Paris à Nuit
(c) 1995/96 by Shavana & Stayka
Kapitel 2: Das Kainskind und die Magierin
Zwei Stunden später erreichten sie die kleine Stadt und fuhren
daran vorbei, da die Zuflucht Gereints etwas außerhalb lag. Man
spürte sofort, daß das Meer nah war. Die Luft war voller
Salz und anderer Gerüche.
"Das riecht gut", fand Jean. "Ich war schon zu lange
nicht mehr hier."
"Es riecht nach Fisch", entgegnete Anshara.
Jean schüttelte amüsiert den Kopf und dirigierte Anshara
über diverse Feldwege zu einem alleinstehenden Turm mit rundem
Querschnitt und einem Schieferdach.
"Das ist ja eine tolle Zuflucht", bewunderte Anshara den
Bau. Sie parkten den Mercedes neben dem Turm und gingen zu der massiven
Tür. Jean betätigte den wunderschönen goldenen Klopfer,
und sie warteten gespannt auf eine Reaktion. Anshara sah nach oben und
guckte genauer hin. Sie hatte den Eindruck, als ob vielfarbige Funken
aus einem der Fenster oben sprühten.
Ihr Gefährte hatte ebenfalls ein komisches Gefühl, als er
die Tür berührte und zog schnell die Hand weg. Vielleicht war
es doch keine gute Idee gewesen, unangemeldet hier aufzutauchen.
Inzwischen waren Schritte zu hören, als jemand die Treppe herunter
kam. Anshara hatte sich halb hinter Jean versteckt, da sie diese
Funkensprüherei höchst befremdlich fand.
Ein Schlüssel klapperte im Schloß, dann schwang die
schwere Tür auf.
"Oh, hallo Jean", begrüßte Gereint diesen und
lünkerte hinter der Tür hervor. Anshara erspähte einen
außerordentlich hübschen jungen Mann mit einer wilden,
kupferroten Mähne und tiefgrünen Augen und war entzückt.
"Der ist ja wirklich niedlich", äußerte sie.
Gereint sah etwas irritiert auf Anshara herab (er war auch fast
dreißig Zentimeter größer als sie, bemerkte sie leicht
frustriert) und zog sich lieber noch etwas mehr hinter die Tür
zurück.
"Wer ist denn das?" fragte er mißtrauisch.
"Das ist Anshara", stellte Jean sie vor. "Mein
Bruder Gereint."
"Hallo", machte sie und guckte peinlich berührt zu
Boden. Manchmal sollte sie doch lieber ihren Mund halten.
"Hi", erwiderte Gereint und kam wieder ein paar Zentimeter
hervor. Er mochte keine Fremden. Als Anshara feststellte, daß in
Gereints Aura ebenso wilde Funken sprühten wie oben aus dem
Fenster, nur in der vampirisch blassen Variante, versteckte sie sich
sicherheitshalber wieder hinter Jean.
"Eh", protestierte der und zog seine Gefährtin
hervor, ehe er sich erneut an Gereint wandte. "Ich dachte mir, wir
könnten dich mal besuchen, oder ist es gerade ungünstig?"
"Nein. Du weißt doch, ich bin nie vorbereitet."
Anshara musterte Gereint weiterhin und guckte irgendwo zwischen
entzückt und unbehaglich. Sie wußte nicht so recht, was sie
von Jeans 'Bruder' halten sollte. Dieser setzte eine leicht verlegene
Miene auf.
"Aber wir stehen hier...", begann er. "Kommt doch
herein."
Gereint schloß erst wieder seine Haustür ab, dann
führte die beiden die Treppe hinauf in einen runden Wohnraum.
Anshara sah sich neugierig um. Der Raum war sehr rustikal eingerichtet
mit vielen Fellen, die über den Möbeln und auf dem Boden
lagen. Dazwischen standen allerdings hin und wieder völlig
unpassende, chromglitzernde HiTech-Gerätschaften herum.
