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Fünf Nächte im Unleben eines Kainskindes

(c) 1995 by Shavana & Stayka

Kapitel 4: Umzugsaktionen

"Und was hast du nun vor?" wollte Jean von Anshara wissen.

"Also, ich bin vorgestellt worden, das wäre also erledigt. - Wie wäre es, wenn du mir das mit dem Klauen beibringst?"

"Das dauert aber länger."

"Macht nichts. So schnell werde ich wohl nicht eingehen."

"Wahrscheinlich nicht", meinte Jean und sah sich suchend um, ehe er eine fatalistische Miene aufsetzte. "Wir werden wohl ein Stück laufen müssen, denn wie du vermutlich auch schon bemerkt haben wirst, gibt es hier weit und breit kein Taxi."

Anshara seufzte tragisch und sah zu ihren zarten, goldenen Sandalen.

"Ich hätte mir doch andere Schuhe anziehen sollen."

"Stimmt", kommentierte Jean belustigt.

"Ich werde es überleben", hoffte sie.

"Wie man es nimmt." Jean grinste schief, was Anshara zum Kichern brachte.

"Irgendwie fühle ich mich ziemlich lebendig dafür, daß ich untot bin."

"Das ist eine Frage der Definition", bemerkte er. "Kann man Untote als lebendig bezeichnen oder nicht?"

"Tot sind wir eigentlich nicht, sonst wären wir doch nicht untot." Übermütig hängt sie sich bei Jean ein. "So, und jetzt laß uns zurückwandern. - Hm, vielleicht sollte ich mir doch lieber ein anderes Hotel suchen. Das mit der Badewanne ist wirklich nicht ideal."

"Dem kann ich nur zustimmen." Er hatte nicht gerade bequem geschlafen.

"Wüßtest du vielleicht ein besser geeignetes Hotel? Ich brauche auf jeden Fall einen großen Ankleidespiegel."

"Hm", machte Jean. "Ich kenne nicht viele Hotels. Wir hätten Chris fragen sollen."

"Ich habe aber keine Lust, nochmal zurückzugehen."

"Ich kann ja nachher mal anrufen."

"Das ist eine gute Idee. - Ah, Telefone sind eine geniale Erfindung", verkündete Anshara begeistert. "Wir mußten früher immer für alles Boten losschicken."

"Stimmt."

"Also, wohin gehen wir zuerst? Zu mir, zu dir oder aus?"

"Was immer du willst."

"Sag mal, muß ich mich umziehen, wenn wir ausgehen wollen?"

"Nein, warum?"

"Weil ich auf jeden Fall perfekt aussehen will." Sie zog einen Taschenspiegel heraus, um ihr Make-Up zu überprüfen.

"Es ist alles in Ordnung", beruhigte Jean sie. "Du siehst doch gut aus."

Widerstrebend packte sie den Spiegel wieder weg. Jean sah die Straße entlang. Es war noch ein ganzes Stück bis zum Taxistand, und Anshara seufzte.

"Was ist los?"

"Das!" Sie deutete auf den schmutzigen Schnee- und Streusalzmatsch auf dem Bürgersteig. "Ich werde mir den Nagellack auf den Zehennägeln ruinieren."

"Was für eine Katastrophe", stellte Jean amüsiert fest.

"Eben", sagte Anshara ernsthaft besorgt.

"Wer trägt hier auch Sandalen?"

"Na, ich. Was für Schuhwerk sollte ich sonst zu diesem Gewand tragen?"

Jean schüttelte den Kopf. Frauen...

"Wie weit ist es denn noch?"

"Nur noch ein Stückchen", erwiderte er. "Nun komm." Er stapfte weiter durch den Schneematsch, und Anshara schlitterte hinter ihm her. Auf dem Weg schwieg er und wickelte sich enger in seine Jacke. Warum mußte es jetzt auch noch anfangen zu schneien? Seine Begleiterin teilte diese Meinung. In Ägypten war es meist trocken und warm... Ihrer beider Kleidung weichte langsam aber sicher von dem Schneeregen durch, und sie fühlten sich zunehmend unbehaglich.

"Ich glaube, wir sollten das Umziehen dem Ausgehen vorziehen", kommentierte Anshara. "Ich bin total naß."

"Glaubst du, ich bin trockener?" Jean hüpfte über eine Pfütze, und Anshara trippelte an deren Rand vorbei. Die Sohlen ihrer Sandalen waren viel zu glatt für irgendwelche Eskapaden.

Kurze Zeit später waren sie endlich am Taxistand angekommen und beidesamt klatschnaß. Sie ließen sich zu Jeans Absteige fahren.

Dort angekommen, angelte Jean nach dem Schlüssel, da der Portier natürlich wie üblich nicht anwesend war und stürmte die Treppe hinauf. Anshara wetzte hinterher, wobei sie ihr triefendes Kleid hoch hielt, um nicht darüber zu stolpern.

In seinem Zimmer fandete Jean erst einmal nach Handtüchern, was durch die Tatsache erschwert wurde, daß diese ebenso schwarz waren wie seine restlichen Sachen. Endlich hatte er einige entdeckt und warf Anshara ein Handtuch und ein Badetuch zu. Sie sah aus wie ein begossener Pudel und rubbelte erst einmal an ihren Haaren herum, ehe sie diese einwickelte. Dann warf sie ihre Schuhe von sich und stieg nach kurzem Überlegen (eigentlich war es ja unschicklich, aber andererseits war es so eklig naß) aus dem Kleid, bevor sie sich in das Badetuch wickelte.

Auch Jean versuchte als erstes, seine Haare zu trocken, da ihm das Wasser mittlerweile in stetigen Strom in den Rücken lief. Dann befreite auch er sich von den nassen Kleidungsstücken und suchte nach etwas Trockenem.

"Äh, Jean, hast du eventuell auch etwas für mich?" fragte Anshara. "Mein Kleid ist total hinüber."

"Ich habe nur meine Sachen, aber du kannst dich gerne bedienen, wenn du willst."

"Oh, danke!" Sie wickelte sich in ein schwarzes Rüschenhemd, das ihr fast bis zu den Knien reichte, ehe sie in eine Hoste stieg, deren Beine sie mehrfach hochkrempeln mußte. Auch die Ärmel des Hemdes waren viel zu lang für sie.

Jean kleidete sich ebenfalls an, ehe er sich seinen Haaren widmete. Zu Ansharas Outfit sagte er lieber nichts, obwohl sie in seinen Sachen irgendwie putzig aussah.

"So kann ich wohl nicht rausgehen?" fragte sie, und Jean konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.

"Nur wenn dich keiner sieht."

"Was soll ich denn machen? Mein Kleid ist naß und schmutzig."

"Du kannst es waschen und trocknen", schlug Jean vor. "Im Badezimmer habe ich so ein Waschzeug für unterwegs."

"Nun gut. Ich werde es versuchen."

Sie verschwand mit dem Kleid im Bad, während Jean begann, seine Haare zu striegeln. Das tat er mit Hingabe. Er summte vor sich hin und wartete auf Anshara. Dabei fischte er den Zettel aus der Tasche, den er im Herrenhaus erhalten hatte. Aha, die Liste mit den speziellen Öffnungszeiten der Museen etc. Er legte das Papier zum Trocknen auf den Tisch.

Schließlich kam sie aus dem Badezimmer.

"Naja, ich habe es halbwegs hingekriegt. Es hängt jetzt zum Trocknen da drin. Aber morgen muß es unbedingt in die Reinigung."

"Kann ich mir denken."

"Wie spät ist es eigentlich?"

"01:37 Uhr."

"Seufz!" Anshara überlegte kurz. Das hieß, es war schon der 29. Dezember... "Was sollen wir nur machen - so kann ich nicht hinaus", bemerkte sie. Die Sachen schlackerten ziemlich an ihr herum.

"Ich bin eben ein bißchen größer."

"Ein bißchen", seufzte Anshara amüsiert. Sie reichte ihm etwa bis zur Brust.

Jean setzte sich in den Kleiderhaufen, der das Bett bedeckte und begann wieder, seine Haare zu striegeln. Dabei konnte er irgendwie gut nachdenken.

"Oh, laß mich mal", sagte Anshara, ging zu ihm hin und deutete auf die silberne Bürste. Er drückte sie ihr in die Hand, woraufhin Anshara begann, seine Haare zu bearbeiten. Die waren so schön lang...

Dies ließ sich Jean nur zu gerne gefallen. Er wurde gerne verwöhnt.

"Sobald ich einen Friseur finde, der das macht, lasse ich mir lange Haare anschweißen", beschloß Anshara. Jean lachte.

"Ich wünschte mir manchmal, ich hätte kürzere..."

