Fünf Nächte im Unleben eines Kainskindes
(c) 1995 by Shavana & Stayka
Kapitel 1: Ein Bißchen in Ehren...
Man schrieb Montag, den 28. Dezember 1981.
Anshara stieg aus dem Flugzeug aus und sah sich irritiert um. Wo
war sie hier gelandet? In Frankfurt am Main in Deutschland?
Sie wollte doch eigentlich nach Ägypten! Sie seufzte tragisch.
Daran waren nur diese dummen Hinweisschilder in Rumänien schuld.
Sie mußte irgendwie die Maschine Bukarest-Kairo mit
Bukarest-Frankfurt verwechselt haben...
Nun hatte sie zwei Probleme:
Erstens war es fünf Uhr nachts, und sie brauchte dringend einen
Unterschlupf, und zweitens waren ihre Koffer mittlerweile wohl in Kairo,
da sie diese offenbar an der richtigen Gepäckaufgabe abgegeben
hatte. Anshara durchwühlte ihre Handtasche. Wenigstens hatte sie
eine Kreditkarte (American Express) dabei.
Sie mietete sich also eine Suite im Sheraton (ein bißchen
Luxus hatte noch niemandem geschadet) und schloß sich für den
Tag erstmal im fensterlosen Badezimmer ein, wo sie ihr Bettzeug in die
Badewanne verfrachtet hatte und den Schlaf der Gerechten schlief.
Leider war eine enge Badewanne kein geräumiger Sarkophag, und
sie fühlte sich beim Aufwachen am späten Nachmittag
entsprechend gequetscht. Vielleicht sollte sie sich demnächst doch
einmal eine feste Unterkunft mit einem bequemen Sarkophag und einem
weißen Schmusekissen mit goldenen Troddeln zulegen, überlegte
sie.
* * *
Jean befand sich nun schon mehrere Tage in Frankfurt am Main. Er
hatte einfach mal wieder etwas Abwechslung gebraucht, und Reisen war nun
mal definitiv eine seiner Lieblingsbeschäftigungen.
Momentan erkundete er das Nachtleben der Stadt, oder eher, was die
hier so nannten. Er fand, daß Frankfurt den Vergleich mit Paris
in keinster Weise standhielt. Wo in der französischen Metropole
farbenfrohes Treiben herrschte, gab es hier nur Grau in Grau.
Den Tag hatte er wie meist schlafend in seinem Hotel verbracht, und
nun überlegte er, was er heute Abend unternehmen sollte. Im Winter
versank die Sonne zum Glück so früh, daß er noch ein
bißchen von dem Leben der Stadt mitbekam.
In den letzten Nächten hatte er schon einige Lokalitäten
der Stadt in Augenschein genommen, aber irgendwie war alles nicht so
sonderlich aufregend.
* * *
Anshara hatte derweil den Tag weitestgehend verschlafen. Ein
Weilchen vor Ladenschluß war es zum Glück schon dunkel genug,
daß sie nach draußen einkaufen gehen konnte.
Sie brauchte dringendst neue Sachen, denn da ihre Koffer mit dem
anderen Flugzeug an den richtigen Bestimmungsort geflogen waren, war ihr
nichts anderes übrig geblieben, als die ganze Zeit in ihrem
eleganten Chiffon zu verbringen, und so sah das Kleid nun auch aus.
Also schlenderte Anshara über die immer noch weihnachtlich
dekorierten Einkaufsstraßen, und ihre Einkaufstaschen füllten
sich. In Frankfurt sprachen zum Glück sehr viele Leute Englisch,
so daß sie sich über die Verständigung nicht zu sorgen
brauchte. Gleich im ersten Geschäft, das sie heimsuchte, hatte sie
sich - sehr zur Verwunderung der Verkäufer - komplett umgewandet
und trug nun ein elegantes, schneeweißes langes Abendkleid in vage
ägyptischem Stil, zu dem sie sich allerlei goldene Accessoires
besorgt hatte. Das Outfit wurde von einem ebenfalls schneeweißen
Mantel vervollständigt.
Jean streifte ebenfalls durch die Stadt. Er bewunderte die
weihnachtliche Dekoration der City, während er sich nach einer
geeigneten Mahlzeit umsah. Doch es war hier viel zu voll, als daß
er es wagen konnte, seinen Hunger zu stillen.
Also betrat er eines der Kaufhäuser, wo es ihn prompt in die
Schmuckabteilung zog. Vielleicht fand er ja etwas, daß ihm
gefiel. Er liebte eigentlich alles, was glitzerte... Eine der dummen
Angewohnheiten, die ihn schon des öfteren in ziemliche
Schwierigkeiten gebracht hatte.
Bald darauf war er ganz in den Anblick von kristallenen
Spiegelfiguren versunken, die das Licht in herrlichen Regenbogenkaskaden
reflektierten.
Endlich hatte Anshara wieder eine ausreichende Menge adäquater
Kleidungsstücke, und sie überlegte, ob sie sich noch das eine
oder andere exklusive Duftwässerchen zulegen sollte.
Eher undamenhaft ächzend wuchtete sie die nun schon ziemlich
angewachsenen Taschen, Tüten und Beutel durch die Gegend. Auf dem
Weg zu den Parfums durchquerte sie auch die Schmuckabteilung, was sie
dazu anhielt, eine klassische Armspange (in ägyptischem Stil)
anzuprobieren.
Leider war dies das Quentchen, welches das sprichwörtliche
Faß zum Überlaufen brachte, und sie verlor die Gewalt
über ihre diversen Einkaufstüten. Diese plumpsten gen Boden,
und beim Rettungsversuch leistete Anshara ihnen unsanft Gesellschaft.
Mit einem leisen Aufschrei fiel sie inmitten der Einkäufe
unzeremoniell auf ihr wertes Hinterteil.
Dieses wahrlich nicht lautlose Verhängnis riß selbst Jean
aus seinen Gedanken. Amüsiert betrachtete er das Knäul aus
Tüten, Taschen, elegantem weißen Kleid und der
schwarzhaarigen jungen Frau mittendrin.
Anshara fluchte einige reichlich unfeine Worte in Altägyptisch,
ehe sie begann, ihre Sachen wieder zusammenzusuchen.
Jean verstand zwar kein Wort, aber ihr Tonfall ließ vermuten,
daß es sich um Flüche handelte. Er hob eine Tasche auf, die
vor seinen Füßen gelandet war und reichte sie der jungen
Frau, die ein wenig wirkte wie eine neuzeitliche Version einer
ägyptischen Prinzessin. Zumindest hatte sie die Frisur und eine
ziemlich ähnliche Haltung wie die Cleopatra in dem
dreistündigen Monumentalschinken.
"Danke", sagte Anshara zunächst auf Ägyptisch.
Da der junge Mann - der ziemlich hochgewachsene junge Mann (von ihrer
Position sah sie fast ausschließlich lange Beine vor sich) -
verständnislos dreinblickte, versuchte sie es noch einmal,
zunächst auf Arabisch, dann auf Englisch.
"Bitte", erwiderte Jean ebenfalls auf Englisch. Auch wenn
es nicht gerade seine bevorzugte Sprache war, so konnte er sich darin
inzwischen hervorragend ausdrücken.
Anshara rappelte sich auf und begann, erst einmal ihr Kleid glattzustreichen, ehe sie ratlos auf die verstreuten Einkäufe
blickte. Wie sollte sie die bloß ins Hotel transportieren? Dann
kam ihr eine Idee, und sie lächelte den Unbekannten strahlend aus
ihren bernsteinfarbenen Augen an. Vielleicht gelang es ihr ja, ihn dazu
zu bewegen, ihr zu helfen. Und außerdem könnte sie sich ja
dann vielleicht nachher einen kleinen Snack genehmigen.
Jean betrachtete amüsiert, wie die 'Prinzessin' (war vielleicht
heute irgendwo ein Maskenball?) sich mit den Tüten und Taschen
bepackte.
"Kann ich Euch helfen?" fragte Jean. Manchmal kam doch
der Gentleman bei ihm durch, die mühevolle Ausbildung durch seinen
Erzeuger war doch nicht ganz umsonst gewesen.
"Würdet Ihr das tun?" flötete sie mit einem
verführerischen Augenaufschlag.
"Warum nicht?" meinte Jean. "Ich habe nichts weiter
vor." Zudem interessierte es ihn doch zu sehr, warum diese Lady in
dem komischen Kleid herumlief. Gab es eine Party, von der er nichts
wußte?
"Das finde ich überaus nett."
Jean sah auf sie herab - er überragte sie um über 30cm -
und nahm ihr die Tüten und Taschen ab.
"Ich fürchte, ich habe wieder einmal viel zu viel
eingekauft", seufzte sie. "Aber ich hatte das falsche
Flugzeug erwischt, und meine Koffer sind jetzt in Kairo."
"Soso", meinte Jean nicht ganz überzeugt. Das ganze
Zeug war ziemlich schwer, ein Wunder wie das Mädchen die Tüten
überhaupt anfangs hochgewuchtet hatte.
"Ich bin leider nicht so stark wie Ihr", schmeichelte sie.
"Ich habe mich ein wenig übernommen."
"Ich glaube, so stark bin ich auch nicht." Jean sah
fatalistisch auf die unförmige Last.
"Hm. Was kann man da unternehmen? Ich wollte die Sachen
eigentlich nur ins Hotel bringen. - Ich wohne im Sheraton."
"Nehmt doch ein Taxi", schlug Jean vor. "Vor dem
Kaufhaus ist ein Taxistand." Weiter als unbedingt nötig
würde er den Kram nicht schleppen.
"Das wäre vermutlich die beste Idee. - Helft Ihr mir, die
Sachen dorthin zu wuchten?" fragte sie hoffnungsvoll.
"Wo ich das Zeug eh schon in den Händen habe..." Ob
er es nun wieder zu Boden fallen ließ oder zum Taxistand trug, war
eigentlich auch egal.
"Sehr gut." Sie bezahlte noch rasch das Parfum (ein
exklusiver orientalischer Duft) und den Schmuck mit der Kredit-Karte,
ehe sie mit dem schwarzgekleideten Unbekannten gen Taxistand trabte.
Jean war froh, daß es nicht weit war, denn die ganzen
Tüten war nicht nur schwer, sondern insbesondere sperrig.
Anshara wandte sich an den ersten der Taxifahrer, der ihrem 'Retter'
assistierte, den ganzen Kram im Kofferraum des Wagens zu verstauen.
"Wie kann ich Euch danken, mein Herr?" fragte sie den
Mann, der sich immer noch nicht vorgestellt hatte.
"Habe ich doch gern getan", erwiderte Jean, der sich
definitiv von der jungen Frau angezogen fühlte, besonders, wenn sie
ihn so ansah.
"Würdet Ihr mir eventuell gleich noch behilflich sein, die
Einkäufe in meine Suite zu befördern, oder wäre das eine
zu große Zumutung für Euch?"
"Wenn es Euch Freude bereitet", meinte Jean amüsiert.
Er hatte nichts dagegen, sich abschleppen zu lassen, besonders wenn die
Dame so hübsch war.
"Prima." Alleine würde sie bestimmt zweimal hoch und
runter rennen müssen. Jean stieg zu Anshara ins Taxi, und sie
setzte erneut ein strahlendes Lächeln auf. "Habt Ihr
eigentlich einen Namen, oder ist Euch 'Edler Herr' als Anrede
recht?"
"Ihr könnt mich anreden, wie Ihr wollt. Ich heiße
Jean LeCartres, die meisten nennen mich jedoch Jean."
Logischerweise, denn schließlich war das sein Name. Er fragte
sich, warum er durch die junge Frau so irritiert war.
"Gut, edler H... - Jean, meine ich."
"Und wie ist Euer werter Name?" Bestimmt hieß sie
Cleo oder so, vermutete Jean amüsiert.
"Anshara."
"Hübscher Name," fand er und fragte sich, ob der Name
auch ägyptisch war, leider hatte er ziemlich wenig Ahnung von
Geschichte.
"Danke." Sie schlug die goldgeschminkten Augen nieder.
Alles an ihr schien weiß oder golden zu sein, bis auf die Haare.
Selbst ihre Augen wiesen goldene Flecke in schimmerndem Bernstein auf.
Jean beschloß, erst einmal aus dem Fenster zu schauen, um sie
nicht so unhöflich anzustarren. Diese junge Dame war
überaus anziehend.
Da Jean gerade nicht guckte, klappte Anshara die Sichtblende
herunter, um in deren Spiegel erst einmal ihr Make-Up und den Sitz ihrer
Frisur zu überprüfen. Es war alles perfekt, wie es sich
gehörte.
