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Fünf Nächte im Unleben eines Kainskindes

(c) 1995 by Shavana & Stayka

Kapitel 3: Der Prinz von Frankfurt

Beim Untergang der Sonne erwachte Jean, wie jeden Abend. Mühsam entknotete er sich und kletterte aus der Wanne. Ein Bett war definitiv bequemer. Seufzend streckte er sich und verfrachtete das Bettzeug in eine Ecke. Er hatte Lust auf ein Bad. Das einzige, was er bedauerte, war die Tatsache, daß seine Sachen nicht hier waren.

Anshara, die bereits etwas früher erwacht war, planschte schon seit geraumer Zeit in ihrem duftenden Ölbad und fühlte sich ausgezeichnet. Als sie den Fluten entstiegen war und sich in einen Morgenmantel hüllte, hatte ihre Haut einen schwachen goldockerfarbenen Schimmer über der normalen fahlen Blässe eines Kainskindes.

Während Jean noch in den Fluten weilte, transportierte Anshara die Kleider wieder in das Schlafzimmer zurück und ordnete sie zu gleichfarbigen Stapeln. Wenn sie sich nur entscheiden könnte...

Dieses Problem hatte Jean nicht. Widerstrebend mußte er nach Beendigung seines Bades erneut in seine zerknautschten Sachen steigen. Als er in den Hauptraum der Suite ging, stand Anshara vor dem Spiegel und hielt sich gleichzeitig ein blaues und ein rotes Kleid an.

"Guten Abend", begrüßte er sie.

"Oh, hallo Jean!" Sie wandte sich zu ihm um. "Was soll ich nur anziehen?" seufzte sie.

"Was immer dir gefällt", erwiderte er. "Zieh einfach eins."

"Seufz!" Schließlich entschied sie sich für das weiße pseudoägyptische Gewand mit den goldenen Accessoires. Jean betrachtete sie amüsiert. Aber dieses Kleid stand ihr wirklich ausgezeichnet, fand er. Danach ging noch die übliche Make-Up-Malerei los, und als sie aus dem Bad kam, war sie ausgiebig mit Goldpuder bestäubt.

"Fertig?" Jean sah sie fragend an.

"Moment! Mein Schmuck!" Eilig streifte sie sich ein halbes Dutzend Armspangen über, ehe sie in ihre Sandalen stieg. Jean seufzte. Frauen!

"So - sehe ich präsentabel genug aus?" fragte sie endlich.

"Du siehst irgendwie ägyptisch aus," meinte Jean diplomatisch. Er fand sie weniger 'dekoriert' einfach schöner.

"Das ist ja auch nicht verkehrt; immerhin bin ich von da. - Hach, ich bin schon total aufgeregt..."

Jean kritzelte etwas auf einen Zettel und drückte ihr diesen in die Hand.

"Hier ist die Adresse."

"Soll ich da etwa alleine hingehen?" quietschte sie geschockt.

"Was sonst?" fragte Jean.

"Und wenn ich nun aus Unwissenheit einen furchtbaren Fauxpas begehe?"

"Dann bin ich nicht da."

"Graaa!" Sie stampfte wieder mir dem Fuß auf. "Es ist deine vornehme Pflicht als Gentleman, mir, einer hilflosen Lady, über solche Hürden hinwegzuhelfen", erklärte sie.

"Du mußt entweder allein da hingehen oder dich von deinem Erzeuger vorstellen lassen. So ist der Brauch."

"Hm. Letzteres entfällt ja leider. Aber gibt es denn unter den Kainskindern keine Gentlemen, die eine Dame einem Adligen vorstellen würden?"

"Du kannst ja einen fragen."

"Eigentlich hatte ich dich für einen Gentleman gehalten", seufzte sie mit Trauermiene.

"Mich?" fragte Jean betont überrascht.

"Dich!"

"Bin ich aber nicht. Außerdem müßte ich mich erst umziehen." Auch wenn es keine Bekleidungsvorschriften gab, so sollte er da besser nicht auftauchen.

"Und wo liegt das Problem?"

"Ich brauche garantiert genauso lange wie du."

