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Jenseits der Träume

Teil 3 - Fortsetzung

Didelphis


Look at this man, so full of contradiction
He’s bathing in light, he radiates dark
To follow will lead to a path to perdition
Either to heal or to break someone’s heart

 Zwei Tage später reisten wir ab. Nathaniel hatte sich bereit erklärt, sich mit uns zu treffen. Wie die Kommunikation stattgefunden hatte, war mir nicht klar, aber ich tippte auf Boten oder ähnliches. Es waren wiederum keine Details über den Grund des Besuches rausgegeben worden, aber offensichtlich war unser neuer Gesprächspartner extrem mißtrauisch und vorsichtig. Die Bedingungen, die er an dieses Treffen geknüpft hatte, waren, vorsichtig  gesagt, sehr hart und hatten zu heftigen Diskussionen im Vorfeld geführt. Wie hart sie wirklich waren, wurde mir erst viel später bewußt. Nathaniel war bereit, sich mit mir zu treffen, allerdings durfte mich nur einer aus der Oscuro begleiten, die Aufpasser der Nadiesda Thurus wurden überhaupt nicht geduldet. Nathaniel lebte auf einer kleinen Insel vor der Küste und er hatte als Treffpunkt eine Jacht verlangt, die er für solche Zwecke verwendete. Ein Begleiter und ich würden auf die See hinausfahren, nachdem wir nachts zugestiegen waren. Am Morgen würde dann Nathaniel mit einem weiteren Boot zusteigen. Während mein Begleiter unten blieb, sollten er und ich uns an Deck im Sonnenlicht unterhalten. Erst danach würde er entscheiden ob, und wie viele von unserer Gruppe überhaupt auf seiner Insel willkommen waren.

Gabriel war natürlich nicht einverstanden, Kolya raufte sich förmlich die Stoppelhaare, nur Tres blieb einigermaßen sachlich und gelassen. Er zählte die Argumente für und wider dieses Vorschlages auf und am Ende siegte dann doch die Vernunft – die Notwendigkeit, etwas zu unternehmen. Kolya setzte sich dann als mein Begleiter bei dieser Aktion durch, er verbot Gabriel schlichtweg, sich in Gefahr zu begeben. Außerdem bestand sonst die Möglichkeit, daß Nathaniel nicht auftauchen würde. Er erklärte allerdings nicht, warum das so war. Und außerdem war er für meine Sicherheit ebenfalls zuständig und… und … und, mein Rabe hatte nicht die geringste Chance. Man hatte Nathaniel nur mitgeteilt, daß er jemanden aus der Nadiesda Thurus treffen sollte, aber Gabriel ließ ihm eine kleine Warnung zukommen. Wohl nur ein zarter Hinweis, daß er ihn bis ans Ende der Welt verfolgen und in Einzelteile zerlegen würde, wenn mir etwas geschah. Und dann wurde ich instruiert. Nein, eigentlich bekam ich von Kolya Ermahnungen zu hören, tue dies nicht, achte auf das, nimm eine Waffe mit, spring bei Gefahr ins Wasser und so weiter. Die Hälfte der Ratschläge konnte ich gleich als unsinnig ablegen. Gabriel wiederum versuchte, die Unterhaltung zu planen, was ich bei welcher Gelegenheit zu sagen hätte, wie ich reagieren mußte, was Nathaniel nicht wissen sollte, was er vielleicht wissen mußte, wie er auf bestimmte Umstände reagierte… mir schwirrte schon der Kopf.

Und als wir fast an unserem Ziel angelangt waren, zog mich auch noch Tres an die Seite: Na gut, dann eben von ihm auch ein paar wichtige Anleitungen. Doch der grinste nur und schüttelte den Kopf: „Ich glaube nicht, daß ich die beiden schon mal so planlos und aufgeregt erlebt habe. Aber na ja, die Situation ist ja auch für uns alle nicht so angenehm. Auch ich habe einige Vorschläge und Anregungen zu unterbreiten. Aber ich werde es nicht tun. Oh ja, nach den Vorstellungen meiner Vorredner verstehe ich deine Erleichterung. Aber was ich sagen will: du hast bewiesen, daß dein Verstand klar ist, dein Herz dich leitet und deine Sinne dich richtig beraten. Nutze diese Gabe. Entscheide mit dem Herzen über Inhalt und Thematik eures Diskurs, laß deinen Verstand eine Einschätzung seiner Persönlichkeit vornehmen und vertraue auf deine Sinne bei schweren Entscheidungen. So wirst du nichts falsch machen und zudem mit einer echten Ehrlichkeit mehr gewinnen als falsche Vorbereitung verderben kann.“ Damit ließ er mich stehen. Das war ein guter Rat gewesen, an den ich mich halten konnte. Um einiges ruhiger – als zum Beispiel Kolya – sah ich danach dem Umstieg auf die Jacht entgegen.

Gut eine Stunde vor Sonnenaufgang trafen wir am Jachthafen ein, wo uns ein vollbärtiger ‚Seemann’ begrüßte. Meine Verabschiedung von Gabriel fiel kurz aus. Eine feste Umarmung, ein Weltuntergangs-Kuß und wir trennten uns. Ich winkte Tres zu und dann gingen Kolya und ich hinter unserem Führer her. Auf der Jacht, die wir betraten, hätten bequem vierzig Personen eine Party feiern können. Ein Steward wies uns nach unten und wir fanden uns in einem luxuriösen Salon wieder. Auffällig war, daß ich bisher nirgends Fenster – nein – Bullaugen – gesehen hatte. Der Steward reichte uns Tee und erklärte dann: „Wir legen gleich ab. Machen sie es sich hier bequem, es wird kein Licht eindringen. Sobald ihr Gastgeber längsseits kommt, werden wir sie informieren.“ Und damit waren wir alleine. Und kurz darauf hörten wir gedämpfte Motoren und eine leichte Schaukelbewegung setzte ein. Kolya setzte sich: „Oh nein! Wenn ich daran denke, überall um mich herum Wasser und diese furchtbaren Wellen…“. Er war merklich blaß geworden. „Kolya? Wir haben doch gar keine Wellen. Es ist fast, als schweben wir über dem Meer. Kolya?“ Doch er würdigte mich keiner Antwort, griff nach seiner Tasse und starrte gebannt auf einen Punkt in der Holzvertäfelung. Der Arme. Ich mußte schon ein wenig grinsen. Hatte Gabriel nicht mal was über Wasser gesagt…?

Als ich mich dann endlich umsah, hatte ich Gelegenheit, die Umgebung zu bewundern. Alles aus Holz, auf Hochglanz poliert, Lampen aus Messing und Sitzmöbel mit rotem Samt überzogen. Alles sehr teuer aber neutral, so, als wäre es nur von einem Innenausstatter zusammengestellt worden. Eine leichte Welle ließ das Schiff sanft schaukeln und entlockte Kolya ein Ächzen, während er noch genauer auf seinen Fleck starrte. Wunderbar! Damit konnte ich ihn später lange aufziehen. Später, wenn er wieder ansprechbar werden sollte. Wir waren mindestens zwei Stunden unterwegs, als sich das Geräusch des Motors änderte. Kurz darauf trat der Steward wieder ein: „Der Besitzer ist jetzt eingetroffen. Bitte folgen sie mir.“ Ich erhob mich. Kolya schickte mir ein schwaches Grinsen und nickte nur. Aber er ließ die Armlehne nicht los. Also folgte ich dem Mann über eine Treppe auf das Oberdeck. Wir hatten angehalten und die Jacht schaukelte nur leicht auf den Wellen. An einer Seite war ein kleines Boot mit Außenborder angebunden. Und dann kam Nathaniel an einem Aufbau vorbei auf mich zu.

Wir verharrten in einiger Entfernung voneinander und musterten uns. Nach meinen Erlebnissen mit dem Congregat hatte ich meine Erwartungen bezüglich Fremden reduziert. Das wäre hier nicht nötig gewesen, denn zumindest seine Erscheinung war völlig anders, als ich sie mir vorgestellt hatte.

Er war groß, mindestens 1,90 und hatte eher eine Figur wie Kolya, wenn vielleicht auch nicht ganz so muskulös. Breite Schultern aber nicht übertrieben, wie man es manchmal zu sehen bekommt. Irgendwie erinnerte er mich an ein Raubtier, das friedlich und entspannt scheint, bis es ansatzlos zubeißt. Die ganze Körperhaltung drückte Kraft aber auch Ruhe aus, zum Teil eine innere Gelassenheit? Er hatte dunkelblonde Haare ungefähr auf Schulterlänge, offen und leicht zerzaust. Und einen faszinierend auffälligen schmalen schwarzen Bart, der von der Oberlippe einer gebogenen Linie zum Kinn folgte. Die Farbe stand im Kontrast zu den Haaren und einer hellen Hautfarbe. Und das bemerkenswerteste war seine schwarze Aura. Wie ungewöhnlich das im Tageslicht aussah, als ob er einen Schatten hinter und neben sich trug. Es machte ihn irgendwie realer und gleichzeitig fremder. Die Augen waren auf diese Entfernung und bei dem gleißenden Morgenlicht nicht zu erkennen. Und natürlich gefiel er mir schon rein äußerlich besser als Gideon. Hoffentlich blieb es nicht bei dem Unterschied. Was nützte mir ein –  zugegebenermaßen – ansprechendes Erscheinungsbild. Das war im Prinzip nur eine nette Zugabe. Also zurück zur momentanen Situation. Wir hatten beide unsere Überprüfungen abgeschlossen und jetzt trat er auf mich zu. „Willkommen auf der ‚Nautika’. Ich bin Nathaniel. Freut mich, deine Bekanntschaft zu machen.“ Ich ergriff die angebotene Hand und er drückte gerade mit angemessener Kraft.

„Vielen Dank, daß du dich hier mit mir treffen wolltest. Du hast ein tolles Schiff. Ich bin LaVerne und ich soll – nein, ich muß – dir von einigen Dingen erzählen, die du wissen solltest und wo du vielleicht helfen kannst – wenn du willst.“ Er führte uns zu einer hölzernen Sitzgruppe und während der Steward die Getränke brachte, schwieg er. Als wir wieder alleine waren, prostete er mir mit seinem Glas zu. Es war schwer, in seinem Gesicht zu lesen. Er hatte helle Augen aber die sprachen nicht zu mir. Abwarten!

„Nun, einige Ereignisse der letzten Zeit haben mich neugierig gemacht. Nur weil ich kein Teil der Oscuro bin, heißt das nicht, daß ich nichts mitbekomme. Übrigens scheint dein Begleiter unten dieses Boot nicht so toll zu finden. Der Steward hat was von grüner Gesichtsfarbe erwähnt. Da er sich trotzdem diese Fahrt mit dir angetan hat, scheint die Sache wichtig zu sein. Gabriels liebevolle Drohung ist auch ein Indiz für die Wichtigkeit, sagt aber noch mehr aus. Aber am Erstaunlichsten finde ich nicht nur, daß er sich überhaupt an mich wendet, sondern daß er jemanden aus der Nadiesda Thurus mit dieser Unterhaltung beauftragt hat, auch wenn sie wohl seine Gefährtin sein könnte.“

Wenn er soviel wußte, konnte ich ihn auch gleich ein wenig auf weitere Ereignisse einstimmen. „Nun, Gabriel hat mich nicht beauftragt. Es gibt einige Gründe, warum gerade ich mit Neuigkeiten zu dir komme. Er ist noch nicht einmal glücklich damit, daß ich hier mit dir rede. Viel lieber hätte er jemanden anderes dafür entsendet, aber ich konnte ihn überzeugen, daß es so besser ist.“ Mehr wollte ich dazu erst sagen, wenn ich ihn besser einschätzen konnte. Es lag aber keine Gefahr darin, ihm von anderen Dingen zu berichten. Also erzählte ich ihm einiges von den Ereignissen, die wir selber bemerkt hatten, oder die Gideon erzählt hatte. Er hörte schweigend und konzentriert zu, unterbrach mich nicht, aber zeigte auch kaum eine Regung, höchstens hin und wieder leichte Zeichen von Überraschung.