"Setzt Euch doch", lud Gereint seine Besucher ein und
ließ sich auf einem der Fellstapel nieder. In Ermangelung anderer
Sitzgelegenheiten folgte Anshara seinem Beispiel, während Jean zum
Fenster ging und auf das Meer hinaussah. "Du hast mich schon lange
nicht mehr besucht", eröffnete Gereint. "Ist sie der
Grund?" Er betrachtete die hübsche kleine Vampirin mit
wissenschaftlicher Neugierde.
"Zum Teil", erwiderte Jean.
Anshara betrachtete gerade ein besonders befremdliches
elektronisches Gerät, das in ihrer Reichweite an der Wand stand.
Der Hausherr sah ihr amüsiert dabei zu, denn offenbar war sie keine
Gefahr für ihn, da sie mit Jean liiert war. Er haßte die
übermäßige Aufmerksamkeit, die ihm überall gezollt
wurde, wo er auftauchte, denn zu seinem phänomenalen
Äußeren hatte er einen eher unpassenden Makel: Er war extrem
schüchtern und fühlte sich in größeren Mengen
überhaupt nicht wohl.
"Was sind das alles für Geräte?" konnte Anshara
schließlich ihre Neugierde nicht mehr bezähmen. Sie deutete
auf das Konstrukt, das ihr am nächsten war.
"Hm... Wenn ich mich recht entsinne, ist es ein 'Sonischer
Extradim-Exkavator'."
"Ein was bitte?" fragte Anshara verdutzt.
Gereint wiederholte den Begriff, was es ihr nicht im mindesten klarer
machte. Während sie weiter darüber meditierte, ging Gereint
zu Jean herüber und sah ebenfalls hinaus in die Nacht.
"Bleibt ihr hier?"
"Mal sehen", meinte Jean. "Wahrscheinlich werden wir
es heute nicht mehr nach Paris zurück schaffen."
"Das macht nichts. Im Turm ist genug Platz. Wie geht es Simon
und Yvette?"
"Hervorragend."
"Ich schaffe es irgendwie nie, sie zu besuchen."
Während die beiden sich über dies und das unterhielten,
erhob Anshara sich, um die Geräte von näherem zu betrachten,
wobei sie sorgsam darauf achtete, nichts zu berühren. Auch der
zweite und dritte Apparat entzog sich völlig ihrem
Verständnis. Offenbar handelte es sich hierbei um eine spezielle
Form abstrakter Kunst, konstatierte sie. Gereint betrachtete sie aus
den Augenwinkeln.
Etwas polterte die Treppe herunter, und ein wahrhaft riesiger Hund
tapste in den Raum. Neugierig schnüffelte er hinter Anshara her,
die er noch nicht kannte. Sie düste sofort zu Jean und versuchte,
sich hinter ihm zu verstecken.
"Was soll denn das?" nörgelte er, da er beinahe aus
dem Fenster gefallen wäre. "Der tut dir doch nichts."
"Sicher?" Sie spähte ganz vorsichtig hinter ihm
hervor.
"Ja, er hat mich auch noch nie gefressen."
"Sein Name ist Odin", erläuterte Gereint und kraulte
den Hund hinter den Ohren.
"Hallo Odin", grüßte Anshara pflichtschuldig,
was darin resultierte, daß seine feuchte Nase an ihr
herumschnüffelte. "Ieeh, laß das", schimpfte sie.
"Das ist unfein und eklig!"
Odin empfand das prompt als Aufforderung zum Spielen und hopste um
sie herum.
"Muß das sein?" quietschte sie entnervt und
versuchte, sich hinter Jean zu retten, aber der lehnte sich demonstrativ
an die Wand.
"Du wirst dich doch nicht vor einem Hündchen
fürchten!"
"Ich fürchte mich nicht vor ihm, er hat eine
nasse Nase!"
"Das haben Hunde so an sich", kommentierte Gereint.
"Er tut aber wirklich nichts."
"Er verunreinigt nur meine Kleidungsstücke",
beschwerte sie sich.
"Odin, komm her", befahl Gereint, und der Hund trabte zu
ihm und legte sich hin.
"Wenigstens hört er", meinte Anshara erleichtert.
"Natürlich", empörte Gereint sich. Er empfand
jedweden Zweifel an seiner Fähigkeit, Tiere zu dressieren, als
Affront.
