Magierin, ich bin eine Wissenschaftlerin", verkündete sie nachdrücklich. "Gestatten, ich bin Professor Branwyn von Llyrdis." Sie streckte ihre Hand aus und bemerkte einen schwarzen Ölfleck. "Hoppla!" Mit einem entschuldigenden Grinsen wischte sie die Hand an ihrem Overall ab, und sehr zu Ansharas Faszination blieb dieser blütenweiß, und der Ölfleck auf der Hand war verschwunden.

"Das ist Anshara, die Gefährtin von Jean", stellte Gereint sie vor, da sie noch zu sehr über das Ölfleckmysterium staunte. Im zweiten Anlauf schüttelte Branwyn ihre Hand. Anshara betrachtete sie ungeniert von oben bis unten. So sah eine Mag- äh, Wissenschaftlerin aus? Bei genauerem Hinsehen hatte sie auch eine Schmierspur im Gesicht, und sie spielte abwesend mit einem Stromprüfer herum.

"Sehr erfreut", meinte Branwyn.

"Haben wir dich gestört?" fragte Gereint. "Wir hatten ja schon lange keinen Besuch mehr."

"Deshalb dachte ich, es wäre eine gute Idee, einmal nachzusehen, was hier los ist." Sie maß Anshara mit einem Blick voll klinischer Neugierde. Da die junge Frau kein Schläfer war (sonst hätte der Schläferdetektor im Türrahmen direkt bei ihrem Eintritt Alarm geschlagen und sie hätte sich mit dem schmutzabweisend imprägnierten Overall etwas zurückgehalten), gehörte sie höchstwahrscheinlich zu den Kainskindern, vermutete Branwyn. Um das genau zu analysieren, müßte sie jedoch ihren Fokus für die Lebenssphäre aus dem Labor holen, und dazu war sie gerade zu faul. Sie sollte ihren Korrespondenz-Fokus nicht immer oben liegen lassen, dann könnte sie die Sachen auch herbeitransmittieren.

"Anshara findet deine Geräte interessant."

"Ja?" Branwyn strahlte sie mit unverholenem Erfinderstolz an. "Sie sind mir auch recht gut gelungen, finde ich. Vor allem der subastrale Entropieverstärker mit dem Materie/Lebens-Wirkungskreis..."

Anshara runzelte die Stirn. Das hatte sie heute doch schon mal gehört? Sie deutete auf das Objekt, welches von Gereint so bezeichnet worden war. "Dieses? Ja, das fand ich auch höchst faszinierend."

Branwyn sah sie perplex an. "Kennen Sie sich damit aus?"

"Äh, nein", machte Anshara verlegen. "Ich hatte Monsieur Gereint gefragt, worum es sich handelte..."

"Ah."

Nun tauchte auch Jean wieder in dem Wohnraum auf, wo seine Gefährtin immer noch ganz fasziniert Branwyn betrachtete, denn diese war definitiv die erste echte Magierin, die sie bis jetzt gesehen hatte, wenn man von dem Typen in dem Buchladen absah, der möglicherweise einer gewesen war.

Jean ignorierte Branwyn wie meistens, weil sie ihm irgendwie unheimlich war. Nur Gereint zuliebe blieb er in ihrer Nähe.

Professor von Llyrdis seufzte. Sie hatte bestimmt ein halbes Dutzend wissenschaftlicher Experimente in ihrem Labor, die dringend ihrer Anwesenheit bedurften, und sie sah in die Runde.

"Entschuldigt mich bitte einen Moment - ich muß aufpassen, daß meine Extradimenergiezapfanlage nicht überlädt und womöglich explodiert." Sie wetzte nach oben in ihr Labor.

Jean gab einen erleichterten Seufzer von sich, als die Magierin verschwunden war. Sie war ihm ganz und gar nicht geheuer.

"Mademoiselle Branwyn ist höchst faszinierend", fand Anshara. "Gibt es eigentlich viele Magier?" wandte sie sich an Gereint.

"Wie viele sind viele?" gab er zurück. "Es kommt auf die Gegend an." Die Technokratie gab als Erhebung an, daß es auf der ganzen Welt vielleicht zwei- bis zehntausend Magier insgesamt geben sollte, aber deren Zahlen waren vermutlich hauptsächlich Propaganda.