"Sollen wir tauschen?" Sie hielt inne. Jean sah sie über die Schulter an.

"Nein, danke. - Na, schon fertig?"

"Oh, nein, natürlich nicht." Sie nahm ihre Tätigkeit wieder auf. "Sag mal, was hältst du von einer Frisur mit Zöpfen rechts und links und offenen Haaren hinten?"

"Ich bin doch kein Mädchen!"

"Ich habe das in einem Geschichtsbuch gesehen, und es wirkte verwegen", sagte sie. Jean sah sie mißtrauisch an.

"Ich mach mal", beschloß sie und bearbeitete ihn. Jean ließ sich das nicht allzu begeistert gefallen. "Das sieht süß aus", erklärte sie schließlich und hielt ihm einen Spiegel vor die Nase.

"Kann ich nicht finden", maulte er.

"Na gut, dann mache ich die Zöpfe wieder los", seufzte sie und bürstete seine Haare erneut durch. Das gefiel Jean erheblich besser, was er ihr auch mitteilte. "Prima!" strahlte sie. Nachdem er sich eine bequemere Sitzposition eingenommen hatte, ließ er Anshara machen.

Eine Stunde später...

"Hast du immer noch nicht genug?" fragte er belustigt.

"Naja", machte sie ein wenig verlegen und beschloß, nun doch einmal ein Päuslein einzulegen.

"Von mir aus kannst du gerne weitermachen..."

"Könnte es sein, daß du genußsüchtig bist?"

"Nur ein bißchen", gab er amüsiert zu.

Anshara kicherte und legte die Bürste beiseite.

"Weißt du", begann sie plötzlich, "ich frage mich die ganze Zeit, wo ich mir am besten ein Domizil zulegen könnte, das auch tagsüber praktisch ist..."

"Wir sollten doch Chris fragen", entgegnete Jean.

"Ich meine nicht ein Hotel, sondern einen festen Wohnsitz. Ich habe mich nur noch nicht entschieden, wo..."

"Am besten da, wo du dich eben auf Dauer niederlassen willst."

"Das ist doch das Problem! Amerika gefällt mir nicht. Ägypten nicht mehr... - Ich meine, früher war es eine Hochkultur, die ihresgleichen suchte, aber jetzt? Hm. - Welches Land gefällt dir denn am besten? Frankreich? Aber Italien soll auch ganz schön sein..."

"Ich bin Franzose", stellte Jean fest. "Doch Italien finde ich auch ganz nett."

"Die haben da wunderschöne Kirchen", schwärmte Anshara. "Das habe ich im Fernsehen gesehen."

"Das stimmt", fand er. "Die sind schön."

"Und der Schiefe Turm von Pisa steht in Italien."

"Genau."

"Jean, was denkst du, wo wohl das meiste in Sachen Action, Abenteuer und Kunst los ist?"

"Italien dürfte aufregend sein, aber ich ziehe Paris vor."

"Gibt es da Häuser zu vernünftigen Preisen?"

"Paris ist nicht gerade billig."

"Seufz, dann solltest du mir beibringen, wie man am besten eine Bank ausraubt", erklärte sie, und Jean lachte.

"Ich bin jedenfalls froh, daß ich das Haus schon vor einiger Zeit gekauft habe. Vor allem, weil mir auch die modernen Häuser irgendwie nicht gefallen." Er liebte sein altes Haus, das versteckt in einem wundervollen Garten lag.

"Hm. Und wie soll ich eine vernünftige Bleibe finden?"

"Suchen."

"Du bist ein Herzchen", stellte Anshara fest.

"Meinst du?" fragte Jean amüsiert. "Gut, daß ich das weiß."

Anshara musterte ihn nachdenklich.

"Weißt du, ich werde am besten bei dir einziehen", verkündete sie. "Zumindest, bis ich ein eigenes Haus habe."

"Darauf habe ich irgendwie schon gewartet."

"Du hast doch bestimmt irgendwo ein Eckchen für zwei Sarkophage..."

"In der Garage oder im Stall bestimmt."

"Püh", schmollte Anshara.

"Was erwartest du? Daß ich so ein Ding in meinem schönen Haus dulde?"

"Na klar! Immerhin sind ägyptische Sarkophage künstlerisch wertvoll."

"Sie passen aber nicht zu meinen Möbeln."

"Alle möglichen Museen würden sich darum reißen, sie zu besitzen!"

"Ich habe kein Museum."

"Aber Jean...!" Sie guckte ihn wieder mal höchst tragisch an. "Könntest du nicht ein Ägyptisches Zimmer einrichten?"

"Hm. Schwierig. Ich habe doch so wenig Platz", meinte er.

"So wenig? Ist es nicht ein ganzes Haus, das du dein eigen nennst?"

"Aber es hat nur zwanzig Zimmer."

"Wofür brauchst du die alle?"

"Für mich."

"Und du hast wirklich kein Plätzchen für mich?" Sie warf ihm wieder einen ihrer grandiosen herzzerreißenden Blicke zu.

"Naja, ich könnte mich ein bißchen einschränken", räumte er ein. "Aber nur wenn du weiter so nett zu mir bist."

"Das läßt sich einrichten." Prompt stürzte sich Anshara erneut mit der Bürste auf ihn. Immerhin war Jean so hübsch, daß sie ihn sowieso nicht aus den Fingern lassen wollte. Jean betrachtete sie über die Schulter hinweg. Er war fasziniert, daß sie auch in seinen schwarzen Sachen in keinster Weise düster wirkte. Sie schien irgendwie von ihnen heraus zu leuchten, obwohl dieser Eindruck natürlich auch von dem ganzen goldenen Make-Up herrühren konnte. Überhaupt war auch ihre Hautfarbe eher goldschimmernd als bleich, was vermutlich an der Tatsache lag, daß sie wohl von vorneherein eine etwas dunklere Hautfarbe gehabt hatte.

"Das könnte ich mir stundenlang gefallen lassen", äußerte er zufrieden.

"Du bist genußsüchtig."

"Ich glaube nicht, daß ich das leugnen kann."

"Hm, ich muß mir jetzt nur etwas einfallen lassen, wie ich die Sarkophage nach Paris kriege."

"Frachtdienst", schlug Jean vor und streckte sich.

"Das sind ein paar Tonnen..."

"Ich glaube, dann sollte ich dir besser ein Zimmer im Keller einrichten", überlegte er. Sonst brächen nachher irgendwelche Zimmerdecken und -böden zusammen.

"Gut. Also eine Kellerwohnung. Ist akzeptiert", erklärte sie und schlang die Arme um Jean. "Du bist ein Schatz", fand sie.

"Das kannst du ruhig öfter machen", kommentierte er vergnügt.

"Oh. Ich dachte, du magst keine 'Klammeraffen'?!"

"Bei offiziellen Anlässen nicht. Und Camille ist in keinster Weise mein Typ. Sie ist ziemlich berechnend."

"Hm. Was will sie denn von dir?"

"Wenn ich das so genau wüßte", seufzte Jean. "Sie versucht auf jeden Fall, mir andauernd ihren Willen aufzuzwingen."

"Ich dachte, Leute aus verschiedenen Clans haben nicht sonderlich viel miteinander zu tun - oder habe ich das nicht richtig verstanden?"

"Das heißt nur, sie gehören nicht einer Blutlinie an. Daß sie nichts miteinander zu tun haben, würde ich nicht unbedingt sagen."

"Aha." Anshara runzelte nachdenklich die Stirn. Es war zu dumm, daß ihr Jean nicht irgendein Buch empfehlen könnte, in dem das alles mit den Kainskindern schön übersichtlich und verständlich beschrieben wurde. "Wie läuft das denn überhaupt mit Bekanntschaften unter Mitgliedern unterschiedlicher Clans? Ich meine, können die sich zum Beispiel ineinander vergucken und so?"

"Es soll schon vorgekommen sein, aber gesehen habe ich das noch nie. Warum fragst du?"

"Weil ich mich in diesen ganzen Sachen, die zum Vamp- äh, Kainskindsein dazugehören, nicht auskenne."

"Wer kennt sich da schon aus", sinnierte Jean.

"Hm. Da muß es doch irgendwelche Leute geben", beharrte Anshara. "Ich meine, wenn die Erzeuger, wie du erwähntest, ihren Kindern allerlei Sachen beibringen, so müssen die das doch auch mal gelernt haben und so weiter."

"Da habe ich noch nie nachgefragt", gab Jean zu.

"Oh."

Er ließ sich rücklings ins Bett fallen. "Ich interessiere mich eben nicht für so etwas."

"Ich wünschte, ich fände jemanden, den ich da ausgiebig befragen könnte", seufzte sie.

"Es gibt so viele Geschichten", meinte Jean. "Ich vermute, die Älteren wollen einfach gar nicht die Wahrheit sagen."