Als ich soweit geendet hatte, nickte er. „Vieles wußte ich schon. Fenians Aktion war mir neu. Ich weiß, daß das Congregat mich beobachtet, die halten sich für erheblich klüger und geschickter, als sie sind. Ich sorge dafür, daß sie nur erfahren, was sie wissen sollen. Trotzdem ärgert es mich natürlich. Aber ich finde den Inhalt deiner Berichte bedenklich LaVerne.“ Er überlegte kurz.

„Und noch etwas, was du vermutlich nicht wissen kannst. Trotz unserer Unterhaltung hier im Licht bin ich ein echtes Mitglied der Oscuro. Ich habe den Blutschwur abgelegt, dann jedoch meinen eigenen Weg gesucht – und gefunden. Aber was ich sagen will, ich habe die gleichen Fähigkeiten wie jeder Mann der Oscuro. Auch meine Zähne können – je nach Situation – wachsen. Ich tausche, wenn auch sehr selten, mit anderen Mitgliedern das Blut. Ich bin schon sehr alt aus deiner Sicht, LaVerne. Ich vermag die Menschen um mich mit der Magie des Verlangens zu umhüllen.“ Er war näher gerückt und schien selbiges grad an mir zu testen… „Und ich spüre, daß da noch mehr ist, das du erzählen könntest. Aber du bist unentschlossen, weil du mich nicht einschätzen kannst. Und dieses letzte Geheimnis ist wichtig, auch ein Grund deines Besuches.“ Jetzt lehnte er sich zum Glück wieder etwas zurück. Er war nicht hochgradig berauschend, aber doch zumindest sehr irritierend. Ich fühlte mich nicht bedroht – wie in Gideons Fall – aber auch ein Tiger sieht niedlich aus, wenn er schläft… Er redete schon weiter: „Ich kann dich nicht überzeugen, mir zu vertrauen, denn nur Taten zählen, nicht Worte. Natürlich bin ich neugierig geworden, aber ich habe Zeit. Also biete ich dir eine Tat an. Als Beweis meines guten Willens und weil ich das Gefühl habe, es ist wichtig. Ich lade dich – und alle deine Begleiter – auf meine Insel ein. Euch droht dort keine Gefahr. Wer mich kennt, wird bestätigen, daß ich so was nicht oft vorschlage, nicht mehr. Aber ich freue mich sogar darauf, einige Brüder im Blut wieder zu treffen. Und wir zwei werden reden und du wirst Gelegenheit finden, mich kennen zu lernen. Und ich dich, denn du bist mehr, als das Auge sieht. Und dann kannst du entscheiden, ob du mir vertrauen willst oder ob ihr wieder abreisen wollt. Einverstanden?“

Ohne zu zögern nickte ich. „Das ist sehr großzügig. Meine Begleiter werden erleichtert sein und ich würde wirklich gerne mehr über dich erfahren. Alles, was ich bisher weiß, habe ich mehr oder weniger zufällig von Kolya oder Gabriel und einigen anderen gehört.“ Er grinste: „Dann kann es wirklich nicht viel sein, was dir bekannt ist. Aber ich weiß, daß Kolya unten sitzt und leidet. Wir werden ihn erlösen. Auf der Insel gibt es einen Anlegeplatz in einer Höhle, also werden wir drei vorausfahren. Und an die Anderen eine Nachricht mit einer Einladung für heute Abend schicken. Komm.“ Damit zog er mich hoch und zusammen kehrten wir zu Kolya in den Salon zurück. Jetzt, wo er es gesagt hatte, schien der wirklich eine leichte grüne Färbung zu haben. Nathaniel begrüßte ihn mit einem Schlag auf die Schulter: „Hallo alter Freund. Wetten, jetzt kann ich dich im Ringen locker schlagen?“ Was steckte dahinter, wie gut kannten die einander wirklich? Doch Kolya wettete nicht. Er nickte vorsichtig und erst als wir in der Höhle von Bord gingen, frage er mich, was vorgefallen war. Ich erzählte von Nathaniels Vorschlag. Kolya schaute sehr erstaunt aber nickte. „Ein guter Plan. Aber ich wäre auch in der Hölle an Land gegangen. Gut gemacht, Kleine. Sehr gut. Und jetzt geh schneller, ich will dieses Wasser nicht mehr sehen.“ Ich ließ vorerst unerwähnt, daß wir auch irgendwie wieder an Land mußten. Eigentlich war es ja irgendwo witzig, was da meinen ‚starken’ Beschützer gefällt hatte. Nur gut, daß ich mich nicht wirklich in Gefahr fühlte.

Mit einem Aufzug ging es aufwärts, aber nicht sehr weit. „Wir sind noch immer unter der Erde, wir werden erst mal für Kolya ein Quartier suchen.“ Wir gingen einige hell erleuchtete Gänge entlang, unbearbeitete rauhe Wände zu beiden Seiten. Wir gelangten in eine Art kleine Halle mit farblich angepaßten Sesseln. Links und rechts führten Stufen an den Wänden hoch, die auf einer Empore endeten, die, uns gegenüber, die ganze Stirnseite einnahm. Sowohl darunter, als auch von der Empore gingen Türen ab. Wir stiegen eine Etage rauf, und Nathaniel wies Kolya zu einer der Türen.

„Ruh dich ein bißchen aus, gleich kommt jemand mit Essen. Im Zimmer ist ein Telefon. Ich zeige LaVerne das Haus und wir werden ein wenig reden. Ich sage Bescheid, sobald eure Freunde rübergeholt werden könne. Das mag aber noch einige Stunden dauern. Und wenn du später Lust hast, hier drunter, rechte Tür, ist mein Trainingsraum. Du bist gerne eingeladen.“ Noch immer ungewohnt schweigsam und folgsam nickte er. Klopfte mir sanft wie ein Vorschlaghammer auf die Schulter und verschwand. Ich sah im kopfschüttelnd nach.

Nathaniel grinste, während er mich zurück zum Aufzug geleitete. „Du wirst feststellen, daß auch deine anderen Begleiter solche Schwächen zeigen werden. Das mag mit der Oscuro zusammenhängen oder erblich bedingt sein, keine Ahnung, aber bisher hatte jeder meiner Gäste der Oscuro ähnliche Probleme. Für mich bringt das einige Vorteile. Der deutlichste ist, daß selbst Leute von Kolyas Schlag eine Zeit lang keine Bedrohung für mich darstellen würden. Nur für wirklich wichtige Angelegenheiten würden sie sich eine solche Überfahrt antun. Ich bin nicht unbedingt ein mißtrauischer Mensch, aber ich lasse gesunde Vorsicht walten und ich schätze meine Privatsphäre und meine Unabhängigkeit – auch wenn das Congregat das möglicherweise lieber anders darstellt.“ Er sprach ruhig und gelassen, wirkte nicht arrogant aber selbstsicher. Immer mehr spürte ich diese Ruhe, die er ausstrahlte. Dieses Mal landeten wir in einem unglaublichen Raum, auf dem Dach des Anwesens. Er hatte einen traumhaften Blick über das Meer bis hin zu der gerade noch erkennbaren Linie des Festlandes. Direkt hinter dem Haus begann ein kleiner Wald, der sich zu einem Hügel hoch streckte und damit den Blick in diese Richtung blockierte. Das alles war so gut zu sehen, weil die Wände und Decken aus Glas waren. Eine Klimaanlage bekämpfte hier schon die Auswirkungen einer kräftigen Frühlingssonne auf Glas. Mitten im Raum plätscherte ein kleiner Brunnen, überall standen Grünpflanzen, auf dem Boden, auf Säulen oder an Hanfseilen hängend, die an einigen Stellen aus Balken in der gläsernen Decke hingen. So was nannte ich einen Wintergarten.

Nathaniel brachte zwei Gläser und eine Flasche Weißwein von einem kleinen Tischen. Wir setzen uns nebeneinander, mit Blick aufs Meer und deponierten die Flasche zwischen uns auf dem Boden.

„Und, gefällt dir mein Refugium, LaVerne?“ fragte er nach den ersten Schlucken. „Wenn der Rest nur halb so schön ist, bin ich hingerissen. Dieser Blick, diese endlose Weite, es verschlägt einem fast die Sprache, man fühlt sich kleiner.“ – „Ja, vielleicht, aber es kommt auch auf den Blickwinkel an. Wenn ich müde oder traurig bin, gibt mir dieser Raum neue Kraft. Fühle ich mich zu stark, stutzt er mich zurück, aber er erinnert mich immer daran, daß ich – wie jeder – ein Teil dieser wunderbaren Welt bin. Dieses, ich nenne es Turmzimmer, ist mein Weg, Frieden zu finden. Wenn ich nicht unterwegs bin, halte ich mich hier oft stundenlang auf. Mache Musik an, trinke Wein und starre aufs Meer. Ich empfinde diesen Anblick bei Tage als ein Geschenk des Lebens an mich.“

Er schwieg und eine Weile starrten wir erneut gemeinsam in die Weite. Ich fühlte mich wohl, sowohl hier als auch mit ihm. Eigentlich hatte mein Herz schon eine Entscheidung getroffen, aber jetzt konnte ich genauso gut noch etwas mehr erfahren. Nach den Tagen vorher schien hier ein ‚Auge im Sturm’ zu sein und vielleicht sollte ich jeden Moment davon genießen. Ich konnte ja mal wieder auf meine bekannte, dezente Art mit der Tür ins Haus fallen:

„Ist es unverschämt, wenn ich dich um zwei Dinge bitte, Nathaniel?“ Er schaute mich an, er hatte graue Augen mit kleinen farbigen Flecken darin. Eine ungewöhnliche Farbe, nur Simeons Augen waren noch seltsamer gewesen. Er lächelte ganz leicht und ja – auch er hatte diese Ausstrahlung – schön bei der Sache bleiben, LaVerne. „Es ist nur unverschämt, wenn ich nicht die Wahl hätte, abzulehnen. Die habe ich aber, also leg los, schöne Fremde, sonst sage ich nachher noch zu allem ja, wenn du mich weiter so anstarrst.“

Das war mir gar nicht bewußt gewesen. „Nummer eins: Du sagtest, du hörst hier oft Musik. Würdest du uns welche anmachen?“ „Gerne“, nickte er erfreut. „Ist dir was Ruhiges recht?“ – „Auf jeden Fall!“ Er stand auf und zauberte eine Fernbedienung hervor, die er auf eine der Blumensäulen richtete. Fast sofort ertönte leise Musik von Rachmaninow aus allen Richtungen. Wunderbare Klavierklänge. „Hier ist vieles mehr, als es scheint und nichts so, wie es sein sollte.“ Bei diesen Worten grinste er leicht und ließ sich wieder neben mir nieder. „Das war einfach. Hoffentlich ist die zweite Bitte eine größere Herausforderung.“ Das konnte er haben: „Ich möchte gerne von dir etwas über deine Geschichte erfahren, nicht von anderen. Wer bist du, wer warst du und wie bist du hierher gelangt?“ damit sollte alles abgedeckt sein.

