Fünf Nächte im Unleben eines Kainskindes
(c) 1995 by Shavana & Stayka
Kapitel 5: Silvester
Man schrieb Donnerstag, den 31. Dezember 1981, etwa 16:30 Uhr.
Anshara erwachte aus tiefem erholsamen Schlaf und fand es wie immer
erstaunlich, daß sie nicht mehr gähnen mußte, auch wenn
sie noch müde war. Jean regte sich ebenfalls langsam wieder, da
die Dämmerung nahte. Er streckte sich ausgiebig.
Anshara bedauerte, daß es so dunkel hier war, daß sie
ihn nicht ausreichend bewundern konnte.
"Guten Abend", kam es von Jean.
"Guten Abend", flötete sie. "Soll ich das Licht
anmachen?"
"Wenn es unbedingt sein muß..."
"Klar! Schließlich muß ich nachgucken, ob du immer
noch so toll aussiehst wie gestern."
"Bestimmt", erwiderte er belustigt und tastete nach
Anshara. Diese hatte sich wie ein Kätzchen zusammengerollt, und er
erwischte ihre Seite. "Ah, da bist du", stellte er fest und
arbeitete sich zum 'oberen Ende' vor. Anshara kicherte; das fühlte
sich lustig an. "Jetzt hab ich dich", verkündete er, als
er eine Haarsträhne von ihr erwischte.
"Hilfe! Ich bin gefangen", rief sie aus und rollte sich
auseinander, damit sie sich Jean zuwenden und von ihm zur Vergeltung
auch einige Haarsträhnen einfangen konnte. Die waren immer noch
weich und seidig, auch wenn sie jetzt ziemlich verstrubbelt waren.
"Irgendwie wäre es doch einfacher, wenn ich mehr sehen
könnte", fand er.
"Stimmt. Machst du das Licht an?"
"Falls ich den Schalter finde..." Jean tappte in Richtung
Tür.
"Vorsicht, da steht irgendwo der Stuhl", warnte Anshara.
"Hm, ich habe ihn noch nicht gefunden", meinte Jean und
schaltete das Licht an. "Ich hasse das jeden Abend auf's
Neue", seufzte er, als die Helligkeit ihn blendete.
"Du mußt einfach die Augen vorher zumachen und dann
gaaanz vorsichtig öffnen", riet sie.
"Dazu ist es jetzt zu spät", erklärte Jean und
kletterte ins Bett zurück. Anshara sah ihn mitleidig an und
verwuschelte ihn ausgiebig. Im Licht sah sein Hals wieder so
verführerisch appetitlich aus... Natürlich bemerkte er,
daß sie schon wieder seinen Hals betrachtete. So etwas konnte er
nicht durchgehen lassen, er rutschte zu ihr hin und begann, nun auch
ihren Hals freizulegen. Prompt quietschte sie auf.
"Hilfe!"
"Ist was?"
"Du beraubst mich jedweden Schutzes..."
"Kann ja gar nicht sein." Jean näherte sich immer
weiter ihrem zarten, schlanken Hals.
"Ich fühle mich dir wehrlos ausgeliefert." Ihr
bernsteinfarbener Blick traf ihn mitschiffs, und er guckte zurück.
"Bist du auch."
"Solltest du mich nicht beschützen?"
"Aber doch nicht vor mir."
"Na klar auch vor dir!"
"Nö", meinte er leise ganz nahe an ihrem Ohr.
"Hm..." Sie rutschte ein wenig herunter und nahm Kurs auf
seinen Hals, ihn ihn dort mit ihrer Zungenspitze zu kitzeln. Jean
versuchte seinerseits, and ihren Hals zu kommen, und so tobten und
kicherten sie herum, bis sie aus dem Bett fielen.
"Au", beschwerte er sich. "Warum lande eigentlich
immer ich unten?"
"Weil du als Gentleman mich vor Schaden bewahren
mußt", erklärte sie. Er knurrte etwas
unverständliches, und sie kicherte, bevor sie sich erhob und ihm
die Hand reichte, um ihn hochzuziehen. Jean machte sich absichtlich
schwer, und da Anshara nicht die stärkste war, führte das
dazu, daß sie umkippte und erneut auf ihm landete.
Übermütig packte er sie und rollte mit ihr herum, so daß
sie unten lag.
"Hey", protestierte sie, "wenn ich noch atmete,
würde ich jetzt keine Luft mehr kriegen!"
"Tust du aber nicht", gab er belustigt zurück.
"Wüstling", rief sie. Diese Bezeichnung fand sie
gut; sie hatte sie mal in einem Film im Fernsehen gehört.
"Aber sicher", entgegnete Jean. "Ich mag es nicht,
wenn mein Frühstück wegläuft."
"Ich dein Frühstück?" quietschte sie
entrüstet.
"Ich habe Hunger."
"Ich auch", erwiderte sie. "Da kriegst du nicht viel
aus mir heraus."
"Ooch, ich denke, es reicht durchaus."
"Pöh! Laß uns lieber etwas jagen gehen",
schlug sie vor.
"Ich habe schon etwas gefangen", erklärte er
zufrieden.
"Hm. Naja, wenn man es recht betrachtet, bist du ja auch nicht
zu verachten." Anshara peilte wieder seinen Hals an, ehe sie sich
unvermittelt ein Stück drehte. Dadurch rollte Jean von ihr
herunter, und sie nutzte den Schwung, um ihn nach unten und sich wieder
auf ihn hinauf zu befördern.
"Tse, ich dachte, du bist eine schwache Frau", meinte er
belustigt.
"Bin ich auch. Aber dafür kenne ich mich mit ein paar
Gesetzen der Mechanik ganz gut aus..."
"Aha. Und was hast du nun vor?"
"Frühstücken?" schlug sie vor.
"Worauf wartest du dann?"
"Gute Frage..." Sie knabberte vorsichtig an seinem Hals
herum. Bei Ammut, sie hatte Hunger. Sie mußte sich
schwer zusammenreißen, nicht tatsächlich zuzubeißen,
insbesondere, wenn das stimmte, was Jean ihr über das Trinken des
Blutes eines anderen Kainskindes erzählt hatte.
Jean fand es ziemlich irritierend, daß er eigentlich gar nicht
den Drang verspürte, sich gegen sie zu wehren. Er betrachtete das
Ganze ziemlich neugierig.
"Was machst du da eigentlich?"
"Ich kämpfe mit mir", seufzte sie. "Da war doch
etwas, das du mir erzählt hast, was es bewirkt, wenn man das Blut
anderer Vampire trinkt. Und da ich dich eigentlich nicht ganz
austrinken will, stehe ich nun vor einem Problem."
"Und das wäre?"
"Naja, ich glaube nicht, daß es mir gefallen würde,
deine Sklavin zu werden, nur weil ich dich versehentlich beiße.
Immerhin bin ich als Verkörperung der Ma'at meine eigene Herrin. -
Hm. Oder willst du mal beißen?"
Sie hielt ihm ihr Handgelenk hin.
"Nö", meinte er. "Da nicht." Aber
andererseits war es doch wieder verlockend, überlegte er, und
dieser Gedanke machte ihm beinahe ein wenig Angst.
"Ts." Sie sah ihn amüsiert an und verwuschelte seine
Frisur. "Und ich dachte, du wolltest mich als
Frühstück..."
"Ich bin doch nicht verrückt und tue etwas, das ungeahnte
Konsequenzen haben könnte."
"Also gehen wir doch jagen?" fragte sie erwartungsvoll.
Sie zog es vor, öfter mal einen kleinen Snack zu futtern als so
lange zu warten, bis der Hunger übermächtig wurde und sie ihre
Opfer eventuell versehentlich tötete. "Außerdem wollten
wir doch ein paar Sachen für dich einkaufen."
"Wie du willst." Jean war mit den Gedanken woanders; er
beschäftigte sich immer noch mit den Implikationen eines
Blutbandes. Was bedeutete das wohl wirklich, fragte er sich. Er hatte
eigentlich nie ein richtiges gehabt, denn er hatte bisher nur ein
einziges Mal das Blut eines Kainskindes getrunken, und das war bei
seinem Erwachen gewesen.
"Ich bin sicher, es sähe toll aus, wenn du auch einmal
etwas in Türkis oder Weiß tragen würdest",
erzählte Anshara gerade. "Überleg mal, ein elegantes,
schneeweißes Rüschenhemd zu einer schwarzen Hose, oder ein
Ensemble in Türkis und Weiß. Oder Türkis und
Schwarz..." Sie musterte ihn ausgiebig.
"Ich ziehe schwarz vor."
"Du müßtest es einmal ausprobieren",
riet sie ihm eindringlich. "In Schwarz siehst du toll aus, aber
das andere würde bestimmt auch super wirken."
"Hm", machte er zweifelnd. Er mochte aber am liebsten
schwarz.
"Komm!" Anshara erhob sich und versuchte noch einmal, ihn
hochzuziehen, und diesmal ließ er es zu.
"Wohin denn?"