Jean mußte sich das Grinsen verkneifen, als er dies in der
Fensterscheibe beobachtete. Frauen waren doch irgendwie alle gleich.
"Seid Ihr hier aus Deutschland?" wollte Anshara wissen.
"Nein", entgegnete Jean. "Ich bin Franzose."
"Oh." Sie guckte nachdenklich. "Ja, über
Frankreich habe ich schon etwas gelesen."
"Ach ja?" kommentierte Jean belustigt. Aus ihrem Mund
klang das, als wäre seine Heimat irgendein winziges Land am Ende
der Welt.
"Nun, wißt Ihr, ich stamme aus Ägypten..."
"Habe ich schon fast vermutet..." Er war also doch auf der
richtigen Spur gewesen.
"Wirklich?"
"Nach Eurem Outfit ist es ziemlich offensichtlich. Es sei
denn, Ihr seid Schauspielerin und habt Euch im vollen Kostüm vom
Drehort entfernt."
"Hm."
"Nun, für Normalsterbliche ist diese Bekleidung hier eher
ungewöhnlich." Er hatte definitiv noch nie jemanden gesehen,
der in so einer Aufmachung durch die Einkaufsstraßen lief.
Anshara blickte an den elegant fallenden Falten des fließenden
Stoffes herab.
"Ich habe aber alles heute hier gekauft."
"Kaufen kann man alles. Nur es wird nicht unbedingt
öffentlich getragen."
"Oh." Anshara sah nach draußen. Das Taxi steckte
offenbar im klassischen Abendstau fest.
"Mir scheint, der Stau ist heute wieder einmal besonders
schlimm." Vermutlich waren wieder alle Leute unterwegs, um
unpassende Weihnachtsgeschenke umzutauschen, wie stets nach den
Feiertagen.
"Das ist alles nichts gegen New York oder L.A.", winkte
sie ab.
"Aber nervtötend genug."
"Das ist wahr." Anshara guckte ein wenig fatalistisch
drein, was aber nichts von ihrer enormen Ausstrahlung wegnahm.
Verstohlen musterte sie Jean. Er sah auch ganz hübsch aus, fand
sie. Überschulterlange, schwarze Haare, heller Teint und
interessante, dunkeltürkisfarbene Augen... Vielleicht konnte sie
ihn ja auch mit nach Karnak nehmen und ab und zu von ihm naschen. Der
schmeckte bestimmt besser als diese ganzen ungewaschenen Slumbewohner,
von denen sie sich in den USA ernährt hatte.
Jean seufzte. Irgendetwas begann, ihn gewaltig an der Lady zu
beunruhigen, daher beschloß er, sie lieber so schnell wie
möglich an ihrem Hotel abzusetzen.
* * *
Schließlich erreichten sie, unterhalten von ein wenig Small
Talk (von "in Ägypten ist es wärmer als hier" bis
"es ist hier ziemlich feucht, so ganz anders als in der
Wüste"), das Hotel.
Jean half Anshara, die ganzen Pakete aus dem Taxi in die Hotelhalle
zu schaffen, wo er das Zeug kurzerhand einem Pagen auflud. Die wurden
wenigstens für diese Schlepperei bezahlt.
"Ich danke Euch, Jean", hauchte Anshara und setzte voll
auf ihre schon seit jeher eingebaute Stärke der
Überzeugungskraft, besonders, was männliche Wesen betraf.
"Wollt Ihr nicht auf einen kleinen Drink mit hinaufkommen?"
Jean sah sie mit einem ziemlich unergründlichen Blick an.
"Warum nicht?" Irgendwas brachte ihn dazu, ihr zuzustimmen,
obwohl ihn seine Sinne warnten.
"Das ist lieb!" Sie trabte mit ihm zum Lift. Jean war zu
neugierig, was sie wohl mit ihm vorhatte. Anshara steuerte
schnurstracks auf ihre Suite zu, schloß auf und bat ihn herein.
Die Räumlichkeiten wirkten ziemlich unbewohnt, nur das Bettzeug auf
einer Seite der Liegestatt fehlte.
Jean schaute sich um, entdeckte aber nichts, was irgendwelche
Schlüsse zulassen würde. Der Raum sah eben wie ein
Hotelzimmer aus.
"Darf ich Euch etwas anbieten - und wenn ja, was?" Anshara
trat zu der eingebauten Bar. Sie wollte den hübschen Jungen erst
einmal in Sicherheit wiegen.
"Nein, danke", lehnte Jean höflich ab. Da war
nichts, was ihm schmecken würde.
"Gut, dann will ich erst einmal Eurem Beispiel folgen."
Sie musterte ihn unauffällig. Jean war vielleicht gerade 20 Jahre
alt, also genau das richtige Alter... Das einzige Manko war die
Tatsache, daß er beinahe zwei Meter lang war. Anshara mußte
sich anstrengen, zu ihm aufzusehen. Zum Glück hatte sie keine
Probleme mehr mit einem etwaigen steifen Nacken. "Erzählt mir
doch etwas von Frankreich", forderte sie ihn auf. "Auf dem
Gebiet der modernen Geschichte habe ich leider einige
Wissenslücken."
"Ich war schon länger nicht mehr dort", wich Jean
aus. Er hatte keine Lust an den Ärger in Paris zu denken, der ihn
mal wieder zu einer Reise 'inspiriert' hatte.
"So? Wo wart Ihr denn?"
"So hier und da." In der letzten Zeit war er ein paar Mal
quer durch Europa gereist, da er sich irgendwie nirgendwo besonders
wohlgefühlt hatte.
"Ihr seid also auch viel auf Reisen gewesen, in der letzen
Zeit?"
"Durchaus." Das war alles, was Jean zu dem Thema zu sagen
gedachte.
"Dann habt Ihr bestimmt viele fremde Völker und deren
Kulturen kennengelernt... Ich finde diese sehr interessant. Ich
muß unbedingt mal nach Paris in den Louvre oder in das Britische
Museum in London, wo ich gerade mal in Europa bin. - Wüßtet
Ihr vielleicht ein paar interessante Galerien oder Museen, die man hier
besuchen könnte?"
"Hm, ich bin erst seit ein paar Tagen hier." Und viel
gesehen hatte er noch nicht, da er noch nicht dazu gekommen war, sich
bei den Zuständigen nach den besonderen Möglichkeiten
für nächtliche Besucher zu erkundigen. Ihm waren praktisch
nur die normalen Reiseführer und Bildbände geblieben, aber die
waren nicht für ihn geeignet gewesen. Tagsüber konnte er wohl
kaum die Sehenswürdigkeiten aufsuchen.
"In Europa?"
"Nein, in Frankfurt," erwiderte Jean amüsiert. In
Europa war er schon einige Zeit länger, um genau zu sein 343 Jahre.
Irgendwie hatte er es bis jetzt immer noch nicht geschafft, den
Kontinent zu verlassen.
"Oh. Aber vielleicht könnt Ihr mir einige kulturelle Tips
für andere Gegenden geben. Ich bin ja nur versehentlich
hier."
"Ich verlasse mich da ganz auf die diversen
Reiseführer." Jean dachte daran, daß er noch nie
Probleme gehabt hatte, jemanden zu überreden, ihm die
Sehenswürdigkeiten der diversen Gegenden zu zeigen.
"Klingt nach einer guten Idee", überlegte Anshara und
versuchte, sich in einer bißtechnisch vorteilhaften Position
anzuschleichen. Jean betrachtete sie mißtrauisch, da ihr Blick so
auf seinen Hals fixiert war.
Auf einmal bemerkte Anshara, daß die Badezimmertür leicht
aufstand und überlegte, wie sie dies elegant beheben könnte,
vor allem, damit Jean nicht das Bettzeug in der Badewanne entdeckte.
Das gäbe nur merkwürdige Blicke und Fragen...
Irgendetwas kam Jean langsam komisch vor, er konnte aber nicht
sagen, was. Warum sah sie nun permanent zum Bad?
"Äh, ich muß mich kurz einmal frisch machen",
behauptete Anshara und verschwand kurz im Bad. Sie stopfte das Bettzeug
erst einmal in die Duschkabine, ehe sie ein wenig an ihrem Make-Up herum
malte. Frisch gestylt und nicht mehr ganz so blaß kehrte sie
alsbald zurück.
Jean guckte amüsiert. Wie viele Schichten Farbe waren das
jetzt wohl? Er konnte das Make-Up schon aus der Entfernung sehen.
Anshara sah zu ihm herüber.
"Wollt Ihr nicht Platz nehmen?" Sie deutete auf die Couch.
Sitzende Opfer waren leichter zu erwischen als stehende oder sich
bewegende. Nur liegende waren noch besser.
"Gerne", sagte Jean und ließ sich am Rand des Sofas
nieder. Was hatte sie nur vor, daß sie ihn so durchdringend
musterte.
'Prima', dachte Anshara. 'Jetzt ist er in idealer
Bißhöhe.'
Jean sah sie aufmerksam an. Was kam nun? Anshara schwebte auf ihn
zu und versuchte, ihn mit ihrem Blick gefangen zu nehmen, wie sie es mit
Leichtigkeit mit all ihren vorigen Opfern getan hatte. Er guckte
zurück. Was waren das für Spielchen? Wollte sie ihn
hypnotisieren?
"Ich finde Euch überaus anziehend", hauchte die Frau
und kam ein Stück näher, wobei sie ihn nicht aus den Augen
ließ.
"Ihr seid auch anziehend", antwortete Jean etwas
irritiert, da ihr Blick ihn doch etwas störte. Sie hatte ihn nun
erreicht und strich seine Haare auf der linken Seite nach hinten.
Langsam kam sie ihm wirklich zu nahe, fand er und rutschte weg -
leider etwas zu spät, denn sie war nahe genug herangekommen und
versuchte, nun einen Biß anzubringen. Gerade noch gelang es Jean,
auszuweichen, aber nur weil er um einiges schneller war als ein Mensch.
Anshara hingegen konnte leider nicht mehr bremsen und biß
kraftvoll in die Rückenlehne der Couch.
Als sie sich wieder befreit hatte, gab sie ein paar
fürchterliche Flüche von sich. Jean betrachtete sie
vorsichtig, aber auch sehr amüsiert. Jetzt wußte er, woran
er mit dieser Dame war. Seine Bedenken verflogen, denn mit solch
amateurhaften Angriffen konnte er durchaus fertig werden.
Die Couch war an der Bißstelle ziemlich in Mitleidenschaft
gezogen worden. Verärgert spuckte Anshara einige Flocken
Polsterung aus.
"Ihr seid zu schnell für einen normalen Menschen",
stellte sie anklagend, aber auch ein wenig irritiert fest.
"War es schmackhaft?" erkundigte sich Jean mit seinem
besten Unschuldsblick. Die Antwort waren ein paar besonders blumige
Flüche auf Arabisch.
"Ich verstehe leider kein Wort." Obwohl diese Sprache sehr
interessant klang.
Anshara wechselte auf Englisch und ließ die pittoresken
Verwünschungen noch einmal mit gleicher Hingabe los. Sie hatte
immer noch Schaumstoff im Mund.
"Aha", meinte Jean amüsiert. Schließlich hatte
sie sich beruhigt und durchbohrte ihn mit einem sezierenden Blick.
"Ihr seid also auch ein Vampir?" fragte sie neugierig, da
er ob der Bißattacke keine Miene verzogen und auch sonst nicht
verwundert gewirkt hatte.
"Meint Ihr?" Jean sah sie fragend an. Es war immer besser
eine Frage mit einer Frage zu beantworten, wenn man sein Gegenüber
nicht genau kannte.
"Ein Werwolf seid Ihr jedenfalls nicht. Die miefen."
"Pfui", kommentierte Jean alleine diesen Gedanken. So
dumm konnte sie also doch nicht sein, denn Werwölfe rochen zumeist
wirklich nicht gerade angenehm.
"Sag ich doch." Anshara runzelte die Stirn und hörte
nicht auf, ihn inquisitorisch zu mustern. Jean beschloß, in
gleicher Art zu reagieren und starrte zurück. Anshara trat erneut
auf ihn zu.
"Kommt mir bloß nicht zu nahe!" wehrte Jean ab. Er
hatte keine Lust, sich verteidigen zu müssen, sowas war
anstrengend, und er hatte heute noch nichts zu sich genommen.
"Versucht doch, mich daran zu hindern!"
"Das möchte ich ja eben nicht."