"Nehmen wir einmal Paris."

"Da sind einige", überlegte er.

"Huch! Und warum habe ich dann bis jetzt noch keinen davon gesehen?

"Weil sie auch eine Form der Maskerade wahren und ihre Magie in der Regel nicht öffentlich zeigen."

"Oh! Haben die dann auch Prinzen, bei denen sich ein Magier vorstellen muß?"

"Nein, aber die Chantries kümmern sich darum."

"Hm. Wie wird man eigentlich Magier?" wollte Anshara wissen. "Gibt es dafür ein magisches Ritual?"

"Nein. Es passiert eben - man 'erwacht'."

"Aha. Kann ich denn eine Magierin werden?"

"Nein. Bei der Vampirwerdung wird der Avatar - die Kraft, die dem Magier seine Macht gibt - zerstört."

"Das ist gemein."

"Eher Schicksal. - Habt Ihr noch weitere Fragen?"

"Ich habe noch unendlich viele Fragen - aber sie fallen mir leider gerade nicht ein", seufzte sie.

"Tse", machte Gereint belustigt.

"Gibt es vielleicht eine Art 'Magierfibel'?"

"Nun, Branwyn schwört auf das Kitab al Alacir und die Zeitschrift Paradigma. Ich werde sie mal fragen, ob sie Euch etwas davon ausleiht."

"Das wäre prima!"

"Ihr seid ziemlich wißbegierig", stellte Gereint belustigt fest, woraufhin Anshara heftig nickte.

"Was sollte man über die Magier eigentlich unbedingt wissen?" erkundigte sie sich.

"Daß man als Kainskind einen möglichst großen Bogen um sie herum machen sollte."

"Sind die denn derart gefährlich?"

"Ziemlich."

"Auch Branwyn?" Die kam Anshara eigentlich hauptsächlich chaotisch bis zerstreut vor. "Sie sieht gar nicht so schlimm aus. Außerdem sagt sie, sie sei gar keine Magierin, sondern Wissenschaftlerin..."

"Nun, sie gehört zu der Tradition, die sich als 'Söhne des Äthers' bezeichnet - beziehungsweise 'Kinder des Äthers', wie Branwyn bevorzugen würde. Und die Magier - pardon, Wissenschaftler - dieser Tradition sind halt ein wenig ...anders als andere Magier..."

"Tradition? Ist das ein Magierclan oder so etwas wie eine Blutlinie bei uns?"

"So ähnlich. Es gibt unter Magiern neun Traditionen, fünf Konvente und einige unabhängige Gruppierungen."

"Und wie unterscheiden sich Traditionen und Konvente?"

"Die Traditionen sind älter und unterstehen dem Rat der Neun. Die Konvente sind Gruppierungen der Technokratie. Und ehe du weiter fragst - der Rat und die Technokratie stehen sich ähnlich gegenüber wie Camarilla und Sabbat."

"Ah, ich sehe. Dann sind die Kinder des Äthers also eine Art Camarilla-Clan der Magier."

"So könnte man es formulieren", bemerkte Gereint belustigt.

Jean langweilte sich derweil unsäglich, denn Magie interessierte ihn überhaupt nicht. Er war schon froh, daß er das bißchen Thaumaturgie beherrschte, das ihm Simon beigebracht hatte.

"Können Magier und Thaumaturgen eigentlich magische Rituale untereinander austauschen?"

"Nein." Zumindest nicht, wenn der Magier bei seinem Ritual die neun Sphären verwendete.

"Schade", seufzte sie und guckte so betrübt, daß Gereint vergnügt lachte.

"Was kennt Ihr denn an thaumaturgischen Ritualen?" bohrte Anshara weiter.

"Viele."

"Oh! Bringt Ihr mir welche davon bei?"

"Warum sollte ich das tun?"

"Weil ich Euch gaaaanz lieb darum bitte." Sie sah ihn an und klimperte mit den Wimpern. Gereint betrachtete das interessiert.

"Ich bin noch nicht überzeugt." Anshara bemühte sich also, ihn elegant zu becircen, wobei er wiederum versuchte, gleiches mit gleichem zu vergelten. Jean beobachtete das irritiert und guckte von einem zum anderen. Er wurde gar nicht mehr beachtet, stellte er betrübt fest.