"Na warte, ich werde mal sehen, daß ich einen von denen erwische", drohte Anshara. "Dann werde ich ihn so lange schütteln, bis er mir alles sagt, was ich wissen will. Hm. Wo könnte ich denn einen finden?"

"Keine Ahnung. Außerdem möchtest du das gar nicht wissen. Die sind höchst gefährlich."

"Gefährlich? Warum?"

"Es ist einfach so."

Anshara zog einen Schmollmund.

"Das ist alles so unergiebig", quengelte sie.

"Ich vermute, das ist alles Absicht", meinte Jean. "Die Älteren behalten ihr Wissen lieber für sich."

"Das ist unfair", beschwerte sich Anshara.

"Natürlich", sagte Jean. "Aber es ist eben so." Er betrachtete Ansharas unzufriedenen Gesichtsausdruck, aber er konnte ja nichts dazu.

"Gibt es denn keine Lehrbücher darüber?" versuchte sie noch einen Vorstoß.

"Nein, es gibt nur, was du dir zusammenreimst."

"Das ist ja frustrierend!"

"Mir ist es ziemlich gleich", erklärte er schulterzuckend.

"Dann hast du es in dieser Hinsicht gut", stellte sie fest. Sie seufzte hingebungsvoll und beschloß, bei Gelegenheit auf eigene Faust die Fahndung nach tiefergründigem Infomaterial über die Kainskinder aufzunehmen. Aber erst mußte sie das mit dem Umzug geregelt kriegen.

"Mir reicht es, daß ich tun und lassen kann, was ich will", meinte Jean.

"Das ist ein Anfang", gab Anshara zurück. "Weißt du, ich habe schon immer nach Wissen gesucht. In meinem Sarkophag habe ich sogar noch einige der Rollen über die Magie des Djehuti, die ich dem Hohepriester entwendet habe..."

"Ich glaube nicht, daß ich damit etwas anfangen könnte."

"Nicht? Da sind einige hochinteressante magische Rituale drin. Obwohl ich zugeben muß, daß ich die noch nicht so ganz verstanden habe. Djehuti hat sich da wohl nicht immer so klar ausgedrückt."

"Ich verstehe davon selten irgendetwas. Ich meine, von Ritualen, Magie und so. Die sind mir ein Rätsel."

"Ich fand das schon immer faszinierend. Leider waren die Sachen geheim, und der Hohepriester höchst sauer, wenn er mich mit den Rollen erwischte... Ich frage mich die ganze Zeit, ob ich sowas nicht tatsächlich könnte, wenn ich es mal ausprobieren würde."

"Keine Ahnung", äußerte Jean.

"Sag mal, was war das eigentlich mit dem Blut, über das du mein Alter herausgefunden hast?"

"Naja, das ist so eine Sache, die man kann oder nicht", behauptete Jean.

"Oh, kann ich es mal versuchen?"

Jean musterte sie mißtrauisch. "Warum?"

"Naja, weil ich wissen will, ob ich es auch kann."

"Hm."

"Also?"

"Na schön." Er ritzte sich in den Arm, und Anshara testete.

"Du fühlst dich satt an", stellte sie fest.

"Bin ich auch."

"Aber sonst merke ich nichts. Vermutlich kann ich es wohl doch nicht."

"Wenn du überhaupt etwas merkst, dann geht es auch", widersprach Jean.

"Oh", machte sie verdutzt. "Hm, aber das klingt logisch."

"Jetzt versuche es mal mit deinem Blut", wies er sie an.

Sie ritzte sich mit der anderen Hand den Arm.

"Hm. Fühlt sich ...dicker an", erklärte sie in Ermangelung einer anderen Vokabel.

"Ist es ja auch."

"Faszinierend", sagte Anshara. "Wie konntest du aber so ziemlich genau sagen, zu welcher Generation ich gehöre?"

"Erfahrung, vermute ich."

"An wie vielen Leuten hast du das denn ausprobiert?"

"An einigen", sagte Jean.

"Und wie bekommst du die dazu, dir eine Blutprobe abzuliefern?"

"Ooch", lächelte er, "meist geben sie es ganz gerne her."

"Und warum?"

"Die Neugeborenen sind ziemlich neugierig, das ist bekannt. Und offenbar soll man doch etwas lernen."

"Ah. Gut. Dann muß ich auch mal bei ein paar Leuten nachfragen, ob ich das mal testen darf."

"Aber trinke ja kein Blut von einem anderen Kainskind", warnte Jean.

"Weshalb nicht?"

"Weil dir das gewaltige Probleme bringen kann. So ein Blutsband wird man schlecht los."

"Was versteht man denn unter einem Blutsband?"

"Du wirst der Sklave von demjenigen, dessen Blut du trinkst."

"Oh. Das klingt aber gar nicht gut."

"Ist es auch nicht. Meist hat man ohnehin das Blutsband zu seinem Erzeuger."

"Stimmt. Von dessen Blut hat man zwangsläufig getrunken. Obwohl - ich merke von so etwas nichts."

"Es schwächt sich mit der Zeit ab, wenn es nicht erneuert wird."

"Dann bin ich beruhigt."

"Aber deshalb sollte man um so vorsichtiger sein. Wenn du kein Blutsband hast, dann wirst du dir beim ersten Schluck eins einfangen."

"Also sollte man am besten nur Sterbliche beißen", erkannte Anshara. "Oh, bei Osiris, dann habe ich ja Glück gehabt, daß du mir ausgewichen bist!"

"Sicher."

Sie runzelte die Stirn. "Hm. Warum hast du mich denn nicht einfach von dir trinken lassen, wenn mich das zu deiner Sklavin gemacht hätte?"

"Du hättest mich auch töten können, indem du mein ganzes Blut ausgetrunken hättest. Und wenn ich dein ganzes Blut austränke, hieße das für mich, daß ich eine Generation aufsteigen würde."

"Oh! Dann muß ich ja auf dich aufpassen..."

"Keine Sorge, ich würde so etwas nicht tun."

"Sicher? Warum nicht?" Sie sah ihn groß an.

"Es ist verboten", erklärte Jean. "Und zudem ist das abartig."

"Gut." Sie guckte erleichtert.

"Siehst du."

"Du bist lieb", fand sie.

"Ich habe eben meine Prinzipien."

Anshara lächelte ihn an und wuschelte in seinen Haaren herum.

"Wozu hast du mich eigentlich stundenlang gekämmt?" fragte er amüsiert.

"Naja, damit ich dich wieder zerstrubbeln kann."

"Na gut, genehmigt."

"Danach kämme ich dich auch wieder", versprach sie. "Was sollen wir denn heute abend unternehmen?" wollte sie wissen.

"Was immer du willst."

"Was hältst du von Einkaufen? Du brauchst unbedingt ein paar Sachen in Türkis."

"Brauche ich?"

"Oh ja! Passend zu deinen wundervollen Augen."

Jean sah sie an. "Findest du die Farbe wirklich schön?"

"Oh ja! Das ist die Farbe des Himmels über Karnak am frühen Nachmittag."

"Da war ich noch nie."

"Dort habe ich mein sterbliches Leben verbracht."

"Ich habe immer nur in Paris gelebt", sinnierte Jean.

"Und wie lange? Ich meine, jetzt bist du ja gerade in Frankfurt, das heißt, du warst nicht immer in Paris."

"Jetzt lebe ich ja auch nicht so unbedingt." Er grinste sie an. "Oder bist du anderer Meinung?"

"Hm. Ich habe mich eigentlich noch nicht so ganz damit abgefunden, daß ich nicht mehr leben soll", überlegte Anshara. "Sagte nicht Descartes etwas wie 'Cogito ergo sum' - 'ich denke, also bin ich'? Ich meine, ich denke, daher müßte ich doch sein? Und überhaupt heißt 'untot' doch soviel wie 'nicht tot'..."

"Aber auch nicht lebendig", wandte Jean ein.

"Hm. Was ist lebendig? Ich las, Leben hat als Merkmale Individualität, Stoffwechsel, Bewegung, Reizbarkeit, Fortpflanzung, Vererbung und Entwicklung. Besitzen die Kainskinder diese Charakteristika nicht auch? Wenn ja, so sind wir doch lebendig."

"Ich bin kein Philosoph", erklärte Jean.

"Abgesehen davon, so lange ich mich so lebendig fühle, bin ich es eigentlich auch."

"Naja, tot fühle ich mich auch nicht."

"Prima."

Jean musterte Anshara nachdenklich, die ihm ein strahlendes Lächeln schenkte. Sie fühlte sich gerade äußerst gut. Er fand es amüsant, daß sie förmlich von innen heraus vor sich hinleuchtete. Aus alter Gewohnheit warf er einen Blick auf die Uhr.