„Eine kurze Frage, die eigentlich einer langen Antwort bedarf. Ich überlege, warum ich dir Dinge erzählen sollte, die nur mich angehen, die vielleicht nicht einmal meine Brüder im Blut wissen.“ Eine sehr gute Gegenfrage. Ich wußte wohl die passenden Antworten, wollte sie aber – noch – nicht geben. Doch scheinbar war es eher eine rhetorische Frage, denn er antwortete selber: „Nun, zum einen hast du gefragt. Normalerweise wird es mit ‚Befehlen’ oder ‚Aufforderungen’ versucht. Weiterhin glaube ich, daß du die Antworten haben möchtest, aus ehrlichem Interesse, nicht aus Höflichkeit oder anderen niederen Gründen. Warum noch? Oh ja! Du hast eigene Gründe, warum du danach fragst, die ich noch nicht kenne. Du willst noch immer wissen, warum du mir vertrauen solltest. Und als Schlußargument: du bist eine ungewöhnliche Frau mit einer sehr starken Ausstrahlung, die ich noch bei keiner der Nadiesda Thurus erlebt habe und du hast dich gegen Gabriel durchgesetzt. Du gefällst mir. Ich mag dich. All dies führt mich zu dem Schluß, daß ich dir antworten werde.“ Und in den nächsten Stunden leerten wir zwei Flaschen Wein, während Nathaniel redete.

Nathaniel war vor rund 400 Jahren in die Oscuro hinein geboren. Beide Eltern waren schon lange Mitglied geworden. Als Kind der Nadiesda Thurus wuchs er mit dem Wissen und den Erwartungen an ein Leben in der Oscuro auf. Doch im Gegensatz zu anderen Kindern war seine Entwicklung langsamer. Erst mit fünfundzwanzig Jahren entschloß er sich, den endgültigen Schritt zu machen und die Wandlung zu vollziehen. Bei ihm fand dies in Form des Bluttausches statt. Er hatte diese Methode dem Blutschwur vorgezogen. Alles verlief auch völlig normal, seine Aura änderte sich und er wurde in seinen Zirkel aufgenommen. In welchen, sagte er nicht. Doch nur ein paar Monate später gab es die ersten Anzeichen. Beim Sortieren alter Waffen schnitt er sich tief mit einem Silberdolch. Zu dem Zeitpunkt war er alleine und so versorgte er die Wunde selber. Eigentlich hätte er davon erkranken müssen aber er stellte mit ziemlichem Schrecken fest, daß die Wunde schon Stunden später vollständig verheilt war. Ich konnte mir sein Gefühl besser vorstellen, als er ahnte. Er erzählte niemandem von diesem Vorfall, begann aber danach, einige Experimente durchzuführen. Dabei stellte sich dann wirklich heraus, daß Silber ihm nicht schadete, er mit Nahrung ohne Blutzusatz hervorragend zurecht kam. In einem ultimativen Test, der ihn all seinen Mut gekostet hatte, war er eines Morgens nicht bei Sonnenaufgang rein gegangen. Er sagte, daß er nie einen schöneren Sonnenaufgang gesehen hatte. – Doch jemand aus der Nadiesda Thurus hatte ihn dort draußen gesehen und so wurde sein Geheimnis gelüftet. Er hatte nicht so viel Glück wie ich, denn von seinen Eltern wanderte die Neuigkeit wie ein Lauffeuer erst durch den eigenen Zirkel, dann durch alle anderen, bis es jeder wußte.

„Du kannst dir nicht vorstellen, was los war. Bedenke dabei auch, daß das vor mehr als dreihundert Jahren geschah. Heute leben wir in einer fortschrittlichen, modernen Welt, es gab damals kaum so zukunftsorientierte und tolerante Leute in der Oscuro, wie zum Beispiel Gabriel. Wir hatten sehr strenge Regeln und ich war immerhin selbst in normalen Menschenjahren noch sehr jung. Ich wurde im besten Falle als ‚unrein’ oder auch ‚abartig’ bezeichnet, eine Monstrosität, bis hin zu ‚abstoßend’, eine schreckliche Irrung der Natur, die beseitigt werden mußte. Von allen Seiten schlug mir blanker Hass entgegen. Aus der Zeit stammt der Titel Didelphis, den ich bis heute noch trage, der aber jetzt seinen Schrecken verloren hat.“

Nathaniel berichtete von Anfeindungen, sogar einem Mordversuch und davon, daß er irgendwann einfach das Haus verließ, die Stadt und das Land. Obgleich es eine traurige Geschichte war, klang er ruhig und es wurde deutlich, daß er diesen Teil seines Lebens akzeptiert und abgeschlossen hatte. Er erzählte weiter, daß er lange durch die Welt gereist sei, oft als Mönch verkleidet und in Klostern eine zeitlang als Gast aufgenommen. Dort fühlte er sich sicher. Erst einige Jahre danach war er in sein Geburtsland zurückgekehrt, obgleich er um seine Brüder einen großen Bogen machte. Doch eines Nachts hätte trotz aller Vorsicht ein Fremder in seinem Raum gestanden.

„Es war Scuro Tejat. Zu der Zeit konnte er auch noch mit den Augen sehen.“ Das klang interessant, eine kluge Formulierung. Ich mußte einen verdächtigen Ausdruck aufgelegt haben, der mich beinah verraten hätte, doch er zog den falschen Schluß. „Ich weiß, du hast ihn kurz bei deinem Besuch im Congregat getroffen, aber er war nicht immer blind, und schon damals ein weiser Mann. Jetzt ist er schon sehr alt, und solltest du mal die Gelegenheit finden, länger mit ihm zu sprechen, höre gut zu und lerne. Aber weiter: Als er in jener Nacht zu mir kam, war er gerade in den Deliberatio Aetas gewählt worden. Und er sprach zu mir in seiner Eigenschaft als Scuro. Wir redeten die ganze Nacht, nein, ich redete und er hörte nur zu. Ich hatte so lange nicht mehr wirklich geredet und über manche Dinge noch nie.“

Das Ergebnis dieser langen Unterhaltung war eine Einladung von Tejat an Nathaniel, vor den Rat der Alten zu treten. Nach reiflicher Überlegung stimmte er zu, denn ein fast ewiges Leben auf der Flucht war nicht die beste Voraussetzung, und was hatte er groß zu verlieren. In Scuro Tejat hatte er einen starken und überzeugenden Fürsprecher. Auch an Nathaniel wurden Tests durchgeführt, einiges kam mir bekannt vor, andere Dinge schienen mir aus heutiger Sicht bizarr. Auch ich hatte das Wasser der Wandlung getrunken, aber zum Glück hatte man mich nicht gezwungen, die rohe Leber eines Schafes zu essen. Er hatte verschiedenste Prüfungen zu absolvieren, deren Sinn ihm damals wie heute verborgen blieb.

Aber am Ende kam etwas Gutes dabei heraus. Der Rat beschloß, daß Nathaniel ein echtes Mitglied der Oscuro war, er also auch unter dem Schutz des Blutschwures stand. Der Rat konnte die Oscuro nicht zwingen, ihn als ihresgleichen zu akzeptieren aber sie machten klar, daß er weder eine abscheuliche Mißgeburt war, noch eine Bedrohung. „Einige der jüngeren und offeneren Mitglieder der Oscuro akzeptierten den Beschluß und begannen, mich sowohl öffentlich anzuerkennen, als auch Kontakt zu mir aufzunehmen. Zu Beginn gingen wir sehr vorsichtig miteinander um, zu viel Hass und Mißtrauen mußte auf beiden Seiten begraben werden. Einige andere – gerade die älteren – beugten sich dem Rat, so daß sie mich zumindest ignorierten, wollten von mir aber nichts wissen. Das war mir nur recht, besser keine Freunde, als falsche. Doch so stimmt das auch nicht. Mit den Jahren fand ich echte Zuneigung von Mitgliedern der Oscuro, und diesen vertraute ich auch.“

Er erzählte weiter, daß der Rat ihn irgendwann gefragt hätte, ob er bereit wäre, einige ‚Dinge’ zu erledigen, wo der Imprecatio Curor Schwierigkeiten hätte. Nathaniel sagte zu, aber nur unter der Bedingung, daß er Aufträge ablehnen konnte, die ihm persönlich widersprachen oder nicht gerechtfertigt erschienen.

Er schaute mich direkt an, ohne daß er die Stimme hob oder die nächsten Sätze besonders betonte. Aber seine Augen bohrten sich in meine, bis mein Gehirn fragte, ob einige Teile von mir sich – bitte – zusammenreißen könnten und ihm – verdammt noch mal – zuhören könnten. Mühsam kämpfte ich mich aus dem Blick hoch, während er gelassener sagte, als er nach dieser Attacke sein konnte:

„In meiner Zeit habe ich Mitglieder der Nadiesda Thurus getötet, so, wie auch Mitglieder der Oscuro. Niemals Unschuldige, ich mußte felsenfest überzeugt sein, doch gerade einige Mitglieder der Nadiesda Thurus waren schlichtweg gefährlich aber für den Imprecatio Curor nicht erreichbar. Und obwohl ich Leben genommen habe, bereue ich es nicht, ist meine Seele unbelastet. Keine meiner Taten würde ich ungeschehen machen, wahrscheinlich habe ich nur einmal geirrt, als ich einen Auftrag ablehnte. Dabei ist es sicher nicht Rache, die mich handeln läßt, viel mehr habe ich das Gefühl, ich schulde der Oscuro etwas dafür, daß sie mich zu dem gemacht hat, der ich bin, wenn vielleicht auch nicht unbedingt absichtlich. Und auch ich zahle meine Schuld in Blut.“

Noch immer hielten mich seine Augen fest, ich war in einem seltsamen Bann. In ihnen lag keine Frage, zumindest nicht nach Absolution, der bedurfte er nicht. Eher ein Forschen, was ich dazu sagen würde. Eventuell hing von meiner Antwort auf diese nicht gestellte Frage die weitere Unterhaltung ab, wenn nicht sogar noch mehr. Aber wie auch früher – und wie es sinnvoll war – konnte ich eigentlich nur mit dem Herzen antworten, nicht mit dem Verstand. Noch besser war aber, daß diesmal beide Seiten die gleiche Meinung hatten. Außerdem hätte er eine geheuchelte Antwort erkannt, ich war da absolut sicher. Er wartete.

“Nun, deine Taten und Handlungen mußt du nur vor einem rechtfertigen, vor dir selber. Welches Recht hätte ich, über dich zu urteilen, Nathaniel?” Eigentlich war das eine rhetorische Frage gewesen und ich wollte gleich weiter sprechen, aber bevor ich noch Luft holen konnte, unterbrach er mich: “Das Recht, das jeder Mensch hat, der mit einem anderen spricht. Die simple Entscheidung, ob man sein Gegenüber mag, ihn akzeptiert mit allem, was ihn ausmacht – ob seine Persönlichkeit mit der eigenen harmoniert.” Das war eine tolle Beschreibung, Tres hätte seine helle Freude daran gehabt.

“Ich bewundere den Bund, den die Oscuro bildet. Der Kodex regelt die Moralvorstellung. Nein, eher das Leben miteinander. Man kann nicht die Vorteile annehmen und die Nachteile zurückweisen, das erscheint mir arrogant. Du mußt sehr viel Kraft besitzen, sonst hättest du diesen Weg nicht wählen können. Und damit meine ich zum Großteil nicht die physische Kraft.” Diesmal schenkte ich ihm ein Lächeln und einen angedeuteten Blick, den er mit einem leicht verblüfften Hochziehen der Augenbrauen quittierte.