"Ooooch Jean..." Sie sah ihn wieder schmelzend an. "Bitte, bitte, komm mit!" Ihr Blick enthielt nun ein Flehen, dem er einfach nicht widerstehen konnte. Er war doch kein Unkainskind.

"Aber ich muß mich erst umziehen."

"Ist doch klar." Sie angelte nach ihrer Handtasche und dem weißen Mantel und folgte Jean, der schon auf dem Weg nach draußen war.

Schließlich erreichten sie das billige Hotel. Da an der Rezeption wieder einmal keiner war, schnappte sich Jean den Schlüssel und stürmte die Treppen hinauf. Anshara ging gemessenen Schrittes hinterher.

Sein Zimmer sah immer noch aus wie ein Schlachtfeld. Jean sammelte ein paar der herumliegenden Klamotten auf und verschwand im Bad. Anshara setzte sich aufs Bett und wartete, wobei sie das eine oder andere Kleidungsstück hoch hob und interessiert beäugte. Rüschenhemden, einfache Hemden, enge Hosen...

Jean ließ sich Zeit. Erstmal striegelte er ausgiebig seine Mähne, dann half er seinem Aussehen mit ein wenig Make-Up nach, bevor er sich umzog. Irgendwie konnte er sich wieder einmal nicht entscheiden... Schließlich beschloß er, daß er nun doch fertig war. Er trug eine enge Hose, ein weites Hemd, kurze Stiefel und eine extravagante Jacke, natürlich alles wie immer in Schwarz.

"Das sieht nett aus", fand Anshara, nachdem sie ihn ausgiebig gemustert hatte.

"Ich weiß." Jean wühlte in den Schubladen herum, und sie sah ihm interessiert dabei zu. Er ließ ein Messer in den Stiefeln verschwinden, bevor er nach weiteren Sachen kramte, die er in die Jackentaschen stopfte. Schließlich verschwand er noch einmal im Bad und kehrte mit einer extravaganten, glitzernden Halskette zurück.

"Können wir jetzt los?" fragte Anshara.

"Ja."

"Gut. - Oh, ich bin ja schon soooo aufgeregt!"

"Tse", meinte Jean belustigt.

"Naja, was sagt er, was sage ich, was sagen die anderen..."

"Woher soll ich das wissen? Mich beschäftigt eher, was sage ich, wo ich dich her habe?"

"Aus dem Kaufhaus", entgegnete Anshara ohne nachzudenken.

"Haha!"

"Ist doch die reine Wahrheit..."

"Wer glaubt mir, daß ich dich in einem Kaufhaus aufgegabelt habe?"

"Naja, warum sollte man es dir nicht glauben?"

"Weil das kein Grund ist, dich mitzunehmen. Da kann ich schon eher die Sache mit dem Sofa erzählen."

"Das wirst du nicht! Das ist peinlich."

"Für mich nicht. Ich war schneller."

"Püh! - Aber was ist denn nun an dem Kaufhaus schlimmes?"

"Du hattest kein Schild um. - Woher sollte ich wissen, was du bist?"

"Ich bin doch einfach umwerfend, oder? Du hast mich einfach als Snack mitgenommen, genau wie ich dich. Wo liegt das Problem?"

"Dann hätte ich auch zubeißen müssen."

"Du wolltest erst mit mir spielen."

"Und? Naja, ich wollte dann eben zuerst von dir ein Schlückchen probieren, und du warst leider schneller. Aber das mit dem Sofa erzählst du nicht!"

"Schade. Das wäre bestimmt ein paar Lacher wert."

"Püh", schmollte sie. Jean grinste.

"Nun komm. Ich denke mir schon was aus, falls überhaupt einer fragt."

"Gut." Anshara folgte ihm brav.

"Außerdem ist der Prinz ein Ventrue, der hat sowieso andere Interessen als eine Toreador-Dame."

"Zum Beispiel?"

"Geld und Macht. Und seine Brut."

"Wie öde", fand Anshara.

"Er ist öde, aber laß dir das bloß nicht anmerken." In Jeans Augen war dieser mehr ein Geschäftsman als alles andere und somit total uninteressant.

"Keine Sorge, ich werde ihn ganz hoheitlich behandeln."