"Wie spät ist es?" wollte auch Anshara wissen.

"Es ist fast sechs Uhr."

"Oh, bald Schlafenszeit. Wo kann ich mich denn hier ausbreiten?"

"Du kannst gerne in der Wanne schlafen."

"Das ist schlecht. Da hängt mein Kleid und tropft vor sich hin."

"Stimmt, das ist ungünstig. Hast du eine andere Idee?"

"Wie wäre es, wenn wir die Sachen vom Bett räumen? Die Liegefläche ist groß genug für zwei."

Jean sah sie amüsiert an.

"Du willst in meinem Bett schlafen?"

"Auf dem Boden schlafe ich jedenfalls nicht. Außerdem ist es vermutlich einfacher, das Bett freizuräumen als den Boden."

Jean lachte und sah ihr dabei zu, wie sie den Kram auf den Stuhl und den Tisch beförderte, die neben dem Bett und einem Spiegel die einzigen Einrichtungsgegenstände des Zimmers waren.

"Ach du Schreck", stellte sie nach einer Aufräumarbeit fest. "Die Bettwäsche ist ja grauslig geblümt! Hast du deshalb den ganzen Kram daraufgepackt?"

"Könnte sein. Ich habe etwas gegen geblümt", bemerkte er belustigt.

"Soso." Sie streckte sich kurzerhand auf der einen Seite des Bettes aus. "Und hier kommt garantiert keine Sonne oder ein Fremder hinein?" versicherte sie sich noch einmal.

"Sonne bestimmt nicht", meinte Jean, "wie du vielleicht am Fehlen eines Fensters bemerkt haben dürftest. Und auch sonst kommt hier niemand vorbei. Man zahlt hier schließlich, um seine Ruhe zu haben."

"Das gefällt mir. In meinem Hotel rennt dauernd der Zimmerservice herum."

"Das Wort kennen die hier gar nicht - was ein Grund ist, warum ich diese Hotels vorziehe."

"Da hast du einen Punkt", befand Anshara. Sie krabbelte unter das Oberbett. "Bei Efu Ra, langsam bin ich echt müde", seufzte sie. Jean betrachtete sie amüsiert.

"Dann schlaf gut."

"Ja - guten Tag, Jean", murmelte sie, rollte sich zusammen und entschlummerte.

Jean rutschte leise vom Bett. Er war noch nicht sonderlich müde und wollte sich noch ein wenig im Hotel umsehen, bis die Sonne aufging.

* * *

Man schrieb Mittwoch, den 30. Dezember 1981, etwa 17:00 Uhr.

Anshara erwachte und guckte sich verwirrt um. Wo war sie nur? Das hier war definitiv nicht ihre Badewanne - ihr momentanes Lager war erheblich bequemer.

Jean war gerade erst wieder in sein Zimmer zurückgekehrt und suchte im Dunkeln nach seinen Klamotten.

Anshara saß kerzengerade im Bett. Da war wer!

"Jean?" fragte sie vorsichtig.

"Ja", erwiderte er und fluchte leise, als er gegen den Stuhl rempelte.

"Was tust du da?" wollte sie wissen.

"Ich renne vor den Stuhl."

"Und warum?" erkundigte sie sich interessiert.

"Weil ich im Dunkeln nichts sehe."

"Komisch. Die Vampire im Fernsehen konnten das immer perfekt."

"Siehst du was?" fragte Jean ironisch.

"Hm. Nein", gab sie zu und seufzte. "Schöne Kreaturen der Nacht sind wir..."

"Immer nur mit Taschenlampe", grinste Jean. "Aber da du ja offensichtlich wach bist, kann ich ja auch das Licht anmachen." Nach kurzer Fahndung hatte er den Lichtschalter erwischt.

"Ich kann wieder sehen!" verkündete Anshara theatralisch.

"Was für ein Wunder."

"Genau." Sie kicherte. Im Dunkeln hatte Jean eine weitere Spur des Chaos durch den Raum gezogen. Er befreite sich erst einmal aus dem Haufen Klamotten, der sich um seine Füße herum angesammelt hatte.

"Nächstes Mal mache ich gleich Licht", beschloß er.

"Das wäre sicherlich weiser."

"Ich wollte dich eben nicht wecken."

"Du bist lieb", seufzte Anshara und warf ihm einen hingebungsvollen Blick zu.

"So?" meinte Jean. "Ich dachte nur daran, wie ich reagiere, wenn man mich weckt."

"Und wie? Ungehalten?"

"Kaum... Ich war schon immer ein Langschläfer."

"Naja, ich bin halt nachtaktiv. Wenn es dunkel wird, werde ich wach."

"Ich glaube, kaum ein Kainskind ist tagaktiv. Das kostet enorme Kraft."

"Das wäre ziemlich blöd, vor allem, wenn man eh nicht raus kann, weil die Sonne scheint."

"Das ist aber nicht unpraktisch, wenn man anderen seiner Art eins auswischen will."

"So lange es einem auch gelingt, tagsüber dahin zu kommen, wo die sich aufhalten. - Hm, meinst du, man könnte in einem Astronautenanzug und mit einer Schweißerbrille auch tagsüber raus?"

"Ich möchte es lieber nicht probieren. Das wäre mir zu gefährlich."

"Eigentlich müßte auch ein Taucheranzug reichen", überlegte Anshara weiter. "Stell dir vor, man zöge einen Taucheranzug unter so einen Tschador, oder wie die Dinger heißen, die die Frauen neuerdings im Iran tragen müssen. Dann könnte man doch auch tagsüber raus."

"Ich wäre mir nicht so sicher, ob das klappt. - Hast du gut geschlafen?" wechselte er das Thema.

"Doch, habe ich. Und du hast es offenbar auch überlebt - oder habe ich dich zwischendurch rausgeschmissen?"

"Nein, ich war gar nicht hier. Ich war frühstücken und spazieren."

"Oh. Den ganzen Tag lang?"

"Nein, ein Nickerchen habe ich auch gemacht."

"Ah. Ich dachte schon, du hast noch ein paar Tricks drauf, um tagsüber nicht so k.o. zu sein."

"Das nicht. Ich schlafe tagsüber sogar ganz gerne, vor allem, wenn ich gut gefuttert habe", erklärte Jean.

"Hm. Ein bißchen Appetit hätte ich jetzt auch", meinte Anshara. "Und was hat dir der Küchenchef serviert?"

"Ein Zwei-Gänge-Menü", entgegnete er.

"Ts, gleich zwei Gänge!"

"Ich konnte dem Angebot nicht widerstehen."

"Ist auch etwas für mich dabei? Ich dachte da an das Blut eines rassigen Italieners oder etwas kühles Britisches..."

"Habe ich nicht gesehen. Obwohl - ich glaube, ganz oben wohnt so ein Maler; der ist Italiener, wenn ich mich recht entsinne."

"Wie alt?"

"Mitte zwanzig, vermute ich."

"Perrrrrfekt", schnurrte Anshara. "Meinst du, es wird ihn stören, wenn ich mich ein wenig von ihm bediene?"

"Keine Ahnung, da habe ich noch nie genascht. Ich interessiere mich nicht so sehr für italienische Maler."

"Hm. So lange sie schmackhaft sind oder gute Künstler, finde ich sie sehr interessant."

Jean grinste nur, aber er war ja auch rundum satt und gut gelaunt, was zum Teil daran lag, daß die Spender nicht ganz nüchtern gewesen waren.

"Na gut, dann will ich mir mal eben ein Schlückchen zum Frühstück genehmigen. Er wohnt ganz oben?"

"Ja."

"Gut. Ich bin gleich wieder da."

Anshara wetzte die Treppen hinauf zum obersten Geschoß. Die erste Tür führte zum Arbeitsplatz einer ...Hosteß, wie sie feststellte. Sie grinste die Frau und ihren Kunden entschuldigend an und war dann sogar schon im zweiten Anlauf richtig.

Der Raum des Malers war von dichten Rauchschwaden erfüllt, und Anshara war froh, daß sie nicht mehr atmen mußte. Die Bilder, die überall herumstanden, wirkten höchst psychedelisch, und überall standen Pinsel, Becher mit Lösungsmitteln, Farben, übervolle Aschenbecher, leere Pizzakartons und mehr oder weniger leere Flaschen mit hochprozentigem Inhalt herum.

Der Maler selbst lag halb quer auf dem Bett und halb auf dem Boden und schlief offenbar seinen Rausch aus. Anshara hob eine Augenbraue und beschloß, einen Biß zu wagen. Der Typ würde es bestimmt nur als bösen Traum betrachten, wenn er es überhaupt mitbekam.

