Fünf Nächte im Unleben eines Kainskindes
(c) 1995 by Shavana & Stayka
Kapitel 2: Dark Mirror
Mittlerweile war der 29. Dezember 1981 schon gut zwei Stunden alt.
Im Hotel durchsuchte Anshara ihre ganzen Taschen und Tüten
sowie den Berg auf ihrem Bett nach einem passenden Gewand.
"Welches von den Kleidern würdest du denn für
angemessen halten?" wandte sie sich nach gut zehn ratlosen Minuten
an Jean. Dieser hatte ihre ergebnislose Suche leicht amüsiert
beobachtet.
"Ich finde alle hübsch", erwiderte er. Auch wenn er
einiges als ausgesprochen unpassend für einen Club-Besuch empfand.
"Seufz. Hast du eine Lieblingsfarbe? - Ich kann mich doch nur
so schwer entscheiden."
"Schwarz ist mir eigentlich am liebsten." Da er schon als
Kind nur Schwarz getragen hatte, war das wahrscheinlich schon eher eine
Gewohnheit denn eine Vorliebe.
Anshara wühlte sich erneut durch die Berge. "Da habe ich
doch auch etwas", murmelte sie und zog ein ärmelloses,
bodenlanges Kleid mit über Kreuz verlaufenden Trägern hervor.
Zwei separate Ärmel folgten nach, bevor sie im Bad verschwand, sich
umzog und ihr Make-Up neu arrangierte. Als sie wieder erschien,
betrachtete Jean sie ausgiebig.
"Hübsch", kommentierte er, und sie strahlte ihn
umwerfend an, ehe sie einen Knicks zelebrierte, wie sie es schon mal im
Fernsehen gesehen hatte.
"Danke, edler Herr", lächelte sie.
"Ich glaube, ich sollte mich jetzt auch umziehen",
kommentierte er seinen Aufzug aus schwarzer Jeans, schwarzem Sporthemd
und ebensolchen Schuhen. Er kam sich neben Anshara irgendwie unpassend
vor.
Sie machten sich also auf zu Jeans Absteige. Da er das Zimmer
ohnehin hauptsächlich als Kleiderlager benutzte, hatte nicht viel
Wert auf luxuriöse Ausstattung gelegt.
"Das ist aber ein winziges Zimmer", fand Anshara.
Außerdem sah es aus, als hätte gerade eine Bombe in einem
Konfektionsgeschäft für ausschließlich schwarze Kleidung
eingeschlagen.
"Dafür ist der Raum fensterfrei", entgegnete Jean und
stöberte in der Unordnung herum. Er warf den größten
Teil der Sachen einfach auf die andere Seite des Zimmers.
"Das ist ja auch einiges an Sachen", bemerkte sie.
"Das hat sich so im Laufe der Zeit angesammelt." Die
Kleiderflut war auf einen Kaufrausch vor zwei Wochen
zurückzuführen.
"Na, dann gewande dich mal um!"
"Wenn ich mich nur entscheiden könnte", seufzte er.
"Hm. Was ist damit?" Mit einem zierlichen Fuß
deutete sie auf eins der schwarzen Häuflein. Jean warf einen Blick
darauf.
"Ich glaube, ein Hausmantel wäre unpassend",
kommentierte er belustigt.
"Naja, es war schwarz..."
"Wie du vielleicht siehst, sind meine ganzen Sachen
schwarz", erwiderte er erheitert.
"Dabei würde dir Türkis bestimmt auch prima
stehen."
"Meinst du?" fragte Jean zweifelnd. In einer anderen
Farbe konnte er sich gar nicht vorstellen.
"Klar. Das paßt zu deinen Augen."
"Stimmt, die sind türkis."
"Naja, momentan bleibt dir wohl keine andere Wahl als
schwarz..."
"Genau." Jean fischte endlich etwas passendes vom Boden
auf. Er stieg aus seinen Schuhen, die im nächsten Moment in einer
Ecke landeten und zog sich um. Anshara betrachtete ihn ungeniert und
fand, daß er wirklich unverschämt gut aussah.
"So, ich bin fertig", verkündete Jean
schließlich.
"Stimmt", befand Anshara. "Du siehst höchst
vollendet aus."
"Vollendet?" Er hob amüsiert die Augenbrauen.
"Ja. Perfekt. Man kann sich mit dir sehen lassen."
"Was für ein Kompliment... - Gehen wir zum Club!"
"Ich bin schon überaus gespannt." Anshara reichte ihm
ihren Arm, den er galant ergriff.
"Auf geht's."
Im Taxi ließen sie sich zum Nachtclub chauffieren. Der Wagen
hielt in einer Straße etwas außerhalb der City Frankfurts.
Über der Tür des Etablissements stand in neonfarbenen Lettern
der Name Dark Mirror.
"Hm", machte Anshara, als sie die Neonbuchstaben
erblickte. "Man sollte doch eigentlich meinen, daß deutsche
Etablissements auch deutsche Namen tragen, oder?"
Jean zuckte mit den Schultern. "Eher selten, scheint
mir."
"Merkwürdige Leute, diese Deutschen."
Die beiden betraten die Bar, und Anshara sah sich interessiert um.
Alles war in Schwarz und Rauchglas eingerichtet. Am meisten
faszinierten sie jedoch die glänzenden schwarzen Spiegel an den
Wänden. Ihr Abbild wirkte irgendwie geheimnisvoll darin. Jean sah
sich ebenfalls um, allerdings hatte er weniger Blicke für die
Einrichtung, er war schließlich schon mal hier gewesen.