"Gut."

"So, und wo steckt er nun?"

"In einem barocken Palast in Höchst. Wir nehmen ein Taxi."

Sie riefen ein Taxi und stiegen ein. Das Fahrzeug brachte sie in knapp einer halben Stunde zu der fürstlichen Residenz des Prinzen.

"Ich hoffe, du weißt dich angemessen zu benehmen", äußerte Jean an Anshara gewandt, als sie vor dem Portal standen.

"Das hoffe ich auch", meinte sie, nun erstaunlicherweise eher kleinlaut, als sie die über die über 100 Meter lange Straßenfront des Bolongaro-Palastes betrachtete.

"Ich habe nämlich keine Lust, hier achtkant wieder rauszufliegen."

"Ich auch nicht." Jean musterte sie - sah man da nicht eine gewisse Panik in Ansharas Blick? Gut, dann würde sie hoffentlich vorsichtig vorgehen.

"Bringen wir es hinter uns", meinte er und schob Anshara zur Tür. Sie sah ihn über die Schulter hinweg hochgradig unbehaglich an, ehe sie die Schelle betätigte.

"Du wolltest hier hin", machte Jean sie gnadenlos aufmerksam.

"Nein, du sagtest, ich müßte..."

Die Tür wurde geöffnet, und ein ziemlich grimmig dreinschauender Typ musterte sie fragend.

"Bitte?"

"Ich - äh - möchte gerne bei dem ehrenwerten Prinzen von Frankfurt vorstellig werden..."

Der Türöffner hob amüsiert die Augenbrauen. Aufgrund der englischen Ansprache war zu vermuten, daß es sich um ein reisendes Kainskind handelte, das die Jagderlaubnis in Frankfurt benötigte. Aber er tat seiner Pflicht Genüge und fragte lieber nach, natürlich ebenfalls auf Englisch.

"Wozu?"

"Es ist - äh - geschäftlich."

"Aha", meinte er. Sie versuchte, diskret zu sein. Ein Pluspunkt. Der Türsteher trat zur Seite, um die beiden einzulassen. Jean war noch schweigsamer als sonst und sagte momentan erst einmal gar nichts.

"Danke", sagte Anshara huldvoll und stolzierte in den Palast. Jean folgte ihr, während der Typ die Türe schloß, um dann voranzugehen, um ihnen den Weg zu weisen. Anshara sah sich interessiert um. Dieser Prinz schien nicht schlecht zu leben - die Einrichtung war nur vom Feinsten und auch das nur aus der obersten Preisklasse.

"Hier entlang, bitte." Der Typ öffnete eine Tür und winkte sie herein. Anshara schwebte graziös hindurch. Sie versuchte, die Fassung zu bewahren und möglichst elegant zu wirken. Der erste Eindruck machte schließlich viel aus, und sie wollte nicht wie der allererste Frischling hier hineinstolpern.

Jean wurde an der Tür aufgehalten, während Anshara sich in einem Saal mit frühklassizistischen Wanddekoration und Deckengewölbe befand, an dessen anderem Ende sich einige elegant gekleidete Personen aufhielten. Sie blickte sich ein wenig unsicher um - wo blieb nur Jean? Offenbar blockierte der Hausdiener die Tür und ließ ihn nicht durch. Anshara unterdrückte ein geschocktes Aufquietschen und biß die Zähne zusammen, wobei sie dafür dankbar war, daß die Fangzähne nur dann ausklappten, wenn sie beißen mußte. Ein wenig steif ging sie auf die Versammlung der Vamp- pardon, Kainskinder zu.

Derweil diskutierte Jean lautstark mit dem Türposten, da er ebenfalls hineinwollte. Das veranlaßte die Ansammlung am anderen Ende des Raums, sich geschlossen umzudrehen, um festzustellen, was los war.

Zu diesem Zeitpunkt war Anshara etwa auf der Mitte des Weges, wo sie verharrte und noch einmal nachsah, ob Jean nicht doch noch kam, um ihr zu Hilfe zu eilen. Das wäre ihr entschieden lieber, als all den Leuten alleine gegenüberzutreten. Leider war Jean immer noch mit dem Hausdiener beschäftigt.