"So? Wie könntet Ihr mich denn hindern? Denkt
daran, Kreuze helfen nicht - ich bin eine Priesterin der Ma'at."
"Kreuze nützen nie was." Jean konnte sich ein Grinsen
nicht verkneifen. Anshara mußte wirklich noch ein ganz junges
Kainskind sein, wenn sie solche Vorstellungen hatte.
"So?" Anshara guckte verwirrt. Bei Dracula hatte das
immer geklappt. Sie war bislang stets davon ausgegangen, daß die
christlichen Symbole ihr deshalb nichts ausmachten, da sie von ihrer
Vorgeschichte als Ma'at-Priesterin beschützt wurde. Außerdem
war dieser Christus-Heini in ihrer Zeit noch für fast zweitausend
Jahre Science-fiction gewesen.
"Woher habt Ihr das nur?" wollte Jean wissen.
Normalerweise hätte ihr Erzeuger ihr doch wenigstens die ersten
Lektionen geben müssen, bevor er sie allein in die Welt ließ.
"Aus dem Fernsehen", gab Anshara zu, und Jean prustete
los. "Was ist daran so witzig?" schmollte sie.
"Wer glaubt schon ans Fernsehen?" Jean konnte nicht
verstehen, wie man Informationen über die Kainskinder aus dieser
Quelle erwarten konnte.
"In den Büchern stand es aber auch so!"
"Die sind in der Regel von Menschen geschrieben worden."
Warum hatte sie denn keinen der Kainiten gefragt? Es gab doch genug,
die zu lehren bereit waren, besonders, wenn die Schülerin so
niedlich war...
"Bram Stoker behauptete aber, es wäre eine
Augenzeugengeschichte gewesen. Zumindest habe ich es so
interpretiert."
"Garantiert nicht!" meinte Jean voller Überzeugung.
Dracula war eines der schwachsinnigsten und ödesten Bücher,
die er je gelesen hatte.
"Woher wißt Ihr das?"
"Ich weiß es nicht, aber seine Bücher sind
Quatsch."
"Hm. Und was ist mit den anderen Werken über
Vampire?"
"Ein paar enthalten ein bißchen Wahrheit, aber das ist
wohl eher Zufall." Die meisten der sogenannten Vampir-Romane waren
einfach nur Schund, obwohl bei einigen hätte er nichts dagegen
gehabt, wenn sie Wirklichkeit wären. Er hätte sich zu gerne
mal in eine Fledermaus oder sowas verwandelt, was ja angeblich jeder
Vampir ohne Probleme konnte. Obwohl, wenn jeder Mensch, denn er
biß, ein Vampir würde, dann wären die Lebenden wohl
schon ausgestorben, dachte er vergnügt.
"Hm. Zum Beispiel? Ich meine, außer der Sache mit der
Sonne, denn das habe ich selber herausgefunden. Das tat ganz schön
weh!"
"Selbst Schuld." Das war doch wohl eine Sache, die jedes
neugeschaffene Kainskind als erstes eingetrichtert bekam.
"Ich? Wieso bin ich daran Schuld?"
"Warum nicht?" fragte Jean zurück.
"Glaubt Ihr, es war meine Idee, daß mich so ein Heini
beißt?"
"Das ist es wohl nie." Freiwillig hatte er sich auch nicht
beißen lassen. Es war eher so über ihn gekommen, mehr oder
weniger. Der Gedanke daran, wie er den Kuß empfangen hatte,
ließ Jean erschauern. Es war definitiv keine schöne
Erinnerung. Der Schmerz, der Hunger...
"Also ist es auch nicht meine Schuld", beharrte Anshara.
Aus seinen Gedanken gerissen, zuckte Jean mit den Schultern.
"Typisch Mann!" fand Anshara.
"Ich war's ganz bestimmt nicht", wehrte Jean ab. Anshara
musterte ihn zum so-und-so-vielten Mal.
"Nein", stimmte sie zu. "Der unverschämte
Beißer war kleiner und pummeliger. Außerdem hatte er eine
Glatze."
"Wie gut, daß ich keine Ähnlichkeit damit
habe", bemerkte Jean amüsiert.
"Stimmt", fand Anshara. Dann fiel ihr etwas Wichtiges
ein. "Äh, sag mal, hast du eine Ahnung, warum meine Haare
nicht mehr wachsen wollen? Ich hätte so gerne wieder lange Haare,
wie ich sie als Kind getragen hatte..."
"Da kannst du bis in alle Ewigkeit warten."
"Wieso das?" quietschte sie entsetzt.
"Sie werden nicht mehr wachsen." Es war genauso
hoffnungslos auf das Wachsen der Haare zu warten wie sie abzuschneiden.
Er hatte das schon öfter versucht, doch am nächsten Abend
hatten sie immer wieder die gleiche Länge wie zuvor. Man
mußte sich eben damit abfinden für alle Ewigkeiten in diesem
Zustand gefangen zu sein.
"Ich hatte doch früher so eine lange
Mähne!" Sie deutete auf ihren Po.
"Ich vermute, da warst du auch noch nicht tot."
"Nein, da war ich vierzehn."
"Jetzt werden sie jedenfalls für immer so bleiben."
"Das ist unfair! Warum waren nur gerade Kurzhaarfrisuren in,
als der Typ mich gebissen hat", jammerte sie. Jean schüttelte
belustigt den Kopf, während Anshara schmollte. "Dann werde
ich mir eben Kunsthaar anschweißen lassen", beschloß
sie. "Ich muß schon sagen, als Vampir hat man es nicht
leicht."
"Wer hat das behauptet?" Als Untoter hatte man es ganz
gewiß nicht einfach.
"Naja, in den Filmen sind doch mindestens neunzig Prozent der
Ladies voll geil darauf, gebissen zu werden."
"Wüßte ich aber." Jean mußte sich ganz
schön anstrengen, um eine Dame zu überzeugen. Meist gelang es
ihm nicht, und ihm blieb nichts anderes übrig, als zu radikaleren
Methoden zu greifen, um an seine Nahrung zu kommen.
"So?"
Er sah sie mit einem seiner typischen Unschuldsblicke an.
"Guckt nur weiter so, ich nehme Euch das nicht ab",
erkläre Anshara.
"Hm, das klappt sonst immer," meinte Jean, jedenfalls bei
den Lebenden.
"Dann sind die anderen Leute ziemlich leichtgläubig",
fand sie.
"Vermutlich." Menschen waren schon immer leichter zu
täuschen gewesen.
"Außerdem heißt es doch eh, daß Vampire
ziemlich immun gegen so etwas sind, oder stimmt das auch wieder
nicht?"
"Kommt drauf an, wie überzeugend der andere ist." Er
hatte jedenfalls schon Kainskinder erlebt, die jeden sofort in
ihren Bann schlugen.
"Hm. - Nebenbei, wie sieht es eigentlich mit dem Einsatz von
Knoblauch, Weihwasser, Pfählen und Silberkugeln gegen Vampire
aus?"
"Pfähle können uns nicht töten, sie machen uns
nur bewegungsunfähig. Silberkugeln schlagen zwar Wunden, aber die
heilen wie alles andere schnell. Weihwasser ist einfach Quatsch, naja,
und Knoblauch stinkt, aber deshalb muß man nicht
davonrennen", erklärte Jean. Wer wußte schon, was die
kleine Lady noch alles anstellen würde, wenn ihr nicht jemand die
Wahrheit sagte.
"Ha!" machte Anshara triumphierend. "Ihr habt es
zugegeben. 'Uns'. Ihr seid also tatsächlich einer!"
"Das war doch wohl offensichtlich." Er hatte doch so viele
Fehler gemacht...
"Offensichtlich?" Anshara sah ihn irritiert an. "Ihr
seid der erste Vampir, den ich getroffen habe, seit mich dieser ...Heini
biß!"
"Naja, so viele gibt es auch wieder nicht."
Insbesondere hier in Deutschland waren die Kainskinder nicht sonderlich
häufig anzutreffen.
"Ich habe jetzt sechzehn Jahre lang nach irgendeinem
Artgenossen gesucht! Ich war schon in England, Hollywood und
Transsylvanien - aber alles, was mir da begegnete, waren
Fälschungen."
"Soweit ich weiß gibt es in Hollywood nicht nur
Fälschungen. In Transsylvanien war ich noch nie."
"Christopher Lee war eine Fälschung. Er hat mich
ausgelacht, als ich ihn um ein paar Ratschläge bat",
entrüstete sich Anshara. "Dabei hatte ich so gehofft, er
könnte mir einiges verraten..."
"Wohl kaum." Diese Schundfilme waren doch nur einfach
lachhaft.
"Das war ja das Problem."
Jean lachte. "Dann mußt du es eben anders lernen."
"Zum Beispiel?"
"Aus Erfahrung. Wenn du etwas falsch machst, bist du nachher
schlauer, oder du brauchst dir über nichts mehr Gedanken zu
machen."
"Humpf", machte Anshara. "Ein paar Sachen habe ich
ja schon gelernt. Zum Beispiel, daß man besser nicht in
ungewaschene Hälse in den Slums beißen sollte..."
"Wäre sinnvoll", kommentierte Jean trocken. Es
konnte ganz schön übel werden, wenn man sich so wahllos
ernährte.
"Ich habe mir bei einem Typen eine üble Infektion
eingefangen", beklagte sie. "Ich habe mich fast zwei Wochen
reichlich tot gefühlt. Ich meine, toter als tot - du verstehst,
was ich meine...?"
"Ich denke schon." Er hatte seine Lektion auch gelernt.
"Gut. - Außerdem mußte ich sehr zu meinem
Leidwesen feststellen, daß die meisten Ärzte nur
tagsüber aufhaben. Seitdem habe ich mit einem Fernstudium der
Medizin angefangen. Vielleicht mache ich sogar demnächst mein
Examen - vorausgesetzt, das findet auch in einem Raum ohne Fenster
statt... Sonst hätte ich ein Problem."
"Unzweifelhaft..."
"Was tust du eigentlich beruflich? Ich meine, wie finanzierst
du dein Leben inmitten all der Sterblichen?"
"Ich tue eigentlich gar nichts. Warum auch?" Jean hatte
genug Geld, um sich den Luxus zu leisten, den er sich wünschte.
Und wenn nicht... Ein oder zwei Diebstähle, und er hatte wieder
genug. In der Beziehung hatte er wenig Skrupel.
"Naja, als ich aufwachte, hatte ich nur ein zerfetztes Gewand
am Leib, und ich mußte mir etwas einfallen lassen, um nicht
allzusehr aufzufallen... Und als ich dann sah, wie die Menschen hier
lebten, hatte ich keine Lust, mein Leben arm wie ein Sklave zu fristen.
Vor allem, wo es in dieser Zeit all diese tollen neumodischen
Geräte gibt! Ich liebe das Fernsehen! Da kann man ohne tagelange
Reisen alles Interessante direkt zu Hause betrachten. Und es gibt so
tolle Sendungen über die heutigen und früheren Künstler
und ihre Werke - es ist einfach phänomenal! Und dann diese tolle
Erfindung Kreditkarte - man kann ganz darauf verzichten, Tauschhandel zu
betreiben - ach, das gibt es ja jetzt gar nicht mehr so - aber eben Geld
mit sich herumzuschleppen..."
Jean ließ den Wortschwall ein wenig fatalistisch über
sich ergehen. Aber ihre Begeisterung war echt, und irgendwie hatte sie
auch einen Punkt.
"Ohne so eine Kreditkarte wäre es auch erheblich
peinlicher gewesen, daß ich das falsche Flugzeug erwischt habe.
Überhaupt, Flugzeuge! Wer hätte gedacht, daß normale
Menschen jemals wie Osiris oder Joh auf ihren Himmelswagen durch die
Lüfte schweben könnten? Und Autos! Selbstfahrende Wagen, die
ohne Tiere oder Sklaven zur Bewegung auskommen - obwohl es dafür
heutzutage Staus gibt... - Oh, ich hoffe, ich langweile dich nicht,
aber es ist schon so lange her, daß ich mich mal mit jemandem
unterhalten konnte, der solche Sachen auch versteht... - Wie lange bist
du eigentlich schon wach? Ich habe erst sechzehn Jahre gehabt, um mir
all die Wunder der heutigen Welt anzusehen..."
"Ich bin seit neunzehn Jahren unterwegs." Daß er 304
Jahre seiner Existenz eingemauert in einem Gewölbe verbracht hatte,
verschwieg er lieber. Inzwischen war es fast 16 Jahre her, seitdem er
aus diesem 'Grab' befreit worden war, dazu die drei Jahre, die er mit
seinem Erzeuger in Paris verbracht hatte, das ergab 19 Jahre, in denen
er unter den Kainskindern weilte.