Anshara war derweil in ihrer Reflektion in dem schwarzen Glas
versunken. Sie sah wirklich atemberaubend aus, das mußte sie
selbst zugeben. Das einzige, was fehlte, war passender Schmuck, aber
der Rest - Perfektion. Diesmal stand Jean etwas genervt neben ihr, bis
er ihr schließlich auf die Schulter tippte.
"Huh?" verdutzt sah sie sich um. "Was ist? Wer? -
Oh, Jean..."
"Willst du noch länger in der Tür
stehenbleiben?" Sie versperrte ziemlich den Weg.
"Äh, ich habe nur eben den Spiegel gesehen. Ich habe
irgendwie vergessen, mir den passenden Schmuck anzulegen..."
"Ich finde, du siehst auch ohne schön aus."
Eigentlich fand er sie ohne das ganze Glitzerzeug viel aufregender.
"Gut." Ein strahlendes Lächeln erhellte ihr Gesicht.
Sie liebte Komplimente. Jean zog sie von der Tür weg zu einem nur
Kainskindern zugänglichen Raum, der von einem Ghul bewacht wurde.
Er führte sie zu einem Tisch, und Anshara nahm graziös Platz.
Er ließ sich ebenfalls nieder und ließ seinen Blick
über die Anwesenden schweifen. Leider war niemand da, den er
kannte.
"Äh, Jean, was sagen wir eigentlich, wenn ein Kellner
kommt und wir etwas bestellen sollen?"
"Laß mich nur machen", winkte er ab.
"Gut. Ich vertraue mich ganz dir an", hauchte sie mit
einem ihrer besten hingebungsvollen Blicke. Sie liebte es, etwaigen
Herren die Illusion zu geben, daß diese die Entscheidungen trafen.
Als der Kellner erschien, flüsterte Jean ihm etwas zu. Der
Mann nickte und verschwand. Der Club war bekannt dafür, daß
er jeden noch so ausgefallenen Wunsch zu erfüllen wußte.
Kurz darauf wurde die Getränke gebracht. Jean betrachtete
gerade fasziniert einige Kristalle, die an langen Schnüren von der
Decke hingen, während Anshara einen Spiegel hinter ihm entdeckt
hatte, in dem sie sich optimal bewundern konnte.
Schließlich bemerkte Jean die Weinkelche und nahm seinen in
die Hand. Fasziniert betrachtete er das Spiel des Lichts in den
Façetten des kostbaren Kristallglases. Anshara war mehr von dem
Kelchinhalt selber gefesselt. Rubinrot, dickflüssig und von einem
gar köstlichen Duft...
Jean hielt ihr den Kelch entgegen, und sie stieß mit ihm an.
Er betrachtete sie amüsiert, als sie einen vorsichtigen Schluck
nahm.
"Mhm", machte sie anerkennend. Der Inhalt schmeckte
beinahe besser als frisches Blut, fand sie.
"Zufrieden?"
"Und wie! Dieses Lokal weiß seine Gäste zu
verwöhnen."
"Durchaus", stimmte Jean zu und nahm noch einen Schluck
aus dem Kelch, wobei er Anshara über den Rand weg beobachtete.
Allerdings wußten sie hier auch sehr gut, wie man den Gästen
das Geld aus der Tasche zog, die Preise waren horrend.
Anshara nippte geziert von ihrem Trinkgefäß und erhob
dieses schon fast zu einer Kunstform.
"Gefällt es dir hier?" fragte Jean.
"Oh ja", erklärte Anshara begeistert. "Es hat
Stil."
"Eben", meinte Jean und spielte mit einer der schwarzen
Rosen herum, die auf dem Tisch standen.
"Und es hat einen gut bestückten
Getränkekeller." Sie nippte ein weiteres Mal von dem Kelch.
"In der Tat. Einiges ist besonders exquisit",
erklärte Jean.
"Ich bin durchaus versucht, einige der Varianten zu
probieren."
"So? Sei aber vorsichtig", warnte er amüsiert.
"Ich merke schon, dieses Gebräu ist ziemlich potent",
stimmte Anshara zu.
"Es gibt hier noch ein paar 'stärkere'
Getränke."
"Hm, dabei hielt ich schon dieses hier für nicht ganz
ungefährlich." Sie nahm einen weiteren Schluck.
"Ist es auch nicht", kommentierte er belustigt.
"Was haben die nur damit gemacht?"
"Ich weiß es nicht genau - sie haben das Blut mit
irgendetwas versetzt." Die Rezepte der Mixturen waren ein gut
gehütetes Geheimnis.
"Ah. Das müßte man mal selbst ausprobieren. Bei
meinen Medizinstudien habe ich gelesen, daß es eine
Behandlungsmethode gibt, bei der mit Ozon versetzte
Eigenblut-Injektionen verabreicht werden. Ich frage mich, wie so etwas
wohl schmecken würde..."
Jean zuckte mit den Schultern.
"Mal sehen", überlegte Anshara, "vielleicht
mache ich eine Naturheilpraxis auf, wenn ich mein Fernstudium
abgeschlossen habe."
Sie guckte so grüblerisch in die Ferne, daß Jean sich ein
amüsiertes Lächeln nicht verkneifen konnte, ehe er sein Glas
leerte. Er hatte vor, noch das eine oder andere von dem zu probieren,
was ihm empfohlen worden war.