"Oh, wir bekommen Besuch", sagte einer der jünger erscheinenden Männer in der Gruppe am anderen Ende des Raumes. Als sie den Kommentar hörte, beschloß Anshara, betont schüchtern zu Boden zu gucken. Das wirkte meistens. Sofort verzog auch ein Großteil der Leute - nämlich fast alle der männlichen Anwesenden - das Gesicht zu einem Grinsen, das soviel aussagen wollte wie 'ah, leichte Beute'. Anshara spähte vorsichtig ein Stück nach oben.

"Guten Abend", sagte sie halblaut in dem Saal und ärgerte sich, daß sie der deutschen Sprache (noch) nicht mächtig war.

"Guten Abend", erwiderte der 'junge' Mann, der gerade gesprochen hatte.

"Ich möchte gerne mit dem Prinzen sprechen", erklärte Anshara mit vornehmer Zurückhaltung und niedergeschlagenen Augen.

"Und was wollt Ihr von ihm?"

"Ich möchte ihn in einer - ä-hem! - geschäftlichen Angelegenheit sprechen."

"Habt Ihr einen Termin?"

"Nein. Aber es ist dringlich!"

"Unzweifelhaft." Der Mann, ein blauäugiger Blondschopf, der wie Anfang zwanzig wirkte, näherte sich Anshara. Diese betrachtete angestrengt ihre Fußspitzen. Eigentlich müßte sich ja flach auf dem Boden liegen, wenn dieser Prinz wie ein Pharao zu behandeln wäre... "Wenn Ihr mir sagt, was Ihr wollt, dann kann ich entscheiden, ob der Prinz Zeit hat."

"Äh, es geht um die Erlaubnis zur Jagd..."

"Aha", meinte der Blondschopf. "Wie wäre es, wenn Ihr mir Euren Namen verrietet?"

"Anshara. Ich heiße Anshara."

"Und?"

"Und was? Nur Anshara. Ich komme aus Ägypten."

"Ihr seid von den Toreador?" stellte er eher fest, als daß er fragte.

"Ja! - Woher wißt Ihr das?" Ziemlich erstaunt sah sie ihn direkt an.

"Intuition."

"Oh." Sie guckte ihn groß aus ihren Bernsteinaugen an, und er betrachtete sie amüsiert. Er war auch ein gutes Stück größer als sie, aber nicht so groß wie Jean.

"Ich bin übrigens Chris - kurz für Christopher."

"Sehr erfreut, edler Herr."

Chris grinste. "Ich werde mal fragen, wie es um Eure Erlaubnis steht", meinte er und ging durch eine andere Tür.

"Laß ihn rein", meinte er im Vorbeigehen zu dem Türsteher, der immer noch mit Jean diskutierte, "sonst läßt er aus Frust wieder etwas mitgehen." Jean guckte ziemlich ärgerlich, schwieg aber lieber, als er den Saal betrat. Anshara, die die Bemerkung auch gehört hatte, sah zu ihm herüber und hob eine Augenbraue.

"Wieder?" fragte sie leise, als Jean zu ihr getreten war. Er tat, als höre er nichts. "Jean...!" flötete sie. "Was hast du 'mitgehen' lassen?"

"Ich lasse nie etwas mitgehen. Ich habe überhaupt nichts gemacht."

"Die scheinen das wohl anders zu sehen." Als Jean mit den Schultern zuckte, musterte Anshara ihn belustigt.

Der Türsteher beäugte ihn immer noch eindringlich, was Jean nicht besonders zu behagen schien. Anshara beschloß, ersteren etwas abzulenken und warf ihm einen ziemlich verbotenen Blick zu. Leider reagierte er nicht darauf, sondern ließ Jean nicht aus den Augen.

"Er kann mich einfach nicht leiden", seufzte Jean. "Aber zum Glück mag Chris mich."

"So scheint es. - Nebenbei, welchen Clan gehört eigentlich Chris an?"

"Ventrue."

"Hm. Sieht man ihm nicht an."

"Du hast doch noch nie einen gesehen."