"Oh, dann bist du mir ja nur drei Jahre voraus. Kennst du
eigentlich noch andere Vampire? Ich war mir schon absolut einsam
vorgekommen..."
"Ja." Zwar pflegte er keinen besonders intensiven Kontakt
mit den anderen Kainskindern, aber er kannte durch seine Reisen einige
in den verschiedenen Metropolen Europas. Außerdem wußte er
genug, um sie in jeder Stadt zu finden. Als Toreador hatte er es da
ohnehin einfacher. Da die Mitglieder dieses Clans bekanntermaßen
reisewütig waren, wurden Pakte geschlossen, die es den Toreador
erlaubten, überall hin zu reisen; selbst in Städte, die von
feindlichen Clans kontrolliert wurden.
"Und wie sind die so? Ich meine, könnte ich von denen
noch etwas lernen? Ich weiß doch nur so wenig..."
"Kommt darauf an, ob die einem etwas beibringen wollen",
gab Jean zu bedenken. Manchmal waren die Älteren ganz schön
verschlossen, was die Weitergabe von Informationen betraf.
"Hm. Und wovon hängt das ab?"
"Das habe ich leider auch noch nicht herausgefunden." Er
vermutete aber einfach, es kam darauf an, ob derjenige den Frager leiden
konnte oder nicht.
"Hm. Haben sie dir denn schon mal etwas beigebracht?"
"Etwas schon." Wenn er auch das meiste selbst lernen
mußte, so hatte ihm sein Erzeuger doch einiges erklärt.
Leider waren sie nicht sonderlich weit gekommen, weshalb Jean selbst
für einen Neugeborenen ziemlich ahnugslos war. Aber das brauchte
er nicht jedem erzählen und schon gar nicht der kleinen
Ägypterin, die anscheinend noch weniger wußte.
"Und was?"
"So einiges über das Unleben und die Jagd." Es gab so
viele Regeln, die man beachten mußte...
"Hm. Jagd? Muß man dafür denn besondere Kenntnisse
haben? Ich habe mich einfach immer nur an Leuten gesättigt, die
niemand vermissen würde, falls ich mich mal verkalkuliert
hätte. Ich habe mir gedacht, nicht aufzufallen wäre am
sichersten."
"Naja, vorsichtig muß man schon sein. Aber manchmal
macht es schon Spaß, mit der Beute zu spielen und nicht gleich
zuzuschlagen." Das war ein Grund, warum er sich so gerne
abschleppen ließ - auf der Straße konnte man sich solche
Spielchen meist nicht erlauben.
Ansharas Gesicht hellte sich auf. "Stimmt. Wenn es sich um
hübsche, junge Männer handelt, ist das schon eine
Option."
Jean betrachtete sie amüsiert. "Warum siehst du mich so
an?"
"Naja, im Prinzip fällst du ja unter die Kategorie
'hübsche, junge Männer'..."
"Ich bin aber nicht so leicht zu fangen." Was nicht so
ganz stimmte, er war ziemlich leicht einzufangen, wenn das Anbegot nur
verlockend genug war. Allerdings war er anderen Kainskindern
gegenüber immer vorsichtig.
"Das ist wahr. Du bist ziemlich schnell." Anshara
betastete noch einmal ihre Zähne. Die waren zum Glück in
Ordnung geblieben, nur ein letztes Stück Füllmaterial steckte
noch zwischen den Schneidezähnen. Sie zog es heraus. "Aber
es wäre auf jeden Fall eine Herausforderung."
"Versuch es doch." Er war sich ziemlich sicher, daß
sie ihn nicht erwischen konnte, wenn es um reine Körperbeherrschung
ging.
Anshara verzog das Gesicht. "Der Schaumstoff schmeckt
ätzend."
"Kann ich mir denken."
"Da fällt mir ein, ich wollte doch mal meine neuen Sachen
bewundern. Der Page hatte sie ja im Vorraum abgestellt."
Jean schüttelte den Kopf. Frauen! Anshara trabte davon und
kam strahlend mit zweien der prallgefüllten Tüten zurück.
"Und was hast du nun vor?" wollte Jean wissen.
"Hm. Ich hatte eigentlich noch keine Pläne für den
Abend. Außer mir ein Bißchen von dir zu genehmigen, was
sich ja nun erledigt hat."
"Ich glaube, ich brauche mein Blut noch", bemerkte er. Es
war schon schwierig genug, genügend zu bekommen. Spenden konnte er
sich nicht leisten.
"Das ist anzunehmen. Naja, eigentlich habe ich keinen Hunger,
nur ein wenig Appetit..."
"Tse." Jean stellte fest, daß sie ihn wieder
eingehend betrachtete. "Ich lasse mich bestimmt nicht
beißen", machte er sie aufmerksam.
"Dabei hast du so einen appetitlichen Hals."
"Mein Hals gehört nur mir allein!"
"Wie schade..."
"Was machen wir nun?" erkundigte sich Jean, um sie von dem
Thema abzubringen.
"Wir könnten ein wenig das Nachtleben erkunden",
überlegte Anshara. "Ich bin schließlich erst gestern
angekommen und kenne mich hier nicht aus."
"Hast du schon die Jagderlaubnis?"
"Jagderlaubnis? Von wem?"
"Vom Prinzen der Stadt." Das konnte ja heiter werden...
"Huh? Deutschland ist doch schon seit längerem keine
Monarchie mehr, dachte ich."
"Du weißt wohl gar nichts?" fragte Jean
stirnrunzelnd.
"Ja, wer hätte es mir beibringen sollen?"
"Um zu jagen, braucht man die Erlaubnis des Vampirprinzen einer
Stadt", erläuterte Jean also.
"Aha. Und wie kriegt man die?"
"Man stellt sich vor und fragt." Jean fragte sich, wie
Anshara es geschafft hatte, wirklich gar nichts zu lernen.
"Mehr muß man nicht tun? Dann ist es ja gut", sagte
Anshara beruhigt.
"Zu welchem Clan gehörst du eigentlich?" erkundigte
sich Jean interessiert. Sie sah nicht nach einer Clanlosen aus.
"Clan?" Blankes Unwissen stand in ihr Gesicht geschrieben.
"Wie hast du nur bis jetzt überlebt?" seufzte Jean
ungläubig.
"Naja, in Karnak in meinem Sarkophag und in Amerika meist in
diversen Kellern oder Hotels."
"Die Ahnen hätten dich jagen und vernichten
können!"
"Und wieso?"
"Weil du keinen Clan angeben kannst und ohne Erlaubnis
herumgewildert hast."
"Hm. Und wie kommt man zu einem Clan?"
"Man gehört zum gleichen Clan wie sein Erzeuger."
"Hm. Meiner hat sich leider nicht dazu geäußert.
Um genau zu sein, war ich wohl eher ein Unfall."
"Seltsam. So etwas sollte eigentlich nicht passieren.
Entweder ist der Nachkomme gewollt, oder es gibt eine Leiche."
Natürlich kam es auch vor, daß ein Nachkomme von seinem
Erzeuger verstoßen wurde.
Anshara setzte eine eigentümliche Miene auf. "Naja, ich
wurde gebissen, und ich habe aus Reflex zurückgebissen. Und dann
ist der Typ schwer geschockt abgehauen... Wie sollte ich da etwas
über einen Clan erfahren? Der Typ war ziemlich klein, dick und
kahl. Hilft das was?"
"Beschreibe ihn doch etwas genauer", forderte Jean. Das
klang nicht danach, als wäre sie aufgegeben worden. Er hatte auch
noch nie von einem ähnlichen Fall gehört. Normalerweise ging
das Erwachen etwas anders vor sich.
"Er sah aus wie ein durchschnittlicher Aufseher oder
Hofschreiber. Wohlgenährt, mit einem sehr edlen Tuch gekleidet,
und er wirkte ziemlich arrogant. Deshalb ist er wohl auch aus allen
Wolken gefallen, als ich zurückgebissen habe." Sie setzte ein
ziemlich selbstzufriedenes Lächeln auf.
"Das schränkt die Sache schon ein bißchen ein. Wie
sahen die Zähne aus?" Vielleicht konnte er so den Clan
bestimmen.
"Normal. Ziemlich gesund. Und sie waren scharf!"
"Ach", machte Jean belustigt. Es gab eigentlich keine
Kainskinder mit Zahnproblemen. "Jedenfalls würde ich sagen,
daß Nosferatu, Brujah und Gangrel rausfallen." Diese hatten
ziemlich deutliche äußerliche Merkmale, die selbst ein Laie
erkennen konnte.
"Wie viele Clans gibt es denn überhaupt?"
"Viele. Aber es sind dreizehn Hauptclans." Jedenfalls
hatte er das gehört.
"Ah. Und die wären?"
"Ventrue, Gangrel, Malkavianer, Nosferatu, Ravnos, Lasombra, Tzimisce,
Setiten, Giovanni, Tremere, Assamiten, Brujah und
natürlich Toreador", zitierte Jean aus dem Gedächtnis.
"Und was bist du?"
"Ich bin vom Clan Toreador!"
"Ist das was besonderes? Ich meine, weil du es so
betonst."
"Ich denke eben, die Toreador sind etwas besonders." Auf
jeden Fall waren sie der kultivierteste Clan, dachte Jean. Und die
einzigen die wirkliches Verständnis für Kunst und
Schönheit hatten. Sie verstanden es wenigstens zu leben.
"Aha. Leider hilft mir das bislang auch noch nicht
weiter", seufzte Anshara und begann, einige der Tüten auf dem
Bett auszuleeren. Sie probierte begeistert einige der neuen
Schmuckstücke an.
"Ich vermute mal, du könntest Ventrue, Toreador oder einem
Clan, der in Ägypten stärker ist, angehören, zum Beispiel
den Setiten." Die Ventrue waren der Clan, dem Jean den zweiten
Platz in der Rangfolge der Clans zuerkannte. Einige seiner Freunde
unter den Kainskindern waren Ventrue, obwohl sie natürlich nicht
das gleiche Kunstverständnis hatten wie ein Toreador.
"Hm. Aber wie findet man das genau raus?"
"Keine Ahnung... Ich frage mich, ob vielleicht mein Sinn
für's Blut helfen könnte..." Jean hatte sich ein wenig
dem Studium der Thaumaturgie gewidmet, aber leider noch nicht alles so
ganz verstanden. Er hatte wie üblich die Geduld verloren, als es
nicht sofort geklappt hatte. Aber probieren konnte man es ja mal.
"Dann mach mal!"
"Dazu brauche ich Blut." Der Gedanke daran verursachte ein
angenehmes Kribbeln. Er könnte heute nacht auch noch eine Mahlzeit
gebrauchen.
"Blut?" Anshara sah ihn mißtrauisch an.
"Meins?"
"Meins bestimmt nicht."
"Na gut." Anshara ritzte sich mit einem perfekt
zugefeilten, goldlackierten Fingernagel in den Arm. "Ein Tropfen!
Mehr nicht!"
Jean legte vorsichtig einen Finger in das Blut. "Hm",
machte er dann und runzelte die Stirn. Da stimmte was nicht, das war
selbst ihm sofort klar.
"Und?" wollte Anshara wissen.
"Hm." Jean überlegte, ob er etwas falsch gemacht
hatte. Seine Erfahrungen mit Blutmagie waren nicht gerade nennenswert.
"Was ist denn los?"
"Das ist nicht möglich." Jean hatte das Gefühl,
in dem Tropfen Blut steckte mehr Kraft als in dem gesamten Blut von so
manchem Kainiten. Er fühlte sich so... alt an.
"Was?"
"Naja, auf jeden Fall hast du vor 14 Stunden zuletzt
getrunken." Das war etwas, daß er mit Sicherheit sagen
konnte.
"Äh, ja, hab ich."
"Aber der Rest", überlegte Jean ungläubig.
"Wann bist du erwacht?"
"Ich bin vor sechzehn Jahren aus dem Sarkophag
geklettert."
"Das verstehe ich nicht." Er hatte das Gefühl, sie
mußte aus der fünften oder sechsten Generation stammen, aber
dann hätte sie älter sein müssen.
"Was und wieso?"
"Du kannst nicht so jung sein!" Jean überlegte, ob er
etwas falsch gemacht hatte, aber diese Lektion der Thaumaturgie war
wirklich eine der einfachsten.
"Du sprichst in Rätseln."
"Wann wurdest du gebissen?" versuchte Jean es andersherum,
da er es einfach nicht hinnehmen konnte, daß Anshara erst 16 Jahre
alt war.