Mhm, dachte sie, das schmeckte nach mehr. Sie trank ausgiebig, aber nicht genug, um den Mann zu gefährden. Nach einer Dreiviertelstunde war sie wieder unten bei Jean und ziemlich lustig drauf.

"Hallo Jean", begrüßte sie ihn leicht schwankend und hickste kurz. "Hups!"

"Gut gespeist?"

"Oiii, und wie!" seufzte sie wohlig und ließ sich neben ihn auf die Matratze fallen.

"Tse, er war wohl wieder mal total zu?"

"Naja, er lag auf dem Bett und scharchte."

"Sag ich ja."

"Aber es war - berauschend!"

"Ich kann es erahnen."

"So?" Sie stützte sich auf einem Ellenbogen auf und versuchte, Jean mit ihrem Blick zu fixieren. Leider erwies sich das als nicht so einfach, da er sich auf und ab und im Kreis bewegte.

"Ich kenne mich ganz gut in diesem Hotel aus."

"Aha." Sie drehte sich auf den Rücken und begann, vor sich hinzusummen.

"Das ist ein weiterer Grund, warum ich diese Absteigen liebe", erklärte er.

"Düdeldü", machte Anshara und rollte sich wieder herum.

"Du bist betrunken", stellte Jean fest. "Vermutlich solltest du dich etwas zurückhalten, was Alkoholiker und sonstig Bekiffte betrifft."

"Woran erkennt man die denn?"

"Am Geruch und Geschmack."

"Ja, der Geschmack hatte etwas..."

"Säufer!"

"Wenn man schon nichts mehr an Süßigkeiten essen kann, dann braucht man eine Ersatzbefriedigung."

"Aber nicht so."

"Wo liegt das Problem? Wir können schließlich nicht an Leberzirrhose sterben, würde ich sagen."

"Das ist wohl wahr", stimmte Jean zu. "Aber in deinem jetzigen Zustand könnte dich jeder mit Leichtigkeit erledigen."

"Meinst du, es würde irgendjemand übers Herz bringen, mich zu erledigen?" Sie sah ihn tieftodtraurig aus ihren goldbraunen Augen an.

"Ja", antwortete er.

"Die sind ja gemein!" Eine dicke Träne lief ihr die Wange herunter.

"Nun heul doch nicht", bat Jean.

"Aber wenn die mir doch was tun wollen?"

"Hier ist doch keiner."

"Du paßt immer auf mich auf?" fragte sie hoffnungsvoll.

"Das werde ich wohl nie schaffen."

"Warum nicht?" Sie schniefte.

"Ich kann doch nicht immer bei dir bleiben." Er betrachtete Anshara. Hoffentlich hatte sie erst einmal genug von alkoholhaltigem Blut. Sie guckte ihn schon wieder so tragisch an.

"Seufz", machte Jean. "Du bist eine ziemliche Last."

Natürlich verursachte das einige weitere Krokodilstränen.

"Jetzt hör auf zu weinen, sonst bist du gleich wieder hungrig!"

"Nein, ich habe überhaupt keinen Appetit", jammerte sie.

"Ich hoffe, du weißt jetzt, was du tust, wenn du jemanden beißt, der volltrunken ist."

"Ja. Ich spucke sofort wieder alles aus."

"Brav. Hoffentlich merkst du dir das für längere Zeit."

"Das nächste Mal suche ich mir einen Diabetiker. Ich brauche unbedingt etwas Süßes zum Trost."

"Oooch", machte Jean belustigt. Anshara seufzte und tupfte mit einem Taschentuch an ihrem Gesicht herum.

"Das ist doof mit den Tränen aus Blut", schimpfte sie.

"Dann heul eben nicht."

Sie guckte ihn an, und prompt flossen wieder ein paar Tränen.

"Frauen", meinte Jean.

"Ich bin total deprimiert", jammerte sie.

"Ich auch."

"Warum bist du deprimiert?"

"Weil du mich deprimierst. Dabei hatte ich so gute Laune."

"Das tut mir leid..." Natürlich liefen wieder Tränen über ihr Gesicht. Jean reichte ihr ein Taschentuch. "Danke..."

"Du siehst furchtbar aus." Jean holte einen nassen Waschlappen aus dem Bad. Anshara schaute ihn tragisch an, und er machte sich daran, die Bescherung zu beseitigen. Sie hielt still und ließ ihn machen. "So, jetzt geht's wieder", verkündete er schließlich.

"Danke."

"Und heul nicht wieder los!"

"Ich werde es versuchen", schniefte sie.

"Ich glaube, ich kann dich doch nicht alleine lassen", stellte er fest.

"Du bist lieb", fand sie.

"Ich habe eher das Gefühl, ich bin gewaltig blöd", meinte Jean. "Hätte ich ein Kind, könnte es nicht schlimmer sein."

"Bin ich wirklich soooo schlimm?" Anshara sah ihn tragisch an.

"Ziemlich."

Nur ganz knapp gelang es ihr, einen neuerlichen Tränenstrom zu unterdrücken.

"Aber das wird schon noch werden", hoffte er. "Normalerweise lernt jedes Kainskind seine Lektionen. Ich muß nur meine Meinung revidieren, daß du schon eine Neugeborene bist."

"Was bin ich denn dann? Noch gar nicht auf der Welt?"

"Nahe dran."

"Seufz. Ich hatte ja niemanden, der mir irgendwas beigebracht hätte..."

"Dich darf man wirklich nicht ohne Aufsicht herumlaufen lassen."

"Ich habe immerhin schon sechzehn Jahre überlebt."

"Das war reines Glück." Jean setzte sich zu ihr auf das Bett. "Du wirst es schon lernen", versprach er.

"Meinst du?" Sie sah ihn hoffnungsvoll an.

"Bestimmt", versicherte er und nahm sie in den Arm. Anshara legte den Kopf an seine Schulter; er war wirklich lieb. Irgendwie war ihr bislang nie zu Bewußtsein gekommen, wie alleine sie die ganze Zeit wirklich gewesen war. Jean strich ihr über den Rücken. Was hatte er sich da nur angelacht?

Anshara schlang die Arme um seine Mitte. Jetzt hatte sie ja endlich jemanden, der ihr alles Wichtige erklären konnte. Jean schwieg. Was konnte er auch schon sagen? Die kleine Lady war bestimmt nicht vernünftig ansprechbar, so lange sie so betrunken war. Er betrachtete sie nachdenklich. Anscheinend hatte sie vorerst nicht vor, ihn loszulassen; dabei wurde er langsam ein wenig unruhig, da er aufgrund der guten Mahlzeit voller Tatendrang steckte.

Etwa eine halbe Stunde später hatte sie sich jedoch ausreichend beruhigt, daß sie sich nun doch noch von ihm löste.

"Na, geht es wieder besser?" erkundigte er sich fürsorglich.

"Doch." Anshara nickte. "Und was machen wir nun?"

"Ich weiß nicht", gab Jean zu. "Du hast mich ganz aus dem Konzept gebracht."

"Das tut mir leid."

"Macht nichts. Jetzt bin ich wenigstens wieder nüchtern."

"Ich glaube, ich auch", stellte sie fest.

"Hoffentlich. - Also, hast du eine Idee, was du unternehmen willst?"

"Ich richte mich ganz nach dir." Wenn sie sich hier besser auskennen würde, wüßte sie bestimmt, was sie unternehmen könnte, dachte sie ein wenig frustriert.

"Was würde dir denn gefallen?"

"Etwas alkoholfreies... - Wie wäre es mit einem Museum? Ich habe in Deutschland noch keins gesehen."

"Es gibt hier einige schöne Museen", erklärte Jean. "Da wäre das Goethe-Museum, das Senkenbergische Naturhistorische Museum, Museen für Kunsthandwerk, Vor- und Frühgeschichte und Völkerkunde, die Städtische Skulpturensammlung, das Städelsche Kunstinstitut..."

"Nehmen wir eins, wo gerade eine größere Kunstausstellung ist", schlug sie vor. "Und wie kommen wir um diese Uhrzeit da hinein?"

"Die schönsten Museen, Galerien und Kunstausstellungen haben private Eingänge für Kainskinder."

"Hey, das ist praktisch! - Aber ich fürchte, ich muß mich erst umziehen", bemerkte sie mit einem Blick auf ihr ausgeliehenes Outfit.

"Ich auch", stimmte Jean zu.

"Am besten, du machst den Anfang", sagte sie. "Immerhin sind wir gerade hier, wo deine Klamotten sind."

"Stimmt auffallend."

"Und was meine Sachen betrifft - ich denke, ich sollte erst einmal hier einziehen."

"Hier hast du jedenfalls deine Ruhe."

"Und wir brauchen nicht andauernd hin und her zu kurven. - Meinst du, hier gibt es noch ein Zimmerchen für mich?"