"Das nicht, aber ich wundere mich, warum der sofort wußte, welchem Clan ich angehöre. Wir haben länger dafür gebraucht."

"Er hat geraten."

"Hm. Die Chancen waren 12:1 dagegen."

"Da ich mit dir gekommen bin, war es leicht. Schließlich schleppe ich keine Clanfremden mit mir herum."

"Hm. Da hast du einen Punkt."

Eine der Ladies aus der Gesellschaft näherte sich Jean mit wiegenden Schritten auf hohen Stöckelabsätzen.

"Hallo Jean", gurrte sie.

"Guten Abend, Camille", erwiderte er und sah die blondgelockte Schönheit ein wenig ungeduldig an. Was wollte die nur wieder? Anshara musterte die Lady stirnrunzelnd. Die sollte es wagen, sich an Jean zu vergreifen! Immerhin hatte sie ihn erst kürzlich zu ihrem Eigentum erklärt, da sie ihn noch brauchte, um in all die Feinheiten des Kainskindseins eingeführt zu werden. Camille hängte sich bei Jean ein.

"Du warst schon zwei Nächte nicht mehr hier", tadelte sie.

"Ich hatte zu tun", verteidigte er sich. Er konnte Camille nicht leiden, da sie ihm immer so unangenehm auf die Pelle rückte, und um so mehr, wenn sie etwas von ihm wollte. Besorge mir doch dies, schenke mir das, so ging es die ganze Zeit.

"Jean, wo willst du hin?" fragte Anshara pikiert und zog ihn von dem ...Blondchen weg und manövrierte sich zwischen Camille und ihm. Jean guckte mehr als irritiert. Was war denn nun los? Anshara sah ihn betont tragisch an. "Du wolltest mich doch beschützen", erklärte sie, ehe sie einen bösen Blick zu 'Camille' herüberwarf.

"Wollte ich?" fragte Jean eher verwirrt. Camille erwiderte Ansharas böse Blicke.

"Du hattest mir etwas versprochen", machte sie Jean aufmerksam.

"So?" fragte Anshara Camille mit vernichtendem Unterton. Die war doch bestimmt auch eine Ventrue und hatte somit nichts an Jean zu schaffen.

Inzwischen war Chris zurückgekehrt.

"Miss Anshara, der Prinz gibt Euch die Erlaubnis." Zu Jean gewandt fuhr er fort: "Was hast du denn heute wieder angestellt?" Er sah von Anshara zu Camille und zurück.

"Ich? Überhaupt nichts. Warum soll ich eigentlich immer etwas gemacht haben?" wollte Jean wissen.

"Das ist überaus aufmerksam vom Prinzen", meinte Anshara erfreut und warf Chris einen hinreißenden Blick zu. "Bitte sagt ihm meinen tiefempfundenen Dank."

"Werde ich tun", entgegnete Chris, ehe er sich an Blondlöckchen wandte. "Camille, ich bin sicher, Andreas vermißt deine Gesellschaft schrecklich." Er drehte sie um und gab ihr einen leichten Schubs in Richtung auf einen braunhaarigen Mann.

"Danke", strahlte Anshara Chris an, ehe sie sich wieder zu Jean gesellte.

"Ich will hier keinen Ärger", eröffnete Chris. "Leider ist dieser üblicherweise unvermeidbar, wenn Jean hier auftaucht."

"Ist das so? Ich finde ihn eigentlich ziemlich harmlos", fand Anshara.

"Meist", meinte Chris amüsiert, was ihm einen bösen Blick von Jean einbrachte. "Aber man sollte nachher auf jeden Fall sicherheitshalber das Silber zählen."

"Ts ts." Anshara warf ihm einen belustigt-tadelnden Blick zu.

"Jetzt hör aber mal auf", protestierte Jean. "Es ist über dreihundert Jahre her, seitdem ich Tafelsilber geklaut habe." Chris grinste bloß.

"Ah, jetzt verstehe ich, warum du sagtest, du machst dir über deine Finanzen keine Gedanken", sinnierte Anshara. Jean murmelte etwas vor sich hin.

"Ich würde nichts von Wert herumliegen lassen, wenn er in der Nähe ist", riet Chris ihr.