"Im neunzehnten Jahr der Herrschaft des Sesostris III., genau
einen Tag nach dem Sothis-Aufgang."
"Äh, und das soll mir was sagen?" Er wußte
weder wer dieser Sesostris sein sollte noch was ein Sothis-Aufgang war.
"Das war am Ende der zwölften Dynastie."
"Ich sollte vielleicht erwähnen, daß ich von
Geschichte null Ahnung habe."
"Banause! - Sagen wir mal so... Hast du schon mal von der
Pyramide des Khufu gehört? Die ist etwa 800 Jahre vor meiner
Geburt gebaut worden. Hm, soweit ich weiß, wird sie jetzt
Cheops-Pyramide genannt."
"Äh... Ich glaube, jetzt habe ich es verstanden..."
Jean guckte reichlich perplex aus der Wäsche. Es lag also doch
nicht an seiner Unkenntnis.
"Und was ist nun los?"
"Ich bin mir nicht so ganz sicher, aber ich denke, du
mußt der 5. oder 6. Generation angehören. Einen so alten
Vampir habe ich noch nie gesehen!"
"Ist das gut?" fragte Anshara verwirrt.
"Das weiß ich noch nicht", erwiderte Jean,
inzwischen ziemlich mißtrauisch. Ob sie ihm etwas vorspielte?
Die Handlungen der Ahnen waren meist nicht verständlich.
"Welcher Generation - was immer das heißen soll -
gehörst du denn an?"
"Der elften."
"Und wie viele gibt es insgesamt?"
"Ich glaube fünfzehn."
"Aha." Anshara hatte die Stirn in steile Falten gelegt und
sah ausgesprochen nachdenklich aus. Jean betrachtete sie aus einiger
Entfernung und wischte sorgsam seinen Finger am Taschentusch ab.
Anshara sah ihm dabei zu. "Und hast du nun herausgefunden, zu
welchem Clan ich gehöre?"
"Tremere bist du jedenfalls nicht." Das konnte er schon
allein wegen des Alters ausschließen. Die Tremere waren der
jüngste Clan.
"Dann bleiben immer noch einige übrig", seufzte sie.
"Ich vermute, du bist Setite, Ventrue oder Toreador."
"Und was sage ich diesem komischen Prinzen?"
"Moment, wir können die Sache vermutlich noch etwas
einengen. Du bist ziemlich schnell, was es unwahrscheinlich macht,
daß du zum Clan Ventrue gehörst... Leider weiß ich
fast gar nichts über die Setiten. Das ist ganz schön
schwierig. Aber ich vermute mal einfach, daß du auch eine
Toreador bist." Er betrachtete die Haufen edler Gewandungen, die
Anshara eingekauft hatte.
"Und warum?" fragte Anshara neugierig.
"Weil du offenbar auch viel für Kunst und Schönheit
übrig hast." Und weil er es vorzog, daß sie zu seinem
Clan gehörte...
"Doch, das habe ich." Sie seufzte. "Vielleicht werde
ich mich auch einmal als freischaffende Künstlerin versuchen.
Obwohl es natürlich einfacher ist, schöne Dinge zu sammeln.
Vor allem ist das weniger anstrengend."
"Doch, langsam bin ich mir sicher, daß du Toreador
bist", meinte Jean belustigt.
"Gut. Also sage ich dem Prinzen also, daß ich Anshara
aus dem Clan Toreador bin. Muß man auch die Generation und so
nennen?"
"Besser nicht", warnte Jean. "Das gibt nur
Ärger."
"Warum das?"
"Du wirst vermutlich älter als der Prinz sein, und sowas
mögen die gar nicht so gerne in ihrer Nähe."
"Hm. Was bewirkt denn diese Sache mit der Generation?
Daß ich deshalb weiser bin, wage ich zu bezweifeln..."
"Dein Blut ist stärker, unverdünnter."
"Aha." Anshara verstand nicht ganz, was das zu bedeuten
hatte.
"Je dünner das Blut ist, desto weniger vampirtypische
Eigenschaften hat man."
"Oh. Dabei habe ich das Gefühl, ich habe davon weniger
als du..."
"Jeder ist eben anders. Ich kann halt andere Sachen als
du." Naja, seine speziellen Fähigkeiten waren nicht gerade
atemberaubend. Er hatte irgendwie alles angefangen und nichts richtig
beendet.
"Aha. - Ich bin froh, daß ich mich ernähren kann.
Na gut, ich bin etwas schneller als ein Mensch, aber dafür vertrage
ich keine Sonne."
"Die verträgt kein Vampir."
"Sonst habe ich - glaube ich - keine besonderen
Fähigkeiten."
"Doch."
"Was denn?" Sie sah ihn verdutzt an.
"Auf jeden Fall Präsenz." Das war auf keinen Fall zu
übersehen, da sie selbst ihn beeinflußte, mußte sie auf
einen Menschen um vielfaches stärker wirken.
"Ja, anwesend bin ich..."
"Und wie", kommentierte Jean belustigt. Ihre Ausstrahlung
war wirklich ungewöhnlich.
"Was gibt es denn noch an Fähigkeiten?"
"Jeder Clan hat bestimmte Disziplinen, in denen er besonders
stark ist. Bei den Toreador sind das die Geschwindigkeit, Präsenz
und eine Sache, die sich Auspex nennt."
"Ich komme mir langsam reichlich blöde vor, aber was, bei Djehuti, ist
Auspex?"
"Wahrnehmungen, die weiter reichen als die normalen
Sinne." Jedenfalls war das die Erklärung, die ihm gegeben
wurde. Er hatte nicht besonders viel davon, er konnte seine Sinne
willentlich schärfen, was aber auch eine Gefahr bedeutete, denn
dabei war er natürlich besonders empfindlich, was
äußeres Störungen betraf. Leider hatte er es nie
geschafft, die Aura-Wahrnehmung zu meistern, sonst hätte er Anshara
gleich als das erkennen können, was sie war.
"Klingt praktisch", fand Anshara.
"Wenn es klappt, schon."
"Wieso 'wenn es klappt'? Wenn ich gucke, dann geht es doch
auch, wieso sollte es mit diesen weiter reichenden Wahrnehmungen nicht
funktionieren?"
"Man muß sich stark konzentrieren, und das klappt bei mir
nicht so."
"Ach so. Dann sollte das bei mir kein Problem sein. Ich habe
Jahre mit Meditation verbracht." Sie erwähnte lieber nicht,
daß sie dabei meist eingeschlafen war, und daß der
Hohepriester darauf ziemlich ungehalten reagiert hatte.
"Ich lasse mich zu leicht ablenken."
"Ah. Aber das kann man lernen", behauptete sie.
"Hm", machte Jean zweifelnd und ließ sich auf der
Lehne des Sessels nieder. "Mit dem Lernen habe ich so meine
Probleme."
"Ja? Was ist daran schwierig? Man setzt sich hin und liest
ein Buch darüber. - Dabei haben diese neumodischen Schriftzeichen,
die hierzulande verwendet werden, einen ziemlichen Vorteil
gegenüber den alten Hieroglyphen. Man muß nicht gleich neue
Bilder für einen Begriff erfinden, den es vorher noch nicht gab,
und es ist auch leichter, abstrakte Konzepte zu erfassen..."
"Ich bin froh, daß ich überhaupt lesen kann",
seufzte Jean, "da muß es nicht auch noch abstrakt sein."
"Hm. Lesen ist wichtig", befand Anshara.
"Heutzutage schon."
"Früher auch! Vor allem, was geheime Schriften von weisen
Mystikern und so betraf..."
"Sowas habe ich nie gesehen."
"Oh. Bei uns wurde so etwas im Tempel aufbewahrt. Offiziell
hätte ich es ja auch nicht sehen dürfen, aber ich habe mich
immer heimlich hineingeschlichen, um die Geheimen Schriftrollen des
Djehuti zu lesen..."
"Tse", machte Jean und rutschte in eine bequemere
Position. Anshara redete immer so viel...
"Wollen wir nun etwas unternehmen?" wechselte sie abrupt
das Thema. "Wenn ja, muß ich mich nämlich noch
umziehen."
"Ups", machte Jean. Das war ein Gedankensprung...
"Was sollen wir denn unternehmen?"
"Etwas knabbern gehen zum Beispiel." Sie sah zum Fenster
hinaus; der Himmel war bedeckt, und man sah keine Sterne.
"Du hast keine Erlaubnis."
"Aber Hunger", quengelte Anshara.
"Und ich habe eh schon mehr Ärger als ich gebrauchen
kann." Momentan hielt es sich zwar in Grenzen, aber wenn er
erwischt wurde, während er mit einer 'Fremden' jagte, dann gab es
Probleme.
"Dann bring mich zu diesem Prinzen", forderte sie.
"Kann ich nicht. Heute ist gerade wieder so eine Party."
Und in eine Versammlung der Ahnen würde er aus so einem unwichtigen
Grund bestimmt nicht hereinplatzen.
"Und wo liegt das Problem?"
"Ich bin nicht eingeladen, du bist nicht eingeladen, aber der
Prinz."
"Frechheit", fand Anshara. "Der Typ geht auf eine
Fête, und deshalb soll ich hungern?"
"Er ist der Prinz", erklärte Jean schulterzuckend.
Und er war definitiv zu mächtig, um sich mit ihm anzulegen.
"Und ich bin die Reinkarnation von Ma'at!"
"Das solltest du besser nicht so laut verkünden. Ich
glaube nämlich nicht, daß das bei dem Prinzen so gut
ankommt."
"Hm. Was ist der denn für ein Typ?"
"Ich habe ihn nur einmal gesehen. Er ist eben ein Prinz. -
Was soll ich dazu sagen?" Um einem Prinzen zu trotzen, mußte
man schon stark sein, denn es war nicht nur der Herrscher der Stadt, dem
man widerstehen mußte, sondern auch seine Brut, die sich meist in
seiner Nähe befand.
"Ich habe überhaupt noch keinen Prinzen gesehen."
"Naja, so anders sehen die auch nicht aus. Ich weiß nur,
daß es besser ist zu gehorchen, sonst wird's unangenehm."
"Aber wenn er auf der Fête ist, kann er mich auch nicht
erwischen", überlegte Anshara.
"Er nicht, aber es gibt überall Spione." Jedenfalls
vermutete er das, denn Prinzen wußten meist alles, was in ihrer
Stadt vorging.
"Hm. Bis die mich melden, bin ich wieder weg."
"Es könnte eine Blutjagd ausgerufen werden, und das ist
gar nicht lustig." Allerdings passierte sowas sehr selten. Und
Anshara war anscheinend nicht gefährlich genug, um sowas nötig
werden zu lassen.
"Also, bis jetzt hat mich noch niemand erwischt - und ich
streife schon seit sechzehn Jahren durch die Weltgeschichte", gab
sie zu bedenken.
"Ich glaube nicht, daß dich jemand explizit gejagt
hat."
"Naja, aber ich habe mich bislang auch nirgendwo vorgestellt.
Oder gibt es in New York, Los Angeles, San Francisco und so keine
Prinzen?"
"Doch."
"Na, siehst du."
"Tu was du willst." Jean vermutete, es würde eh
keinen interessieren, was Anshara tat, da sie ja wohl noch nichts
Gravierendes angestellt hatte.
"Tu ich immer", meinte Anshara fröhlich.
"Dachte ich mir schon."
"Also können wir futtern gehen. Und im Zweifelsfall
behaupte ich einfach, ich wollte diskret sein und den Prinzen nicht bei
seiner Party stören..."
"Na schön", meinte Jean.
"Wir könnten den Prinzen natürlich auch ausrufen
lassen..."
"Ich denke, du kannst auch bis morgen warten", winkte Jean
schnell ab.
"Siehst du."
"Ich gebe mich ja schon geschlagen." Es brachte eh nichts
über etwas zu diskutieren, was wahrscheinlich nicht mal ein Problem
war.
"Brav", sagte sie mit einem koketten Augenaufschlag.
"Nur heute", meinte Jean.
"Abwarten." Sie maß ihn mit einem vielsagenden
Blick.
"Hm?" Jean guckte fragend.
"Nichts weiter", wich Anshara aus. Sie würde ihn
jedenfalls nicht so schnell entkommen lassen, besonders, wo er soviel
wußte, was sie bislang noch nicht gelernt hatte.
"Wolltest du dich nicht umziehen?" wechselte Jean das
Thema, es machte ihn nervös, so betrachtet zu werden.
"Oh, natürlich - das hätte ich fast vergessen."