Als Anshara ihren Kelch geleert hatte, bestellte Jean eine weitere
Runde, die diesmal in silberfarbenen Pokalen serviert wurde, welche von
außen beschlagen waren. Anshara nahm den ihren in die Hand.
"Huch", machte sie, "das ist ja
eisgekühlt!"
"Genau", entgegnete Jean und prostete ihr zu. Sie
stießen abermals an, und nach dem ersten Schluck guckte Anshara
erstaunt.
"Wow", machte sie. Ihr Gegenüber warf ihr einen
herausfordernden Blick zu, und sie senkte schüchtern die Lider.
Was Jean nicht erwähnt hatte, war die Tatsache, daß das
eisgekühlte Blut für die Kainskinder eine ähnliche
Wirkung hatte wie Alkohol für die Menschen. Er bemerkte dies schon
nach den ersten Schlucken, und er war gespannt, wie Anshara darauf
reagierte.
Diese hatte sich bislang eigentlich nur von Frischblut ernährt
und fiel prompt auf das 'Rauschmittel' herein. Schon bald warf sie Jean
unentwegt begehrliche Blicke zu, was diesen natürlich ungemein
amüsierte. Er erwiderte ihre Blicke diesmal direkt, wohl wissend,
daß auch er nicht mehr ganz 'nüchtern' war.
Anshara fragte sich nur am Rande, weshalb sie sich auf einmal so
...kuschelig fühlte. Ob das an dem Tiefkühlblut lag? Auf
jeden Fall rutschte sie erst mal ein Stück näher, um seine
herrlich türkisfarbenen Augen eingehend zu bewundern. Die Farbe
war wahrhaft himmlisch und erinnerte sie an ihr lange vergangenes
sterbliches Leben, wenn der Himmel über Karnak am frühen
Nachmittag diese Tönung angenommen hatte.
Jean stützte das Kinn auf die Hände und betrachtete sie
eingehend. Er fand dieses Spiel aufregend.
Derweil fuhr Anshara in ihrer Betrachtung fort. Seine Haare, so
reflektierte sie, schienen wie der Himmel zu Mitternacht zu sein -
samtige Dunkelheit mit tiefblauen Lichtern, wo der Schein der Lampen
darauf fiel.
"Noch etwas zu trinken?" fragte Jean, da sie ihren Pokal
unbemerkt geleert hatte.
"Gerne", schnurrte sie wohlig und rutschte ein weiteres
Stück in seine Richtung.
"Es ist nicht ungefährlich", warnte er sie.
"Hm. Momentan fühle ich mich eigentlich richtig
gut", seufzte sie und ergriff seine Hand.
"Ich denke, du bist ein bißchen angeheitert."
"Kann sein. Aber es gefällt mir." Mittlerweile hatte
sie Jeans Standort erreicht, und er guckte sie amüsiert an.
"Du bist heute extrem kontaktfreudig, oder wie sehe ich
das?"
"Hm... Ich würde gerne etwas kuscheln", stellte sie
mit einem besonders hingebungsvollen Blick fest. Ein bißchen
verwunderte sie das doch, denn sie war schon seit längerem nicht
mehr auf eine solche Idee gekommen.
"Ach ja?" fragte Jean vergnügt, woraufhin sie ihren
Kopf an seine Schulter legte. Nun, solange sie nicht an seinen Hals
wollte, konnte er das tolerieren.
"Ich mag dich", fand sie. "Du bist echt schön
für einen Mann." Jean gefiel ihre Bewunderung natürlich.
"Aber bestimmt hast du das schon des öfteren
gehört..."
"Doch", gab er zu.
"Seufz. Und wie oft?"
"Ich habe nicht gezählt."
"Hm", machte Anshara. Aus irgendeinem Grund gefiel ihr
das gar nicht. "Das sind ein paar zu viele", fand sie.
"Kann ich nicht sagen," protestierte Jean. Das
konnte man ihm nicht oft genug sagen.
"Hm." Offenbar war sie entschieden anderer
Ansicht.
Derweil hatte Jean je einen weiteren Becher geordert. Nach dem
nächsten Schluck saß Anshara auf seinem Schoß.
"Ich glaube, nach diesem Drink sollten wir lieber gehen",
kommentierte Jean. Wer wußte schon, was Anshara in ihrem Rausch
noch anstellen würde.
"Meinst du?" Sie begann, seine Frisur zu zerpflücken.
"Na", machte Jean und schüttelte den Kopf.
"Oh, das bietet sich gerade so schön an", fand sie
und fing die Strähnen wieder ein.
"Ich denke, wir gehen sicherheitshalber jetzt sofort",
bestimmte Jean. Bevor Anshara noch auf irgendwelche dumme Gedanken kam.
"Na gut. Aber ich habe noch nicht ganz ausgetrunken."
"Dann tue das. Es ist nicht klug, noch länger hier zu
verweilen."
"Stimmt." Als sie einen Blick in die Runde warf, bemerkte
sie, daß einige Leute schon belustigt zu ihnen
herüberguckten. Sie kippte rasch den Rest der Flüssigkeit
herunter. Jean sah sie an.
"Wie wäre es, wenn du dich nun von mir erhebst?"
"Na gut..." Sie stand auf und machte einen etwas
unsicheren Schritt. "Hups!"
Jean fing sie auf, und sie schmiegte sich in seine Arme. Er winkte
dem Kellner und bezahlte schnell die Getränke.
"Jetzt komm, ich bringe dich zu deiner Unterkunft
zurück."
"Du kannst auch gerne bleiben", gurrte sie.