"Ich bin sicher, ich kann das organisieren", befand Jean und zog sich um. Jetzt konnte man sehen, daß er einige hübsche Zeichnungen auf der Haut trug. Anshara stand auf und betrachtete ihn näher. Die Bilder waren neu. Es handelte sich um bunte Schmetterlinge, die über seinen Rücken und um seine Taille flatterten.

"Das sieht putzig aus", bewunderte Anshara ihn. "Wo hast du die her?"

"Von den Zwillingen."

"Deinem Frühstück?"

"Genau, vom Frühstück", meinte Jean belustigt. "Die beiden sind süß."

"Männlich oder weiblich?"

"Weiblich."

"Hm. Gibt es so etwas auch in männlich?" wollte sie wissen.

"Hier im Haus nicht." Jean zog sich rasch fertig an.

"Dann muß ich mich wohl mal in der Nähe umsehen, ob es da etwas Gesundes, Nüchternes und Appetitliches für mich gibt. Den Maler von oben rühre ich jedenfalls nicht noch einmal an."

"Der ist auch nichts besonderes. Aber im dritten Stock, auf Zimmer 32, wohnt ein Musiker, der ganz hübsch ist."

"Naja, morgen ist auch noch eine Nacht. Jetzt muß ich erst einmal meinen Kram hierhin transportieren. Hilfst du mir bitte beim Tragen?"

"Was bleibt mir anderes übrig?"

"Prima! Du bist ein Schatz." Sie schmatzte ihm einen Kuß auf die Wange.

"Dann können wir gehen."

"Gut." Anshara schlüpfte in die goldenen Sandalen und wickelte sich in ihren weißen Mantel.

Bald waren sie in Ansharas Hotel, und diese warf sich in ein dezentes, dunkelblaues Kostüm, ehe sie ihre Kleiderstapel in Ermangelung von Koffern in diverse Tüten verpackte. Jean sah ihr dabei zu. Schließlich war alles gepackt, und Anshara ging zur Rezeption, wo sie mit ihrer Kreditkarte bezahlte und auscheckte. Jean wartete geduldig mit den ganzen Tüten in den Händen, ehe sie losdüsten. Aufgrund des Gepäcks nahmen sie diesmal ein Großraum-Taxi.

In seiner Absteige gelang es Jean problemlos, das Zimmer neben seinem für Anshara zu bekommen (eine ausreichende Menge Geld sorgte dafür, daß der vorherige Bewohner in einen anderen Raum einquartiert wurde).

"Hey, du bist gut", freute sie sich.

"Selbstverständlich."

Sie mußten einen Moment warten, bis frisches Bettzeug und ein neues Handtuch in das Zimmer gebracht wurde, dann verstauten sie Ansharas Sachen dort. Sie hatte kurzerhand die großen Handtücher aus dem Sheraton mitgehen lassen und guckte betont unschuldig ob Jeans belustigtem Blick.

"Jetzt kannst du es dir ja gemütlich machen", sagte er.

"Es ist doch schon gemütlich. Der Rest folgt, wenn ich mich wieder umgezogen habe. - So, und jetzt laß und die Kunst besichtigen."

* * *

Sie fuhren zum Museum, und Jean führte Anshara durch eine Hintertür hinein.

"So, jetzt kannst du gucken."

"Wow!" quietschte sie begeistert und düste von einem Bild zum nächsten und von einer Plastik zur anderen, wie ein Schmetterling von Blüte zu Blüte. Jean folgte ihr amüsiert. Eine Chromplastik faszinierte Anshara besonders, da sie sich in dieser mehrfach spiegelte. Jean sah ihr über die Schulter.

"Hübsch", kommentierte er, doch sie reagierte nicht. "Hallo", machte Jean und legte ihr einen Arm um die Taille.

"Hm?" Sie sah irritiert zu ihm hoch. "Oh! Huhu, Jean..."

"Vergiß mich nicht", sagte er lächelnd.

"Bestimmt nicht." Sie legte den Kopf an seine Brust. Jean lachte leise und zerfluste ihre Frisur.

"Die Plastik ist wirklich schön", erkannte er an.

"Und sie spiegelt so hübsch", stimmte Anshara zu. "Hm." Sie spähte in das glänzende Metall. "Dir fehlt noch der rechte Wuschellook", stellte sie fest und strich durch seine Haare. Jean senkte den Kopf, so daß ihr seine Haare ins Gesicht hingen, worauf sie loskicherte. Das kitzelte! Er lachte.

"Selbst schuld."

"Ein bißchen." Sie zerstrubbelte ihn methodisch, und er näherte sich ihrem Hals. Irgendwie animierte ihn diese komische Plastik dazu, und er fuhr ihr mit der Zunge über den Hals, auch wenn er nicht vor hatte zu beißen. Anshara quietschte auf. Das kitzelte noch mehr als die Haare.

"Du bist ganz schön anziehend", flüsterte Jean ihr ins Ohr. Sie lächelte und sah ihm geradewegs in die Augen. Sie fand ihn schließlich auch irgendwie verlockend. "Zum Glück bin ich nicht hungrig", meinte Jean heiter.

"Ansonsten könnte ich dir gerne ein Gläschen spenden. Aber nicht mehr! Soviel habe ich schließlich nicht gefuttert."

"Meinst du, das wäre sinnvoll?"

"Hm. Ich glaube, hundertprozentig nüchtern bin ich immer noch nicht..."

"Das würde mir nicht viel machen."

"Gut." Sie kuschelte sich an ihn, und Jean blieb reglos stehen. "Hier gefällt es mir", äußerte sie und malte mit dem Finger imaginäre Muster auf seine Vorderfront.

"Mir auch", gab Jean zu. "Was ist heute nur los?" sinnierte er. "Du bist heute ganz extrem aufregend."

"Vielleicht war ja auch etwas in diesen Zwillingen, das dich angetörnt hat", vermutete sie, was Jean zu einem Grinsen verleitete.

"Möglich. Aber du unterstützt es auch noch", kommentierte er die Tatsache, daß sie ihn nun mit beiden Händen ausgiebig erkundete.

"Nur ein bißchen..." Sie rieb ihre Wange an seiner Brust.

"Es reicht aber..." Behutsam schob er Anshara von sich. "Sehen wir uns lieber weiter um."

"Na gut." Sie suchte sich eine weitere Plastik zur Kontemplation aus, ehe sie wieder von einem Ausstellungsstück zum nächsten hüpfte. Jean betrachtete sie nachdenklich und hielt lieber einen gewissen Sicherheitsabstand zu ihr. Er war sich nicht ganz im Klaren darüber, was ihn derart zu ihr hinzog, also ging er lieber auf Nummer sicher.

Anshara war absolut begeistert von dem Museum und strahlte Jean an. "Wir müssen unbedingt noch zu einigen der anderen Museen gehen", bestimmte sie.

"Wo immer du hingehen willst", meinte Jean.

"Moment, jetzt doch noch nicht. Erst muß ich das hier durchhaben. - Komm mit in den nächsten Saal!" Sie ergriff seine Hand und zog ihn mit sich in die nächste Halle. Anshara summte fröhlich vor sich hin, während Jean hinter ihr her trottete. Diesmal erspähte er eine Spiegelskulptur, in deren Anblick er unversehens versank. Anshara trat hinter ihn und legte ihm von hinten die Arme um die Mitte. Jean wurde aus seiner Versenkung gerissen und sah sie verdutzt an.

"Kuckuck!" machte sie. Jean drehte sich zu ihr um und betrachtete sie.

"Museen sind etwas schönes", erklärte er.

"Stimmt! Vor allem, wenn man sie für sich alleine hat. - Weißt du was, hier könnte man bestimmt eine tolle Party veranstalten."

"Lieber nicht hier", wehrte er ab. "Nachher geht etwas zu Bruch, und es gibt Ärger."

"Na gut. Aber ich hätte trotzdem Lust, mal eine Fête zu veranstalten."

"Dazu mußt du dir erst noch einen Namen unter den Toreador machen, sonst kommt keiner."

"Hm." Darüber mußte sie noch meditieren. "Oh, da ist eine Sonderausstellung", wechselte sie erst einmal das Thema. "Picassos Werdegang..."

"Gucken wir nach." Sie betraten den angrenzenden Saal, und sie betrachteten die Bilder. Genial oder nicht, Picasso war einfach nicht Jeans Geschmack. Anshara war ähnlicher Ansicht.

"Das könnte ich auch - nur besser", kommentierte sie gnadenlos.

"Ich habe für moderne Kunst nicht viel übrig", gab Jean zu.