"Keine Sorge, ich habe Kreditkarten mit Geheimnummer."

"Da besteht wohl keine Gefahr", stellte Chris fest.

"Es reicht langsam", beschwerte sich Jean. "Oder soll ich hier mal verkünden, womit du deinen Lebensunterhalt bestritten hast?"

"Huch", machte Chris und grinste über das ganze Gesicht. "Das kommt davon, wenn man beim falschen Verein anheuert, das sage ich dir ja schon jahrelang."

"Womit habt Ihr denn Euren Lebensunterhalt verdient", fragte Anshara und sah Chris erwartungsvoll an.

"Laßt Euch das von Jean erzählen. Der war länger da."

"So?" Anshara wandte sich an diesen und klimperte mit den Wimpern.

"Ich würde dir zu gerne den Hals umdrehen", sagte Jean zu Chris. Dieser grinste ihn unverschämt an.

"Das könntest du nie!"

"Oooooch, Jean..." bat Anshara und schmiegte sich an ihn.

"Ihr seid allesamt Sadisten", fand Jean.

"Och, jetzt hat er uns durchschaut." Chris zwinkerte Anshara zu.

"Ich bin bestimmt keine Sadistin", schmollte sie mit ihrem besten Unschuldsblick.

"Eher ein Klammeraffe", maulte Jean.

"Tse, du bist heute aber schlecht gelaunt", erwiderte Chris.

"Ich bin kein Klammeraffe, ich bin eine arme, schwache Frau, die deines Schutzes bedarf", säuselte sie.

"Dabei soll sie doch nur für mich nachsehen, ob du nicht wieder was eingesteckt hast", meinte Chris vergnügt. "Ich weiß ja, wie du es haßt, wenn ich das mache."

"Was soll ich?" fragte Anshara irritiert, dann guckte sie belustigt. "Ach so..." Sie begann mit einer ausführlichen Leibesvisitation bei Jean, dem das überhaupt nicht gefiel.

"Ich glaube, mir ist es doch lieber, wenn du das machst, wenn es denn unbedingt sein muß", wandte er sich an Chris.

"So?" Chris hob amüsiert die Augenbrauen. Das waren ja ganz neue Töne. Anshara guckte leicht schmollig.

"Hast du wenigstens etwas gefunden?" fragte Jean ziemlich gestreßt.

"Nein, leider nicht", seufzte sie. Chris lachte.

"Das erstaunt mich aber." Er angelte nach der glitzernden Kette, die Jean um den Hals trug. "Und wo hast du die her?"

"Gekauft", maulte Jean.

"Wie öde."

"Ich kann ja gerne noch mal nachgucken", schlug Anshara vor. Jean warf ihr einen Blick zu, bei dem eigentlich der Erdboden unter ihr hätte nachgeben müssen. Sie ließ sich davon aber nicht im mindesten beeindrucken. "Soviel Schönheit, wie du eingebaut mit dir herumträgst, muß doch ausgiebig erkundet und bewundert werden", fand sie.

"Laß das ja bleiben", warnte er.

"Seit wann stellst du dich so an?" wollte Chris wissen. "Sonst hattest du doch nie was dagegen."

"Genau", echote Anshara. "Warum stellst du dich so an?"

"Ich bin kein Gegenstand!"

"Habe ich das behauptet?"

"Er hat heute seinen schlechten Tag", meinte Chris belustigt. "Ich muß Euch jetzt verlassen, ich habe noch einiges zu tun."

Anshara winkte ihm fröhlich zu. "Bis dann."

"Tschau", meinte Chris und kehrte zu den anderen Ventrues zurück.

"Der ist niedlich", fand Anshara. "Aber offenbar ziemlich beschäftigt."

"War Chris schon immer." Er hatte sich in den letzten 326 Jahren kein bißchen verändert.

"Was hat er denn früher beruflich gemacht?"

Jean zuckte mit den Schultern. "So dies und das." Eigentlich war Chris ein englischer Student gewesen, der zu Bildungszwecken Europa bereiste. Doch in Paris war ihm dann das Geld ausgegangen. Jean hatte ihn kennengelernt, als er versucht hatte, dessen Geldbörse zu klauen. Natürlich war es ihm gelungen, nur war diese absolut leer gewesen.