"In die City. Um die Zeit sollten die Geschäfte noch
offen sein."
"Ganz wie du willst. Ich ziehe mich nur rasch an."
Er verschwand in seinem Raum, während Anshara in einen
eleganten weißen Hosenanzug mit weißen Stiefeln und ihrem
weißen Mantel stieg. Ein langer, roter Schal vervollkommnete das
Outfit. Gerade als sie mit den letzten Korrekturen am Make-Up fertig
war, trat Jean bei ihr ein. Er trug schwarze Jeans und eine
gleichfarbige Lederjacke.
Sie machten sich zu Fuß auf den Weg in die City. Anshara
hängte sich bei ihm ein, und Jean übernahm die Führung.
Als sie ihren Kopf an seinen Oberarm schmiegte, schaute er belustigt zu
ihr herunter.
"So kuschelig heute?"
"Mir ist danach." Sie sah zu ihm auf. "Weißt
du, ich stelle mir gerade vor, wie fantastisch du wohl in einem
weißen Rüschenhemd aussiehst..."
"Das wirst du wohl nie zu sehen kriegen."
"Ooooch, Jean", schmeichelte sie.
"Ich bin zu blaß für weiß."
"Das müßte man ausprobieren", fand sie.
"Immerhin bin ich ja auch nicht gerade das Werbeplakat für ein
Sonnenstudio."
"Aber du bist dunkler als ich. Und überhaupt, ich trage
einfach kein Weiß."
"Seufz!" Anshara guckte ziemlich betrübt.
Schließlich hatten sie eine der Haupteinkaufsstraßen
erreicht.
"Hm, mir kommt es so vor, als ob hier heute ziemlich wenig los
ist", stellte Jean irritiert fest. Anshara sah sich ebenfalls um.
Die Geschäfte sahen aus, als wären sie allesamt geschlossen.
"Stimmt. Ist heute irgendetwas besonderes los?"
"Was haben wir denn heute für ein Datum?"
"Moment, wann bin ich in Frankfurt angekommen? Montag? Ich
glaube, da war der 28. Oh! Dann ist heute ja der 31. Dezember!"
Jean seufzte. "Dann gibt es heute nichts mit einkaufen."
"Und was können wir dann unternehmen? - Sag mal, gibt es
eigentlich auch Silvesterparties für Kainskinder?"
"Sicher."
"Meinst du, wir könnten zu einer gehen?"
"Was für eine Party würdest du denn vorziehen?"
"Am liebsten eine extravante Party mit interessanten Leuten und
schönen Kostümen."
Jean lachte. "So ein Zufall! Ich habe noch irgendwo eine
Einladung für genau solch eine Feier herumfliegen."
"Oh! Und du meinst, ich kann mitkommen?"
"Ich denke, das sollte sich irgendwie einrichten lassen."
"Prima! Nur - als was kann ich mich denn
kostümieren?"
"Ich kann mich erinnern bei deinen Sachen ein goldenes Kleid
gesehen zu haben. Zieh es an und sage, du stellst Cleopatra dar."
"Cleopatra?" Anshara runzelte die Stirn. "Ach,
stimmt, das war diese dumme Griechin, die Ägypten total
heruntergewirtschaftet und an die Römer verkauft hat."
"Die ist aber hier ziemlich bekannt."
"Hm. Das war fast zweitausend Jahre nach meiner Zeit. Aber
gut, dann spiele ich eben diese komische Griechentante, wenn das ohne
großen Aufwand geht. Auch wenn ich eine echte Ägypterin
bin."
"Ich glaube nicht, daß hier jemand den Unterschied
merkt."
"Du hast Recht, die Leute hier sind in dieser Hinsicht alle
Banausen."
"Eben. Aber nun laß uns zum Hotel zurückgehen,
damit wir uns umkleiden können. Vor allem muß ich noch die
Einladung suchen. Die war nämlich schwarz."
"Du brauchst unbedingt ein paar nicht-schwarze
Sachen", konstatierte Anshara.
"Nicht-schwarze Einladungen wären viel sinnvoller",
fand Jean.
Während sie zurück wanderten, war Anshara ganz froh,
daß sie nicht mehr außer Puste geraten konnte, denn das war
ja doch eine ziemliche Strecke.
Im Hotel angelte Jean wie üblich nach den Schlüsseln, als
er ein Kuvert in Ansharas Fach entdeckte.
"Eh, du hast Post!" Er nahm den Brief und reichte ihn ihr.
"Post? Ich?" Sie war total perplex. "Danke."
Sie öffnete den Umschlag und holte eine schwarze Karte sowie einen
offenbar handgeschöpften Büttenpapierbogen heraus.
"Stilvoll", kommentierte sie und faltete den Bogen auf, bevor
sie den Brief überflog.
Der Brief war von Chris, der sie zu dem Maskenball im Palast des
Prinzen einlud, da er sie für eine 'unwiderstehliche Bereicherung
der Festivität hielt und zudem ihre Bekanntschaft gerne
intensivieren würde'.
"Oh! Chris hat mich zu dem Maskenball eingeladen",
faßte sie den Inhalt zusammen.
"Dachte ich mir." Jean hatte natürlich die Schrift
auf dem Umschlag erkannt.
"Das finde ich ganz allerliebst von ihm." Sie strahlte
über das ganze Gesicht.
"Na, dann laß uns nach oben gehen, sonst kommen wir noch
zu spät."
Anshara stürmte in ihren Raum und begann, sich zielgerichtet in
einen königlichen Traum aus Gold zu gewanden. Sie legte diesmal
auch ausreichende Mengen an Schmuck an, und das einzige, was ihr
schlußendlich noch fehlte, war nur die klassische Geierhaube, aber
ansonsten gab sie eine passable Cleopatra ab.
Jean hingegen stellte auf der Suche nach seiner Einladung erst
einmal das Zimmer auf den Kopf, ehe er sie nach einiger Zeit in der
Schublade fand, wo er sie hineingelegt hatte, damit er sie schnell
wiederfand. Dann stand er vor dem Problem, was er als Kostüm
tragen konnte. Am besten ginge er wohl als Schwarzer Mann, dachte er
ironisch.
Während er immer noch grübelte, klopfte es und Anshara
schwebte in sein Domizil. Sie sah wieder einmal atemberaubend aus, aber
das half ihm nicht weiter.
"Ich weiß nicht, was ich anziehen soll", jammerte
er.
"Soll ich dir eins meiner Gewänder ausleihen?" bot
sie ihm an.
"Die sind zu kurz!"
"Hm, stimmt. Wie wäre es, wenn du als Dieb gingst?"
"Und wie sieht das aus?"
"Ich dachte, so wie du", kicherte sie. "Nimm einfach
einen Beutel mit und packe etwas vom Tafelsilber ein."
"Sehr witzig", meinte Jean. "Ich glaube, da
wären einige Leute ziemlich stinkig."
"Na gut, dann nimm eben einen leeren Beutebeutel mit."
"Den habe ich eh immer dabei", erklärte er belustigt.
"Ts!" Sie schüttelte amüsiert den Kopf,
woraufhin ihr Schmuck klingelte.
"Du klimperst ja."
"Ich kann doch nicht völlig schmucklos herumlaufen."
"Stimmt, das wäre ja so gut wie nackt", zog er sie
auf. "Seufz, ich weiß immer noch nicht, was ich nehmen
kann."
"Ein Bettlaken?"
"Ich bin kein Geist."
"Dann gehe einfach als du selbst. Wenn dich jemand fragt, was
du darstellst, gucke ihn irritiert an und sage wie
selbstverständlich 'Jean LeCartres!' Ich bin sicher, dann gibt
keiner zu, daß er das nicht kennt, weil eine Bildungslücke
doch peinlich wäre."
"Naja, immerhin habe ich mal das Tafelsilber von Louis XIV
geklaut. Ist aber schon länger her."
"Hier hättest du immerhin das Silber eines Prinzen zur
Verfügung."
"Das ist mir aber nicht schön genug."
"Ich hoffe, wenigstens sein Getränkekeller entspricht
deinen Ansprüchen..."
"Weiß ich noch nicht. Bis jetzt habe ich noch nichts
davon gekriegt." Jean starrte immer noch ratlos auf den
Kleiderhaufen.
"Na, dann wird es ja Zeit, das zu ändern. - So, und jetzt
wirf dich in etwas elegantes!
"Also gut." Jean zog sich um, und Anshara guckte ihm
interessiert zu. Er war wirklich außerordentlich hübsch,
dachte sie und stieß einen Seufzer aus. Als er ihren Blick
bemerkte, grinste er sie an.
"Und ich muß eine Hieroglyphe für dich
entwerfen", befand sie. "Eine, die auch deine Schönheit
und Grazie mit einfängt."
"So?" Er warf sich demonstrativ in Pose. Anshara
umkreiste ihn und betrachtete ihn ausgiebig.
"Ja", hauchte sie entzückt.
"Meinst du, sie könnte mir gerecht werden?"
"Schwerlich, aber ich will es versuchen."