„Jeder sollte seine Kraft so einsetzen, wie er kann. Und es gefällt mir, daß du so konsequent gewesen bist und das nicht zu verharmlosen suchst. Denn das macht dich erst zu einem guten Menschen. Aber was ich wirklich bewundere ist, daß nach allem, was geschehen ist, du die Menschen aus der Oscuro nicht haßt, einigen sogar in Freundschaft verbunden bist.“

Dieses Mal überlegte er einen Moment, bevor er antwortete. „Stolz ist ein sehr einsamer Ratgeber und eine Ewigkeit in Einsamkeit sehr lange. Und es lag an Menschen wie Gabriel oder Bouvier, die auf mich zukamen, einen Fehler eingestanden und um Verzeihung baten, daß auch ich lernte, mich zu entschuldigen. Denn sicher war auch ich kein Heiliger gewesen. Eine wichtige Lektion im Leben ist es zu lernen, daß manchmal der, der sich beugt, sich unterwirft, am Ende der Gewinner ist. So war es bei uns.“

Also kannte Gabriel Nathaniel schon sehr lange, er war sogar ein Freund. Weshalb dann das lange Zögern, die Entscheidung, daß Kolya mich statt seiner begleiten sollte, weshalb das Schweigen. Irgend etwas paßte nicht! Gabriel hatte nie vor mir von Nathaniel als Freund gesprochen, wenn er ihn überhaupt erwähnt hatte.

Ich wußte, daß mein Rabe mich nie belügen würde, aber ich kannte auch seine Art, nur gerade so viel Wahrheit zu erzählen, wie unbedingt nötig – oder noch weniger. Doch hier steckte mehr dahinter. „Du weißt, daß ich mit Gabriel reise. Wenn ihr Freunde seid, wieso ist er nicht mit aufs Boot gegangen? Wieso hat er so wenig darüber erzählt?“ Vorsichtiger konnte ich meine Irritation nicht zum Ausdruck bringen.

Er ließ sich mit der Antwort sehr lange Zeit. Zum ersten Mal schien er nicht mehr so ruhig. Er schaute aufs Meer heraus, als er antworte: „Ich sagte, wir waren Freunde, nicht, wir sind Freunde. Zwischen uns steht etwas. Nenn es eine nicht erfüllte Pflicht oder eine Schuld. Wir waren verschiedener Meinung und bevor wir begannen, zu sehr zu streiten, haben wir Abstand voneinander genommen. Sehr viele Jahre, Jahrzehnte, haben wir nicht miteinander gesprochen, obwohl er vermutlich genau wie ich die Entwicklung des Anderen aus der Distanz verfolgt hat. Irgendwann in dieser Zeit sind wir uns fremd geworden, selbst unsere tiefe Freundschaft hat uns nicht davor bewahrt. Und das Schlimmste daran aus meiner Sicht ist, daß er am Ende Recht hatte und ich mich irrte. Doch was nützt ihm oder mir diese Erkenntnis, man kann im Leben nicht alles verzeihen. Daß er jetzt mit dir hierher gereist ist, gibt mir sehr zu denken, daß er dich in meine Hände läßt, noch mehr. Aber es war gut, daß nicht er auf dem Boot war, ich wäre vielleicht umgekehrt, weil ich ihm nicht in die Augen sehen kann.“

„Und trotzdem hast du ihn jetzt hierher eingeladen.“ Das war eine Feststellung, keine Frage. Er schaute mich wieder an; er sah gelassen aus aber dennoch strahlte er diese innere Spannung aus, die er in den letzten Minuten zu verbergen versucht hatte. „Ja!“ Dann nach einer kurzen Überlegung: „Ein Grund ist, daß er dich zu mir gelassen hat. Gabriel tut nichts unüberlegtes, schon gar nicht, wenn ihm ein Mensch wichtig ist. Ein weiterer Grund: ich will erfahren, warum du hier bist und wenn ich dafür jemanden herein bitte, der nicht gut auf mich zu sprechen ist, will ich diesen Preis zahlen. Und ich will nicht weglaufen, nicht mehr, sondern mich meiner Verantwortung, meiner Schuld stellen. Vielleicht ist jetzt die letzte oder beste Gelegenheit dazu. Er ist so nah. Und sehr wichtig, aber sehr klein: ein Funken Hoffnung.“

Er brauchte nicht zu sagen, worauf er hoffte. Ich kannte Gabriel noch nicht so lange wie er – wie auch – aber ich konnte mir meinen Raben sehr schwer als ewig nachtragenden Rächer vorstellen. Doch ich konnte nicht abschätzen, was vorgefallen war, wie tief auch bei ihm die Vergangenheit ihre Abdrücke hinterlassen hatte. Trotzdem, bei nächster Gelegenheit würde ich ihn fragen.

Spontan legte ich Nathaniel eine Hand auf den Arm. Wieder schaute er mich an und langsam schien die Spannung sich zu lösen, er lächelte mich an, der schlafende Tiger. Er griff nach meiner Hand und hielt sie in seiner als er sagte: „Ich weiß, daß du eine ungewöhnliche Geschichte zu erzählen hast, denn du bist eine sehr ungewöhnliche Frau. Du hast die Ausstrahlung eines Mitgliedes der Oscuro. Du irritierst und verwirrst mich und das macht mir sogar nur teilweise Sorgen. Aber was auch kommen mag, ich bin Gabriel dankbar, daß er mir die Möglichkeit gegeben hat, dich kennen zu lernen.“ Während er sprach, schien er wieder zu versuchen, in meine Seele zu gelangen und seine warmen Hände um meine wirkten wie Überträger einer Droge.

Dann hatte er Erbarmen und ließ meine Hand los. „Wir sind schon so lange hier oben. Komm, laß uns nach Kolya schauen und etwas zu Essen organisieren. Wir werden bestimmt noch mehr Zeit finden, miteinander zu plaudern.“

Also kehrten wir in die unterirdischen Räume zurück. Von Kolya war nichts zu sehen, im Trainingsraum war er nicht und in seinem Schlafraum wollte ich nicht suchen. So ließ Nathaniel in dem Raum unter der Empore Essen aufstellen und wir unterhielten uns bei dessen Vernichtung über banale, unwichtige und ausnahmslos völlig normale Dinge.

Jetzt wirkte er wieder entspannt und gelöst und war ein aufmerksamer Zuhörer. Einige Zeit später tauchte Kolya auf, etwas verschlafen aber zumindest mit normaler Gesichtsfarbe. Er und Nathaniel unterhielten sich wie alte Bekannte, es war ein freundliches, oberflächliches Gespräch. Kolya frage, ob das Angebot für den Trainingsraum noch stand – das war seine Art, sich zu entspannen. Und als Nathaniel fragte, ob es ihm was ausmachte, wenn er auch trainierte, war Kolya sofort einverstanden. „Klar! Vorhin sprachst du von einem Boxkampf. Du hast deine Chance vertan. Wenn du immer noch willst, können wir gerne, aber ich werde dich natürlich besiegen.“ – „Natürlich… “ antwortete Nathaniel mit mehr als nur ein wenig ironischem Klang. „Als ob ich ein Boot brauchen würde. Aber laß mich vorher LaVerne ihr Zimmer zeigen, sonst langweilt sie sich hier.“ So fuhren wir wieder nach oben, doch nicht bis unters Dach. Der Baustil erinnerte hier an eine Hazienda, die Wände aus dem Keller setzten sich fort, gebogene Durchgänge, rundliche Fenster in alle Richtungen und ein Balkon, der ganz um das Haus zu laufen schien, alles grob und hell verputzt. „Du kannst dich im Haus frei bewegen, wenn du magst. In dieser Etage findest du eine Bibliothek, Badezimmer, ein Clubzimmer mit Getränkebar und dies ist dein Schlafraum. Wenn es dir zu langweilig wird, kannst du oben Musik hören oder unten später zwei Männern den Schweiß von der Stirn tupfen. Mein Haus sei dein Haus.“ Mit einem schelmischen Grinsen verbeugte er sich und verschwand im Aufzug nach unten.

Nathaniel hatte ein traumhaft schönes Haus. Ich hatte viele schöne Häuser bisher besucht, aber da Nathaniel das Licht nicht fürchtete, war hier alles luftiger, offener. Ich nutzte die Einladung und machte eine kleine Besichtigungstour durch das Geschoß. Es gab vier Schlafzimmer, die großen Türdurchgänge waren nur mit dünnen Vorhängen abgetrennt, Türen gab es nicht. Vor den Fenstern keine Gardinen, auch hier nur dünne Volants. Bemerkenswert war, daß es zwar Rahmen gab, aber in keinem der Fenster war Glas. Jedes Zimmer hatte einen eigenen Zugang zu dem großen Balkon. Nur im Badezimmer gab es eine Tür und echte Fenster. Doch war der Raum eher ein Salon, alles in Blau und Gold gehalten, eine riesige, tief in den Boden gelegte Wanne, Dusche, eine Ein-Personen-Sauna und sogar einen Fernseher mit passender Stereoanlage. Ich setzte das Badezimmer auf meine Liste der Dinge, die ich ausgiebig nutzen wollte. Das Clubzimmer war ein Raum mit Kamin, Sesseln davor und einer großen Bar an einer Wand mit gut sortierten Getränken, sowie passenden Gläsern. Die Bibliothek würde ich eher als Lesezimmer bezeichnen, da hatte ich zumindest wertmäßig andere Dimensionen kennen gelernt. Aber die Auswahl war trotzdem reichhaltig: Lyrik, Belletristik, Prosa, Trivialliteratur, fremdsprachige Bände, von allem gab es hier eine Auswahl. Dazu mehrere Ruhesessel, obligatorische Minibar und Stereoanlage.

Aber jetzt, wo ich darüber nachdachte, fiel mir noch etwas auf. Ich hatte in keinem der Häuser, die ich besucht hatte, modernste Technik gesehen. Fernseher und Stereoanlage zählte ich heutzutage nicht mehr zu modern. Es gab nirgends ein Funktelefon, einen Computer oder zum Beispiel elektronische Trainingsgeräte. Daran konnte man vielleicht das Alter dieser Leute abmessen, daß sie so viel Zeit brauchten, sich moderne Errungenschaften zunutze zu machen.

Eine Weile legte ich mich in meinem Schlafzimmer aufs Bett, aber ich fand keine Ruhe. Zu viel Neues hatte ich gehört, das erst verarbeitet werden mußte. Und ich wollte darüber nachdenken, wie ich Nathaniel meine Geschichte erzählen wollte. Denn diese Entscheidung hatte ich schon vor Stunden getroffen: Er sollte die ganze Wahrheit kennen. Es war schwer, seine Reaktion vorherzusagen. Vielleicht fühlte er sich von mir hintergangen, weil ja auch ich der Oscuro angehörte. Vielleicht war ich dann in seinen Augen auch eine ‚Monstrosität’ – mir gefiel dieser Ausdruck nicht. Ich konnte da jedoch auch völlig falsch liegen. Aber all diesen Risiken zum Trotz mußte ich es ihm erzählen. Zum einen hatte er es sich verdient und zum anderen konnte ich vielleicht von seiner Sicht der Dinge lernen. Meine Gedanken kreisten unablässig um irgendwelche ‚vielleicht’ und eventuelle Konsequenzen.