"Ich bin kein Fan von Badewannen."
"Schaaade", seufzte Anshara und sah schmachtend zu ihm
hoch. Jean seufzte ebenfalls und zog sie hinter sich her zu einem Taxi.
Er versuchte, sie möglichst unauffällig in ihre Suite zu
verfrachten und schwor sich, nie wieder jemandem eisgekühltes Blut
zu servieren, der es nicht vertrug.
Es gelang ihm tatsächlich, sie zu ihrer Suite zu tragen (die
Tatsache, daß das Hotel einen Fahrstuhl hatte, half dabei
beträchtlich). Als er sie aber in ihrer ausgepolsterten Wanne
ablegen wollte, zog sie ihn zu sich herab, woraufhin Jean das
Gleichgewicht verlor und gegen die Kante der Wanne prallte. Er fluchte
sehr blumenreich auf Französisch.
"Oooh", machte Anshara mitleidig und begann, ihn zum Trost
zu streicheln.
"Nie wieder", schwor sich Jean.
"Was?" Sie schaute ihn tragisch an.
"Nie wieder gehe ich mit jemandem in den Club, der nichts
verträgt."
"Ich habe so etwas halt noch nie zuvor probiert",
verteidigte sie sich.
"Dafür bin ich nun ziemlich lädiert."
"Das tut mir leid. Soll ich dich trösten?"
Jean seufzte und versuchte, sich darauf zu konzentrieren seine
lädierten Rippen zu heilen. Leider war er auch nicht ganz
nüchtern, so daß ihm die Konzentration ziemlich schwerfiel.
Anshara zupfte an seinem extravaganten Hemd herum, um sich die
Bescherung anzusehen, während Jean immer noch vor der Wanne kniete
und versuchte seine Gedanken zu sammeln.
Als Anshara ihn endlich von dem Hemd befreit hatte, mußte sie
feststellen, daß er wirklich ein wenig zerdetscht aussah. Aber
mehr war nicht passiert, und so begann sie erneut mit seinen Haaren
herumzuspielen. Da Jean jedwede Makel an seiner Person verabscheute,
nahm er sich soweit zusammen, daß er sich heilen konnte, auch wenn
es ihn einiges an Kraft kostete.
Als er wieder perfekt aussah, seufzte Anshara und betrachtete ihn
ausgiebig. Jean ließ sich erschöpft über die Kante der
Wanne hängen.
"Seufz", gab er von sich. Anshara kicherte und gab ihm
einen Kuß. Irgendwie war der echt süß.
"Wie gut, daß wir allein sind", befand Jean.
"Ich habe mich total blamiert."
"Klar", kicherte sie und sah ihn belustigt an.
"Etwa nicht?" fragte Jean und rührte sich immer noch
nicht.
"Ich finde dich niedlich."
"Ich finde mich eher was ganz anderes..."
"So?" Anshara legte den Kopf schief und peilte von ihrem
Kissenlager in der Wanne zu ihm hoch.
"Ja", meinte Jean und hob den Kopf. "Total
blöd. Ich habe wahrscheinlich wieder mal sämtliche Ahnen
blamiert, weil ich mit ihnen verwandt bin."
"Sie brauchen es ja nicht zu erfahren", schlug Anshara
vor. "Außerdem bin ich doch auch eine davon - oder wie war
das? - und ich fühle mich nicht sonderlich blamiert."
"Du hast aber im Clan nicht viel zu sagen. Und was mich
betrifft, so gab es einen ziemlichen Kampf, ob mir überhaupt der
Status eines Neugeborenen gewährt werden konnte."
Normalerweise gewährte man niemandem, der so jung und unerfahren
war wie er, diesen Status. Allerdings war es auch nicht möglich
gewesen, daß er zu seinem Erzeuger zurückkehrte.
"So? Warum das?"
"Es gab einige, die behaupteten, ich wäre nicht in der
Lage, für mich alleine zu sorgen."
"Es scheint dir doch zu gelingen, oder?"
"Wenn ich an heute denke, eher nein." Es war einfach nicht
zu übersehen, daß er kaum Erfahrungen hatte. Ganz zu
schweigen davon, daß seine Kenntnisse in den diversen Diziplinen
ziemlich zu wünschen übrig ließen.
"Hm." Anshara griff erneut nach Jeans Haaren. Die waren
so schön weich und seidig...
"Was hast du nur mit meinen Haaren", fragte er
fatalistisch.
"Die gefallen mir." Sie sah ihn bewundernd an.
"Was ist daran so besonders?"
"Naja, sie haben eine praktische Länge, und sie sind so
schön weich."
Jean hob amüsiert die Augenbrauen. 'Schön weich' war eine
ungewöhnliche Beschreibung für seine struppige Mähne.
"Ich finde das manchmal eher unpraktisch. Es ist andauernd
verfitzt und hängt überall drin."
"Mir gefällt es jedenfalls", erklärte Anshara.
Jean schüttelte den Kopf, um seine Haare wieder
zurückzuerobern. Anshara seufzte und gab nicht auf, danach zu
angeln. Schließlich erhob sich Jean, um sich in Sicherheit zu
bringen.
"Ooooch, Jean..." Anshara setzte sich in der Wanne auf.
"Warum willst du schon gehen?"
"Soll ich nicht?" fragte er und versuchte sich an einigen
Konzentrationsübungen.
"Nein."
"Es ist fast Tag." Und er hatte garantiert keine Lust,
sich der Sonne auszusetzen.