Jean lachte und grub wieder in den Schubladen herum, aus denen er
eine Menge glitzernden Schmuckes zu Tage beförderte. Anshara
bewunderte die Stücke.
"Schön, nicht?" fragte er.
"Oh ja!" Sie trat näher und begutachtete die beiden
Handvoll, die Jean ihr entgegen hielt. "Toll!"
"Fand ich auch. Ich konnte sie einfach nicht liegen
lassen." Er spielte mit dem Geschmeide herum.
"Kann ich voll und ganz verstehen. Sowas muß ich mir
unbedingt auch mal zulegen." Immerhin hatte sie fast
ausschließlich goldenen und silbernen Schmuck. Jean
schüttelte amüsiert den Kopf, ehe er sich ein paar der
Schmuckstücke in die Taschen steckte.
"Ah, das ist dein Kostüm", erkannte Anshara und
gluckste auf. "Perfekt!"
Lachend stopfte Jean sich auch noch seine Einladung in die Tasche.
Er war froh, daß Anshara eine eigene von Chris erhalten hatte,
sonst wäre es vielleicht doch etwas peinlich geworden. Er als
Toreador sollte schließlich am besten wissen, wie unpassend es
war, einen ungeladenen Gast auf eine Party mitzubringen, auch wenn die
Ventrue es nicht ganz so eng sahen.
"Bist du soweit?"
"Fast", entgegnete Jean. "Ich nehme lieber noch
meinen Umhang mit, falls es wieder schneit."
"Gute Idee." Sie holte ihren Mantel, und binnen fünf
Minuten saßen sie im rasch herbeigerufenen Taxi und waren auf dem
Weg zur Party.
* * *
Das Fahrzeug hielt vor dem Bolongaro-Palast. Jean beglich die nicht
unbeträchtlichen Fahrtkosten, bevor sie zur Tür gingen und
schellten. Der grimmig dreinblickende Ghul vom letzten Mal öffnete
ihnen.
"Sie wünschen?"
"Wir sind geladen", erklärte Anshara hoheitsvoll und
überreichte ihm ihre Karte. Jean tat es ihr gleich.
"Treten Sie ein."
Anshara wickelte sich aus ihrem Mantel und überreichte ihn dem
Türsteher, Jeans Umhang folgte in hohem Bogen, dann schritten sie
gemessen in Richtung Festsaal. Jean folgte absichtlich immer zwei
Schritte hinter ihr.
Im Saal herrschte schon reges Treiben. Es waren gut einhundert
Leute anwesend, Kainskinder und Ghuls; vermutlich handelte es sich um
einen Gutteil der in Frankfurt ansässigen Untoten. Alle waren
verkleidet, und das machte es Anshara nicht leicht, Chris zu finden, bei
dem sie sich doch noch für die Einladung bedanken wollte. Sie
seufzte und hielt sich also sicherheitshalber an Jean.
"Stürzen wir uns hinein", meinte er zu ihr.
"Oh ja! Mal sehen, was es zu trinken gibt."
"Mir scheint, du bist ein kleiner Säufer."
"Ich hatte heute noch kein Frühstück."
"Ich auch nicht", sagte Jean erheitert. "Du hast
dich ja gewehrt."
"Aber so stark doch auch wieder nicht", fand sie.
"Vielleicht versuche ich es noch mal."
"Oh ja", meinte Anshara. "Das soll doch so erotisch
sein..."
"Ich denke schon", stimmte Jean zu. "Obwohl ich das
natürlich noch nie bei einem Kainskind gemacht habe."
"Hm. Ich habe lediglich meinen Erzeuger ins Bein gebissen, und
das war nicht sonderlich erotisch gewesen."
"Da fehlte wohl das Vorspiel", meinte Jean belustigt und
grinste sie an. "Und nun laß uns etwas zu trinken
suchen."
"Oh ja! Etwas gut gekühltes und gewürztes!"
"Auf keinen Fall."
"Oooooch Jean..."
"Damit du dich wieder peinlich benimmst? Nein, danke."
"Ich habe mich nicht peinlich benommen", schmollte sie.
"Weil ich dich rechtzeitig nach Hause gebracht habe."
"Ich habe dich nur bewundert."
"Aber auf eine ziemlich besitzergreifende Art und Weise."
"Na klar." Sie strahlte ihn an. Jean hatte derweil Kurs
auf das Buffet genommen, wobei Anshara, die sich bei ihm eingehängt
hatte, ihn begleitete. Sie mußte dieser Camille auf jeden Fall
von vorne herein klar machen, wem Jean gehörte.
An dem langen Tisch angelangt, musterte Jean die diversen Karaffen,
Flaschen und Krüge interessiert. Das roch sehr gut und war
natürlich alles nur vom Feinsten. Anshara war derselben Meinung.
Sie nahm einen edlen Kristallkelch und hielt ihn Jean entgegen.
"Würdest du mir bitte etwas einschenken?"
Er suchte eine Karaffe mit besonders köstlich duftendem Inhalt
heraus und goß ihren Kelch damit voll. Sie nippte vorsichtig
davon.
"Schmeckt nach mehr", fand sie. "Und es scheint eher
harmlos zu sein."
"Stimmt."
"Schaaade. Die 'gefährlichere' Mixtur im Dark Mirror war
erheblich aufregender."
"Ich weiß." Er schenkte sich etwas aus einem anderen
Krug ein und probierte einen Schluck. Vorzüglich.
"Darf ich mal probieren?"
"Sicher." Er hielt ihr sein Glas hin, und sie nippte
davon.
"Huch!" machte sie. "Schmeckt definitiv nach
mehr."
"Lieber nicht", warnte er sie.
Natürlich hörte sie nicht auf ihn und nachdem sie ihr
Getränk beendet hatte, nahm sie ebenfalls aus diesem Krug. Jean
schenkte sich ebenfalls ein zweites Glas ein und lehnte sich an eine der
Säulen, um sich die Gäste anzusehen. Anshara folgte seinem
Blick.
"Hübsche Kostüme", kommentierte sie.
"Der Inhalt ist teilweise auch ganz hübsch."
"Stimmt." Sie musterte ein rothaariges, männliches
Wesen, das fast so niedlich war wie Jean. "Aber ich habe Chris
noch nicht entdeckt." Jean sah sich um.
"Er ist da vorne", sagte er und wies auf einen der Herren.
Chris trug das Kostüm eines Piraten.
"Niedlich", fand sie. "Ich muß mich rasch
für die Einladung bedanken." Anshara trabte zu Chris
herüber und machte einen Knicks. "Guten Abend, edler
Herr", begrüßte sie ihn. "Ich wollte Euch meinen
Dank für die liebe Einladung aussprechen."
"Oh, Anshara", äußerte er. "Es freut
mich, daß Ihr uns mit Eurer Anwesenheit beehrt."
"Ihr seid zu freundlich." Sie senkte ihren Blick, und der
Genuß der zwei Gläser Blut hatte eine leichte Röte auf
ihre Wangen gezaubert. Chris lächelte sie an.
"Amüsiert Ihr Euch gut?"
"Oh ja, sehr! Die dargebotenen Getränke sind wahrhaft
exquisit, und überhaupt ist diese Festivität überaus
anregend. Wißt Ihr, es ist meine erste große Party, die ich
besuchen darf!"
"So?" machte Chris neugierig.
"Nun, bislang war ich hauptsächlich in Ägypten, und
da ist nicht viel los. Bei dem kleinen Abstecher, den ich in die
Vereinigten Staaten gemacht habe, hatte ich leider andere Dinge zu tun,
als Parties zu besuchen..."
"Dann seid hiermit besonders herzlich in unserer Gesellschaft
willkommen."
"Ich danke Euch." Sie sah wieder schüchtern zu Boden.
Männer - Kainskinder oder andere - waren immer am besten zu
dirigieren, wenn sie meinten, die Oberhand zu haben.
"Schenkt Ihr mir einen Tanz?"
"Oh gerne, wenn Ihr mir verzeiht, daß ich die hiesigen
Tänze nicht beherrsche? Ihr müßtet es mir erst einmal
zeigen."
"Sicherlich." Chris nahm ihren Kelch und stellte ihn auf
einem Tisch ab, ehe er sie zur Tanzfläche führte. Anshara
betrachtete die anderen Tänzer und machte gedanklich Notizen, wie
sie ihre Füße bewegten. Chris wartete auf ein neues
Musikstück und wirbelte sie dann zum Walzertakt herum. Anshara
machte begeistert mit. Das war lustig, fand sie, so ganz anders als die
ägyptischen Tänze, die sie in der Schule und im Tempel gelernt
hatte.
"Das ist ja gar nicht so schwer", fand sie
schließlich.
"Stimmt", meinte Chris belustigt, als sie ihm nicht mehr
auf die Füße trat.
"Zu Hause haben wir nur alleine oder in Gruppen getanzt",
erklärte Anshara. "Aber das hier macht mehr Spaß."