Sie raffte einige der Kleider zusammen und verschwand in einem
angrenzenden Zimmer.
Jean sah ihr amüsiert hinterher.
Etwa zehn Minuten später kehrte Anshara in einem tief
dunkelroten, bodenlangen Samtkleid mit goldenen Applikationen
zurück. Ihre zierlichen Füße steckten in goldenen
Sandalen, und sie war an Hals, Armen, Ohren und Haaren mit Goldschmuck
verziert. Sogar ein goldenes Fußkettchen glitzerte um ihren
Knöchel.
Jean sagte lieber nichts zu diesem Aufzug. Es sah ja hübsch
aus, war aber für eine kleine Beutejagd denkbar ungeeignet. Nun,
jedem das seine...
"Gehen wir?" fragte sie.
"Wenn du fertig bist?"
"Oh, Moment..." Sie griff nach einem Parfumflacon und
nebelte sich ein, ehe sie ein goldgesäumtes, bodenlanges schwarzes
Cape mit Kapuze um sich hüllte.
"Du bist nicht zu übersehen, und vor allem kann einem
dieser Duft nicht entgehen."
"Gefällt er dir nicht?"
"Er ist ein bißchen extrem."
"Das ist ganz normal orientalisch."
"Naja, jedenfalls finde ich dich so schneller", meinte er
diplomatisch.
"Du bist zu freundlich."
"Manchmal", meinte Jean und bequemte sich, von der Lehne
zu rutschen.
"Soll ich dir behilflich sein?" Anshara streckte ihm eine
Hand entgegen.
"Immer", meinte Jean und ließ sich nach oben ziehen.
"Danke."
"Also laß uns happa-happa gehen. - Du weist den
Weg."
"Wohin?"
"Zum Futter natürlich!"
"Seufz", machte Jean. "Na schön, hier geht's
lang." Er war nicht gerade begeistert, hier den Führer machen
zu müssen, denn in Frankurt kannte er sich kaum aus. Und Anshara
in seine höchstpersönlichen Jagdgründe zu führen kam
nicht in Frage.
"Es muß aber frisch gewaschen und am besten noch knackig
sein."
"Auch noch Ansprüche stellen."
"Was dachtest du? Daß ich in jeden hergelaufenen Hals
beiße? Nicht mehr!"
"Dann hoffe ich, daß du Seife dabei hast," meinte
Jean leicht ironisch.
"Nein, aber ein paar Erfrischungstücher."
Jean schüttelte sich. "Naja, wenn's nicht anders
geht."
"Damit sind sie gleich desinfiziert, und außerdem hat
meine Sorte Zitronengeschmack."
"Ich denke eher Zitronenduft - schmecken tun die alle
gleich."
"Nein", widersprach Anshara. "Manche schmecken nach
Bergamotte, andere nach Eau de Cologne, und die hier nach Zitrone."
"Alles nicht mein Geschmack." Inzwischen waren sie vor dem
Hotel angekommen, und Jean sah sich suchend um.
"Hauptsache sauber", fand Anshara.
"Hast du irgendwelche Vorschläge, wo wir uns umsehen
sollten?"
"Wie wäre es mit einem Schwimmbad? Was immer da
herauskommt, sollte auf jeden Fall frisch gewaschen sein."
"Gut. Ich kenne zwei, die etwas weiter weg sind. Ich hoffe
nur, daß die jetzt noch geöffnet haben."
"Hm. In Amerika ist fast alles immer rund um die Uhr
geöffnet."
"Wir sind in Deutschland", machte Jean sie aufmerksam.
"Nehmen wir ein Taxi?"
"Ist auf jeden Fall bequemer."
"Gut." Jean rief ein Taxi herbei, und sie ließen
sich zum Bezirksbad Sachsenhausen fahren. Im Auto unterhielten sie sich
sicherheitshalber nur über diverse Belanglosigkeiten. Bald darauf
standen sie vor dem Gebäude.
"Ich hoffe, hier kommt gleich eine leichte Mahlzeit
heraus", äußerte sich Anshara, als sie auf ein Opfer
warteten.
"Hoffen wir es. - Ich sehe mich mal kurz um, ob es hier ein
verschwiegenes Eckchen gibt, wo wir uns dem Futter widmen
können." Er verschwand lautlos in den Schatten, und Anshara
wartete. Ein antikes Seniorenpaar ließ sie unbehelligt; alte
Leute waren nicht so schmackhaft, fand sie.
Kurz darauf tauchte Jean wieder auf.
"Das Bad hat einen hübschen, finsteren Hinterhof",
verkündete er.
"Praktisch", fand Anshara.
"Eben. - Nur, wie kriegen wir die Leute dahin?"
"Am besten k.o.-schlagen und hinschleifen", schlug sie
vor.
"Dann mach mal."
"Ich? Du bist groß und stark!"
Jean musterte sie. "Wer ist denn hier soooo hungrig?"
"Ich will einen Snack, kein Menü in neun
Gängen."
"Es darf aber nicht zu schwer sein."
"Ich kann mit anpacken", bot sie an.
"Vollkommen unauffällig", meinte Jean
kopfschüttelnd und lehnte sich an die Mauer.
"Hm." Anshara sah sich um. "Ich kann mich auch
malerisch hindrapieren, und du rufst jemanden unter dem Vorwand,
daß ich Hilfe brauche."
"Ich verstecke mich lieber so lange, bis ich weiß,
daß diese Hilfe nicht stärker ist als ich."
"Feigling", moserte sie. "Bist du nicht stärker
als ein dummer Sterblicher?"
"Kaum. Jedenfalls nicht stärker als so ein
Zweizentnerpaket, das dir bei meinem Glück zu Hilfe eilt."
"Du kannst ihm doch eins von hinten auf die Rübe
geben."
"Hast du eine Keule in der Tasche?"
"Nein, nur eine Zahnbürste", erklärte sie nach
kurzer Suche in dem goldfarbenen Handtäschchen. Jean guckte sie
ziemlich irritiert an. "Sag bloß, du putzt dir nicht die
Zähne, nachdem du jemanden gebissen hast", erkundigte Anshara
sich ungläubig.
"Nicht, wenn es sich vermeiden läßt." Wo sollte
er auch eine Zahnbürste verstauen, er trug eigentlich selten
Handtaschen mit sich herum...
"Wie stillos", kommentierte sie.
"Laß uns lieber voranmachen, sonst wird es hell, und wir
stehen immer noch hier."
"Gut. Mach mal!"
"Immer ich", maulte Jean.
"Einer gibt die Kommandos, und einer führt sie aus",
erklärte Anshara huldvoll.
"So? Und warum sollte ich mich von dir herumkommandieren
lassen?"
"Du siehst danach aus", erklärte sie, nachdem sie ihn
seelenruhig gemustert hatte.
Jean ließ seiner Meinung darüber auf Französisch
vollen Lauf. Ägyptische was-auch-immers waren anscheinend ziemlich
nervig.
"Abgesehen davon bin ich eine arme, schwache Frau, und du
mußt mich doch beschützen", säuselte sie mit aller
Hingabe und einem herzzerreißenden Blick aus ihren Bernsteinaugen.
"Ich muß gar nichts", behauptete Jean, obwohl ihm
doch eher nach dem war, was Anshara forderte. Sie wirkte auf einmal so
zerbrechlich, so hilflos...
"Nebenbei, würdest du mir bei Gelegenheit mal deine
Muttersprache beibringen?" wechselte sie das Thema, und die
Illusion des schwachen Weibchens zerplatzte wie eine Seifenblase.
"Deine Flüche klangen nämlich interessant."
Jean gab ein paar weitere von sich. Er hatte Hunger, und so bekam
er nie was. Anshara lauschte interessiert. Das klang wirklich toll.
Aber was hatte er nur...?
Schließlich ließ Jean sie stehen und verschwand auf der
anderen Seite der Eingangstür im Schatten. Er hatte langsam genug
von den Diskussion, er brauchte etwas Handfestes zwischen den
Zähnen.
Anshara schüttelte den Kopf. War der empfindlich!
Während sie sich noch über das sensible Wesen Jeans wunderte,
kam ein Teenager aus der Tür, und sogar alleine. Sie
beschloß, sich ein Schlückchen zu genehmigen und lockte den
Jungen unter Einsatz ihrer weiblichen Waffen in den Hinterhof. Nach
knapp 1.1 Litern hatte sie genug und leckte so lange an der Wunde herum,
bis diese spurlos verschwunden war. Jetzt konnte er erzählen, was
er wollte, es gab keine Beweise mehr.
Auf sich gestellt hatte Jean auch keine Probleme, zu seinem
Nachtmahl zu kommen. Er hatte eine junge Frau in den Schatten gelockt
und die Bewußtlose dann in der Nähe der Eingangstür
abgelegt. Gerade kletterte er über eine Mauer, um zu sehen, ob
Anshara sich noch im Hinterhof befand. Dort lag jedoch nur der
ohnmächtige Junge, also ging Jean erneut zum Eingang des Bades.
Anshara stand in einer Ecke und wischte verärgert mit einem
Erfrischungstuch am Ärmel ihres Kleides herum.
"Oh, hallo Jean", begrüßte sie ihn. "Hast
du wohl gespeist?"
"Eher eilig," meinte dieser. Er hatte sich irgendwie
einen ungünstigen Platz ausgesucht und die junge Frau war zu schwer
gewesen, als daß er sie weiter als ein paar Meter hätte
tragen können.
"Ts! Ich konnte mir Zeit lassen; ich wollte ja nur ein paar
Tröpfchen."
"Tse", machte Jean. Nach ein paar Tröpfchen hatte
ihm das nicht ausgesehen.
"Junges Blut hat immer so ein frisches Aroma." Sie
ließ ihre Zunge über die wieder völlig normal wirkenden
Zähne gleiten. "Es ist um einiges besser als Konserven."
"Stimmt. Notrationen schmecken nie gut." Obwohl
tiefgekühltes Blut auch so seinen eigenen Reiz hatte.
"Aber noch schlimmer finde ich Tierblut", meinte sie
angewidert und schüttelte sich. "Vor allem Schwein ist
eklig!"
"Das geht doch noch", widersprach Jean. Er fand Ratte
viel ekliger.
"Ich mag's nicht."
"Naja, ich auch nicht. Aber es gibt schlimmeres. Sei froh,
wenn du es nie hast trinken müssen."
"In der Wüste mußte ich ab und zu auf Kamele
ausweichen."
"Kamel hatte ich noch nie; die gibt's hier auch nicht so
oft." Jean stieg auf die kleine Begrenzungsmauer um ein Blumenbeet
und balancierte darauf herum.
"Die sind praktisch. Da ist viel Saft drin."
"Ich dachte, die speichern Wasser in ihren Höckern."
"Das schon." Anshara mußte sich fast den Kopf
verrenken, um zu ihm aufzusehen. "Aber Blut haben sie auch
ausreichend. - Und was unternehmen wir jetzt? Gibt es hier irgendwo
was, wo etwas los ist?"
"Hier in der Stadt ist nicht viel los", fand Jean und
sprang von der Mauer herunter. "Mir ist das alles irgendwie zu
öde."
"Und wie sieht es zum Beispiel mit Kunstgalerien aus?"
"Die haben nachts zu." Es gab zwar einige, die spezielle
'Öffnungszeiten' für Kainskinder hatten, aber er hatte leider
die Adressen noch nicht bekommen.
"Dann sollten wir uns bei Gelegenheit einschließen
lassen, damit wir die Sachen in Ruhe begutachten können." Sie
setzte sich auf die Mauer und ließ die Beine baumeln.
"Irgendwie mag ich Deutschland nicht. Die haben hier viel zu
vampirunfreundliche Öffnungszeiten. Wie soll man zum Beispiel im
Sommer in irgendeine Boutique gehen, wenn die nur von 09:00 bis 18:30
Uhr offen haben?"
"Ich war noch nie im Sommer hier." Außerdem gab es
immer Mittel und Wege...
"Ein weiser Entschluß. - Amerika ist viel praktischer,
da hat fast alles rund um die Uhr auf. Wie sieht es eigentlich in den
anderen europäischen Ländern aus?"
"Verschieden."
"Hm. Ich will mir auf jeden Fall bei Gelegenheit Frankreich
angucken", überlegte sie. "All die wundervollen Bauwerke
und Museen... Aber bis dahin sollte ich lieber Französisch
lernen."
"Durchaus."
"Vielleicht versuche ich mich aber auch mal an Deutsch. Auch
wenn ich das Land wegen der Öffnungszeiten nicht mag, ich bin jetzt
hier, und da käme die Landessprache nicht unpraktisch."