"So selbstverständlich ist das nicht."
"Bei meinen Tieren schon." Er war sichtlich
verärgert, setzte sich auf die Fensterbank und streichelte weiter
seinen Hund. Anshara beschloß, das Tier zu ignorieren und
bewunderte lieber die Kunstwerke. Ob Gereint wohl damit schon einmal
eine Ausstellung gehabt hatte? Sie fragte ihn danach.
"Nein, was sollen die Dinger da?" kann es irritiert
zurück.
"Also, ich finde, Kunstwerke gehören in eine Ausstellung,
damit man sie bewundern kann."
"Das sind keine Kunstwerke, sondern wissenschaftliche
Erfindungen", stellte er richtig.
"Oh", machte Anshara peinlich berührt. Das
nächste Fettnäpfchen... Jean betrachtete Gereint und Anshara
nachdenklich. Sie schienen sich aus irgendwelchen Gründen nicht
sonderlich zu verstehen. Er stellte sich neben seinen Bruder.
"Ich bin sicher, sie hat es nicht so gemeint", versuchte
er zu vermitteln und angelte nach Gereints flammender Mähne, die im
Nachtwind wehte.
"Hm? Was habe ich nicht gemeint?" wollte Anshara wissen.
"Alles", erklärte Jean.
"Ich weiß schon, warum ich am liebsten keinen Besuch
habe", maulte Gereint.
"Nun stell dich nicht so an."
"Okay, okay, ich entschuldige mich für alles, was ich
getan haben soll", sagte Anshara, obwohl sie sich keiner Schuld
bewußt war.
"Sie weiß ja nicht einmal warum", stellte Gereint
fest, und Jean sah sie ärgerlich an.
"Wenn mir keiner sagt, was los ist", schmollte sie.
"Du solltest keine Kinder herbringen", wandte sich Gereint
an Jean. "Sie verstehen viel zu wenig." Natürlich war
Anshara jetzt gänzlich eingeschnappt. Jean sah von einem zum
anderen und schüttelte entnervt den Kopf.
"Ihr seid schrecklich. Seht zu, daß ihr euch wieder
vertragt - ich mache derweil eine Runde durch das Haus."
"Ich habe doch gar nichts getan", verteidigte Anshara
sich.
"Ist mir egal", äußerte er und ging aus dem
Wohnraum, in dem sich nun eine ungemütliche Stille ausbreitete, da
Gereint aus dem Fenster sah und das Meer beobachtete, während
Anshara über die Kunstw- äh, Geräte meditierte.
Da er trotz allem viel zu neugierig war, spähte Gereint immer
wieder zu ihr herüber, um in Erfahrung zu bringen, was sie
unternahm. Sie umkreiste gerade einen besonders komplexen Apparat und
ging in die Knie um auch die tiefer liegenden Ebenen mit
gebührender Aufmerksamkeit zu bedenken.
"Das ist ein subastraler Entropieverstärker mit einem
Materie/Lebens-Wirkungskreis", eröffnete Gereint.
"Und was ist das genau?" fragte Anshara beinahe
verzweifelt. Irgendwie war das wohl etwas zu hoch für sie.
"Hm", begann Gereint. "Es ist ein Gerät, mit
dem Magie fokussiert werden kann. Ich meine, echte Magie, nicht so
etwas wie die Thaumaturgie bei uns Kainskindern."
"Hm. Und wo ist der Unterschied? Ich dachte immer, die
Tremere wären Magier..."
"Sie waren Magier, bis sie ihren Versuch starteten,
der sie schlußendlich in Kainskinder verwandelte. Der Unterschied
ist, daß Kainskinder sogenannte 'statische Magie' verwenden,
während die Magier mit den neun Sphären arbeiten."
"Äh... Ich muß zugeben, daß ich so gut wie
gar nichts verstehe... Was ist statische Magie?"
"Statische Magie ist Magie, die dem kollektiven
Unterbewußtsein entspricht. Sie ist von sehr starren Mustern
abhängig."
"Was sind Sphären?"
"Sphären sind bestimmte Elemente der Realität, die
von Magiern manipuliert werden können."