"Hier ist es dunkel."
"Schon", gab Jean zu. "Aber es ist ein
Badezimmer."
"Seufz."
Jean tat es ihr gleich. Er wollte eigentlich gar nicht gehen, aber
bleiben eigentlich auch nicht. Und nun sah sie ihn schon wieder mit
diesem herzzereißenden Blick aus ihren Bernsteinaugen an.
"Nun gut, ich bleibe", entschloß er sich, da er es
ja doch nicht übers Herz bringen würde, sie so einsam
zurückzulassen.
"Prima." Anshara schmachtete ihn an, was er tunlichst zu
ignorieren versuchte. Wer wußte, was geschehen würde, wenn
er der Versuchung nachgab, also beschäftigte er sich erst einmal
mit seinem Spiegelbild.
"Da ist eine Bürste auf der Ablage", machte sie ihn
kichernd aufmerksam. Jean seufzte ziemlich gestreßt und
striegelte sich erstmal gründlich. Anshara fand das sehr
praktisch, denn dann konnte sie ihn gleich wieder richtig zerstrubbeln.
Schließlich legte er die Bürste beiseite, ehe er sich
ausgiebig dehnte und streckte. Eigentlich war es jar Zeit für ein
bißchen Training. Auch Vampire verloren Fähigkeiten, wenn
sie nicht regelmäßig etwas dafür taten, und seine
Talente waren nun einmal fast ausschließlich körperlicher
Art.
Anshara betrachtete ihn anerkennend. Er sah nicht nur toll aus,
sondern er bewegte sich auch noch mit einer unnachahmlichen Grazie. Und
für heute war er erstmal hier...
Jean versank versank wieder einmal völlig in Gedanken; er
betrachtete sich doch zu gerne im Spiegel. Außerdem war er
momentan ohnehin in einer merkwürdigen Laune. Er versuchte ein
paar Bewegungen, die mal seine volle Geschwindigkeit ausnutzten und war
durchaus damit zufrieden.
Anshara seufzte hingebungsvoll. Jean war wahrhaft
anbetungswürdig schön, und man sollte ihn irgendwo ausstellen.
Da sie laut gedacht hatte, hörte Jean ihre Äußerung und
guckte amüsiert.
"Was dachtest du? Deshalb wurde ich erwählt." Er
lächelte. "Und ich gebe zu, ich liebe es, bewundert zu
werden." Weshalb er sich auch ganz gerne als Modell für
diverse Künstler zu Verfügung gestellt hatte.
"Stimmt. Du hast was", fand sie.
"Ich weiß", stimmte er zu. "Und ich versuche
permanent, es zu intensivieren."
"So? Wie denn?"
"Indem ich meine Bewegungen verbessere, an Eleganz und Geschick
gewinne. An meinem Aussehen kann ich ja nicht viel ändern."
Leider, dachte Jean, er wäre gerne etwas muskulöser gewesen.
"Wozu auch? - Hm. Ich glaube, an meinen Bewegungen
könnte ich auch mal arbeiten. Auch wenn ich früher im Tempel
in Tanz und eleganten Schreiten unterwiesen wurde, helfen 3809 Jahre im
Sarkophag der Kondition nicht sonderlich."
"Vermutlich." Auch die Jahre, die Jean eingesperrt
verbracht hatte, hatten sich in seiner Form niedergeschlagen. Er
stellte einen Fuß an die Wand, um ein paar Dehnübungen zu
absolvieren.
"Hm", überlegte Anshara, "vielleicht sollte ich
mal ein Fitneßstudio aufsuchen."
"Ich war mal im Ballett", eröffnete Jean
überraschend. Allerdings nicht lange, da es langsam auffiel,
daß die ganzen Tänzerinnen pötzlich an Blutarmut
litten...
"Oh", machte Anshara und ließ ihre Blicke wieder
über seinen wohlgeformten Körper schweifen. "Kannst du
noch etwas davon? Und führst du mir das eine oder andere mal
vor?"
"Ich glaube nicht, daß das für dich so interessant
wäre. Ich benutze nur noch ein paar Übungen davon.
Hauptsächlich Drehungen." Viel mehr hatte er auch nie gelernt.
"Mhm. Ich kann noch die diversen Tänze, die die
Priesterinnen im Tempel aufführen mußten und auch die, die
die Mädchen in der Schule lernten."
"Ja?" Jean sah sie an. "Tanzen kann ich weniger.
Ich finde dieses Geschreite eher öde." Er dachte an die
Tänze, die zu seiner Lebzeit aktuell gewesen waren. Das heutige
Gehopse war doch kein Tanzen.
"Oh. Ich tanze gerne. Aber bei uns sah das wohl anders aus
als die neumodischen Sachen, die du wohl gelernt hast." Anshara
entstieg der Badewanne und wiegte sich graziös zu unhörbarer
Musik.
Jean betrachtete sie anerkennend.
"Hübsch", fand er. Er beschloß, es
sicherheitshalber zu vermeiden, sie direkt anzusehen, damit sie ihn
nicht wieder mit ihrem Blick einfangen konnte. Anshara fand es
irritierend, daß er so oft wegsah, wenn sie ihn anschaute.
Momentan schien er vollständig von den Bodenfliesen fasziniert zu
sein.
"Huhu, Jean", machte sie und guckte zu ihm hin.
"Warum läßt du mich so selten in deine Augen
blicken?"