"Obwohl", sie deutete auf ein paar frühe Bleistiftskizzen des Meisters, "Zeichnen konnte er ja. Ich frage mich nur, warum er es dann nicht getan hat", sinnierte sie, als sie einige jüngere Werke beäugte.

"Laß uns lieber etwas anderes angucken." Sie kehrten in einen Saal mit einigen weiteren Klassikern zurück.

"Die gefallen mir besser." Anshara betrachtete diverse Werke von Dürer und Bosch.

"Stimmt."

Als Jean einige antike Spiegel entdeckte, war er natürlich gleich wieder absolut fasziniert von seiner Reflektion. Anshara blieb neben ihm stehen, was ihn dazu verleitete, sie ebenfalls in seine Kontemplation mit einzubeziehen.

"Du bist ein ganzes Stück größer als ich", stellte Anshara fest. "Vielleicht sollte ich mir ein paar Schuhe mit hohen Absätzen zulegen."

"Das wäre was", meinte Jean amüsiert.

"Obwohl - Stelzen wären vermutlich wirkungsvoller."

"Aber nicht so hübsch." Er reckte sich, um sich in voller Größe im Spiegel bewundern zu können.

"Hey, du sollst dich nicht noch größer machen." Anshara legte die Arme um ihn, als ob sie ihn unten auf einer etwas passenderen Größe für sie fixieren wollte. "Sonst muß ich immer eine Leiter mit mir herumschleppen, nur damit ich dir hin und wieder mal in die Augen sehen kann."

"Ach?" machte Jean amüsiert. "Willst du das denn?"

"Klar - bei der Farbe..." Sie hüpfte ein Stück in die Höhe.

"Was soll denn das?"

"Das ist ein Größenausgleich."

Jean ließ sich auf ein Knie sinken. "Besser?"

"Oh ja!" Nun konnte sie ihn mit der Zunge am Hals kitzeln.

"Eh, du solltest das nicht herausfordern."

"Du hast es doch auch getan!"

"Und ich hätte auch beinahe zugebißen."

"Ich beiße dich doch nicht!" Sie sah zu Jean herab und schlang ihm die Arme um den Hals.

"Sicher?"

"Ich bin so gut wie satt."

"Das bedeutet nicht, daß du nicht beißen kannst."

Jean fand die Perspektive amüsant. Es war irgendwie komisch, daß momentan Anshara größer war als er. Sie vergrub das Gesicht in seiner Mitternachtsmähne, und er legte ihr die Arme um die Taille.

"Das ist lustig", fand Jean. "Lange kann ich das aber nicht durchhalten. Es ist schwierig, so das Gleichgewicht zu halten."

"Schade. Dabei bist du in der Größe so praktisch."

Er richtete sich wieder auf, und da Anshara sich an seinem Hals festhielt, wurde sie ebenfalls in die Höhe geliftet.

"Du bist ganz schön anhänglich."

"Und du bis gerade sehr erhebend."

Jean hielt sie fest. "Zum Glück bist du nicht so schwer." Er stellte sie wieder auf die Füße. "Oh, wir haben übrigens gerade den letzten Ausstellungsraum durch."

"Hm. Was könnten wir denn jetzt machen?"

"Was möchtest du denn?"

Sie musterte ihn ausgiebig.

"Was möchte ich denn? - Wie wäre es mit ein bißchen spielen? Ich meine knuddeln und so..."

Jean sah sie amüsiert an. "Dagegen habe ich noch nie was gehabt."

"Prima. Wo gehen wir hin - zu dir oder zu mir?" Sie warf ihm einen koketten Blick zu.

"Ich glaube, bei dir ist es aufgeräumter."

"Noch", stimmte sie zu. "Und unterwegs können wir ja noch eine kleine Stärkung zu uns nehmen."

"Ich bin total satt", erklärte Jean.

"Du hattest auch zwei Gänge. Ich brauche einen alkoholfreien Nachtisch."

"Gehen wir die Abkürzung zurück zum Hotel, da sollten wir etwas finden.

Jean führte Anshara wieder quer durch die Stadt. Sie trabte neben ihm her und peilte in die dunkelen Gassen.

"Schon was im Auge?" fragte er.

"Da hinten", flüsterte sie. "Ein nichts böses ahnendes Opfer..."

"Dann fang es dir."

Anshara schlich sich an die Person an. Es handelte sich um einen halbstarken Jungen, dem offenbar der Rest seiner Gang abhanden gekommen war. Aus einem Hinterhalt überfiel sie ihn und nahm ein, zwei tiefe Schlucke. Jean spielte derweil ihren 'Schatten'. Er beobachtete sie doch so gerne. Sie 'versorgte' gerade die Wunden, damit keine Spuren zurückblieben, ehe sie sich wieder nach ihrem Begleiter umsah.

Jean stand kaum zwei Schritte hinter ihr und wartete geduldig.

"Bei Anubis", rief sie leise aus. "Du kannst dich vielleicht hinterrücks anschleichen..."

"Ich bin nicht geschlichen", meinte Jean. "Ich bin ganz normal gegangen. Du hast nur nicht darauf geachtet."

"Hm." Anshara musterte ihn nachdenklich. "Na gut, ich bin jetzt jedenfalls auch bestens gesättigt."

"Fein. Verschwinden wir. Ich glaube nämlich, hier sind noch andere Typen unterwegs."

"Das wären dann vielleicht einige zuviel", stimmte sie zu und hängte sich wieder bei ihm ein.

"Genau. Ich bin nun mal kein Kämpfer, und von Waffen habe ich auch nicht viel Ahnung", erklärte Jean. "Da ist Vorsicht immer besser."

"Äh, wenn du kein Kämpfer bist, was bin ich denn dann?" Sie schmachtete ihn an.

"Eine arme, schwache Frau, die meines Schutzes bedarf", schlug er vor.

"Du hast es endlich erkannt", stellte sie befriedigt fest. Jean grinste. Vorsichtig um sich schauend nahm er wieder Kurs auf das Hotel. Er wollte nicht überrascht werden, denn Anshara war schließlich wirklich nicht zur Kämpferin geboren.

Schließlich kamen sie am Hotel an, wo sie wie stets die Schlüssel eigenhändig aus dem Kasten an der unbesetzten Rezeption angeln mußten, ehe sie zu ihren Zimmern hinaufgehen konnten. Fürsorglich schloß Jean Ansharas Tür auf.

"Danke", strahlte sie ihn an. "Du bist ein echter Gentleman."

"Nur wenn es sich lohnt", erklärte er spitzbübisch.

"Soso." Sie kicherte und sah betont schüchtern zu Boden. Jean lehnte im Türrahmen.

"Nun? Gilt deine Einladung noch?"

"Na klar!" Sie ergriff seine Hände und zog ihn in ihr Zimmer. Er warf die Tür mit dem Fuß zu und sah sie erwartungsvoll an. Anshara legte den Kopf schief und guckte ein wenig verlegen. "Äh, du bist besser informiert", begann sie. "Was tun Kainskinder in der Regel, wenn sie der trauten Zweisamkeit frönen?"

"Hm. Ich vermeide sowas sonst lieber", sagte er. "Es ist halt nicht üblich. Ich meine, ich bin gerne mit anderen zusammen, aber nicht unbedingt zu zweit, denn meist wollen nur die mit einem allein sein, die Böses im Schilde führen..."

Anshara sah ihn schockiert an.

"Wer sollte etwas Böses mit dir anstellen? Schlimmstenfalls gehörst du zum Angucken in eine Vitrine..."

"Ach weißt du, es gibt so viele Intrigen", erläuterte er. "Da sind immer welche, die einen entweder aus dem Weg schaffen wollen oder dessen Freunde treffen wollen."

"Irgendwie hätte ich nicht gedacht, daß es auch unter Vamp- äh, Kainskindern, auch so zugeht wie früher unter den Priesteranwärtern im Tempel", seufzte sie.

"Ich weiß zwar nicht, wie es da zuging, aber ich vermute mal, es war ähnlich. Ein guter Rat: Achte immer auf deinen Rücken!"

"Gut." Sie schlang die Arme um seine Mitte und kuschelte sich an ihn. "Aber du tust mir doch nichts, oder?" fragte sie hoffnungsvoll.

"Bestimmt nicht", versicherte er. "Außerdem kann ich mich momentan ohnehin nicht rühren", setzte er belustigt hinzu.

"Dabei bist du doch soviel stärker als ich..."

"Frauen haben meist ihre eigenen Methoden."

"Dabei macht mich deine überwältigende Präsenz noch besonders schwach", hauchte sie und warf ihm einen ihrer unwiderstehlichen Blicke zu, ehe sie mit ihren Fingernägeln über seine Vorderfront strich. Jean betrachtete das fasziniert. Anshara war erstaunlich, aber vermutlich lag das daran, daß ihr niemals jemand irgendwelche Vorschriften gemacht hatte. Er hielt sich ja doch meist an die Dinge, die sein Erzeuger Simon ihm eingetrichtert hatte, resümierte er. Sie schob die Tüten vom Bett und Jean dorthin.