"Oh." Anshara musterte ihn intensiv. "Seid Ihr ein
Magier? Ich dachte, Kainskinder könnten keine echte Magie
ausüben."
"Das kann man so oder so sehen. Aber ich denke nicht,
daß ich ein Magier bin."
"Ihr seid ein Kainskind vom Toreador-Clan wie Simon und Jean,
nicht wahr?"
Gereint nickte.
"Ist es nicht ungewöhnlich, wenn sich Toreadors für
Magie interessieren?" Normalerweise war das definitiv die
Domäne der Tremere.
"Eigentlich schon, aber wir - die Kinder von Simon und er -
sind anscheinend alle etwas anders."
"Naja, ich kann ja mittlerweile auch ein bißchen
Thaumaturgie", erklärte Anshara stolz. "Ich kann mir
endlich meine Haare wieder wachsen lassen."
"Wenn man genügend Kinder findet", schränkte
Gereint amüsiert ein.
"Stimmt. Das Problem habe ich auch schon
bemerkt", seufzte sie. Gereint lachte.
"Wer schön sein will, muß sich eben
anstrengen."
Ansharas setzte einen tragischen Blick auf. "Ich habe erst
vier Strähnen zusammen, das lohnt sich noch nicht. Ich habe zwar
schon versucht, in ein Schullandheim einzubrechen, aber da waren zwei
Wachhunde."
"Ich wette, sie waren riesengroß."
Anshara nickte heftig.
"Das ist ein wirkliches Problem."
"Eben! Einer von ihnen hat mein Kleid zerrissen!" Anshara
schniefte. Es war so eine schöne, schneeweiße Robe
gewesen...
"Ihr hättet den Tieren eben Einhalt gebieten müssen.
Ihr seid schließlich größer als ein Hund."
"Nicht größer als die. Außerdem
waren sie in der Überzahl."
Gereint sah wieder schweigend auf das Meer.
"Habt Ihr eigentlich diese ...Apparate gebaut?"
"Ich? Nein."
"Wer dann? Ein echter Magier?"
"Genau. Aber sie hat keinen Platz mehr dafür in ihrem
Labor, und ich finde die Dinger sehr interessant."
"Stimmt. Sie sind definitiv künstlerisch wertvoll."
Sie musterte ein anderes der Objekte, und Gereint sah ihr dabei zu.
"Ich verstehe das zwar nicht, aber es sieht toll aus",
erklärte sie.
"Es paßt nur leider nicht so recht zu meiner Einrichtung.
Ich muß zugeben, bei den meisten der Geräte verstehe ich den
Sinn auch nicht ganz."
"Oh. Habt Ihr immer noch Kontakt zu dem Magier, der die Sachen
gebaut hat?"
Just in diesem Moment öffnete sich die Tür, und eine
hübsche, hochgewachsene Frau in einem schneeweißen
Arbeitsoverall mit vielen Taschen betrat den Raum. Sie hatte ihre
rotgoldenen Haare aufgesteckt, und nur ein paar widerspenstige
Strähnen umrahmten ein blasses Gesicht mit ein paar Sommersprossen
und einem blauvioletten und einem smaragdgrünen Auge.
"Guten Abend", sagte sie. "Ich habe gerade die
letzten Sätze gehört und muß eine Sache unbedingt
klarstellen. Ich bin keine Magierin, ich bin eine
Wissenschaftlerin", verkündete sie
nachdrücklich. "Gestatten, ich bin Professor Branwyn von
Llyrdis." Sie streckte ihre Hand aus und bemerkte einen schwarzen
Ölfleck. "Hoppla!" Mit einem entschuldigenden Grinsen
wischte sie die Hand an ihrem Overall ab, und sehr zu Ansharas
Faszination blieb dieser blütenweiß, und der Ölfleck auf
der Hand war verschwunden.
"Das ist Anshara, die Gefährtin von Jean", stellte
Gereint sie vor, da sie noch zu sehr über das Ölfleckmysterium
staunte. Im zweiten Anlauf schüttelte Branwyn ihre Hand. Anshara
betrachtete sie ungeniert von oben bis unten. So sah eine Mag- äh,
Wissenschaftlerin aus? Bei genauerem Hinsehen hatte sie auch
eine Schmierspur im Gesicht, und sie spielte abwesend mit einem
Stromprüfer herum.