Sie strahlte ihn aus ihren Bernsteinaugen an und beschloß, ihn
möglichst um den Finger zu wickeln. Man konnte nie wissen, wo man
alles Verbündete brauchen konnte.
"Dann können wir ja noch einen Tanz wagen", schlug
Chris vor.
"Gerne." Sie warf ihm einen weiteren hinreißenden
Blick zu, und als er den Blick erwiderte, bewunderte sie seine herrliche
tiefblaue Augenfarbe. Fast wie Lapislazuli, dachte sie. Chris fand
Anshara einfach süß.
"Würdet Ihr mir noch einen Schluck zu trinken holen?"
bat sie nach dem dritten Tanz.
"Natürlich." Chris holte ihr ein neues Glas mit einer
Mixtur, die er sehr schmackhaft fand.
"Ich danke Euch." Sie schenkte ihm ein bezauberndes
Lächeln, und Chris bewunderte sie ausgiebig. Schließlich
guckte sie einmal in die Runde, um sich noch einmal die anderen
Gäste anzusehen.
"Sucht Ihr jemanden?" erkundigte sich Chris.
"Nein", wehrte sie ab. "Ich schaue mir nur all die
interessanten Kostüme an!" Eine schlanke, hochgewachsene Lady
in einem schillernden Schmetterlingskostüm hatte es ihr besonders
angetan.
"Es sind einige bezaubernde dabei", stimmte Chris zu.
"Allerdings. - Wer ist eigentlich Euer ehrenwerter
Prinz?" fragte sie. Sie wollte doch zu gerne wissen, wie so ein
Prinz aussah.
"Da vorne." Chris deutete auf einen älteren Herren im
eleganten Nadelstreifenanzug.
"Er sieht sehr distinguiert aus", kommentierte sie
ehrfürchtig. "Und er herrscht über ganz Frankfurt?"
"Ja."
"Oh." Bevor sie den Prinzen unhöflich anstarrte,
beschloß sie, lieber noch einen Schluck zu trinken.
"Lecker", fand sie.
"Das ist mein Lieblingsgetränk", erklärte Chris.
"Kann ich verstehen."
"Habt Ihr inzwischen schon etwas von Frankfurt gesehen?"
"Ich war bislang im Dark Mirror und in einem Kunstmuseum, aber
die Stadt bietet ja noch weit mehr von Interesse, was ich noch
besichtigen muß."
"Durchaus, obwohl Frankfurt natürlich nicht mit den
wirklichen Metropolen mithalten kann."
"Ich finde, jede Stadt hat ihre interessanten
Plätze", sagte Anshara. "Man muß nur wissen, wo
man die Schönheiten finden kann. Wenn man genau hinsieht, ist ja
selbst eine einzelne Schneeflocke ein Objekt exquisiter
Schönheit", sinnierte sie. "Oder die Farbe dieses
köstlichen Getränks..." Sie hielt den Kelch ins Licht,
und die Flüssigkeit schimmerte in dunklem Rot, das in den
Façetten des Kristalls reflektierte.
"Eure Abstammung läßt sich nicht leugnen",
bemerkte Chris belustigt.
"Hm?" machte sie verdutzt. Sie war gerade ganz in den
Lichtreflexen von dem dem gewürzten Blut versunken gewesen. Chris
schüttelte belustigt den Kopf. Toreador...
"Seid Ihr eigentlich mit Jean verwandt?"
"Nicht direkt", meinte sie. "Obwohl wir sicherlich
irgendwo einen gemeinsamen Ahnen haben dürften."
"Ich dachte, Ihr wäret näher verwandt",
überlegte Chris. "Immerhin seid Ihr zusammen gekommen."
"Wir trafen uns zufällig", erzählte Anshara.
"In einem Kaufhaus. Ich war gerade dabei, mir allerlei
hübsche Kleider zu kaufen..."
"Aha." Er glaubte ihr kein Wort. Das paßte gar
nicht zu seinem alten Freund.
"Oh, ich glaube, ich sollte mich gleich wieder zu Jean begeben,
sonst fühlt er sich noch total verlassen."
"Jean? Nie."
"Bestimmt", beharrte sie.
"Er hat noch nie länger getrauert", meinte Chris
vergnügt. "Normalerweise hat er immer gleich Ersatz
parat."
"Das werde ich ihm schon noch austreiben", versprach
Anshara bestimmt.
"Naja, er ist noch jung genug..."
"Eben. Er kann noch erzogen werden", beschloß sie.
"Möglich. Obwohl er manchmal recht schwer von Begriff
ist." Chris fand das ungemein amüsant. Jean hatte schon immer
eine magische Anziehungskraft gehabt, was Probleme betraf.
"Nun, dann werdet Ihr mich doch sicher entschuldigen? Ich
muß mich um ihn kümmern." Sie sah zu Jean herüber.
"Und er muß wirklich demnächst mal einige
Kleidungsstücke in anderen Farben bekommen", meinte sie.
"Weiß und Türkis..."
"Das wird ihm nicht gefallen", machte Chris sie
aufmerksam.
"Macht doch nichts."
"Er wird sich sträuben."
"Ich liebe es, wenn sie sich ein wenig wehren",
erklärte Anshara übermütig.
"Soso", kommentierte Chris amüsiert. "Aber Ihr
habt recht, es hat schon seinen Reiz. Dann wünsche ich Euch viel
Erfolg."
"Danke." Anshara setzte ein siegesgewisses Lächeln
auf und trabte zu Jean zurück, während Chris sich wieder
einigen anderen Gästen zuwandte.
Jean hatte das Ganze ziemlich mißmutig betrachtet und dabei
ausreichend dem Inhalt der diversen Karaffen zugesprochen.
"Huhu Jean", flötete Anshara und eilte zu ihm. Er
sah sie an.
"Huhu."
"Sollen wir auch mal tanzen?" fragte sie. "Chris hat
mir gezeigt, wie das geht."
"Hm", brummte Jean.
"Nun?" Sie legte den Kopf schief und schaute ihn fragend
an.
"Ich mag jetzt nicht."
"Schaaade..." Sie guckte ihn herzzerreißend an, doch
er beachtete es dieses Mal gar nicht. Schmollend schenkte sie sich
ihren Kelch wieder voll. Auch Jean widmete sich lieber seinem Glas.
"Was hast du denn?"
"Nichts."
"Du scheinst dich nicht sonderlich zu amüsieren."
"Muß ich das denn?"
"Eigentlich schon, dachte ich. Immerhin ist das hier eine
Party."
"Ich widme mich dem vorzüglichen Buffet. Was soll ich
sonst tun?"
"Zum Beispiel mit mir tanzen", schlug sie vor.
"Ich tanze nicht gerne. Frag doch Chris, der ist darin
perfekt."
"Ich wollte aber lieber dich fragen."
"Warum?"
"Weil ich dich lieber mag als Chris."
Jean betrachtete sie nachdenklich.
"Nun, erweist du mir die Ehre, mich auf die Tanzfläche zu
entführen?"
"Du läßt mir ja doch keine andere Wahl."
"Stimmt." Sie himmelte ihn an.
"Dann komm." Er reichte ihr die Hand, und sie schwebte mit
ihm auf's Parkett. Auch wenn er Gegenteiliges behauptete, konnte Jean
sehr gut tanzen, und Anshara war begeistert. Ihr Partner war extrem
schweigsam und hatte bereits nach zwei Tänzen genug. Er
führte sie wieder zum Buffet.
"Das war wundervoll", fand sie und suchte sich
einen neuen Kelch, den sie ihm zum Auffüllen entgegenhielt. Jean
nahm sich ebenfalls ein frisches Glas, bevor er wahllos nach einem Krug
griff und ihnen beiden einschenkte. "Danke." Anshara nippte
von der diesmal warmen Flüssigkeit, die exotisch gewürzt war.
Bis jetzt hatte sie bei all dem Angebot noch nichts erwischt, was ihr
nicht geschmeckt hatte.
Als sie ihren Blick über die Leute schweifen ließ, war
Anshara immer noch am meisten von der Schmetterlingslady fasziniert, die
aufpassen mußte, daß sie mit ihren schillernden Flügeln
nirgends anstieß. Auch Jean betrachtete die anwesenden
Gäste, allerdings hatte er noch niemanden gefunden, der ihm gefiel.
Deshalb blieb er am Buffet und probierte die verschiedenen Krüge
und Karaffen durch. Vielleicht kam ja noch eine interessante Person.
Anshara blieb in seiner Nähe, denn sie kannte schließlich
außer ihm und Chris hier niemanden. Plötzlich entdeckte Jean
eine alte Bekannte und steuerte auf sie zu. Die hochgewachsene,
dunkelhaarige Dame trug ein edles Kleid in blutrotem Samt und sah
absolut hinreißend aus. Anshara kniff die Augen zusammen und
folgte ihm.
"Bonsoir, Angel", begrüßte Jean die
Schönheit, als er sie erreicht hatte und verabreichte ihr einen
vollendeten Handkuß.