Seufzend stand ich also wieder auf, fuhr in das gläserne Zimmer und kam mir höchst albern vor, als ich mit der Fernbedienung auf einen Pfeiler zielte, nur um dann mit Rachmaninow belohnt zu werden. Ich ließ die Musik um mich fließen, das Klavier erinnerte mich an Gabriel. Ich beobachtete einen wundervollen Sonnenuntergang und fuhr dann mit dem Aufzug hinunter zu den anderen beiden. Die waren fertig geduscht und saßen in gemütlicher Unterhaltung auf dem Sofa. Die Haltung der beiden zueinander, schien etwas freundschaftlicher geworden zu sein, nicht so ‚unverbindlich’.

„Oh, Kolya, brauch‘ ich euch gar nicht mehr den Schweiß abzutupfen?“ Er sah mich kurz leicht verwundert an, bemerkte dann Nathaniels unschuldsvolles Grinsen und meinte: „Würdest du das für uns tun, Kleine? Warte, ich tauche nur kurz meinen Kopf ins Wasser.“ Lachend winkte ich ab und küßte ihm dann symbolisch eine Schweißperle von der Stirn. „Recht so?“ Er nickte. „Klar, so hatte ich mir das vorgestellt. Aber sieh mal genau hin, ich glaube, da ist grad noch eine aufgetaucht.“ – „Und wenn ihr dabei seid, bei mir auch, bei dem rumgeküsse wird mir ja gleich ganz warm“ fiel Nathaniel prompt ein. „Ach Kolya, du weißt doch, zur Not würde ich dich sogar ohne Schweißperlen küssen.“ Wir wechselten einen Blick, den Nathaniel hoffentlich nicht erkannte. Wenn er den Verstand einer Schnecke gehabt hätte, hätten die Chancen sogar recht gut gestanden. Also erbarmte ich mich, drückte Kolya einen dicken Kuß auf die Stirn und dann einen wesentlich sanfteren auf Nathaniels. „Und das war’s, mehr gibt’s nicht. Sonst entsteht mehr Schweiß durch andere Dinge, als durch Sport.“ Ich setzte mich in einen Sessel. Doch Nathaniel nutzte diesen letzten Satz gleich aus: „Und, was ist daran so schlimm?“ Mein Blick an ihn mußte Bände gesprochen haben, denn er grinste übers ganze Gesicht und wand sich an Kolya: „Hilfe! Ist die immer so?“ – „Nein, nur zu Leuten, die sie mag, sonst kann sie schon mal etwas ruppig werden, gell, Kleine?“ Ich mußte mitlachen. „Genau, mein Liebster. Nicht alle werden mit so viel Zuneigung behandelt, wie ihr.“ Wieder wechselten wir diesen Blick. Das war spaßig. Nathaniel fragte betont sachlich: „Schließt mich das mit ein?“ Mit einer Spur mehr Ernst aber mit meiner sanftesten Stimme und dem schmachtendsten Blick, den ich gerade noch zuwege brachte antwortete ich: „Aber auf jeden Fall, mein Freund.“

Mit nicht geringer Genugtuung bemerkte ich eine gewisse Nervosität bei dieser Antwort bei ihm. Wieder warf er Kolya einen hilflosen Blick zu – es war göttlich. Der zuckte mit den Schultern, grinste kolya-mäßig und meinte: „Ich kann mich nicht erinnern, daß sie schon mal gelogen hat. Sei einfach zufrieden mit der Antwort, ich habe schon zu viele Rededuelle gegen sie verloren. Keine Chance. Nur im Trainingsring behalte ich manchmal die Oberhand.“ Also wirklich.

Der Rest der Unterhaltung war dann irgendwie weniger ernst, weniger tiefgründig und fast frei von Anspielungen. Beide schienen sich jetzt recht gut zu verstehen und die Zeit verging wie im Fluge.

Auf einmal traten durch den Aufzug Gabriel und Tres. Beide wirkten etwas mitgenommen – wieder das Wasser? Nathaniel erhob sich langsam – jäh schien sich die Stimmung zu verändern – und ging bis auf zwei Meter auf die beiden zu. „Willkommen in meinem Haus. Wenn ihr wollt, könnt ihr ein wenig ruhen, und uns dann hier Gesellschaft leisten. Kolya, würdest du ihnen die Zimmer zeigen?“ Gabriel hatte nicht gelächelt, Nathaniel nur angesehen, völlig ohne Regung, selbst ich konnte nicht mal ahnen, was er dachte. Er nickte: „Ja, etwas Ruhe wäre gut. Danke für die Einladung, wir kommen etwas später runter.“ Also kannte er die Räumlichkeiten. Zusammen mit Kolya gingen die zwei hinauf, ich blieb mit Nathaniel zurück.

Als wir alleine waren, sah ich unseren Gastgeber an. Von der vorherigen Ruhe war einiges verschwunden. „Er hat sich kaum verändert. Weißt du, LaVerne, tief im Innersten hatte ich vielleicht gehofft, er könne mir doch eines Tages vergeben. – Es tut weh, einen alten Freund im eigenen Haus zu sehen und nicht zu ihm sprechen zu können. Ihm sagen zu können, was ich fühle.“

Ich nahm ihn am Arm und schob ihn zu dem Aufzug. Im Gehen sagte ich: „Nun gib ihm doch etwas Zeit und dir eine Chance. Immerhin ist er jetzt hier, das ist doch schon ein Anfang. Doch im Moment ist auch Gabriel nicht er selbst. Die Überfahrt, die Probleme. Und du solltest ihm daher erst mal Gelegenheit geben, sein Herz sprechen zu lassen. Er selber hat mir vor einiger Zeit genau das gleichet gesagt. Nimm dir Zeit und höre zu, was Herz und Verstand sagen – und dann folge dem Herzen. Es war ein guter Rat. Du solltest ihn vielleicht auch befolgen.“

Wir waren in seinem Turmzimmer angekommen. Noch immer hielt ich seinen Arm und schob ihn so auf seinen Stuhl vom Mittag. Eigentlich war jetzt die Zeit so gut wie jede andere. Vielleicht sollte ich vorher noch mehr über meine Worte nachdenken, aber vielleicht auch nicht. Ich hatte beschlossen, ihm zu vertrauen und möglicherweise schenkte ich ihm damit indirekt sogar noch mehr. Denn es würde Gabriel zeigen, was ich von Nathaniel hielt, was mein Gefühl über diesen Mann sagte.

Ich setzte mich nicht auf meinen Stuhl, sondern auf den Boden, den Rücken an eines der Fenster gelehnt, mit Blick auf Nathaniel, der knapp zwei Meter entfernt verwundert auf mich nieder schaute. Durch das Glasdach sah ich ein paar vereinzelte Sterne, dann wandte ich mich Nathaniel zu, der sich ein wenig vorgebeugt hatte.

„Du willst meine Geschichte hören? Ich erzähle sie dir. Die Männer, die mit mir reisen, kennen sie, aber sonst nur wenige und so soll es bleiben. Vorerst.“

„Warte“, unterbrach er mich, holte eine neue Flasche Wein und Gläser und setzte sich zu mir auf den Boden, den Rücken an seinen Sessel gelehnt. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Also begann ich. Ich setzte mit der Nacht ein, als John gewandelt wurde und ich in den Prozeß mit einbezogen wurde. Als nächstes berichtete ich von einigen der seltsamen Vorkommnisse, die Fähigkeiten, kleine Wunden zu heilen, in Dunkelheit sehen zu können und vom Alkohol keinerlei Wirkung zu spüren. Hier lächelte er kurz und stieß mit mir an. Diese einfache Geste half mir bei meiner Erzählung. Er unterbrach mich nicht, nickte nur hin und wieder. Als ich vom Rat der Alten erzählte, horchte er auf. „Sie haben gelernt, das ist gut.“ Dann hörte er wieder schweigend zu.

Ich erzählte von meiner Flucht durch den Schnee, den Flug in die Schweiz. Ich nannte keine Namen, das war entweder nicht nötig oder für ihn unwichtig. Ich erzählte nicht von meiner überstürzten Flucht vor Gabriel, nur, daß wir danach für einige Zeit in Australien waren. „Carré!“ grinste er. „Eine tolle Frau! Ist sie noch mit Trevor zusammen? Ach, was frag ich, es muß so sein, die sind füreinander geschaffen.“ Ich bestätigte, sowohl, daß wir dort waren, als auch, daß sie zusammen lebten und natürlich aus vollster Überzeugung, daß Carré ein Goldstück war. Weiter ging meine Erzählung, mit einem Zwischenstopp in Frankreich und dann zu Tejat. Da unterbrach er mich dann doch: „Daher also. Du bist ihm nicht nur kurz begegnet, du kennst ihn richtig. Es ist ein Privileg, in seinem Haus zu weilen. Ohne Tejat wäre ich heute nicht hier.“ Und ich ergänzte: „Ich vielleicht auch nicht.“ Als ich davon erzählte, daß Tejat John und mich unterrichtet hatte, zeigte sein Gesicht echte Verblüffung. Aber er unterbrach mich auch hier nicht. Ich streifte kurz die Prophezeiung und dann erzählte ich von dem Ritual und der offiziellen Aufnahme in den Corvus-Zirkel. Die Geschichte um unseren Besuch beim Congregat brauchte ich nur teilweise zu erzählen, den größten Teil davon kannte er ja schon. Ich wiederholte Gideons Worte über ihn, über einen Menschen wie mich und seinen Standpunkt dazu. Natürlich vergaß ich dabei die Hinweise auf ‚Kontrolle’ und ‚Überprüfung’ nicht, die sich in mein Gehirn gebrannt hatten. Und damit war meine Erzählung abgeschlossen. Sie war erheblich detaillierter ausgefallen, als ich das vorgehabt hatte. „Und nun bin ich hier und sitze mit dir auf dem Fußboden, Nathaniel. Vielleicht verstehst du jetzt, warum ich so lange gezögert habe. Ihr seid alle so alt, ich bin weniger als ein Kind in eurer Zeitrechnung. Aber ich hatte das Gefühl, daß du die Sache erfahren mußtest. Egal, wie es weiter geht.“

Eine ganze Weile schwieg er dann, schaute an mir vorbei auf das dunkle Meer. „Du hast mir eine faszinierende Geschichte erzählt. Ich hatte Recht, es war wert, darauf zu warten. Wenn all das wahr ist, hat Gabriel sehr besonnen reagiert, er hat aus meinen Fehlern gelernt. Aber da ist mein Problem. Mein Herz glaubt dir, aber mein Verstand behauptet, das ist alles nicht wahr, ihr habt euch etwas ausgedacht, um mein Mitleid zu erregen, etwas ähnlich dem, was mir passiert ist, zu einem mir unklaren Zweck.“

Jetzt war ich etwas überrascht. Wieso sollten wir, und dann noch so eine ungewöhnliche Geschichte. Ich hatte mit allem gerechnet, nur nicht damit, daß er zweifelte. Bei anderen Leuten konnte ich es ja verstehen, aber gerade er? „Was soll ich tun, damit du mir glaubst?“ Auf eine Vorführung mehr oder weniger kam es jetzt auch nicht an. Doch dann schauten mich die Augen direkt an und ich wurde etwas nervös. Als ob sich der Tiger nach dem Schlafen streckte…

„Nun, ich würde spontan eine Vorführung deiner Zähne wählen.“ Oh… Sein Grinsen erinnerte an unseren kleinen Schlagabtausch mit Kolya am Nachmittag. Und wieder hatte ich diese Antwort nicht erwartet. Er wußte genauso gut wie ich, daß die Zähne nicht einfach so wuchsen. Eine solche Vorführung war sicher nicht uninteressant, aber…

„Aber für jetzt würde ich mich auch mit einer Demonstration deiner Heilkünste zufrieden geben.“ Während er aufstand, um etwas zu holen, atmete ich dreimal tief durch und konzentrierte mich dann wieder auf die momentane Situation. Er kehrte sehr schnell mit einem kleinen Silberdolch zurück. Diese Mal aber setzte er sich nicht mir gegenüber, sondern kniete sich vor mich, auf die Unterschenkel gesetzt. Wie üblich reichte ich ihm meine Hand. Doch er legte seine linke Hand mit der Handfläche nach oben darüber und mit einer schnellen Bewegung machte er einen Schnitt quer über seinen Unterarm direkt auf Höhe der Pulsader. Bei sich!