"Nun, das ist ein komisches Gefühl." Er runzelte die
Stirn. "Ich vergesse alles um mich herum, und das passiert mir
ohnehin viel zu oft." Er guckte jetzt doch wieder richtig hin.
"Du hast Augen wie eine Katze", stellte er fest. "Oder
doch eher wie ein Wolf."
"Lieber wie eine Katze. Die sind heilig. Wölfe mag ich
nicht."
"Naja, es gibt auch Katzen mit gelben Augen. Ich hatte auch
mal eine Katze, aber die hatte dieselbe Augenfarbe wie ich."
"Du hattest?"
"Ich habe mich nicht freiwillig von ihr getrennt", sagte
Jean ein wenig betrübt. Er vermißte Diable, der Kater hatte
ihn oft über seine Einsamkeit hinweggetröstet.
"Oh. Eine verlorene Katze ist ein großer
Trauerfall", stimmte Anshara zu. In ihrer alten Heimat trug die
ganze Familie beim Tod der Hauskatze Trauer, und das Tier wurde auch wie
ein Mensch einbalsamiert und bestattet.
"'Sie' war eigentlich ein 'er'", führte Jean aus.
"Er war so schön flauschig und ganz schwarz."
Anshara seufzte mitleidsvoll, trat zu ihm und strich durch seine
Haare. Schwarz und flauschig waren die auch. Sie fand es amüsant,
daß der Kater auch noch Jeans Augenfarbe gehabt haben sollte.
"Das war nicht meine Idee", sagte er, als ob er ihre
Gedanken gelesen hätte. "Das hat mein Erzeuger so
eingerichtet."
"Ach, hat er dich passend zum Kater ausgesucht?"
erkundigte sie sich belustigt.
"Hm. Weiß ich nicht. Jedenfalls hat er mich genauso
behandelt." Er hatte sie beide permanent herimkommandiert, weshalb
sie auch des öfteren ausgerissen waren.
"Dann ist es ja gut. Schließlich soll man Katzen
verehren."
"Davon hat er wohl nicht so viel gehalten." Jean verzog
das Gesicht bei der Erinnerung.
"Wie bitte? Er hat es gewagt, eine Katze zu mißhandeln?
Wenn ich den in die Finger kriege..."
"Dem Kater hat er nie etwas getan. Der gehorchte ihm ja
notgedrungen. Ich vermute, daß er sich immer noch irgendwo
herumtreibt, aber er wird mich vermutlich gar nicht mehr erkennen."
"Hm. Wenn er doch dein Erzeuger ist..."
"Ich spreche von dem Kater, nicht von Simon!"
"Oh." Anshara kicherte los, und Jean guckte beleidigt.
Sie kriegte sich nicht mehr ein, und das führte natürlich
dazu, daß er nun total einschnappte.
"Ooooch, armes, schwarzes Katerchen." Sie vergrub ihre
Hände in seiner Mähne. Unwillig befreite Jean sich.
"Laß das! Ich mag das nicht." Er haßte es,
wenn sich jemand über ihn lustig machte.
"Schade", seufzte sie, aber Jean war nun verärgert
und trug dies auch deutlich zur Schau. Dies hinderte jedoch nichts
daran, daß Anshara ihn einfach nur süß fand und ihn
gewinnend anlächelte. Diesmal senkte Jean nicht den Blick, sondern
versuchte, Anshara niederzustarren. Sie setzte ein betont
süßes Lächeln auf und näherte sich ihm mit
ausgesucht verführerischen Bewegungen, so wie es sie die
Tanzmeisterin gelehrt hatte.
Jean stand regungslos da. Es fiel ihm schwer, ihr zu widerstehen,
aber er hatte beschlossen, diesmal seine ganze Kraft darauf zu
konzentrieren. Anshara runzelte die Stirn. Er leistete ihr auf einmal
Widerstand, bemerkte sie verwundert.
"Was ist?" stichelte Jean. "Ist das alles, was du
kannst?"
"Püh!" Sie stampfte verärgert den Fuß auf.
"Das ist unfair! Du wehrst dich ja!"
"Was dachtest du?"
"Daß du meinem unnachahmlichen Charme erliegst, wie es
sich gehört!"
"Ich denke gar nicht daran."
Sie setzte einen Schmollmund auf und klimperte mit den Wimpern.
Irgendwie mußte er doch einzuwickeln sein. Jean guckte irritiert.
Es war so seltsam, wenn sie plötzlich von einer Stimmung zur
anderen wechselte.
"Was hast du nur, daß du so ärgerlich bist?"
Sie schenkte ihm ein schmelzendes Lächeln, trat auf ihn zu und
schmiegte sich an ihn. Jean fand das absolut unfair, da er sich nicht
konzentrieren konnte, wenn sie so gemeine Mittel verwendete. Und jetzt
strich sie ihm noch sanft über die Wange und sah ihn aus
großen, schimmernden Augen an! Das hatte Anshara jedoch schon vor
ihrem Start ins Unleben perfekt beherrscht, und es hatte ihr die
Erleichterung fast aller ihr auferlegten Strafen verschafft.
"Ich hasse es, wenn mich jemand so manipuliert",
beschwerte sich Jean.
"Das ist keine Manipulation", behauptete sie. "Ich
agiere nur zu deinem besten."
"Ich bin nicht dumm", widersprach Jean. "Du
manipulierst mich mit allen Mitteln, die dir zur Verfügung
stehen."
"Aber ich bin doch nur eine arme, schwache Frau..." Sie
sah schüchtern zu Boden.