"Ah, Jean, mon ami, quelle surprise", erwiderte
sie überrascht, und Anshara musterte die Frau mißtrauisch.
Offensichtlich kannten Jean und die sich.
"Seit wann bist du hier?" fragte Jean weiter auf
französisch.
"Erst seit ein paar Stunden", entgegnete Angélique,
genannt Angel.
"Und ich dachte schon, du gehst mir aus dem Weg."
"Mais non", rief sie mit einem strahlenden
Lächeln. "Deine Gesellschaft ist mir immer angenehm."
Anshara guckte fragend zu Jean hoch. Sie hatte nicht ein Wort
verstanden. "Wer ist die Lady?" erkundigte sie sich.
"Das ist Angélique", verkündete Jean, als ob
dies Erklärung genug wäre. Angel betrachtete Anshara mit
einem amüsierten Blick.
"Bonsoir, Mademoiselle. Quelle plaisir de faire votre
connaissance."
"Äh, Guten Abend, Miss Angélique", antwortete
Anshara auf Englisch, denn das war garantiert nicht falsch. Sie hoffte
nur, daß es sich bei dem Redeschwall der Französin nicht um
eine Beleidigung gehandelt hatte und beschloß, so bald wie
möglich Französisch und Deutsch zu lernen.
"Und wie ist Euer Name?" erkundigte sich Angélique
in Englisch mit schwerem französischen Akzent.
"Anshara." Eigentlich hätte Jean sie vorstellen
müssen, fand sie ein wenig ärgerlich. Der war jedoch
völlig damit beschäftigt, Angel anzuhimmeln.
"Ihr kennt Jean?" fragte Anshara interessiert.
"Naturellement", sagte Angélique.
"Schon lange. N'est-ce pas, mon ami?"
"Durchaus."
"Aha", machte Anshara und ließ die Frau
sicherheitshalber nicht aus den Augen, insbesondere, da Jean schon
wieder deren Hand nahm und ihr in die tiefgrünen Augen sah.
Angélique hingegen fragte sich, was Jean wohl vor hatte. Sie
kanntewn sich zwar wirklich schon länger, da sie auch zu den
Pariser Toreador gehörte, aber normalerweise benahm er sich
definitiv nicht so.
"Ihr kennt Euch gut?" fragte Anshara,
mittlerweile ziemlich pikiert.
"Sehr gut", behauptete Jean, was Angel zu einem
amüsierten Lächeln verleitete. Offenbar hatte er vor, diese
kleine Cleopatra-Imitation zu ärgern.
"Humpf", machte Anshara.
Nun unterstütze Angélique Jean insofern, als das sie ihm
nun auch schmachtende Blicke zuwarf. Das erinnerte sie an eine ihrer
Lieblingsrollen als Schauspielerin, und sie steigerte sich so richtig
hinein. Anshara schmollte. Jean war schließlich ihr
Eigentum! Auch wenn er es bislang noch nicht wußte...
Sie fragte sich, was er an der so toll fand. Gut, sie war
einen halben Kopf größer als sie, aber das war doch kein
Grund, daß die beiden sich so anschmachteten. Und nun führte
Jean diese Angel auch noch auf die Tanzfläche und ließ sie
einfach stehen! Anshara schäumte. Dieser Unhold! Der würde
noch was erleben. Sie mußte sich nur etwas passendes
überlegen.
"Qu'est-ce que tu as en vue de faire?" erkundigte
sich Angélique bei Jean, während sie über das Parkett
schwebten. "Was hast du nun vor?"
"Moi? Gar nichts."
"Tu nicht so. Ich kenne dich zu genau."
"Du hast mich wie immer durchschaut."
"Ce n'est pas un problème. Du bist ziemlich
berechenbar."
"Püh", machte Jean.
"Aber was ist mit dieser Anshara?"
"Was soll mit ihr sein?" fragte Jean zurück.
"Ah, das also", meinte Angel amüsiert. "Sei
vorsichtig mit dem, was du tust."
Derweil meditierte Anshara darüber, wie sie heimlich etwas
passieren lassen könnte, das z.B. Angéliques Kleid
ruinieren würde, so daß sie sich überstürzt davon
machen müßte. Nur, wie wäre es unauffällig genug,
daß man es nicht zu ihr zurückverfolgen konnte?
Unterdessen führte Jean Angel zu einer der Sitzgruppen im Saal,
möglichst weit weg von Anshara und brachte ihr ein Glas.
"Tu me ne révéles pas, si?" fragte
er bittend. "Du verrätst mich doch nicht?"
"Non", erwiderte sie. "Du hast mir ja auch
schon öfter geholfen."
Anshara beschloß, sich zu Chris zu begeben. Vielleicht konnte
der ihr ja behilflich sein.
"Oh, Anshara", rief Chris aus. "Wollt Ihr mir wieder
Gesellschaft leisten?"
"Oh ja", himmelte sie ihn an. "Würdet Ihr mir
einmal von Euren Reisen erzählen?"
"So? Auf einmal?"
"Nun, Jean erzählte mir, daß Ihr immer die
interessanten Abenteuer erlebt hat, während er nur zuguckte."
"Ach?" machte Chris amüsiert. "Es war aber eher
anders herum."
"In der Tat? Hm." Sie runzelte die Stirn. "War bei
diesen Abenteuern eventuell auch eine Angélique dabei?" Sie
betrachtete ihn aufmerksam.
"Oh, Angélique", äußerte Chris mit einem
besonderen Ton in der Stimme. "Sie ist wundervoll."
"Ach?"
"Aber ja! Ganz Paris liegt ihr zu Füßen."
"So? Müßte ich sie kennen?" fragte Anshara
gnadenlos.
"Selbstverständlich! Jeder kennt sie."
"Und was ist an ihr so bemerkenswert?"
"Einfach sie. Leider ist sie meist ziemlich
unnahbar."
"Offenbar nicht immer."
"Jean hat da selten Probleme."
Anshara grummelte etwas Undefinierbares vor sich hin; es handelte
sich um irgend etwas Unfeines in Altägyptisch.
"Was ist mit Euch?
"Nichts weiter", behauptete sie. Irgendwie mußte es
ihr doch gelingen, diese Tusse von Jean zu entfernen.
"Soso", kommentierte Chris amüsiert. "Mir
scheint, Euch gefällt etwas nicht."
"Es ist nichts weiter." Sie warf einen bösen Blick in
Richtung Angélique, und prompt platzte es aus ihr heraus.
"Es ist diese Tusse!" erklärte sie und deutete
in die Richtung wo Jean mit ihr saß.
"Könnte es sein, daß Ihr eifersüchtig
seid?" erkundigte sich Chris mehr als belustigt.
"Ich? Nein! Wie kommt Ihr darauf?" beeilte sie sich zu
sagen.
"War nur so ein Gefühl..."
"Könnt Ihr mir nicht helfen, die von Jean zu
entfernen?" bat sie.
"Warum sollte ich? Damit würde ich schließlich mich
Eurer bezaubernden Gesellschaft berauben."
"Weil Ihr ein Gentleman seid, der doch sicherlich einer
unglücklichen Lady hilft..." Sie seufzte und guckte
betrübt drein. "Das ist alles so unfair."
"Immerhin ist Jean mein Freund - Ihr müßt Euch schon
alleine überlegen, wie Ihr ihn zurückgewinnen
könnt."
"Hm. Kann nicht irgendein Ghul einen Kelch Blut auf ihr Kleid
schütten?"
"Habt Ihr denn einen?"
"Eben nicht."
"Hm", machte Chris. "Das ist ein Problem."
"Deshalb benötige ich ja Eure Hilfe. Es braucht doch nur
ein Ghul versehentlich zu stolpern..."
"Ich kann das leider nicht tun."
Anshara seufzte herzergreifend. Eine Szene würde sie bestimmt
nicht machen, das wäre weit unter ihrer Würde. Da Chris immer
noch nichts unternahm, sah sie ihn nun an wie ein waidwundes Reh.
"Tse. Wollt Ihr mich umstimmen?" Chris lachte. "Das
klappt bei mir aber nicht."
"Hm. Warum nicht?" Sie schaute ihn stirnrunzelnd an.
"Bei Jean klappt das in der Regel."
"Ich habe zuviel Erfahrung mit solchen Tricks. Jean ist noch
ein Kind."
"Hm. Ich dachte, Ihr kennt Euch schon länger. Warum ist
er dann ein Kind und Ihr offenbar nicht mehr?"
"Weil er erst seit neunzehn Jahren unter den Kainskindern
weilt, und ich dagegen 326 Jahre."
"Oh. Und was hat Jean in der Zwischenzeit gemacht? In einem
Sarkophag überwintert?"
"So ähnlich. Aber das soll er Euch selbst
erzählen."
"Er ist gerade mit dieser Angélique zusammen",
machte Anshara Chris anklagend aufmerksam.
"Dann hat er wohl keine Zeit."
"Eben", grummelte sie. "Man sollte diese Angel in
eine Kiste packen und den Deckel draufnageln!"