"Sehr erfreut", meinte Branwyn.
"Haben wir dich gestört?" fragte Gereint. "Wir
hatten ja schon lange keinen Besuch mehr."
"Deshalb dachte ich, es wäre eine gute Idee, einmal
nachzusehen, was hier los ist." Sie maß Anshara mit einem
Blick voll klinischer Neugierde. Da die junge Frau kein Schläfer
war (sonst hätte der Schläferdetektor im Türrahmen direkt
bei ihrem Eintritt Alarm geschlagen und sie hätte sich mit dem
schmutzabweisend imprägnierten Overall etwas zurückgehalten),
gehörte sie höchstwahrscheinlich zu den Kainskindern,
vermutete Branwyn. Um das genau zu analysieren, müßte sie
jedoch ihren Fokus für die Lebenssphäre aus dem Labor holen,
und dazu war sie gerade zu faul. Sie sollte ihren Korrespondenz-Fokus
nicht immer oben liegen lassen, dann könnte sie die Sachen auch
herbeitransmittieren.
"Anshara findet deine Geräte interessant."
"Ja?" Branwyn strahlte sie mit unverholenem Erfinderstolz
an. "Sie sind mir auch recht gut gelungen, finde ich. Vor allem
der subastrale Entropieverstärker mit dem
Materie/Lebens-Wirkungskreis..."
Anshara runzelte die Stirn. Das hatte sie heute doch schon mal
gehört? Sie deutete auf das Objekt, welches von Gereint so
bezeichnet worden war. "Dieses? Ja, das fand ich auch höchst
faszinierend."
Branwyn sah sie perplex an. "Kennen Sie sich damit aus?"
"Äh, nein", machte Anshara verlegen. "Ich hatte
Monsieur Gereint gefragt, worum es sich handelte..."
"Ah."
Nun tauchte auch Jean wieder in dem Wohnraum auf, wo seine
Gefährtin immer noch ganz fasziniert Branwyn betrachtete, denn
diese war definitiv die erste echte Magierin, die sie bis jetzt gesehen
hatte, wenn man von dem Typen in dem Buchladen absah, der
möglicherweise einer gewesen war.
Jean ignorierte Branwyn wie meistens, weil sie ihm irgendwie
unheimlich war. Nur Gereint zuliebe blieb er in ihrer Nähe.
Professor von Llyrdis seufzte. Sie hatte bestimmt ein halbes
Dutzend wissenschaftlicher Experimente in ihrem Labor, die dringend
ihrer Anwesenheit bedurften, und sie sah in die Runde.
"Entschuldigt mich bitte einen Moment - ich muß
aufpassen, daß meine Extradimenergiezapfanlage nicht
überlädt und womöglich explodiert." Sie wetzte nach
oben in ihr Labor.
Jean gab einen erleichterten Seufzer von sich, als die Magierin
verschwunden war. Sie war ihm ganz und gar nicht geheuer.
"Mademoiselle Branwyn ist höchst faszinierend", fand
Anshara. "Gibt es eigentlich viele Magier?" wandte sie sich
an Gereint.
"Wie viele sind viele?" gab er zurück. "Es
kommt auf die Gegend an." Die Technokratie gab als Erhebung an,
daß es auf der ganzen Welt vielleicht zwei- bis zehntausend Magier
insgesamt geben sollte, aber deren Zahlen waren vermutlich
hauptsächlich Propaganda.
"Nehmen wir einmal Paris."
"Da sind einige", überlegte er.
"Huch! Und warum habe ich dann bis jetzt noch keinen davon
gesehen?
"Weil sie auch eine Form der Maskerade wahren und ihre Magie in
der Regel nicht öffentlich zeigen."
"Oh! Haben die dann auch Prinzen, bei denen sich ein Magier
vorstellen muß?"
"Nein, aber die Chantries kümmern sich darum."