"Dafür kannst du mich anscheinend mit Leichtigkeit in die
Knie zwingen", seufzte er.
"Dabei bist du doch so groß und stark",
säuselte sie. Es fiel ihr gar nicht so leicht, dabei eine
ernsthafte Miene beizubehalten, aber wenn sie zu kichern begann,
würde das den ganzen Effekt vernichten.
"Wenn du mir schmeichelst, ändert das nichts an der
Tatsache."
"Findest du das denn sehr schlimm?" Sie fuhr mit
den goldlackierten Fingernägeln über seine Vorderfront.
"Ich fühle mich gefangen", beschwerte er sich.
Anshara musterte ihn interessiert und war sehr zufrieden mit dem
Ergebnis. Jean hingegen fand die Situation höchst beunruhigend.
"Und was hast du nun vor?" fragte er nach einer unbehaglichen
Pause.
"Du könntest mir doch ein bißchen über die
hiesigen Gepflogenheiten erzählen. Ich meine, die Verhaltensformen
unter Vampiren und so."
"Wenn du willst", entgegnete Jean. "Was
möchtest du denn wissen?"
"Zunächst einmal, was welcher Clan für Sitten und
Gebräuche hat. Das dürfte wohl nicht unwichtig sein."
"Hm", machte Jean. "Ich bin kein
Etikette-Gelehrter."
"Schade. Dann erzähle mir doch einfach alles, was du
für wichtig empfindest."
"Ich vermute, du hast Zeit", seufzte er.
"Alle Zeit der Welt, wenn ich richtig informiert bin."
"Leider", kam es von ihrem Gegenüber. Er spielte
nicht so gerne den Alleinunterhalter und außerdem hatte er auch
nicht viel zu sagen. Er gab ein paar Regeln, sicher, aber das meiste
beruhte auf seinen Erfahrungen und die konnte er irgendwie nur schwer in
Worte fassen.
"Ooooch Jean", schmachtete sie ihn an.
"Nun gut. Es gibt sechs Traditionen, die den Gesetzeskodex der
Kainskinder bilden." Damit konnte er auf jeden Fall anfangen, die
Traditionen mußte ein junges Kainskind eh immer lernen.
"Der was bitte?" fragte Anshara irritiert.
"Der Kainskinder", wiederholte Jean geduldig.
"Aha. Das sind also wir? Warum heißt das so?"
"Wer sagt schon, er sei ein Vampir?" gab er zurück.
"Außerdem hat das irgendwas mit Kain und Abel zu tun."
"Kain und Abel?" Anshara runzelte nachdenklich die Stirn,
dann erhellte sich ihr Gesicht. "Hatte das nicht irgendwas mit
diesem neumodischen Christenglauben zu tun?"
"Doch", stimmte Jean zu. "Aber viel Ahnung habe ich
nicht davon." Er war eingeschlafen, als sein Erzeuger ihm die
Geschichte erzählt hatte.
"Ich habe mal irgendwo gelesen, daß diese 'Bibel' an die
achthundert Jahre nach meiner Zeit geschrieben wurde. Aber offenbar
gibt es Vampi- Kainskinder doch schon viel länger!"
"Ich sage ja, ich weiß es nicht. Man hat mir gesagt, es
wäre vom Namen Kains abgeleitet, und ich habe es so akzeptiert.
Egal, wer das war."
"Ah. Ich vermute, das war irgendein Publicity-Gag",
konstatierte Anshara. Jean zuckte mit den Schultern.
"Jedenfalls sagt man nicht, man ist ein Vampir. Das ist
unfein."
"So, aber Kainskind ist feiner, obwohl es aus so einem absurden
monotheistischen Glauben stammt?" Anshara schüttelte den Kopf.
Wie sollte es einem einzelnen Gott gelingen, für alles
zuständig zu sein, was auf der Welt vorging? Obwohl, bei dieser
ganzen neumodischen Technologie mußte sich der ägyptische
Pantheon auch gewaltig vermehrt haben. Jetzt brauchte man auf jeden
Fall neue Götter für Autos, Fernseher, Telekommunikation und
was der Dinge mehr waren.
"Ist eben so."
"Hm. Das kann zumindest keiner nachprüfen",
sinnierte sie. "Praktisch. - Und was war das nun mit diesen
Traditionen?"
"Die erste Tradition betrifft die
Maskerade: Du sollst Dein wahres Wesen niemandem
enthüllen, der nicht vom Geblüt ist. Wer solches tut,
verwirkt seine Blutrechte."
"Klingt plausibel", fand Anshara. "Ist
akzeptiert." Jean ignorierte dies.
"Die zweite Tradition betrifft die
Domäne. Die Domäne ist Dein eigener Belang.
Alle anderen schulden Dir Respekt, solange sie sich darin aufhalten.
Niemand darf sich gegen Dein Wort auflehnen, solange er in Deiner
Domäne weilt."
"Das finde ich gut", kommentierte Anshara. "Ist auch
akzeptiert."
"Die dritte Tradition regelt die
Nachkommenschaft. Du sollst nur mit Erlaubnis Deiner
Ahnen andere zeugen. Zeugst Du andere ohne Einwilligung Deiner Ahnen,
sollen sowohl Du als auch Deine Nachkommen erschlagen werden."
"Huch! Hoffentlich hatte mein Beißer eine
Erlaubnis", meinte Anshara schaudernd.