"Das würde Euch nicht gelingen. Angel ist schon ein wenig
älter, und von einem Kind wie Euch würde sie sich so etwas
bestimmt nicht gefallen lassen."
"Ich? Ein Kind?" Anshara guckte ärgerlich.
"Ich bin -" Sie schluckte das 'die Verkörperung der Ma'at
gerade noch herunter. Jean hatte gesagt, das würde nicht so gut
ankommen.
"Ihr seid ein Kind", erklärte Chris.
"Pah!"
"Das ist doch nicht zu übersehen; Ihr seid so
unerfahren."
"Püh!"
"Aber süß."
"Wie alt ist denn diese Angélique?" fragte Anshara.
"Abgesehen davon, daß man eine Dame nicht nach sowas
fragt, weiß ich es auch nicht." Er guckte sie amüsiert
an. "Und was habt Ihr nun vor?"
"Ich werde Pläne schmieden", verkündete sie.
"Und in der Zwischenzeit abwarten..." Sie sah tragisch in die
Ferne.
"Ooooch", machte Chris vergnügt. "Ihr
müßt mich nun entschuldigen; ich muß mich erst einmal
wieder um die anderen Gäste kümmern."
"Hm. Wie wäre es, wenn Ihr Euch um diese Angélique
kümmert und sie zum Tanzen auffordert?"
"Ich bin nicht ihr Typ, und außerdem würde ich
ungerne stören."
"Ach bitte, Chris!" Anshara sah ihn flehentlich an.
"Aber dann habe ich etwas bei Euch gut."
"Hm. - Ja", sagte sie nach einigem Überlegen.
"Versprochen?"
"So lange es mich nicht gefährdet - versprochen."
"Gut. Dann werde ich die beiden mal trennen." Chris
betrachtete Jean und Angélique, die momentan damit
beschäftigt waren, abwechselnd aus einem Kelch zu trinken.
Anshara, die dies auch erspäht hatte, fand das ziemlich frech. Sie
setzte sich schon mal in eine günstige Startposition, um sich
gleich wieder auf Jean stürzen zu können. Chris zwinkerte ihr
zu und ging zu den beiden hinüber.
"Darf ich um diesen Tanz bitten?" fragte er Angel. Diese
sah überrascht auf.
"Mais oui", entgegnete sie. Langsam hatte sie
Jean genug geholfen, fand sie, da kam Chris gerade recht. Jean guckte
schmollend, das Spielchen mit Angélique war so nett gewesen.
Kaum war die dunkelhaarige Schönheit verschwunden, schwebte
Anshara zu Jean und okkupierte kurzerhand deren Platz.
"Hallo Jean, na, hast du nett mit deiner Mutter
geplaudert?" gurrte sie.
"Du kennst meine Mutter gar nicht", entgegnete er.
"Ts, und ich dachte, es wäre diese Dame gewesen." Sie
warf einen niederträchtigen Blick in Angéliques Richtung.
"Meine Mutter war blond."
"Wie wäre es denn mit diesem Tanz?" frangte Anshara.
"Schon wieder tanzen? Hm. Eigentlich hatte ich was anderes
vor, aber da man ja hier keine Ruhe hat..."
"Du bist heute reizend", fand sie und zog ihn auf die
Tanzfläche. Sie schmiegte sich an ihn; sie würde ihm schon
demonstrieren, was er an ihr hatte. "Woher kennst du diese
Angélique?"
"Aus Paris."
"Aha. Und wann hast du sie getroffen?"
"Warum?"
"Chris meinte, sie wäre schon ziemlich alt und
entsprechend stark. Ich will wissen wie stark."
"Sie ist auf jeden Fall stärker als du."
"Hm." machte Anshara. "Das ist frustrierend,
daß ich so schwach bin. Ich wäre gerne stärker..."
Jean sah sich schon wieder suchend nach Chris und Angel um.
"Was findest du nur an der?" wollte Anshara wissen.
"Sie ist schön."
"Bin ich das nicht?"
"Doch", gab Jean zu.
"Und was hat die, was ich nicht habe?"
"Klasse."
"Graaa!" machte sie erbost. "Du würdest doch
'Klasse' nicht mal erkennen, wenn sie dir ins Gesicht springen
würde!" Sie warf ihm einen tödlichen Blick zu. Aber was
sollte man von so einem unhobelten und ignoranten Lümmel auch
erwarten?
"Du mußt dich ja nicht mit mir abgeben."
"Das hast du nicht ganz unrecht." Nun war sie es, die ihn
einfach stehen ließ. Anshara ging hoheitsvoll zum Buffet. Jean
sah ihr amüsiert nach. Er ließ sich doch nicht so
beleidigen... Er beschloß, eine Runde durch den Saal zu machen
und sich eine Lady zu suchen, die ihn nicht derart ärgerte.
Anshara trank zwei gut gefüllte Kelche angenehm gewürzten
Blutes aus. Von so einem hergelaufenen Heini ließ sie sich doch
nicht beleidigen! Verärgert bemerkte sie, daß Jean mit einer
hübschen blonden Dame tanzte, und so bemühte sie sich,
möglichst verloren zu wirken, damit sich jemand um sie
kümmerte. Sie hatte beschlossen, die zuständige Göttin
für sie die Auswahl treffen zu lassen, denn wenn sie sich selbst
einen Typen aussuchte, der sie wieder enttäuschte, dann war es ihre
Schuld - und im anderen Fall war die Göttin dafür
verantwortlich. Zu ihrer Frustration wurde sie im allgemeinen Trubel
leider übersehen. Nur Jean beobachtete sie unbemerkt und war
besorgt, als er sah, wie sie einen Krug nach dem anderen durchprobierte.
Gleich war sie wieder betrunken, und was würde dann geschehen?
Zum Glück nahm er nicht wahr, daß Anshara immer nur ein
Tröpfchen in ihren silbernen Kelch goß und daran nippte;
schließlich hatte sie nicht vor, noch einmal die Kontrolle
über sich verlieren.
Als er das 15. Glas zählte und erblickte, wie sie
herzzereißend in die Runde spähte, eilte er sorgenvoll zu ihr
hin.
"Meinst du nicht, du trinkst zuviel?"
"Was kümmert es dich?" deklamierte sie leidend.
"Du findest mich ja nicht der Beachtung wert."
"Das habe ich nie gesagt."
"Und warum hast du mich dann so grausam beleidigt und bis ins
Innerste verletzt, indem du mich einfach stehen ließest wie ein...
ein... was-weiß-ich?" Sie schniefte.
"Weil du mich wie dein Eigentum behandelt hast."
"Du solltest dich eher geschmeichelt fühlen, daß ich
dich erwählt habe!"
"Das gefällt mir aber nicht. Ich bin weder dein Sklave
noch sonst etwas in der Richtung."
"Habe ich das je behauptet?" Sie guckte ihn verwundert an.
"Du tust so, als könntest du permanent über mich
verfügen."
"Ist mir gar nicht aufgefallen. - War es denn so
schlimm?"
"Ich will tun, was ich möchte", maulte er.
"Kannst du doch auch. Naja, so lange du dir nicht irgendwelche
anderen Gespielinnen suchst."
"Warum denn nicht?"
"Weil mich das irritiert." Anshara guckte gen Boden.
"Naja, vielleicht bin ich ja doch ein klitzekleines bißchen
eifersüchtig..."
"Wie kommt das?" wollte Jean wissen.
"Hm. Du hast doch auch so komisch geguckt, nur weil ich mit
Chris getanzt habe."
Jean überging das lieber und beschloß, ein wenig
zerknirscht zu gucken. Immerhin war er ziemlich gemein zu ihr gewesen.
"Und was jetzt?" fragte er. "Vertragen wir uns
wieder?"
Anshara schaute ihn prüfend an.
"Nur wenn du zurücknimmst, daß ich keine Klasse
habe." Dies hatte sie ziemlich in ihrer Eitelkeit getroffen.
"Na gut, ich nehme es zurück", sprang er über
seinen Schatten.
"Gut. Dann mag ich mich wieder mit dir vertragen",
erklärte sie hoheitsvoll.
"Fein."
"Und was unternehmen wir nun?"
"Ich wollte eigentlich noch einige Tänze
absolvieren."
"Doch wohl hoffentlich mit mir?" Sie sah ihn kokett an.
"Ich habe doch schon mit dir getanzt."
"Ooooch Jean! Du kannst das so gut."
"Findest du? Ich halte mich eher für
mittelmäßig."
"Mir gefällt es."
"Dann tanze ich noch mal mit dir", eröffnete er
großzügig.
"Ts", machte Anshara und schüttelte den Kopf, ehe sie
ihm die Hände reichte. Jean führte sie zur Tanzfläche
und gewährte ihr ein paar Tänze, mehr als er ursprünglich
vorgehabt hatte.
"Jetzt habe ich aber genug", meinte er nach einer Weile.
"Stimmt. Die Tanzerei hat mich ziemlich durstig gemacht. Ich
könnte etwas zu trinken gebrauchen."