"Hm. Mir kam es vor, als ob du auf etwas Bestimmtes angespielt hattest."

"Er wußte schon, was ich meine." Chris hatte damals versucht, eine Arbeit zu finden, was nahezu unmöglich war, denn wer wollte schon einen Fremden einstellen, dem man zudem ansah, daß er aus der obersten Gesellschaftsschicht stammte. Ein paar Mal hatte er dann auch im Les Belles ausgeholfen, dem Bordell, in dem Jean seinen Lebensunterhalt verdiente. Allerdings war er mit seinen 24 Jahren für die dort verkehrende Kundschaft zu alt. Auf jeden Fall waren Jean und er Freunde geworden, und diese Freundschaft hatte auch überstanden, daß sie nun beide zu den Kainskindern gehörten.

"Ich weiß es aber nicht", schmollte Anshara.

"Mußt du es denn wissen?"

"Ja."

"Dann frag ihn doch."

"Er sagte aber, ich sollte dich fragen."

"Weil er weiß, daß ich nichts dazu sage. Immerhin habe ich es ihm versprochen. Außerdem ist das alles zu einer anderen Zeit, in einem anderen Leben gewesen."

"Oh. Aber es würde mich doch einmal interessieren", beharrte sie.

"Chris erzählt dir bestimmt gerne von den ganzen Abenteuern, die er damals erlebt hat."

"Ooooch, Jean", bat Anshara, "erzähle mir doch von deinen Abenteuern."

"Mir ist doch nichts besonderes passiert."

"So, du hast also immer nur zugeguckt, wenn Chris etwas erlebt hat?"

"Wenn ich dabei war", sagte Jean zustimmend. "Meist war ich anderweitig beschäftigt."

"Hm. Und wie?"

"Warum willst du das denn alles wissen?"

"Pure, weibliche Neugierde."

"Ich war früher mal ein Dieb", erzählte Jean schließlich.

"Das klingt ja überaus interessant! Was hast du denn so alles geklaut?"

"Was mir gefiel."

"Das ist ja aufregend! Und man hat dich nie erwischt?"

"Natürlich nicht. Sonst wäre ich wohl kaum hier."

"Wow", machte Anshara. "Bringst du mir das auch bei?"

"Heutzutage ist das viel zu schwierig", wehrte er ab.

"Schade. Dabei sind gerade heute schöne Sachen immer so exorbitant teuer."

"Das ist wahr", nickte Jean und spielte mit seiner Kette herum.

"Aber vielleicht lassen sich dennoch Mittel und Wege finden..."

"Hm", machte er.

"Meinst du, es ist so schwierig?"

"Es geht."

"Dann bringe es mir bei", forderte sie.

"Ablenkung ist alles", erklärte Jean.

"Ah, das ist einfach." Anshara setzte ihr bezauberndstes Lächeln auf.

"Eben", meinte er belustigt und zog eine Geldbörse aus seiner Tasche.

"Wem gehört die denn?" fragte Anshara leise.

"Chris."

"Oh." Sie kicherte. "Ich dachte, der kennt dich."

"Sicher. Aber ich habe sie mitgenommen, weil er mich geärgert hat."

"Komisch, ich habe das gar nicht bemerkt."

"Du warst auch damit beschäftigt, mich zu durchsuchen."

"Oh. Naja, es hat halt Spaß gemacht. - Jean, das mit dem Stehlen mußt du mir beibringen. Das ist echt praktisch."

"Ich weiß. Aber ich sollte das jetzt besser zurückgeben." Er spielte mit der Börse herum, ehe er zu Chris ging und sie ihm feierlich überreichte. Chris guckte reichlich verdattert, und Jean grinste ihn an, bevor er sich eilig aus dem Staub machte. Anshara fand das ziemlich witzig.

"Ich glaube, ich gehe jetzt lieber", wandte Jean sich an sie.

"Und ich glaube, ich komme mit", sagte sie.

Die beiden machten sich aus dem Staub. Beim Verlassen des Hauses drückte einer der Ventrue Jean noch einen Zettel in die Hand.

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