"Hm. Wie wird man eigentlich Magier?" wollte Anshara
wissen. "Gibt es dafür ein magisches Ritual?"
"Nein. Es passiert eben - man 'erwacht'."
"Aha. Kann ich denn eine Magierin werden?"
"Nein. Bei der Vampirwerdung wird der Avatar - die Kraft, die
dem Magier seine Macht gibt - zerstört."
"Das ist gemein."
"Eher Schicksal. - Habt Ihr noch weitere Fragen?"
"Ich habe noch unendlich viele Fragen - aber sie fallen mir
leider gerade nicht ein", seufzte sie.
"Tse", machte Gereint belustigt.
"Gibt es vielleicht eine Art 'Magierfibel'?"
"Nun, Branwyn schwört auf das Kitab al Alacir und
die Zeitschrift Paradigma. Ich werde sie mal fragen, ob sie
Euch etwas davon ausleiht."
"Das wäre prima!"
"Ihr seid ziemlich wißbegierig", stellte Gereint
belustigt fest, woraufhin Anshara heftig nickte.
"Was sollte man über die Magier eigentlich unbedingt
wissen?" erkundigte sie sich.
"Daß man als Kainskind einen möglichst großen
Bogen um sie herum machen sollte."
"Sind die denn derart gefährlich?"
"Ziemlich."
"Auch Branwyn?" Die kam Anshara eigentlich
hauptsächlich chaotisch bis zerstreut vor. "Sie sieht gar
nicht so schlimm aus. Außerdem sagt sie, sie sei gar keine
Magierin, sondern Wissenschaftlerin..."
"Nun, sie gehört zu der Tradition, die sich als
'Söhne des Äthers' bezeichnet - beziehungsweise 'Kinder des
Äthers', wie Branwyn bevorzugen würde. Und die Magier -
pardon, Wissenschaftler - dieser Tradition sind halt ein wenig
...anders als andere Magier..."
"Tradition? Ist das ein Magierclan oder so etwas wie eine
Blutlinie bei uns?"
"So ähnlich. Es gibt unter Magiern neun Traditionen,
fünf Konvente und einige unabhängige Gruppierungen."
"Und wie unterscheiden sich Traditionen und Konvente?"
"Die Traditionen sind älter und unterstehen dem Rat der
Neun. Die Konvente sind Gruppierungen der Technokratie. Und ehe du
weiter fragst - der Rat und die Technokratie stehen sich ähnlich
gegenüber wie Camarilla und Sabbat."
"Ah, ich sehe. Dann sind die Kinder des Äthers also eine
Art Camarilla-Clan der Magier."
"So könnte man es formulieren", bemerkte Gereint
belustigt.
Jean langweilte sich derweil unsäglich, denn Magie
interessierte ihn überhaupt nicht. Er war schon froh, daß er
das bißchen Thaumaturgie beherrschte, das ihm Simon beigebracht
hatte.
"Können Magier und Thaumaturgen eigentlich magische
Rituale untereinander austauschen?"
"Nein." Zumindest nicht, wenn der Magier bei seinem Ritual
die neun Sphären verwendete.
"Schade", seufzte sie und guckte so betrübt,
daß Gereint vergnügt lachte.
"Was kennt Ihr denn an thaumaturgischen Ritualen?" bohrte
Anshara weiter.
"Viele."
"Oh! Bringt Ihr mir welche davon bei?"
"Warum sollte ich das tun?"
"Weil ich Euch gaaaanz lieb darum bitte." Sie sah ihn an
und klimperte mit den Wimpern. Gereint betrachtete das interessiert.
"Ich bin noch nicht überzeugt." Anshara bemühte
sich also, ihn elegant zu becircen, wobei er wiederum versuchte,
gleiches mit gleichem zu vergelten. Jean beobachtete das irritiert und
guckte von einem zum anderen. Er wurde gar nicht mehr beachtet, stellte
er betrübt fest.
"Also - werdet Ihr mir nun etwas beibringen?"
"Welches Ritual hattet Ihr denn im Sinn?"
"Eigentlich alle - aber wenn Ihr so fragt... Es gibt doch
irgendeins, mit dem man durch Wände gehen kann, oder?"