"Wer weiß", äußerte Jean. "Die
vierte Tradition sagt, daß ein Kainskind
Rechenschaft schuldet. Wen du erschaffst, der ist Dein
eigenes Kind. Bis der Nachkomme auf sich selbst gestellt ist, sollst Du
ihm alles befehlen. Du trägst seine Sünden."
"Aha. Naja, bislang bin ich noch kinderlos."
Jean sah sie ärgerlich an. Er haßte es, unterbrochen zu
werden, vor allem, wo es ihm doch ohnehin nicht ganz leicht fiel, die
Traditionen exakt zu rezitieren. "Die fünfte
Tradition betrifft die Gastfreundschaft. Ehre
die Domänen anderer. Wenn Du in eine fremde Stadt kommst, so
sollst Du Dich dem vorstellen, der dort herrscht. Ohne das Wort der
Aufnahme bist Du nichts."
"Oh-oh", machte Anshara. "Naja, das will ich ja
morgen abend ändern."
"Die sechste Tradition behandelt die
Vernichtung. Es ist Dir verboten, andere von Deiner
Art zu vernichten. Das Recht zur Vernichtung liegt ausschließlich
bei Deinen Ahnen. Nur die Ältesten unter Euch sollen die Blutjagd
ausrufen."
"Mhm. Die Traditionen klingen weitgehend sinnvoll",
stellte Anshara fest. "Ich bin aber dafür, noch eine siebte
Tradition einzuführen: 'Es ist okay, die Traditionen zu brechen, so
lange man sich nicht erwischen läßt.'"
"Das 'nicht erwischen lassen' solltest du dir hinter die Ohren
schreiben," meinte Jean amüsiert. Das war eine Regel, die man
ruhig über die Traditionen stellen konnte.
"Immer. Ich bin doch eh schon ein Verstoß gegen Nr. 3
und Nr. 5."
"Naja, so ganz hält sich wohl keiner daran."
"Dann bin ich beruhigt."
"Aber man sollte die Traditionen zumindest kennen."
"Hoffentlich nicht auswendig... Was ist sonst noch wichtig, um
unter den 'Kainskindern' zu überleben?"
"Du solltest mit keinem streiten, der stärker ist als
du."
"Guter Punkt. Aber da ich eh nur eine arme, schwache Frau bin,
habe ich gar keine Intention, mich in Schlägereien verwickeln zu
lassen." Sie sah ihn betont hilflos an.
"Streitereien kann sich nur jemand erlauben, der wirklich stark
bist. Ich muß daran noch arbeiten."
"Also, ich fände es lustig, Leute, die so furchtbar stark
sind, zu manipulieren, damit sie sich selber die Köpfe
einschlagen", überlegte Anshara mit einem betont lieben und
unschuldigen Lächeln.
"Ich lasse solche Sachen lieber. Aber das mußt du selber
wissen." Jean war lieber vorsichtig, vor allem, was die
Älteren betraf.
"Sag mal, was zieht man eigentlich an, wenn man bei so einem
Prinzen vorstellig wird?" wechselte Anshara das Thema.
"Egal. Es gibt keine Vorschrift." Jedenfalls hatte er nie
von einer solchen gehört.
"Hm... Ich will doch einen guten Eindruck machen." Sie
stellte sich vor den Spiegel und probierte ein paar Diademe aus. Jean
betrachtete sie.
"Du machst schon ausreichend Eindruck."
"Gut." Sie legte den Schmuck wieder beiseite. "Und,
muß ich noch etwas wissen, um nicht negativ aufzufallen?"
"Mir fällt momentan nichts ein."
"Gut." Anshara beschloß, rasch ihre
Kleidungsstücke aus dem dummerweise mit Fenstern versehenen
Schlafzimmer in den fensterlosen Vorraum zu verlegen, bevor die Sonne
aufging und die außenliegenden Zimmer in tödliches Licht
tauchte. Auch das andere Bettzeug verfrachtete sie in die Wanne des
zweiten Bades. Auch wenn der Vorraum geräumiger war, so lag sie
nicht gerne auf dem Präsentierteller, wenn sie schutzlos schlief.
"Was hast du vor?" fragte Jean. "Willst du dich
jetzt schon anziehen?"
"Nein, ich möchte nur ein paar Kleider ausprobieren."
"Dann mach mal." Jean fühlte sich langsam müde
und setzte sich auf den Rand der Wanne, während Anshara in den
Kleidern herumwühlte. Er schüttelte über sich selbst den
Kopf. Warum war er nicht nach Hause gegangen?
"Wie sieht das aus?" erkundigte sich Anshara und
führte ihm ein extravagantes violettes Kleid vor.
"Hübsch."
"Ist es nicht vielleicht ein wenig zu gewagt?" Sie
wechselte in ein züchtigeres, goldbraunes Kostüm.
Jean ließ sich in die Wanne rutschen und hängte die Beine
über den Rand, da er etwas zu groß dafür war. Er
betrachtete Anshara aus halbgeschlossenen Augen. Mittlerweile
führte sie ihm schon das fünfte Gewand vor, und er hatte das
Gefühl, er hatte einige dazwischen verpaßt. Staunend ob
soviel Elan fragte er sich, wie lange sie wohl noch durchhielt.
Als sie bei Nummer 10 (in Metallicgrün) angelangte, war Jean
eingeschlafen. Anshara stemmte entrüstet die Arme in die Seiten.
Dieser Banause! Aber was sollte es, dann würde sie sich jetzt auch
erst einmal hinlegen. Sie drapierte sich in die Wanne des zweiten Bades
und begab sich ebenfalls zur Tagruhe.
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