Sofort strömten Unmengen dunkelroten Blutes heraus. Ich war so erschrocken, daß ich einen Moment nur darauf starrte. Mein Magen verkrampfte sich und ich schaute ihn entsetzt an. In seiner ruhigen Art schaute er zurück und meinte: „Würdest du meine Wunde heilen, bevor ich hilflos hier verblute?“ In dem Moment betete ich inständig, daß meine Fähigkeiten auch bei anderen wirkten. Das hatten wir nie erprobt. Überhaupt, was würde sein Blut vielleicht bei mir bewirken, wenn es denn etwas tat. Und würde er Schaden nehmen? Aber es blieb keine Zeit für weiter Überlegungen, sonst würde es so oder so einen Schaden geben. Und es war eigentlich auch nicht wichtig. Sanft zog ich seine Hand an meinen Mund und ließ meine Zunge langsam und vorsichtig über den Schnitt gleiten. Ich schaute zu ihm rüber, er wirkte noch immer ganz entspannt, aber die grauen Augen hatten jetzt mehr grüne Einschläge. Oder?

Als ich seine Hand sinken ließ, war die Wunde verschwunden, nur noch ein wenig Blut war zu sehen, das den Arm herunter gelaufen war. Sein Blut in meinem Mund hatte einen eigentümlichen Geschmack: die natürlichen Bestandteile Eisen und Salz lagen da auf meiner Zunge. Aber ich schmeckte auch eine ungewöhnliche Süße, und ein wenig fühlte es sich an, als hätte ich einen sehr alten, sehr schweren Rotwein probiert, in keinster Weise unangenehm. Er beobachtete mich noch immer, seine Hand weiterhin in meiner: „Warum hast du das getan, Nathaniel? Was, wenn es bei dir nicht funktioniert hätte. Was, wenn ich dich vergiftet hätte.“ Ich wollte noch mehr fragen, doch er unterbrach mich: „Du hast nie den Kuß des Lebens empfangen, nie den Atem des Todes gespendet. Dies ist am nächsten damit zu vergleichen, so bekommst du vielleicht einen Eindruck, was dich eines Tages erwarten wird. Außerdem hattest du keine Zeit nachzudenken. Es sollte mir zeigen, ob du um das Leben anderer besorgt bist. Es gab noch viel mehr Gründe, die ich dir nicht nenne. Keine Sorge, deine Heilung stellt für mich keine Gefahr dar. Anders wäre es, wenn die Wunde durch Zähne entstanden wäre, darin befindet sich unser spezieller Giftstoff, der sofort ins Blut übergeht. Daher wird mein Blut auch bei dir keine Wirkung haben. Auch ein Grund für den von mir gewählten Weg, du hast mein Leben vor die Frage gesellt, was dir passieren könnte.“ Nun, wenn er es so sah. Aber da war doch nicht wirklich ein Wahl gewesen, davon abgesehen, daß er sich ja jederzeit selbst hätte heilen können. Nur daß ich in dem Moment gar nicht auf diese glorreiche Idee gekommen war. Aber wir wollten ja nicht auf Kleinigkeiten herum reiten.

Nathaniel stand auf und zog mich mit hoch. Einen Moment standen wir voreinander. Nein, seine Augen waren doch grau. „Dein Geheimnis ist bei mir sicher verwahrt, LaVerne. Ich fühle mich geehrt, daß ihr mich eingeweiht habt. Ich muß eine Weile über die Tragweite und die Implikationen deiner Existenz nachdenken, obwohl ich persönlich begeistert bin, aus unterschiedlichsten Gründen. Ich biete euch mein Wissen und meine Hilfe an, um sowohl dein Rätsel zu lösen, als auch das Problem mit dem weißen Drachen. Und jetzt sollten wir erst mal runter gehen, die anderen sind bestimmt schon wieder munter.“

Waren sie. Wir fanden die drei in entspannter Unterhaltung in den Sesseln. Ich warf Gabriel ein feines Lächeln zu, das er erwiderte. Er wirkte nicht mehr so ‚verkrampft’ wie bei seiner Ankunft. Und seine Augen sprachen laut und deutlich zu mir. Eine Frage. Kaum merklich nickte ich, er hatte es verstanden und nickte zurück. Er war einverstanden mit meiner Entscheidung.

Wir suchten uns Sessel zusammen und einige Zeit wurde über unwichtige Angelegenheiten gesprochen, vorwiegend Kolya und Nathaniel bestritten die Unterhaltung, Tres und Gabriel folgten zwar, steuerten aber wenig dazu bei. Die Ruhe war im Gegenzug von Nathaniel wieder deutlich abgefallen, er saß nicht still, wie oben im gläsernen Zimmer, sondern schien seinen Sessel extrem unbequem zu finden. Ich konnte schlecht einen Kommentar machen, solange ich weder wußte, was genau vorgefallen war, noch, wie Gabriel jetzt zu Nathaniel stand. Doch ich würde zumindest den zweiten Teil bald erfahren. Denn plötzlich – ohne Vorankündigung – hob Gabriel die Hand: „Laß es gut sein, Kolya. Das ist alles unwichtig. Wir müssen etwas klären.“ Seine Stimme ließ nicht erkennen, was er als nächstes sagen würde. Der Angesprochene und auch Nathaniel sahen ihn leicht erstaunt an, schwiegen aber gehorsam. Kolya sah aus, als ob er etwas sagen wollte, besann sich aber rechtzeitig. Gabriel setzte sich in seinem Sessel auf und schaute Nathaniel zum ersten Mal direkt und sehr lange an, seine Persönlichkeit schien auf einmal den ganzen Raum zu füllen. Da war er wieder, der Kader des Corvus-Zirkel, der mich bei dem Blutschwur so beeindruckt hatte. Und jetzt sprach er:

„Es war nicht meine Idee, hierher zu kommen. Aber ich bin auch nicht so dumm, den guten Rat von Freunden auszuschlagen, die vielleicht etwas objektiver waren als ich. Wie dem auch sei: Meine schwarze Rose besitzt mein Herz und meine Seele, aber sie hat noch viel mehr. Ich vertraue ihrem Urteil. Ohne Bedenken. Und das ist der Punkt. Sie hat dir ihr Geheimnis anvertraut.“ Kolya und Tres schauten von ihm zu mir und ich bestätigte das mit einem leichten Nicken, das zumindest Kolya erwiderte. Aber Gabriel sprach schon weiter: „Ihre Entscheidung sagt etwas über dich aus. Genau wie bei mir, haben die Jahre dich auch verändert. Vieles von dem, was ich damals gesagt habe, tut mir leid. Vermutlich geht es dir ähnlich aber irgendwann ist der Punkt überschritten, an dem man einen Fehler noch zugeben kann. Sicher haben wir beide Fehler gemacht. Es fiel mir schwer, deine Einladung anzunehmen, so, wie du wahrscheinlich auch gezögert hast, sie auszusprechen. Wir können nach diesen endlosen Jahrzehnten nicht einfach ‚vergeben und vergessen’ sagen, so einfach ist es nicht. Aber wir stehen wieder voreinander. Das ist ein Anfang.“ Gabriel hatte sich erhoben und war einige Schritte auf Nathaniel zugegangen. Der sprang förmlich aus seinem Sessel, zögerte dann aber, weiterzugehen, sah Gabriel nur an.

Gabriel konnte nicht wissen, was Nathaniel über die verlorene Freundschaft gesagt hatte, über diesen Verlust. Und doch sprach er weiter: „LaVerne hat uns die einzigartige Möglichkeit gegeben, eine tief verschüttete Freundschaft vielleicht wieder frei zu legen. Uns neu kennen zu lernen, alte Wunden zu heilen und dennoch dabei das Gesicht zu wahren. Im Namen unserer einstigen Freundschaft biete ich dir hiermit meinen Arm, um es zu versuchen.“ Und sehr leise und mit rauher Stimme fügte er hinzu: „Ich habe dich so vermißt, mein Bruder!“ Bei den vorangegangenen Worten war Nathaniel auf Gabriel zugegangen. Und bei dem letzten Satz hatte er nach ihm gegriffen. Dann lagen sie sich in den Armen, Köpfe leicht gesenkt und fest aneinander gedrückt. Nathaniel war kaum zu verstehen, seine Stimme war völlig anders, als er murmelte: „Ich dich auch, mein Bruder. Es tut mir so leid.“

Ein Wink von Kolya ließ meine Aufmerksamkeit von den beiden Umschlungenen zu ihm wandern. Der grinste aus vollster Überzeugung und machte eine sehr deutliche Kopfbewegung zum Fahrstuhl. Tres brauchte keine extra Aufforderung. Als wir zu dritt in das Turmzimmer fuhren, hatten die beiden Männer unten vermutlich noch nicht mal bemerkt, daß wir weg waren.

Wir suchten uns Stühle, Gläser und Wein und während wir den Sternenhimmel über uns und das Meer neben uns bewunderten, erzählte ich den beiden alles, was Nathaniel und ich besprochen und getan hatten. Es war eine längere Geschichte und irgendwann nickte Kolya: „Auch Nathaniel tut nichts ohne Grund und Gabriel hat ihn einst sehr geliebt. Später erzähle ich vielleicht mal, was vorgefallen ist, wenn er es nicht selber tut.“ „Gabriel? Freiwillig was erzählen? Wo lebst du, Kolya?“

„Ich hatte kaum gehofft, daß Gabriel ihm die Hand reichen würde, manchmal ist es sehr sehr schwer. Du hast ja selbst bemerkt, Kleine, wie ungern er dich hierher gelassen hat. Ich denke, den endgültigen Sinneswandel, nein, das ist kein Wandel, eher die Entscheidung, den ersten Schritt zu wagen, verdankt Nathaniel deinem Vertrauen. Irgendwer hat doch mal gesagt, trotz aller Veränderungen, die jetzt stattfinden, ist schon so viel Gutes dabei raus gekommen, daß es nicht schlecht sein kann. Ich hoffe, die beiden finden einen Weg zurück.“

Eine Weile saßen wir in Stille da. Dann begann Kolya noch mal: „Weißt du, zumindest haben wir jetzt vielleicht jemanden, der auch bei Tag bei einer echten Gefahr eine große Hilfe sein kann. Und ist dir klar, daß du mit Nathaniel ein Band geknüpft hast?“ Ich schaute ihn fragend an. „Ich sagte doch, auch er tut nichts ohne Grund. Du hast sein Blut genommen, laut unserer Definition bist du ihm damit im Blut verbunden. Aber du hast ihm gegenüber keine Schulden, weil er es dir selber angeboten hat. Ein kluger Mann.“

Das erklärte nicht unbedingt, was das Endresultat war. „Wieso, Kolya? Was hat er davon, oder ich? Was ist die Konsequenz. Sag mir bitte, daß es da nicht noch mehr Kleingedrucktes in eurem Leben gibt.“ Bei diesen Worten lachte Tres hell auf, der bisher geschwiegen hatte. Und er antwortete auch: „Das Leben besteht doch nur aus Klauseln, Kleingedrucktem und Lesen zwischen den Zeilen. Was Kolya meint ist folgendes: Zum einen, du bist ihm im Blut verbunden, das ist unsere stärkste, intensivste Verbindung. Ihr teilt jetzt etwas miteinander. Wenn jemand – zum Beispiel – dich angreifen würde, kann er sich einmischen, denn damit würde ja auch ein Teil von ihm angegriffen. Und du mußt sein Blut ehren, soll heißen, auch du kannst dich für ihn einsetzen. Natürlich geht das alles auch ohne Bluttausch. Aber so ist es sozusagen notariell verbrieft. Und du weißt ja, in der Oscuro ist tiefe Freundschaft so gut wie immer damit verbunden, daß zwei das Blut tauschen. Du hast dieses Privileg ja eigentlich noch nicht nutzen könne und somit hat er dir auch ein Geschenk gemacht. Und ich bin sicher, daß ihm das alles klar ist.“ Kaum zu glauben, man meint, alles zu wissen und dann kommt die nächste Überraschung. Aber wenigstens keine schlechte, so wie ich das sah.