"Die Sprache ist ziemlich schwer. Ich habe gelernt, was ein
Tourist wissen muß, und es hat mich genug an Zeit gekostet."
"Die Sprache scheint komplex zu sein, aber die Schriftzeichen
sind einfach. Obwohl sie lange nicht so hübsch sind wie
Hieroglyphen."
"Ich glaube, ich hab mal Hieroglyphen in einem Museum gesehen.
Das sind doch so komische Bildchen in Stein - obwohl du recht hast, sie
sehen ganz nett aus."
"Banause", seufzte Anshara. Jean zuckte mit den
Schultern. Er interessierte sich halt nicht so sehr für
ägyptische Schriftzeichen.
"Das alte Ägypten war eine Hochburg künstlerischen
Schaffens - damals wurden noch Weltwunder mit bloßen Händen
erbaut", deklamierte Anshara.
Jean grinste. "Aber bestimmt nicht mit den eigenen."
"Bin ich verrückt? Durch mich spricht die Göttin
Ma'at. Eine Göttin befiehlt, und ihre Diener schaffen!"
"Man merkt's", kommentierte Jean trocken. Anshara guckte
betont unschuldig. "Wir sollten langsam hier verschwinden",
empfahl er.
"Sicher. Ich bin gesättigt. Der Junge war zart und
schmackhaft."
Jean lachte amüsiert. "Und wohin nun, edle Dame?"
"Irgendwohin, wo etwas los ist. Wie wäre es mit einer
Oper? Oder ist es dafür hier wieder einmal zu spät?"
"Kein Ahnung", seufzte Jean, er hatte doch nicht den
Kulturkalender im Kopf.
"Hm. Gibt es denn vielleicht gepflegte Tanzveranstaltungen am
Abend?"
"Was verstehst du unter 'gepflegt'?"
"Keine NDW- oder Punk-Disco."
"Auch nicht mein Fall", meinte Jean. "Leider spielen
die insbesondere die Neue Deutsche Welle hier überall..."
"Ich habe es im Radio gehört, seit ich hier angekommen
bin. Ich vermute, es ist gut, daß ich die Texte nicht
verstehe."
"Ganz genau. - Obwohl, verstanden habe ich auch nichts. Es
muß wohl eine tiefere Bedeutung haben, als ich mit meinen
Touristen-Deutschkenntnissen verstehen kann."
"Vielleicht ist es ja Slang oder so?"
"Keine Ahnung. Ich bin kein Sprachengenie."
"Hm, vielleicht versuche ich mich ja doch einmal an diesem
Deutsch. Oder ich könnte Deutsch und Französisch
lernen."
"Also eine Mixtur?" grinste er.
"Seufz!"
"Und was machen wir jetzt?"
"Wie wär's mit 'einen draufmachen'? Leider kenne ich mich
jedoch hier nicht aus."
"Ich doch auch nicht."
"Vielleicht könnte man ja jemanden aufgabeln, der sich
hier auskennt."
"Dann gabel mal." Jean sah sie erwartungsvoll an.
"Ich? Ich gehöre dem schwachen Geschlecht an, das
geschützt, gehegt und gepflegt werden muß!" Anshara
klimperte heftig mit den Wimpern.
"Ich dachte, du ziehst es vor zu denken, während ich die
Arbeit mache."
"Da hast du einen Punkt. - Also komm mit!" Sie erhob
sich, trabte davon und zog ihn kurzerhand mit sich. Jean trottete
hinter ihr her. Anshara blickte nach oben und seufzte tragisch.
"Ich habe es lieber, wenn Sterne am Himmel stehen. Das sieht
viel ästhetischer aus als diese traurigen Wolken."
"Stimmt. Sterne sind hübscher", nickte Jean.
"Ich habe zu Hause ein schwarzes Kleid aus einem Stoff, in dem
lauter Sterne zu funkeln scheinen..." Langsam gelangten die beiden
in Richtung Stadtkern zurück. Auf einer Brücke hielten sie
kurz an. Unten floß der Main in nachtschwarzem Schweigen.
"Das sieht bestimmt toll aus", befand Jean.
"Allerdings. Aber es liegt natürlich in Karnak in meinem
Kleidersarkophag."
Jean guckte sie amüsiert an. "Hast du für alles
einen eigenen Sarkophag?"
"Naja, einen für mich und einen für meine Klamotten.
Worin schläfst du denn?"
"Im Bett. Jedenfalls meistens."
"Oh."
"Was dachtest du denn? Daß ich in einem muffigen Sarg in
einer tiefen Gruft nächtige?" Anshara hatte definitiv zu viele
Vampirfilme gesehen.
"Äh, ja... Eigentlich schon", gab sie zu.
"Sowas! Das ist doch viel zu unbequem. Ich liebe große,
weiche Betten." Besonders, wenn sie noch mit einem kleinen
Mitternachtssnack gefüllt waren...
"Oh, mein Sarkophag ist riesig und weich gepolstert. Und ich
habe Kissen und Decken darin. Es ist echt gemütlich in dem
Teil."
"Mich würde der Deckel stören." Jean
schüttelte sich, er hatte etwas dagegen, in so engen Räumen
eingesperrt zu sein.
"Hm. Man kann ihn offen lassen. Ich für meinen Teil mag
aber keine Skorpione und so ein Viehzeug in meinem Bett."
"Ich bin auch froh, daß diese Zeiten vorbei sind.
Früher gab es ja ziemlich viel Krabbelzeug in den Betten."
"Seufz, mir ist es bislang noch nicht gelungen, das ganze
Ungeziefer aus meiner Höhle zu bekommen..."
"So?" fragte Jean amüsiert.
Anshara nickte eifrig. "Skorpione, Käfer und Schlangen.
Obwohl, die Schlangen kann ich ja noch tolerieren..."
Jean schüttelte sich und sah von der Brücke ins Wasser.
"Zum Glück gibt es heutzutage ja Insektenspray."
"Gegen Skorpione?"
"Keine Ahnung. Aber vielleicht gibt es dagegen ja
Köderfallen."
"Das wäre eine Idee. Oder ich müßte mir doch
endlich mal eine vernünftige Wohnung zulegen. In meiner Höhle
gibt es auch kein warmes Wasser, nur ziemlich weit hinten unten einen
kleinen, kalten Wasserfall."
"Hm", machte Jean. Das war jedenfalls nicht sein Stil.
Er liebte es, im Luxus zu schwelgen.
"Ich muß mir irgendetwas überlegen, wie ich meinen
Sarkophag unauffällig von dort wegtransportiert bekomme."
"Das Ding ist bestimmt schwer", kommentierte Jean und
stützte sich auf die Brüstung, um besser das Wasser unter ihm
betrachten zu können.
"Eben. Ich hatte schon mal nachgefragt - wenn ich nach Amerika
übersiedeln würde, kostete mich allein das
Übergepäck im Flugzeug ein Vermögen! Und Schiffen traue
ich nicht. Die sind zu lange unterwegs, und wenn die untergehen, hat
man nach einiger Zeit ein definitives Problem mit der Sonne..."
"Unzweifelhaft."
"Aber ich weiß ohnehin noch nicht, ob ich überhaupt
nach Amerika will. Die haben da so strenge
Einwanderungsbestimmungen."
Da Jean von dem dunklen Wasser absolut fasziniert war, hörte er
wieder mal nicht zu.
Anshara seufzte tragisch. Irgendwie war das alles sehr kompliziert.
Als sie noch als Priesterin der Ma'at im Tempel in Karnak lebte, war
alles viel einfacher gewesen.
Wie zur Antwort gab nun auch Jean einen Seufzer von sich. Er fand
die dunklen Wellen so hübsch. Eigentlich war ihm noch nie
aufgefallen, daß Wasser so toll aussehen konnte.
"Ist was?" erkundigte sich Anshara. Daß er sich
ihre Probleme so zu Herzen nahm... Jean reagierte jedoch gar nicht, er
war völlig in den Anblick des Mains versunken. Langsam ging es ihr
auf, daß Jean ihr wohl gar nicht zugehört hatte. Frechheit.
Jean legte sich noch etwas weiter über die Brüstung, denn
das war bequemer, und er konnte besser gucken. Anshara überlegte,
ob sie ihn einfach hinunterschubsen sollte, als kleine Rache dafür,
daß er sie so sträflich mißachtete. Aber nein, lieber
nicht, er konnte ihr bestimmt noch einiges beibringen.
Jean hatte Anshara derweil schon total vergessen, wie er fast immer
alles vergaß, wenn ihn etwas faszinierte. Sie hingegen fand ihn
unverschämt, sie einfach so zu ignorieren. Immerhin war sie die
Verkörperung der Ma'at und somit gebührte ihr ein gewisser
Respekt. Anshara schmollte, als zehn Minuten des Schweigens vergangen
waren, doch Jean reagierte immer noch nicht.
Schließlich war sie so gefrustet, daß sie sich von der
Brücke schlich und sich ein weiteres Opfer suchte. Als sie noch
lebte, hatte sie ihren Frust mit Süßigkeiten gestillt, die zu
ihrem persönlichen Glück nicht angesetzt hatten, und nun
mußte eben Blut her.
Es dauerte noch einige Zeit, bis sich Jean von dem Anblick des
Wassers losreißen konnte, und da war Anshara schon verschwunden.
Er zuckte mit den Schultern und ging weiter hinunter in die Stadt. Auf
dem Weg stolperte er über einen bewußtlosen Körper.
Jean seufzte. Das Opfer konnte nur von Anshara stammen, dabei sollte
gerade sie sich besser in acht nehmen. Wahrscheinlich war es besser,
wenn er sich in Gegenrichtung davon machte, dachte er. Es würde
seinem Ansehen sicher abträglich sein, wenn er mit ihr gesehen
wurde.
Zu seinem Pech hatte Anshara ihn jedoch gerade erspäht, als er
sich umwenden wollte.
"Ah, du erinnerst dich noch, daß es mich gibt",
stellte sie spitz fest. Jean sah sie fragend an. "Ich habe mit
dir geredet, und du hast mich ignoriert. Ich war für dich gar
nicht da", warf sie ihm vor.
"Ich habe nichts gehört," sagte Jean, was absolut der
Wahrheit entsprach.
"Du bist ein ungehobelter Klotz!" Sie sah ihn schmollend
an.
"Wenn du es sagst", entgegnete Jean ziemlich
eingeschnappt. Was konnte er dazu, wenn sein angeborener
Schönheitssinn mit ihm durchging?
"Oh ja! Du weiß offenbar nicht, wie du dich einer Dame
gegenüber zu verhalten hast."
"Einer Dame gegenüber verhalte ich mich immer
perfekt."
"Du bist ein Rüpel!" Sie stampfte mit dem Fuß
auf.
"Wenn man mich ärgert..."
"Ich habe dich geärgert? Du hast
mich ignoriert!"
"Du hättest mich ja auf dich aufmerksam machen
können."
"Die einzig wirksame Methode dazu wäre vermutlich gewesen,
dich in den Main zu werfen, aber das hätte dir vermutlich nicht
gefallen."
"Ist ja auch egal. Am besten gehen wir jeder wieder seiner
eigenen Wege."
"Du mußt mir aber vorher noch einiges beibringen",
widersprach sie. "Vor allem, was diese Clans und so
betrifft."
"So? Muß ich? Du behinderst mich bloß."
"Wobei?"
"Bei allem."
"Du bist gemein."
Jean guckte genervt. Wäre er ihr doch bloß nie begegnet.
Anshara erwiderte den Blick mit einer Miene, als würde sie im
nächsten Augenblick in Tränen ausbrechen. Natürlich
hatte Jean nun ein Problem, als er ihr direkt in die Augen sah. Diese
goldschimmernde Bernsteinfarbe faszinierte ihn ungemein, und er
vergaß mal wieder die ganze Umgebung. Mühevoll riß er
sich jedoch diesmal davon los und guckte sicherheitshalber an Anshara
vorbei.
"Was hast du?" fragte sie jammervoll. Warum gelang es ihr
nicht, ihn einfach um den Finger zu wickeln, wie sie es sonst immer bei
ihren Opfern getan hatte?
"Nichts. Es ist nur ungünstig, wenn wir hier
herumstehen."
"Und wo sollen wir hin? Ich meine, ich habe eine ganze Suite
im Hotel, du könntest gerne mitkommen."
Jean schüttelte den Kopf. "Da ist es mir zu hell."
"Es sind immerhin zwei Badezimmer ohne Fenster da."
"Soll ich den ganzen Tag baden?"