"Ja, die Körperlose Bewegung."
"Dann will ich das lernen!"
"Könnt Ihr es denn überhaupt beherrschen? Es ist ein
drittstufiges Ritual."
"Und?"
"Ihr seid bestenfalls eine Thaumaturgin der ersten Stufe."
"Und woran merkt Ihr das?"
"Am Können." Beziehungsweise an ihrer
Ahnungslosigkeit, aber das wollte er lieber nicht so formulieren.
"Hm. Was fehlt mir am Können?"
"Zwei Stufen."
"Und wo kriege ich die her?"
"Üben."
"Humpf."
Gereint fand die kleine Toreador-Dame ungemein amüsant und
beschloß, ihr das Ritual zu erklären. Die einstündige
Vorbereitungszeit würde ihn für diese Dauer von ihren Fragen
erlösen.
Jean hat mittlerweile ein Buch entdeckt und begann, vor Langeweile
darin herumzublättern. Zum Glück war es ein Comic
(Astérix et Cleopatre), das hieß, mehr Bilder als
geschriebene Worte. Er verglich die gezeichnete Kleopatra mit Anshara
und fand, daß sie ihr wirklich ähnlich sah.
Schließlich hatte sich Anshara die Spiegelscherbe
umgehängt und war der Ansicht, sie hätte sich ausreichend
vorbereitet. Schnurstracks nahm sie Kurs auf die nächste Wand und
rannte frontal vor die Mauer.
"Autsch!"
Jean prustete los und auch Gereint konnte sich das Grinsen nicht
verkneifen.
"Seid froh, daß das nicht funktioniert hat",
kommentierte er. "Immerhin sind wir etwa zwölf Meter
über dem Erdboden."
"Oh", machte Anshara verdutzt. "Warum hat es denn
nicht geklappt?"
"Es ist wohl doch zu schwierig für Euch."
"Das glaube ich nicht." Verbissen rannte sie weiter vor
einige Türen und Innenwände. "Das ist
frustrierend", beschwerte sie sich, während die beiden
Männer sich nicht mehr einkriegten.
"Bestimmt ist meine Scherbe kaputt", mutmaßte sie,
und Gereint mußte schwer an sich halten, um nicht laut zu lachen.
"Ich finde das Ritual ziemlich leicht." Er hatte in der
Zwischenzeit auch die Vorbereitungszeit beendet und führte es ihr
vor. Es sah tatsächlich völlig trivial aus. Anshara
schmollte.
"Was habt Ihr, das ich nicht habe?" grummelte sie.
"Ahnung", grinste er.
"Graaa!" Sie stampfte mit dem Fuß auf. Es machte
Plopp!, und Branwyn materialisierte scheinbar aus dem Nichts.
Diesmal hatte sie ihren Teleportgürtel umgelegt, der ihr als Fokus
für die Sphäre Korrespondenz diente und ihr einfache
Ortsverschiebungen damit ermöglichte.
"Was soll der Lärm?" entrüstete sich die
Wissenschaftlerin. "Ich arbeite. Ich wollte sagen, ich
versuche es!"
"Anshara übt sich in der Körperlosen
Bewegung", erklärte Gereint.
"Kann sie das nicht leiser tun?"
"Nein. Sie hat das mit dem 'körperlos' noch nicht so ganz
heraus. Du hättest ja in deinem Labor bleiben können."
"Es wurde von dem Krach bis in seine Grundfesten
erschüttert."
"Du solltest deine Mithörverstärker abstellen."
"Ich hatte die subsonische Transmissionseinheit gar nicht
aktiviert", behauptete sie treuherzig.
"Das glaube ich dir nicht, meine Liebe", meinte Gereint.
"Du aktivierst sie doch immer, wenn ich hier bin."
"Der Klang Deiner Stimme liefert die Energie für den
Schallwellenakku, mit dem ich meine conflektorische
Akustikakzelerationseinheit betreibe..."
Anshara war dem Austausch fasziniert gefolgt. Sie verstand nur
Bahnhof und Kofferklauen.
"Dann sollte ich wohl in Zukunft lieber stumme
Selbstgespräche führen."