"Also - werdet Ihr mir nun etwas beibringen?"

"Welches Ritual hattet Ihr denn im Sinn?"

"Eigentlich alle - aber wenn Ihr so fragt... Es gibt doch irgendeins, mit dem man durch Wände gehen kann, oder?"

"Ja, die Körperlose Bewegung."

"Dann will ich das lernen!"

"Könnt Ihr es denn überhaupt beherrschen? Es ist ein drittstufiges Ritual."

"Und?"

"Ihr seid bestenfalls eine Thaumaturgin der ersten Stufe."

"Und woran merkt Ihr das?"

"Am Können." Beziehungsweise an ihrer Ahnungslosigkeit, aber das wollte er lieber nicht so formulieren.

"Hm. Was fehlt mir am Können?"

"Zwei Stufen."

"Und wo kriege ich die her?"

"Üben."

"Humpf."

Gereint fand die kleine Toreador-Dame ungemein amüsant und beschloß, ihr das Ritual zu erklären. Die einstündige Vorbereitungszeit würde ihn für diese Dauer von ihren Fragen erlösen.

Jean hat mittlerweile ein Buch entdeckt und begann, vor Langeweile darin herumzublättern. Zum Glück war es ein Comic (Astérix et Cleopatre), das hieß, mehr Bilder als geschriebene Worte. Er verglich die gezeichnete Kleopatra mit Anshara und fand, daß sie ihr wirklich ähnlich sah.

Schließlich hatte sich Anshara die Spiegelscherbe umgehängt und war der Ansicht, sie hätte sich ausreichend vorbereitet. Schnurstracks nahm sie Kurs auf die nächste Wand und rannte frontal vor die Mauer.

"Autsch!"

Jean prustete los und auch Gereint konnte sich das Grinsen nicht verkneifen.

"Seid froh, daß das nicht funktioniert hat", kommentierte er. "Immerhin sind wir etwa zwölf Meter über dem Erdboden."

"Oh", machte Anshara verdutzt. "Warum hat es denn nicht geklappt?"

"Es ist wohl doch zu schwierig für Euch."

"Das glaube ich nicht." Verbissen rannte sie weiter vor einige Türen und Innenwände. "Das ist frustrierend", beschwerte sie sich, während die beiden Männer sich nicht mehr einkriegten.

"Bestimmt ist meine Scherbe kaputt", mutmaßte sie, und Gereint mußte schwer an sich halten, um nicht laut zu lachen.

"Ich finde das Ritual ziemlich leicht." Er hatte in der Zwischenzeit auch die Vorbereitungszeit beendet und führte es ihr vor. Es sah tatsächlich völlig trivial aus. Anshara schmollte.

"Was habt Ihr, das ich nicht habe?" grummelte sie.

"Ahnung", grinste er.

"Graaa!" Sie stampfte mit dem Fuß auf. Es machte Plopp!, und Branwyn materialisierte scheinbar aus dem Nichts. Diesmal hatte sie ihren Teleportgürtel umgelegt, der ihr als Fokus für die Sphäre Korrespondenz diente und ihr einfache Ortsverschiebungen damit ermöglichte.

"Was soll der Lärm?" entrüstete sich die Wissenschaftlerin. "Ich arbeite. Ich wollte sagen, ich versuche es!"

"Anshara übt sich in der Körperlosen Bewegung", erklärte Gereint.

"Kann sie das nicht leiser tun?"

"Nein. Sie hat das mit dem 'körperlos' noch nicht so ganz heraus. Du hättest ja in deinem Labor bleiben können."

"Es wurde von dem Krach bis in seine Grundfesten erschüttert."

"Du solltest deine Mithörverstärker abstellen."

"Ich hatte die subsonische Transmissionseinheit gar nicht aktiviert", behauptete sie treuherzig.

"Das glaube ich dir nicht, meine Liebe", meinte Gereint. "Du aktivierst sie doch immer, wenn ich hier bin."

"Der Klang Deiner Stimme liefert die Energie für den Schallwellenakku, mit dem ich meine conflektorische Akustikakzelerationseinheit betreibe..."