"Ts, mir scheint du bist eine ziemliche Säuferin."
"Naja, wo es hier so leckeres Blut gibt. Das ist absolut kein
Vergleich zu den Typen, die ich bislang getrunken habe", fand sie.
"Man beißt eben nicht überall hinein. - Ah! Gleich
beginnt das Feuerwerk", stellte Jean fest, als immer mehr der
Gäste nach draußen auf die Terrasse strömten.
"Ist es schon so spät?" fragte Anshara erstaunt.
Irgendwie war die Zeit wie im Fluge vergangen.
"Ja. Sollen wir hinausgehen? Von der Terrasse können wir
es am besten sehen."
"Oh ja! Sie hängte sich bei ihm ein, und sie flanierten
im Strom der anderen Gäste zur Terrasse. Erstaunlicherweise war
der Himmel heute sternenklar, und die Luft klirrte vor Kälte. Der
Garten des Palastes war völlig finster; man konnte nicht viel mehr
als Schatten erkennen.
Jean setzte sich auf das Geländer der Terrasse, während
Anshara sicherheitshalber stehen blieb.
"Noch zehn Minuten", erklärte er.
"Ich bin schon höchst gespannt", meinte Anshara und
betrachtete den Himmel. "Oh! Eine Sternschnuppe!"
"Wo?"
"Da!" Sie deutete in die ungefähre Richtung, aber da
war der fallende Stern schon erloschen.
"Seufz", machte Jean. "Irgendwie ist heute eine
komische Nacht."
"Hm. Ist irgend etwas anders als sonst?"
"Mir ist einfach anders." Er beobachtete den
Himmel. Noch fünf Minuten bis Mitternacht... Es fiel eine weitere
Sternschnuppe, und diesmal erspähte er sie, wie sie ein Stück
den Himmel entlang huschte, um kurz darauf spurlos zu vergehen. Jean
seufzte. Er fand Sternschnuppen hübsch, aber leider waren sie so
vergänglich.
"Hast du dir etwas gewünscht?" erkundigte Anshara
sich.
"Ja", erwiderte er. "Das gehört doch dazu. -
Gleich müßte das Feuerwerk anfangen."
"Stimmt." In der Ferne schossen bereits einige
Übereifrige Raketen ab.
"Ich hoffe, es ist des Wartens wert." Jean setzte sich
schon einmal in eine günstige Position, um ja nichts zu verpassen.
Anshara huschte rasch noch einmal hinein, um zwei Pokale
eisgekühlten Blutes zu holen, von denen sie einen Jean
überreichte.
"Danke." Er spielte mit dem Glas herum und stieß mit
ihr an, als die Glocken aller Kirchen Mitternacht verkündeten.
Anshara leerte das Glas in einem Zug, um möglichst wenig vom
Feuerwerk zu verpassen, das sie andächtig betrachtete. Jean nippte
nur von seinem Kelch und stellte ihn auf das Geländer. Er war von
den farbenprächtigen Raketen, die den Himmel erhellten, ebenfalls
völlig fasziniert.
Anshara war völlig in den Farben versunken, auch wenn sie es
ärgerlich fand, daß die bunten Sternchen nur so kurze Zeit
aufleuchteten. Wie sollte man sie da in aller Ruhe bewundern? Jean
erwachte erst wieder aus seinem ehrfürchtigen Staunen, als die
letzte Rakete schon fünf Minuten vergangen war. Anshara trauerte
den bunten Bildern am Himmel nach. Jetzt dauerte es wieder so lange,
bis das nächste Feuerwerk fällig war. Vielleicht sollte man
einmal eins außer der Reihe als Kunstwerk veranstalten.
"Seufz", machte Jean. Solch vergängliche Kunstwerke
waren frustrierend.
"Stimmt, es war viel zu kurz", bedauerte Anshara.
"Was machen wir nun?" wollte er wissen. "Ich bin
ziemlich niedergeschlagen."
"Gehen wir hinein. - Ich hätte auch noch Stunden zusehen
können", meinte sie.
"Ich auch." Jean rutschte vom Geländer und nahm sein
Glas wieder auf. Er betrachtete es gedankenverloren, als er hinter
Anshara herlief, die ins Haus zurückkehrte. Sie stellte ihren
Pokal irgendwo ab; er würde schon von irgendeinem Dienstboten
eingesammelt und gespült werden.
"Ich habe keine Lust mehr zu bleiben", erklärte Jean.
"Du brauchst wegen mir aber noch nicht zu gehen."
"Ach weißt du, das Feuerwerk ist vorbei, ich habe genug
getrunken - also, was soll ich jetzt noch hier?"
"Gut."
Anshara verabschiedete sich rasch von Chris und bedankte sich noch
einmal für die Einladung, ehe sie in die Runde winkte und mit Jean
den Saal verließ. Jean hatte einen Ghul angewiesen, ein Taxi zu
ordern, und sie brauchten nur kurz zu warten, bis es erschien.
Die Fahrt verlief schweigend, da beide noch ziemlich in Gedanken
versunken waren.
* * *
"Seufz", machte Anshara, als sie vor dem Hotel standen und
das Taxi abgefahren war. "Irgendwie geht die Zeit immer so schnell
um. Kaum hat man sich versehen, ist ein Jahrzehnt um..."
"Stimmt."
"Irgendwie finde ich das beunruhigend."
"Wir werden doch nicht älter."
"Naja, trotzdem. Mir kommt es so vor, als ob alles um einen
herum zerfällt", erklärte sie.
"Ich lebe wohl noch nicht lange genug, um sowas beurteilen zu
können."
"Du mußt dir nur Ägypten ansehen! Das Land ist
ruiniert!"
"Naja", meinte Jean. "Dazu kann ich nicht viel
sagen."
"Sieh es dir doch nur an - sogar die großen Pyramiden
bröckeln!"
"Ich habe sie nie gesehen."
"Oh, Jean, ich muß sie dir unbedingt mal zeigen.
Auch wenn sie schon lange nicht mehr so toll aussehen wie
früher..."
"Wir haben ja Zeit. Sehr viel Zeit", sagte er
vergnügt.
"Oh ja! Alle Zeit der Welt..."
"Das auch."
"Es gibt so viele interessante Sachen, die wir mal besichtigen
können. Zum Beispiel möchte ich zu gerne mal den schiefen
Turm von Pisa sehen, die Kanäle von Venedig, die sixtinische
Kapelle in Rom..."
"Das wirst du schon noch alles zu sehen bekommen",
versicherte Jean ihr lächelnd.
"Das wäre wundervoll. Und dann ist da noch dein
Frankreich - Notre Dame, der Eiffelturm..."
"Da das alles in Paris liegt, wirst du es vermutlich recht bald
sehen."
"Toll! Zuerst den Louvre, dann die Sorbonne... Und den Arc de
Triomphe!"
"Ich werde dir schon alles zeigen", versprach er.
"Prima!" Sie strahlte ihn an.
"Ich glaube, wir sollten langsam hineingehen."
"Oh, stimmt. Ich werde froh sein, wenn ich gleich den ganzen
Schmuck loswerden kann. Die Menge ist sogar für mich zuviel."
"Hm, laß mal sehen." Jean hob Anshara hoch.
"Du hast recht."
Bei der natürlich unbesetzten Rezeption vollführte Jean
das übliche Ritual des Angelns nach den Schlüsseln, ehe sie
nach oben gingen. Im Gang vor den Zimmern blieben sie stehen.
"Was sollen wir heute noch anstellen?" erkundigte er sich.
"Auf eine andere Party habe ich eigentlich keine Lust, und in den
Clubs ist überall Fête..."
"Das ist ein Problem", stimmte sie zu. "Was
können wir denn heute noch anstellen? Hm." Sie
musterte ihn nachdenklich. "Kommst du noch ein bißchen zu
mir?"
"Hm", machte nun auch Jean und maß Anshara mit einem
nachdenklichen Blick.
"Hilfst du mir, mein Kostüm abzulegen?"
"Warum nicht."
"Prima."
Sie gingen in Ansharas Zimmer, und Jean musterte sie von oben bis
unten.
"So, und was soll nun abgelegt werden?" fragte er.
"Alles, was golden ist." Sie stellte sich in Pose.
"Aha. - Euer Wunsch ist mir Befehl." Er begann, alles
goldene von ihr zu entfernen, und sie trug nicht wenig davon.
Schließlich stand sie gänzlich im Freien. Jean betrachtete
ihr Make-Up und den Nagellack.
"Den Rest Gold kriege ich aber so nicht ab." Er kniete vor
ihr auf dem Boden nieder und sah zu ihr hoch.
"Und was befiehlst du jetzt?"
"Hm, was befehle ich?" Sie betrachtete ihn amüsiert.
"Erhebe dich vom Boden, mein Hübscher und laß mich
sehen, was unter deiner finsteren Verpackung steckt."
"Wie Ihr wünscht", meinte Jean und stand auf,
woraufhin Anshara ihn methodisch entpackte. Ein Haufen schwarzer
Kleidungsstücke bildete sich neben dem goldenen.