Als der Morgen dämmerte, waren die zwei noch immer nicht aufgetaucht. Also fuhren Tres und Kolya nach unten um zu schlafen und ich machte mich auf in den ersten Stock. In einem der Schlafzimmer machte ich es mir gemütlich und zum Glück war ich so müde nach diesem langen Tag mit dem vielen Reden, daß ich fast sofort einschlief. Und wohl auch nicht träumte.

Imprecatio Curor


Cold as a winter wind through my mind
Death reaches out with a fearful grip
He‘ll never show mercy, he‘ll never be kind
Will he take me tonight on a final trip

 Die zwei Männer tauchten am nächsten Tag nicht auf, auch nicht in der darauf folgenden Nacht. Gabriel war nicht in seinem Zimmer gewesen, aber Kolya war nicht sehr besorgt. „Sie müssen viele Jahre nachholen, alte Wunden schließen und neues Vertrauen aufbauen. Das braucht Zeit. Sie werden irgendwo sitzen und reden. Und dann irgendwann auch wieder auftauchen.“ Damit war für ihn die Sache erledigt.

Über Tag blieben er und Tres unten, während ich einen kleinen Streifzug über die Insel machte. Hin und wieder begegnete ich einem von Gabriels oder Nathaniels Aufpassern aber ansonsten fühlte ich mich herrlich alleine. Obgleich es erst Ende März war, hatte die Sonne schon sehr viel Kraft. Die Vegetation war weitgehend unberührt aber hier und da gab es kleinere Lichtungen mit Sitzgelegenheiten oder kleine Süßwasserteiche mit Fischen. Dies war ein traumhafter Ort, wild aber doch gezähmt, wenn auch nur ganz leicht. Erst als es dunkler wurde, kehrte ich ins Haus zurück. Und als die ersten Sterne auftauchten, setzten wir drei uns wieder ins gläserne Zimmer. Ein dienstbarer Geist hatte Flaschen mit Wein und Platten mit Brot und Schinken hier aufgebaut. Unsere Unterhaltung plätscherte nur und oft schauten wir auch nur auf die ruhige See. Trotz des ereignislosen Tages ging ich weit vor Sonnenaufgang schlafen.

Am nächsten Mittag hatte ich mich in der ‚Bibliothek’ niedergelassen, als Nathaniel mich dort entdeckte. Er wirkte verändert, jünger, die Augen blitzten und über der allgegenwärtigen Gelassenheit schwebte ein Hauch von Erregung. In einer spielerischen Bewegung zog er mich hoch und drückte mich fest. Und mir blieb die Luft weg, nicht nur, weil er fast meine Rippen zerbrach. Dann küßte er mich und schob mich etwas zurück. Eh ich mich noch beschweren konnte – worüber, hatte ich noch nicht entschieden – strahlte er mich an: „Danke! Ach LaVerne, ich bin so froh! Du hast mir ein Stück meines Lebens zurück gegeben. Ich kann Gabriel wieder Bruder und Freund nennen. Ohne dich hätten wir diesen Schritt vielleicht nie geschafft. Aber er ist jetzt ein Anderer – wie ich mittlerweile auch. Alleine dein Vertrauen in mich hat ihm die Kraft, den Willen, gegeben, mir den Arm noch einmal entgegen zu strecken. Danke!“ Und noch ein Kuß, viel fester und beinah zu lang, um nur als Dank zu wirken. Beinah. Dann ließ er mich wieder los und zog mich zum Fahrstuhl: „Komm! Ich bin viel zu aufgeregt, um mich jetzt hinzulegen und Schlaf nachzuholen. Los, Schwesterchen, ich will feiern.“ Und damit zog er mich im Erdgeschoß aus dem Fahrstuhl und ohne anzuhalten aus dem Haus.

Er führte uns zu einem kleinen Schuppen direkt am Wasser. Darin war ein kleines Boot, vorne spitze und sehr schlank, hinten eine Sitzfläche und in der Mitte ein Aufbau mit einem simplen Lenkrad. Er ließ den Motor an, der nach sehr viel Kraft klang und raus ging’s aufs Meer. Diese Fahrt spiegelte deutlich seine Stimmung wieder: „ausgelassen, wild, völlig ziellos, etwas riskant und einfach herrlich. Teilweise hatten wir ein irres Tempo drauf, er schlug bedenkliche Haken mit seinem Gefährt und mehr als einmal wurden wir ordentlich geduscht. Aber es war wie ein Rausch, man spürte die Kraft der Maschinen bei voller Fahrt, der Magen schlug kleine Kapriolen, wenn wir über eine Welle hüpften, die wir kurz vorher selber erschaffen hatten. Diesen wilden Ritt würde ich nie vergessen und wünschte fast, er würde nicht enden. Wir waren weit hinaus gefahren und auf dem Rückweg fuhren wir ein wenig gemäßigter und diesmal war ich einverstanden, als er mir anbot, auch mal das Steuer zu übernehmen. Ich fühlte mich herrlich,  kleine Salzwasserperlen auf dem Gesicht, größtenteils durchnäßt aber ausgelassen und frei. Eine gute Art zu feiern. Irgendwann rief er mir über den Lärm zu: „Was meinst du, ob Kolya diese Fahrt wohl gewürdigt hätte?“ Ich mußte lachen: „Irgendwie bezweifle ich das. Er weiß ja nicht, was er da verpaßt!“ Nathaniel grinste verschmitzt: „Irrtum, ich bin sicher, er hat genaue Vorstellungen davon, was er verpaßt. Deshalb ja!“ Noch immer lachend kehrten wir ins Haus zurück.

Getrocknet und umgezogen ging ich etwas später nach unten. Heute waren alle versammelt. Zielstrebig steuerte ich auf meinen Raben zu, ich wollte ihn an meiner Begeisterung teilhaben lassen. Aber das war wohl nicht nötig. Er stand auf, nahm mich in die Arme, drehte sich einmal mit mir um die eigene Achse und küßte mich. Er schmeckte herrlich und seine Wärme drang sofort verführerisch durch meine Kleidung. Dunkle Geborgenheit senkte sich über mich mit kleinen silbernen Fäden aus Freude durchzogen. Es fiel mir trotz aller Aufregung schwer, aus diesen Tiefen wieder nach oben zu tauchen. Ungern…

„Nathaniel hat schon berichtet. Und das soll Spaß machen? Aber wenn ich dich so ansehe, muß es wohl so sein. Ihr seid ja verrückt – alle beide!“ Sprach’s und ließ mich mit einem weiteren Kuß in seiner Seele versinken.

Wir ließen uns in den Sofas nieder, es gab Getränke und eine lockere Unterhaltung startete. Nichts war mehr zu spüren von der Spannung vorgestern. Es war, als kennen sich alle schon ewig – na ja, außer mir traf das ja wohl sogar ziemlich zu. Die Stimmung blieb weiterhin ein klein wenig überdreht und herrlich… vertraut.

Es war schon sehr spät, als plötzlich die Beleuchtung im Raum wechselte. Bisher war sie gelblich-warm gewesen, wie von Kerzen, jetzt auf einmal wurde es fast taghell und einige der Lampen wechselten in einen roten Farbton. Jegliche Unterhaltung erstarb. Nathaniel und Gabriel sahen sich an, der erste sprach nur ein Wort: „Eindringlinge!“

Mit einem Satz waren alle auf den Beinen. Dabei herrschte – natürlich – aber keinerlei Chaos. Kolya fragte ruhig: „Waffen?“ und Nathaniel deutete auf eine der Türen: „Uncia-Symbol.“ Gabriel schob mich ruhig aber bestimmt zu Kolya: „Geh mit ihm, los!“ Sie alle waren sehr angespannt aber nicht aufgeregt, obwohl sie doch nicht wissen konnten, wer da einbrach. Aber gehorsam folgte ich Kolya in den angewiesenen Raum. Nur schien sich hier nichts von Interesse zu befinden. Ein Bett, ein Tisch, ein Sofa. An den Wänden waren mit schwarzer Tusche Symbole aufgemalt. Zehn an der Zahl und auf Anhieb erkannte ich die stilisierten Flügel um den durchbrochenen Kreis. Gabriels Symbol des Corvus-Zirkels. In jedem der anderen Symbole war auch der Kreis mit dem Strich im unteren Drittel zu erkennen. Hinter uns strömten Gabriel, Tres und Nathaniel in den Raum und zeitgleich hörten wir, wie sich der Aufzug in Bewegung setzte. Keiner schien das im Moment zu beachten. Kolya ging zielstrebig auf eines der Symbole zu: der Kopf einer Raubkatze, die von dem durchbrochenen Kreis der Oscuro umgeben zu sein schien. Er drückte seine Hand in den Kreis und die halbe Wand fuhr wie eine Schwebetür zur Seite.

Und dahinter lag ein Waffenarsenal, wie ich es noch nicht gesehen hatte. Keine antiken, schönen Sammelobjekte, nein, verschiedene Pistolen, Revolver, Wurfsterne, Dolche, Gewehre, Schwerter, Äxte, Schlagstöcke, um nur ein paar zu nennen. „Hier!“ Kolya drückte mir eine kleine Pistole, ähnlich meiner eigenen aus Australien, und ein silbernes Messer in die Hand, dann bedienten sich die anderen reichlich. Und hinter uns tauchten Stimmen auf. Verschreckt von der plötzlichen Erregung, die alle ausstrahlten, drehte ich mich um. Aber Nathaniel ging schon voraus, er schien sie erwartet zu haben. Richtig, es waren Gabriels drei Aufpasser und einige seiner eigenen Leute. „Versucht, den Fahrstuhl frei zu halten, ansonsten setzt ihn außer Funktion. Wir brauchen eventuell eine sichere Passage zum Boot, falls wir fliehen müssen. Sie kommen von oben, umgeht am besten das Haus, aber ich will euch nicht dazwischen sehen. Seid vorsichtig.“ Er hatte kurz und präzise gesprochen und die Neuankömmlinge nickten nur und verschwanden sofort wieder. Und ich war ja gar nicht nervös.