"Hm. Falsch ist sowas nicht. Ich liebe es, in duftenden
Ölen zu baden und mich ausgiebig zu pflegen."
"Naja, mir wäre das jedenfalls zu lange."
"Ach, so zwei, drei Stunden kann ich das schon
aushalten..."
Jean warf ihr einen amüsierten Blick zu. "Ich schlafe
tagsüber lieber."
"Im Sommer sind die Tage ewig lang, da kann man nicht die ganze
Zeit schlafen."
"Es ist Winter."
"Na gut, da bade ich auch schon mal, wenn es dunkel ist."
"Ich werde jedenfalls den ganzen Tag im Bett zubringen, wie es
sich gehört", erklärte Jean.
"Hm. Kommst du dann am Abend bei mir vorbei?" Sie
klimperte mit den Wimpern und schmachtete ihn an. Hübsch war er
ja, das mußte sie ihm lassen. Wenn er ein Sterblicher wäre,
hätte sie ihn schon lange angeknabbert.
"Wozu?" fragte Jean. Sie musterte ihn schon wieder so
komisch.
"Du mußt mich doch zu diesem Prinzen bringen.
Außerdem wäre es praktisch, wenn du mir eine Liste der
Angehörigen des Toreador-Clans geben könntest, die mitterweile
ausgelöscht sind, damit ich einfach einen von denen als Erzeuger
benenne. Wer nicht mehr da ist, kann schließlich nicht gefragt
werden, ob die Story wahr ist."
"Ich habe keine Liste", meinte Jean. "Ich kenne
nicht viele der Älteren." Eigentlich kannte er außer
einigen Prinzen überhaupt keine der Ahnen.
"Oh. Das ist dumm. Aber das müßte doch irgendwie
herauszufinden sein."
Jean zuckte mit den Schultern. "Ich interessiere mich nicht
sonderlich für sowas." Man hielt sich am besten so weit wie
möglich von den Älteren fern.
"Meinst du, ich kann einfach einen Erzeuger erfinden?"
"Ich glaube nicht, daß irgendjemand alle kennt."
"Im Zweifelsfall gehöre ich dann zu so etwas wie einer
vergessenen Seitenlinie - ein Kind vom Toreador-Chef, das irgendwie nie
erwähnt wurde, oder so."
"Ich glaube, das wird auch gar nicht so genau
nachgeprüft."
"Prima. Dann behaupte ich einfach, meine Erzeugerin sei
Anetmut, und das ist nicht mal gelogen. Immerhin war dies der Name
meiner sterblichen Mutter."
Langsam wurde Jean ungeduldig. Sie standen immer noch ziellos
herum. Abgesehen davon konnte er Ansharas Fragen ohnehin kaum
beantworten.
"Und du holst mich dann am Abend ab, um mich dem Prinzen
vorzustellen?" bohrte sie nach.
"Du läßt mir sonst ja doch keine Ruhe."
"Prima!" Sie strahlte ihn an, während er vor sich
hingrummelte. "Bin ich dir soooo zuwider?" Ein Blick
aus großen, tragisch blickenden Bernsteinaugen traf ihn
mittschiffs.
"Nein", beeilte Jean sich zu sagen.
"Dann bin ich beruhigt."
Er musterte sie, und Anshara schlug scheu die Augen nieder.
"Ich glaube, ich gehe besser", fand er.
"Aber versetze mich nicht", forderte sie.
"Wenn ich daran denke..."
"Denke daran!" Sie kniff die Augen zusammen und
sah ihn prüfend an.
"Sowas fällt mir aber schwer."
"Ich könnte auch dich abholen",
überlegte sie.
"Wenn du mich findest. Ich wohne mal hier, mal da",
erklärte Jean vergnügt. "Ich finde meist jemanden, der
mir sein Bett anbietet."
"Hm", machte Anshara. Jean sah sie an.
"Und du gehst immer ins Hotel?"
"Naja, am Anfang habe ich mir in Amerika immer irgendwelche
dunklen Keller und verlassene U-Bahn-Schächte gesucht."
"Pfui." Jean verzog das Gesicht.
"Naja, ich mußte doch erst einmal herausfinden, wie hier
alles abläuft. Als ich in Karnak erwachte und erstmals all diese
neumodischen Dinge sah, mußte ich doch erst lernen, wie alles hier
funktionierte und so. Weißt du, daß dieses 'Rad' eine echt
geniale Erfindung ist? Bei uns gab es immer nur Schlitten..."
Ansharas Gesicht leuchtete förmlich auf, als sie über die
neuzeitlichen Wunder reflektierte, und Jean musterte sie amüsiert.
"Und während ich mir alle diese neumodischen Sachen
beibrachte, hatte ich irgendwie keine Zeit, mich um ein Haus oder eine
Wohnung zu kümmern. Vor allem, wo ich dauernd durch die Gegend
gezogen bin, um andere meiner Art zu finden. Schwierig war es ja auch,
erst einmal Ausweise für mich zu beschaffen, etc...." Jean sah
sie weiter an. "Ich würde mir ja gerne ein Haus
zulegen", fuhr Anshara fort, "wenn ich nur wüßte,
wo..."
"Wo immer es dir gefällt."
"Hm. Gerade das muß ich noch herausfinden."
"Aha."
"Deutschland gefällt mir jedenfalls nicht so sehr. Wegen
der dummen Öffnungszeiten."
"Mir auch nicht."
"Hm. Von Ägypten habe ich langsam die Nase voll, vor
allem, weil die ihre ganze Kultur offenbar total vergessen haben. Wir
waren einmal die Künstler und Architekten - und was ist
geblieben? Nichts!"
"Ist halt schon länger her."
"Hm. Hast du eigentlich eine richtige Bleibe, oder wohnst du
nur in Hotels bzw. bei ...'anderen Leuten'?"
"Ich habe ein Haus in der Nähe von Paris, aber ich bin
selten da."
"Ah. Wie ist Frankreich denn als Wohnort?"
"Mir gefällt es."
"Hm." Anshara dachte darüber nach. "Vielleicht
kann man sich ja auch ein paar Häuser in verschiedenen Ländern
zulegen."
"Wenn man das Geld hat..."
"Oh, ich müßte mal gucken. Ich habe durch den
Verkauf einiger der Grabbeigaben für Nefer-Arishi ein gewisses
Vermögen erlangt. Obwohl ich natürlich die interessantesten
Gegenstände behalten habe." Sie setzte ein sehr
selbstzufriedenes Lächeln auf. "Und außerdem habe ich
den Erlös gut angelegt. Da bekomme ich einiges an Zinsen."
"Natürlich." Jean betrachtete sie amüsiert.
"Aber du sagtest doch, daß du langsam los wolltest,
nicht?" Sie warf ihm einen höchst koketten Blick zu.
"Und?"
"Bringst du es wirklich über das Herz, mich alleine hier
stehen zu lassen?" Sie sah verloren gen Boden.
"Es fällt mir schwer", gab Jean zu, und es wurde
nicht leichter, als sie ihn schmachtend von unten anguckte. Anshara
seufzte herzerweichend.
"Wenn ich nur wüßte, was ich nachher hier so ganz
alleine unternehmen kann! - Es sind bestimmt noch sechs Stunden bis
Sonnenaufgang."
"So ungefähr." Man sah es Jean förmlich an,
daß er nicht wußte, was er tun sollte.
"Hach, weißt du, ich will endlich mal etwas richtiges
erleben! In Ägypten und Amerika mußte ich immer alleine
für meine Unterhaltung sorgen, und irgendwie scheine ich nie die
wirklich interessanten Ecken entdeckt zu haben."
"Hm", machte Jean.
"Gibt es hier vielleicht interessante Nachtclubs, wo nicht nur
die letzten Hänger herumsitzen? Ich habe leider immer noch keinen
Reiseführer."
"Doch, da gibt es einige", sagte Jean. Deren Adressen
hatte er schon vor zwei Tagen bekommen.
"Und? Sind die interessant?"
"Durchaus", meinte Jean nachdenklich. Vor allem das Dark
Mirror gefiel ihm ausgesprochen gut, insbesondere, da dort erlesene
Getränke nach seinem Geschmack serviert wurden.
"Zeigst du mir mal einen?" Anshara sah ihn hoffnungsvoll
an.
"Wenn du mir versprichst, dir Regeln zu beachten."
"Wenn du mir sagst, was diese beinhalten..."
"Nicht beißen, nicht hauen, nichts kaputtmachen."
"Doch, das kann ich versprechen", befand Anshara nach
kurzem Nachdenken. "Ich bin satt, und für Schlägereien
habe ich ohnehin nichts übrig."
"Nun gut, dann nehme ich dich mit", beschloß Jean.
"Prima. - Äh, bin ich denn passend gekleidet?"
"Durchaus."
"Und was ist mit dem häßlichen Fleck an meinem
Ärmel?" Sie hielt ihm den dunkelroten Stoff vor die Nase, von
dem sich der winzige Blutspritzer kaum abhob. "Meinst du, ich kann
damit gehen?"
"Hm. Man sieht es eigentlich nur, wenn man genau
hinguckt."
"Du meinst, es wirkt nicht peinlich?"
"Wer schaut schon so genau?"
"Naja, jemand mit einem Auge für Perfektion."
"Ich finde, es gibt interessantere Stellen, wo man hingucken
kann..."
"So?" Sie sah ihm belustigt direkt in die Augen, und Jean
senkte sicherheitshalber sofort den Blick. Anshara hatte irgendwie
einen ziemlichen Einfluß auf ihn, wenn er ihr zu lange in die
Augen sah.
"Warum schaust du immer weg, wenn ich deine faszinierende
Augenfarbe betrachten will?" fragte Anshara verwundert.
"Du irritierst mich."
"Oh. Das liegt nicht in meiner Absicht", behauptete sie,
obwohl sie nichts dagegen hätte, Jean einzupacken und mitzunehmen.
Er war einfach zu hübsch, um ihn unbeachtet stehen zu lassen.
"Nicht?"
"Naja, ich meine, ich habe nicht vor, dich zu
irritieren..."
"Was ist denn dann deine Absicht?"
"Hm. Da bin ich mir noch nicht ganz klar drüber. Auf
jeden Fall bist du ein Sammlerstück."
"Ach ja?" fragte Jean belustigt.
"Perfekt für eine Ausstellung." Sie ließ ihren
Blick anerkennend über ihn wandern. "Bedauerlicherweise wirst
du wohl kaum auf dem Podest stehenbleiben, das ich als angemessen
für dich empfinde. Hm. Vielleicht werde ich eine Hieroglyphe
allein für dich kreieren." Jean musterte sie zweifelnd. Weder
der Gedanke an das Podest noch der an seine persönliche Hieroglyphe
sagte ihm sonderlich zu. "Sag mal, bist du eigentlich
künstlerisch veranlagt oder nur ein Modell?" erkundigte sie
sich weiter.
"Ich bin das, was man vor mir erwartet." Wenn er wollte,
konnte sich Jean perfekt auf die Wünsche anderer einstellen.
"Oh. Und das wäre?"
"Kommt auf die Erwartung an. Ich bin ziemlich
vielseitig."
"Klingt gut." Anshara strahlte ihn an. Sie sollte ihn
wirklich aufheben und mitnehmen. "Kannst du vielleicht auch
Klamotten entwerfen und schneidern?" fragte sie hoffnungsvoll. Das
wäre sehr praktisch.
"Hm, weniger", antwortete Jean. Er fand, daß
Nähen eine reine Beschäftigung für Frauen war.
"Schaaade", seufzte sie. Ein eigener Schneider wäre
eine tolle Angelegenheit gewesen.
"Und nun?"
"...darfst du mich in einen exclusiven Nachtclub
entführen." Sie sah ihn schmachtend an.
"Mit dem schmutzigen Kleid?" neckte er sie.
"Oh, vermutlich hast du recht. Ich sollte mich lieber
umziehen."
Jean betrachtete sie nachdenklich. Sie stieß einen tragischen
Seufzer aus.
"Was ist los?"
"Ich überlege, was ich am besten anziehen sollte. Was ist
den für so einen Club passend?"
"Was hübsches."
"Dann muß ich noch mal zum Hotel zurück."
Sie nahmen sich erneut ein Taxi, und auf dem Rückweg hielt sie
ihren Arm stets so, daß der 'furchtbare Fleck' von ihrem
Körper verdeckt war. Jean musterte Anshara die ganze Zeit
verstohlen. Er fragte sich, woran es wohl lag, daß er sie so
anziehend fand.
Next chapter
Back to the Vampires' Den
|