"Ich muß mich korrigieren", stellte Anshara nach
eingehender Betrachtung fest. "Du bist nicht nur hübsch,
sondern eher wunderschön."
"Selbstverständlich."
Sie umkreiste ihn andächtig.
"Rundum perfekt!"
"Wie es sich gehört. - Und jetzt?"
"Laß mich dich anknabbern!" Sie knabberte
zunächst vorsichtig an seinem Beinen und Armen herum, bis sie sich
seinem Hals näherte.
"Da kommst du nie 'ran", kommentierte er belustigt.
"Stimmt", seufzte sie. Selbst wenn sie sich auf die
Zehenspitzen stellte, reichte das nicht ganz. Jean sah auf sie
herunter.
"Also?"
"Du bist zu groß", schmollte sie. "Leg dich
hin!" Sie zog ihn kurzerhand zu ihrem Bett.
"Gut."
Anshara krabbelte zu ihm und begann, ihn allüberall
anzuknabbern. Jean betrachtete sie; Anshara war mit ziemlicher
Begeisterung bei der Sache, und das ließ er sich all zu gerne
gefallen.
"Was hast du mit mir vor?"
"Ich werde dich mit Haut und Haaren verspeisen."
"Meinst du, ich bin bekömmlich?"
"Das muß ich erst ausprobieren. - Wenn du magst kannst
du ja auch mal meine Geschmacksrichtung erkunden." Sie hielt ihm
ihren Arm an, und Jean knabberte, ziemlich vorsichtig.
"Schmeckt nach Farbe", fand er.
"Püh. Du kannst mich ja gerne abschrubben."
"Ich liege gerade so schön..."
"Ich bin nicht ganz eingefärbt." Sie hielt ihm ihre
Schulter hin.
"Stimmt. Das schmeckt nicht nach Farbe. Hast du noch andere
Geschmackrichtungen?"
"Ich könnte dir noch Parfüm und Badeöl
anbieten."
"Ich glaube, ich habe nur eine Geschmacksrichtung."
"Macht nichts." Sie arbeitete sich weiter an ihm entlang.
Jean räkelte sich genüßlich, das gefiel ihm immer
besser. Anshara hingegen mußte sich immer mehr zusammennehmen,
nicht doch einmal stärker zuzubeißen.
Jean sah sie mit einem merkwürdigen Blick an. Er war
anscheinend ziemlich weit weg mit seinen Gedanken und gab zufriedene
Geräusche von sich. Anshara gluckste; das hörte sich putzig
an. Sie widmete sich ihm geraume Zeit weiter.
"Das kannst du ruhig öfter machen", fand er
schließlich.
"Gerne, so lange du dich mir so willig hingibst..."
"Ich bin meist ziemlich willig", bemerkte Jean.
"Ich merke das schon."
"Allerdings darfst du keine Aktionen von mir erwarten."
"Warum nicht? Ich hätte nichts dagegen, auch mal
verwöhnt zu werden."
"Solange du nicht von mir abläßt, keine Chance. Ist
sowas wie ein Reflex."
"Nun gut..." Sie gab ihn frei und legte sich besonders
präsentabel zurecht. Jean drehte sich auf den Bauch und
betrachtete sie erst einmal.
"Wo fange ich an?"
"Wo immer du willst..."
"Gut." Er biß ihr leicht in den Zeh, und sie
quietschte auf.
"Das kitzelt", kicherte sie. Jean nahm sich ihre Finger
vor. Anshara gluckste. Das war lustig. Als er nun ihre Hand
bearbeitete, begann sie zu schnurren.
"Eine Miezekatze!" fand er.
"Genau." Sie maunzte zufrieden.
"Du bist echt süß", erklärte er und sah
ihr aus kürzester Entfernung in die Augen.
"Das beruhigt mich." Sie erwiderte seinen Blick
"Du hast goldene Punkte in den Augen", stellte er
fasziniert fest.
"Klar. Damit mein Goldschmuck besser zu mir paßt."
"Stimmt." Jean gab ihr einen Kuß. Das fand sie
besonders anregend, und sie schlang die Arme um ihn. Alles ihrs!
Er guckte belustigt, ließ aber nicht von ihr ab, wobei Anshara
es überaus praktisch fand, daß sie keine Luft mehr holen
mußte. Jean gingen ähnliche Gedanken durch den Kopf.
Schließlich gab er sie doch wieder frei und flüsterte ihr
einige Dinge auf Französisch ins Ohr.
"Hm? Was willst du mir mitteilen?" erkundigte sie sich.
"War nicht so wichtig", wehrte er ab.
"Du mußt mir dieses dumme Französisch
beibringen", seufzte sie. "Am besten sofort."
"Aber dann verstehst du meine spontanen
Äußerungen."
"Genau. Aber ich dachte, wenn ich doch mit nach Paris will,
sollte ich es auf jeden Fall können."
"Na schön."
"Super. Was heißt z.B. danke?"
"Merci."
"Ah! - Merrsee", sagte Anshara mit ziemlich
amerikanischem Akzent.
"Furchtbar." Jean verzog das Gesicht. "Deine
Aussprache ist schrecklich."
"Dann müssen wir eben üben."
"Zweifellos." Er machte es ihr noch einmal vor, und sie
sprach ihm folgsam nach.
"Wie lange werde ich wohl brauchen, bis ich es richtig
kann?"
"So ein- bis zweihundert Jahre."
"Waaaaas?"
"Was dachtest du?"
"Englisch habe ich in knapp fünf Jahren gelernt."
"Naja, früher oder später wirst du wohl auch des
Französischen mächtig sein. Allerdings wird vermutlich jeder
merken, daß du eine Ausländerin bist."
"Naja, hauptsache, ich verstehe es und kann mich darin
verständigen. Hm. Aber Deutsch muß ich auf jeden Fall auch
noch lernen", beschloß sie.
"Eigentlich hatte ich nicht vor, noch lange hier zu
bleiben."
"Aber man kann ja nie wissen", fand sie. "Vielleicht
erwische ich ja irgendwann wieder einmal ein falsches Flugzeug..."
"Ich nehme dich an die Leine", wurde sie von Jean
beruhigt. "Ich verlaufe mich selten. - Wann fliegen wir?"
"Das ist mir ziemlich egal. Ich bin ohnehin nur
irrtümlich hier. - Meine einzige Sorge gilt meinen Sarkophagen und
den anderen Sachen, die wir noch aus meiner Höhle in Karnak holen
müssen."
"Darum werde ich mich schon kümmern. - Was hältst du
davon, wenn wir jetzt rasch packen, uns danach in die Falle hauen und am
Abend losfliegen?"
"Gut." Anshara seufzte. "Wobei mir einfällt,
daß ich gar keine Koffer besitze - nur die
Einkaufstüten..."
"Hm, dann packen wir alles in meine Koffer. Ich habe mehr als
ich brauche, da ich mir hier noch einen ganzen Satz gekauft habe."
"Das ist ja praktisch." Sie zog ihn erneut an sich und
küßte ihn zum wiederholten Male. Das machte wirklich
Spaß.
"Ich glaube, wir sollten langsam packen."
"Gut." Sie erhob sich von ihrem Lager und zog sich ein
einfaches Kleid über, ehe sie begann, ihre Kleidungsstücke
zusammenzuraffen, um sie in Jeans Zimmer hinüberzuschaffen. Auch
er zog sich rasch an, bevor er ihr dabei half.
Diesmal gingen sie ein wenig früher ins Bett, da sie noch eine
anstrengende Nacht vor sich hatten.
* * *
Am Abend des 1. Januar 1982 hatte Jean zwei Plätze für
einen Last-Minute-Flug von Frankfurt nach Paris gebucht.
Die beiden bezahlten den noch ausstehenden Betrag für das Hotel
und fuhren in einem Großraumtaxi mit den ganzen Koffern zum
Flughafen Frankfurt/Main, wo sie zunächst das Gepäck aufgaben.
Im Flughafen hielt Jean Anshara wohlweislich an der Hand, damit sie
nicht in einen falschen Flieger steigen konnte.
"Ich bin ja schon so gespannt auf Paris", rief sie aus.
"Ich hoffe, es gefällt dir."
"Sobald ich beginne, die Leute dort zu verstehen,
bestimmt."
"Die meisten können auch Englisch, obwohl der Prinz von
Paris in der Regel darauf besteht, Französisch zu sprechen. Er
sagt immer C'est la langue suprême - pourquoi il me faut que
je parle en une autre?"
"Und das heißt?"
"Französisch ist die Sprache, warum sollte ich
eine andere verwenden?"
"Oh."
"Nun komm, unser Flug wird gerade aufgerufen!"
Sie gingen durch die Kontrollen in die Air France Maschine, wo sie
von einer Stewardess zu ihren Plätzen gewiesen wurden.
"So, bald sind wir in Paris", verkündete Jean.
Ce conte sera continué à Les
premières nuits à Paris
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