"So, und was hast du nun vor?" fragte er neugierig.

"Nun, ich will herausfinden, was Vamp- Kainskindern noch so möglich ist außer Blut trinken."

Jean sah sie fragend an.

"Na, es heißt doch immer, daß Vampire so erotisch sind", fuhr sie fort. "Aber es wäre doch echt langweilig, wenn sie selbst nichts davon hätten, oder?"

"Ich finde nicht, daß alle Vampire erotisch sind", äußerte er amüsiert.

"Hm, naja, die meisten aus dem Fernsehen schon."

"Tse", machte er. "Es gibt genug, die sind so aufregend wie diese Bettwäsche, und manche sind sogar noch öder."

"Hm." Anshara runzelte die Stirn und betrachtete das Blümchenmuster. "Obwohl, bei diesem Prinzen von Frankfurt schienen einige niedliche herumzulaufen. Zum Beispiel dieser Chris..."

"Stimmt, Chris ist durchaus niedlich."

"Aber bis jetzt finde ich dich am schönsten", fand sie und guckte ihn verzückt an wie ein Kritiker den Geniestreich eines alten Meisters.

"Bis jetzt hast du ja auch nur eine Handvoll von Kainskindern gesehen."

"Du meinst also, es gibt noch hübschere als dich?"

"Vermutlich."

"Das finde ich gut."

Jean lachte. "Du wirst sie schon noch irgendwann sehen."

"Prima. Aber jetzt werde ich erst mal gucken, was an dir so alles dran ist." Sie begann, ihn aus dem Hemd zu wickeln.

"Ich habe mich nicht verändert", machte er sie aufmerksam.

"Tut nichts zur Sache", wischte sie den Einwand weg und inspizierte noch einmal das Bodypainting. Es war immer noch intakt. Danach befreite sie ihn von den weiteren Kleidungsstücken.

"Warum bist du eigentlich an mir so interessiert?"

"Du bist der erste Va- - das muß ich mir endlich mal abgewöhnen - du bist das erste Kainskind, daß ich treffe und das ich untersuchen kann."

"Ich bin auch ein sehr geduldiges Exemplar."

"Gut." Sie wuschelte in seinen Haaren herum.

"Und was kommt jetzt?" wollte er wissen.

"Bei Isis, ich arbeite noch daran", erklärte sie kopfschüttelnd. Woher sollte sie das denn eigentlich wissen? Es mußte halt ausprobiert werden. Jean schaute sie erwartungsvoll an. Er ämüsierte sich kolossal über die kleine Lady.

Kurzerhand setzte sie sich auf ihn drauf und strich über seine Brust. Jeans Haut war extrem hell und reichlich kühl. Sehr faszinierend.

"Willst du mich plattdrücken?"

"Glaubst du, das gelingt mir?" Sie kicherte, immerhin wog sie - wenn es hoch kam - 45kg.

"Naja, ein bißchen halte ich schon aus."

"Na, siehst du." Sie sah ihm in die Augen, und er erwiderte den Blick. "Meine Güte", seufzte sie, "das ist vielleicht lange her, seit ich mir so einen hübschen Jungen geangelt habe..."

"Ach?"

"Ja, an die 38 Jahrhunderte..."

"Daran kannst du dich noch erinnern?"

"Die Zwischenzeit habe ich doch zum Glück verschlafen."

"Stimmt", grinste Jean. "Du warst ja in der Konserve."

"Du bist frech", schmollte sie. "Hm, ich glaube, du solltest mal unter die Dusche, sonst ist das erstaunlicherweise frisch bezogene Bett gleich völlig ruiniert." Sie erhob sich und zog Jean von der Liegestatt. "Ich werde dich schrubben", erklärte sie mit Blick auf die bunten Schmetterlinge.

"Ich wehre mich nicht."

"Brav." Sie befreite sich nun ebenfalls von allen überflüssigen Kleidungsstücken, schob ihn ins Bad und drehte das Wasser auf. Jean streckte sich dem feuchten Naß entgegen.

"Nun sieh mal zu, wie du die Farbe abkriegst..."

"Mal sehen." Sie plantschte ausgiebig mit ihm herum, seifte ihn durchgehend ein und kitzelte ihn nach Bedarf. Jean fand das witzig und warf ihr diverse Blicke über die Schulter zu. "So, ich glaube, jetzt bist du wieder weitestgehend normalfarbig."

"Prima", sagte er und betrachtete Anshara. Ihr Make-Up sah momentan höchst verschmiert aus, da sie sich mehr um seine Säuberung gekümmert hatte, also erbarmte er sich ihrer und schrubbte sie auch. Sie schnurrte behaglich ob der guten Pflege.

"Tse, du schnurrst ja", bemerkte er fasziniert. "Ich denke, ich habe das Make-Up von dir entfernt. Zumindest bist du nicht mehr ganz so golden..."

"Und - sehe ich jetzt schlimm aus, so ganz ohne Make-Up?"

"Finde ich eigentlich nicht."

"Gut." Sie lächelte ihn an, und als er das Wasser abgedreht hatte, reichte sie ihm die aus dem Sheraton entwendeten Badetücher, damit sie sich einwickeln konnten. Je ein weiteres Handtuch wurde um den Kopf geschlungen, um die Haare zu trocknen, und dann patschten sie in den Schlafraum zurück.

Jean ließ sich auf das Bett fallen, schloß die Augen und seufzte. Anshara ließ sich neben ihm nieder, nahm einen Zipfel seines Badetuchs und begann, ihn trocken zu rubbeln. Er blieb einfach so liegen und genoß es, derart verwöhnt zu werden.

"Na, wie fühlst du dich?" fragte sie belustigt.

"Gut", seufzte er zufrieden.

"Prima." Sie pellte ihn ein Stück aus dem Handtuch und malte mit dem Fingernagel Muster auf seine Haut. Jean öffnete kurz die Augen, um zu sehen, was sie tat, da es sich aber um nichts Gefährliches handelte, schloß er sie wieder. "Wie wäre es, wenn du auch mal zur Abwechslung mich verwöhnst?" fragte Anshara nach einer guten Weile.

"Was hättest du den gerne?"

"Streicheleinheiten!"

Jean richtete sich auf und sah Anshara amüsiert an.

"Dann komm doch näher." Folgsam rutschte sie zu ihm hin, und er machte sich nun über sie her. Sie war irgendwie süß fand er, vor allem, da sie prompt wieder zu schnurren begann wie die heiligen Katzen ihrer alten Heimat. "Das klingt niedlich", kommentierte er.

Sie strahlte ihn hingebungsvoll an, bevor sie seine Haare verwuschelte, die immer noch ein wenig feucht waren. Da das aber kein optimales Ergebnis brachte, streichelte sie ihn lieber wieder.

"Daran könnte ich mich gewöhnen", erklärte Jean.

"Das läßt sich einrichten. Schließlich ziehe ich demnächst zu dir." Sie kicherte und gab ihm einen Kuß auf die Nasenspitze.

"Aber deine Steinkisten kommen in den Keller", forderte er.

"Natürlich. Wenn sie durch den Fußboden brächen, gingen sie doch kaputt, und es sind unersetzliche Kunstschätze."

"Gut." Jean schüttelte den Kopf und seufzte. Seine Haare waren immer noch reichlich naß. "Wie spät ist es eigentlich?" fragte er.

"Noch nicht Mitternacht", entgegnete Anshara. "Vielleicht halb Zwölf. Weshalb fragst du?" Sie fuhr mit den Fingerspitzen über seinen Hals.

"Nur so." Er streckte sich und fand es ziemlich aufregend, wie sie sich an seinem Hals zu schaffen machte.

"Njam, das sieht absolut verlockend aus", sagte sie und fuhr mit der Zunge über die Stelle, wo sich seine Halsschlagader befand.

"Mh", machte Jean. "Das gefällt mir." Sie kitzelte ihn mit der Zungenspitze und war erstaunt, wie still er hielt. Offenbar fand er das ebenso aufregend wie sie. Jean versuchte, Ansharas Blick einzufangen und versank prompt in diesem schimmernden Bernstein. Er hatte schon lange nicht mehr soviel Spaß gehabt, fand er. Sie hingegen begeisterte sich an Jeans dunkeltürkisfarbenen Augen. Offenbar war doch etwas dran an der Legende um Vampire und Erotik...

Irgendwann gegen Morgen wurden sie dann der Spielchen überdrüssig und sanken ob des dräuenden Tages in den normalen Schlaf der Kainskinder.

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