Anshara war dem Austausch fasziniert gefolgt. Sie verstand nur Bahnhof und Kofferklauen.

"Dann sollte ich wohl in Zukunft lieber stumme Selbstgespräche führen."

"Das kannst du mir doch nicht antun!"

"Kann ich nicht?" fragte er. Branwyn schüttelte energisch den Kopf, und ein paar rotgoldene Strähnen entwischten aus dem hastig aufgesteckten Dutt. "Und was willst du dagegen tun?"

"Hm, das wäre endlich ein Grund, den Hirnwellenrecorder zu bauen. Da fällt mir gerade ein - mit einem Akustikwandler, den ich daran anschließen kann, hätte ich fast eine komplette Telepathie-Maschine erfunden! Es fehlt nur der passende Sendemechanismus..." Sie strahlte ihn an. "Das muß ich unbedingt bauen!"

"Willst du mich ausspionieren?"

"Wozu? Du erzählst mir ja doch früher oder später alles." Sie schenkte ihm ein strahlendes Lächeln. "Übrigens, der neue Kühlschrank ist fertig. Wie besprochen mit allen Extras, wie dem Wunsch-Mixer und der Stasiskammer."

"Du bist wundervoll.", schwärmte Gereint.

"Ich weiß." Sie warf ihm eine Kußhand zu, und er erwiderte die Geste.

"Wenn ich dich nicht hätte."

"Dann müßtest du dir alles selber bauen." Sie lächelte ihm zu und trabte wieder nach oben, wobei sie ganz vergaß, daß sie eigentlich ihren Teleportgürtel noch umhatte.

"Entschuldigt mich bitte einen Moment." Gereint joggte hinter Branwyn her und kam kurz darauf mit einem Zeitungsstapel und einem Buch zurück.

"Das ist das Lesematerial, von dem ich gesprochen hatte", erklärte er und drückte es ihr in die Hände. "Das Kitab al Alacir hat sie leider nur im arabischen Original, aber das Paradigma ist in Französisch.

"Oh danke!" Anshara war diesmal ganz froh darüber, daß sie in ihren ersten Jahren in der Neuzeit in Ägypten Arabisch gelernt hatte, und das Französische beherrschte sie mittlerweile glücklicherweise auch. Sie blätterte neugierig in den Zeitungen.

"Das sieht ja extrem interessant aus", freute sie sich, auch wenn sie vieles nicht ganz verstand.

"Branwyn sagt, sie braucht die Sachen zwar im Augenblick nicht, möchte sie aber irgendwann wieder haben."

"Kein Problem." Anshara bewunderte die Abbildungen einiger besonders wilder Gerätschaften, bei denen ihr nicht einmal die Untertitel weiterhalfen.

Gereint ließ sich auf einen der Fellstapel fallen und betrachtete Anshara beim enthusiastischen Blättern. Jean war mittlerweile fast durch den Astérix-Comic durch, aber zum Glück lagen da noch zwei weitere. Gereint ergriff seine Harfe, um etwas darauf herumzuklimpern.

Nach einer ganzen Weile bemerkte Anshara, wie sie langsam müde wurde. Ihr Kopf sank langsam nach unten, und sie fing sich mit einem Ruck wieder.

"Müde?" fragte Gereint.

"Ja", gab sie zu. Dabei war sie gerade an so einer interessanten Stelle...

"Darf ich Euch Euer Zimmer zeigen?"

"Oh ja, bitte." Sie packte das Lesematerial zusammen, und der Hausherr führte sie ein Stück die Treppe herunter zu einem fensterlosen Schlafzimmer.

"Das ist ja perfekt", fand Anshara und sah sich bewundernd um, ehe sie die Zeitschriften vorsichtig auf dem Boden deponierte. "Wo steckt denn Jean? Sollte er sich nicht auch langsam zur Ruhe betten?"

"Ich werde ihm gleich sein Zimmer zeigen. - Bis zum Abend dann."

"Guten Tag." Sie lächelte ihm zu, ließ sich auf das Bett fallen und war prompt eingeschlafen.

Nachdem Gereint auch Jean ein Zimmer zugewiesen hatte, zog er sich ebenfalls zurück.

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