"Das kannst du mir doch nicht antun!"
"Kann ich nicht?" fragte er. Branwyn schüttelte
energisch den Kopf, und ein paar rotgoldene Strähnen entwischten
aus dem hastig aufgesteckten Dutt. "Und was willst du dagegen
tun?"
"Hm, das wäre endlich ein Grund, den Hirnwellenrecorder zu
bauen. Da fällt mir gerade ein - mit einem Akustikwandler, den ich
daran anschließen kann, hätte ich fast eine komplette
Telepathie-Maschine erfunden! Es fehlt nur der passende
Sendemechanismus..." Sie strahlte ihn an. "Das muß ich
unbedingt bauen!"
"Willst du mich ausspionieren?"
"Wozu? Du erzählst mir ja doch früher oder
später alles." Sie schenkte ihm ein strahlendes Lächeln.
"Übrigens, der neue Kühlschrank ist fertig. Wie
besprochen mit allen Extras, wie dem Wunsch-Mixer und der
Stasiskammer."
"Du bist wundervoll.", schwärmte Gereint.
"Ich weiß." Sie warf ihm eine Kußhand zu, und
er erwiderte die Geste.
"Wenn ich dich nicht hätte."
"Dann müßtest du dir alles selber bauen." Sie
lächelte ihm zu und trabte wieder nach oben, wobei sie ganz
vergaß, daß sie eigentlich ihren Teleportgürtel noch
umhatte.
"Entschuldigt mich bitte einen Moment." Gereint joggte
hinter Branwyn her und kam kurz darauf mit einem Zeitungsstapel und
einem Buch zurück.
"Das ist das Lesematerial, von dem ich gesprochen hatte",
erklärte er und drückte es ihr in die Hände. "Das
Kitab al Alacir hat sie leider nur im arabischen Original, aber
das Paradigma ist in Französisch.
"Oh danke!" Anshara war diesmal ganz froh darüber,
daß sie in ihren ersten Jahren in der Neuzeit in Ägypten
Arabisch gelernt hatte, und das Französische beherrschte sie
mittlerweile glücklicherweise auch. Sie blätterte neugierig
in den Zeitungen.
"Das sieht ja extrem interessant aus", freute sie sich,
auch wenn sie vieles nicht ganz verstand.
"Branwyn sagt, sie braucht die Sachen zwar im Augenblick nicht,
möchte sie aber irgendwann wieder haben."
"Kein Problem." Anshara bewunderte die Abbildungen einiger
besonders wilder Gerätschaften, bei denen ihr nicht einmal die
Untertitel weiterhalfen.
Gereint ließ sich auf einen der Fellstapel fallen und
betrachtete Anshara beim enthusiastischen Blättern. Jean war
mittlerweile fast durch den Astérix-Comic durch, aber zum
Glück lagen da noch zwei weitere. Gereint ergriff seine Harfe, um
etwas darauf herumzuklimpern.
Nach einer ganzen Weile bemerkte Anshara, wie sie langsam müde
wurde. Ihr Kopf sank langsam nach unten, und sie fing sich mit einem
Ruck wieder.
"Müde?" fragte Gereint.
"Ja", gab sie zu. Dabei war sie gerade an so einer
interessanten Stelle...
"Darf ich Euch Euer Zimmer zeigen?"
"Oh ja, bitte." Sie packte das Lesematerial zusammen, und
der Hausherr führte sie ein Stück die Treppe herunter zu einem
fensterlosen Schlafzimmer.
"Das ist ja perfekt", fand Anshara und sah sich bewundernd
um, ehe sie die Zeitschriften vorsichtig auf dem Boden deponierte.
"Wo steckt denn Jean? Sollte er sich nicht auch langsam zur Ruhe
betten?"
"Ich werde ihm gleich sein Zimmer zeigen. - Bis zum Abend
dann."
"Guten Tag." Sie lächelte ihm zu, ließ sich auf
das Bett fallen und war prompt eingeschlafen.
Nachdem Gereint auch Jean ein Zimmer zugewiesen hatte, zog er sich
ebenfalls zurück.
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