Gabriel drehte sich zu mir um. Er wirkte konzentriert, als er mich anwies: „Du bleibst hier! Wir werden uns darum kümmern. Ich fürchte, ich ahne, wer das ist. Alleine die Tatsache, daß sie nachts angreifen ist ein Hinweis. Und weil ich weiß, wer kommt, fürchte ich auch, daß heute Nacht Blut vergossen werden wird.“ Er küßte mich nicht wirklich. Viel mehr streiften seine Lippen meine Stirn und dann gingen die vier und ließen mich in der Waffenkammer zurück. Unentschlossen blieb ich einen Moment in der plötzlichen Stille und Ruhe stehen.

Natürlich hörte ich dann nicht auf Gabriel, sondern beobachtete sie, wie sie zielbewußt die Stufen zur Empore hochgingen, und einer hinter dem anderen in einem der Gänge an der Seite verschwanden. Und dann ging im ganzen Haus der Strom aus. Ich stand ganz alleine in der völligen Dunkelheit, die mich einen Moment bedrohlich einschloß. Bis sich meine Augen daran gewöhnt hatten, blieb ich reglos stehen. Erst dann kehrte ich in das Zimmer vor der Waffenkammer zurück. Ich war sehr besorgt um meine Freunde, von meinem Raben gar nicht zu reden, um mich eher weniger. Leise klangen von oben erst Stimmen herunter, dann folgten mehrere Schüsse, dann wieder Stimmen und Leute rannten.

Dann war es wieder still. Ich konnte doch nicht einfach hier stehen bleiben. Noch etwas unentschlossen ging ich durch den Raum, dann tastete ich mich langsam und vorsichtig die Stufen rauf und in den Gang, wo die anderen vorhin verschwunden waren. Wieder hallten Schüsse und Rufe durch die Schwärze vor mir. Ich stoppte, aber die Geräusche wiederholten sich nicht. Dann konnte ich vor mir deutlich Stimmen hören. Gabriel und ein Fremder riefen sich an, nicht sehr laut, sie konnten nicht weit voneinander entfernt sein. „Wir befolgen die Befehle des Rates. Wenn du dich uns widersetzt, handelst du gegen den Kodex.“ Als Antwort drang Gabriels Stimme klar zu mir: „Nein, auch ich folge den Befehlen des Rates. Doch solange nur einer für alle entscheiden kann, erkenne ich ihn nicht an. Der Rat besteht seit jeher aus dreien – und das hat einen Grund.“ Wieder kam von irgendwo vor und oberhalb von mir eine Antwort: „Wenn die anderen nicht ihre Pflicht erfüllen, muß der, der bleibt ihre Aufgaben mit übernehmen. Gebt sie heraus und es muß kein weiteres Blut zwischen uns fließen.“

Diese ‚sie’ war sicherlich ich. Aber zum Überlegen war keine Zeit. Dieses Mal hörte ich Tres Stimme, weiter entfernt: „Nur drei sind der Rat! Nicht einer oder zwei. Und wenn es wirklich so wäre, warum folgt ihr dann nicht Scuro Tejats Entscheidung? Ist der weniger als Fenian? Und außerdem: du weißt, was Fenian tun würde! Wem er dient!“

Wieder kam die Antwort von der gleichen, entfernten Stimme. „Tejat hat uns nicht gerufen, unseren Befehl nicht widerrufen. Und schlimmer: Er wurde bereits vergiftet, so hat Fenian es uns erklärt. Wie könnte ich das Wort eines Scuro anzweifeln? Er sagte, sie ist für uns alle gefährlich, nur er kann diese Gefahr bannen. Also bringen wie sie zu ihm, lieber lebendig, aber zur Not auch tot. So, wie er es befohlen hat. Bitte zwingt uns nicht, das Blut von Brüdern zu vergießen.“ Also war es wirklich der ‚Fluch des Blutes’, der dort oben lauerte, Gabriel hatte es vermutlich richtig erraten. Und wenn das Reden aufhörte, würde Blut fließen, wenn es nicht schon soweit war. Und das meinetwegen. Wieso war ich nur so gefährlich und hatte ich dann noch den armen Tejat vergiftet? Das hatte ich gar nicht gemerkt, er kam mir recht gesund vor. Herrje! Sarkasmus war nun wirklich nicht angebracht.

Oben schien es Bewegung zu geben, man hörte Schritte, dann fielen wieder einige viel zu laute Schüsse. Jemand schrie leise auf. Nein. So nicht, das würde ich nicht zulassen. Entweder ich konnte sie überzeugen, daß ich gar nicht so gefährlich war, oder ich würde mitgehen. Ich hatte genug über unsere Angreifer gehört und erraten, um die Chancen für eine Überzeugung realistisch – also sehr gering – einzuschätzen. Aber all das war kein Mut, eher der Entschluß, daß niemand für mich sterben durfte. Nicht lange zögern, nachdenken, sondern dem Herzen folgen. Ich rief also laut durch den dunklen Gang: „Hat Fenian euch auch gesagt, warum ich so gefährlich bin?“ Ich hörte jemanden vor mir fluchen, Kolya. „Du solltest doch unten bleiben. Jetzt wissen, sie, wo du bist.“ Einen Moment war es wieder still, dann antwortete die Stimme: „Du hast eine Krankheit, die uns alle befallen wird. Er wird dich heilen oder uns alle von dieser Gefahr befreien.“

Von vorne kam ein leiser Kommentar: „Blödsinn! Er wird dich nur an Dezmont übergeben. Das war’s dann.“

Vermutlich. Aber das änderte nichts an den Tatsachen, daß kein Blut fließen sollte. Also rief ich wieder zurück: „Meine Freunde, die hier versammelt sind, habe ich aber doch wohl noch nicht angesteckt. Und Nathaniel, oder? Was ist mir dir? Hast du Angst vor mir oder bist du bereit, mir gegenüber zu treten und zumindest meine Version der Geschichte anzuhören.“ Kolya machte ein komisches Geräusch vor mir.

Darauf kam einige Zeit keine Antwort. Ich hörte leise Schritte und vor mir tauchte Kolya auf und der sah nicht im Geringsten zufrieden aus. „Du spinnst wohl! Ich laß dich doch nicht mit ihm zusammentreffen. Davon abgesehen, daß er sowieso nicht zustimmen wird.“

Von oben kam eine Frage: „Ich bezweifele zwar, daß du mir noch was anderes als ‚Geschichten’ erzählst, aber wieso solltest du dir überhaupt die Mühe machen, oder ich mir?“ – „Nun, ich kann meine Geschichte mit Beweisen untermauern. Konnte Fenian das auch? Und zu der zweiten Frage: Es ist jede Mühe wert. Ich will nicht, daß für mich Blut vergossen wird. Wenn ich es irgendwie verhindern kann, dann ist das doch jedes Risiko wert. Höre mich an, urteile neutral und wenn du dann noch immer darauf bestehst, werde ich euch begleiten.“ Mein Herz verkrampfte sich, aber ich mußte ihm etwas anbieten. An mehreren Stellen im Korridor ertönte ein laut vernehmliches „Nein!“. Auch der Fremde mußte es gehört haben. Er sprach meinen Raben direkt an: „Gabriel! Warum tut sie das?“ Der antwortete erst nach einiger Zeit: „Weil sie mich liebt. Und weil ich sie liebe. Und sie den Kodex befolgt. Ehre dein Blut und gib ein Leben für ein Leben. Und weil Fenian im Unrecht ist.“ Danach war es eine ganze Weile still im Korridor. Aber irgend jemand war verletzt, ich hörte ein leises Stöhnen. Es wurde Zeit. „Nun, was ist, Fremder?“ Der antwortete: „Charon. Ich bin Charon, der Führer des Imprecatio Curor. Ihr alle gebt mir zu denken, nichts scheint so einfach, wie es vor kurzem sich dargestellt hatte. Du hast starke und ehrenvolle Verbündete, Fremde. Ich kann deine Herausforderung nicht ignorieren, das widerspricht meinen Prinzipien. Und deine Beweggründe sind bedeutend genug, als daß ich sie einfach übergehen könnte.

Er hatte mich ähnlich angesprochen, und so warf ich zurück: „LaVerne. Mein Name ist LaVerne. Also. Ich gebe dir mein Wort – und Gabriels – daß ich mich deinem Beschluß unterwerfe. Schicke deine Leute zurück, meine werden auch abziehen und wir treffen uns in der Mitte dieses Korridors. Wenn du willst, halte ich auch eine weiße Fahne hoch.“

Von oben kam ein Geräusch, das vielleicht ein Lachen war. „Ich glaube dir auch so. Ich komme ohne Waffen. Ich nehme dein Wort und gebe dir meines, was auch immer das Ergebnis sein wird, du kannst frei zu deinen Freunden abziehen. Dieses Zugeständnis hast du dir gerade verdient und du könntest deine Zusage sowieso nicht wahr machen.“ Vor mir hörte ich Kolya überrascht ächzen. Ob über das Zugeständnis oder das Treffen an sich blieb unklar. Wahrscheinlich beides. Kurz danach hörte ich Schritte, dann tauchte die Silhouette von zwei Männern auf, einer schien den anderen zu stützen. Kolya passierte mich wortlos und hielt hinter der nächsten Biegung.

Tres war verletzt und stütze sich schwer auf Gabriel. Neben mir hielten sie an. Zuerst sah ich Tres an, er war leichenblaß und humpelte. Ganz leise sagte er zu mir: „Das war eine silberne Kugel, sie ist noch im Bein. Aber ich werde es wohl überleben. Tut nur weh.“ Ich berührte ihn leicht am Kopf. „Es tut mir leid, das wollte ich nicht.“ Er schüttelte nur mit einem gequälten Lächeln den Kopf: „Du hast doch nicht abgedrückt.“ Nur ein schwacher Trost. Hinter den beiden tauchte Nathaniel auf. Wortlos nahm er Gabriel Tres ab, legte ihm einen Arm um die Schulter, warf mir einen ernsten Blick zu und verschwand mit ihm hinter der Biegung wie Kolya. Gabriel stand vor mir, schaute mich einige Zeit nachdenklich an:

„Ich glaube nicht, daß diese Unterhaltung zu etwas führen wird. Charon ist überzeugt, daß sein Auftrag vom Rat der Alten kommt und damit legitim ist. Trotzdem sollte man vielleicht wirklich nichts unversucht lassen, alleine seine Bereitschaft zu reden ist schon ein Beweis, daß ich mich irren könnte. Aber. Ich werde nicht zulassen, daß du ohne Widerspruch mit ihm gehst. Dazu habe ich mein Wort nicht gegeben und werde es auch nie geben. Und darüber diskutiere ich nicht.“ Dann küßte er mich ganz sanft: „Viel Glück, meine schwarze Rose. Charon hält immer sein Wort und wir sind direkt hinter dir.“ Damit war auch er weg. Jetzt wurde mir richtig mulmig, so alleine. Aber ich war schon bis hierher gekommen, dann schaffte ich auch den Rest. Mit dem Gedanken an meine Freunde setzte ich langsam einen Fuß vor den anderen. Am Ende des Ganges, um eine zweite Biegung, tauchte eine dunkle Gestalt auf. Ich stoppte kurz und legte dann das Messer und die Pistole vor mir auf den Boden. Dann ging ich vorsichtig weiter.

Der Fremde vor mir war komplett in Schwarz gekleidet und durch die schwarze Aura um ihn war er kaum auszumachen, nur eine sich nähernde noch tiefere Finsternis. Knapp einen Meter vor mir stoppte die Gestalt. Noch immer konnte ich kein Gesicht ausmachen. Aber er war groß, ich kam mir auf einmal so winzig, richtig unbedeutend vor. Er hatte eine sehr starke Ausstrahlung, selbst für ein Mitglied der Oscuro, er schien den Gang mit lebender Dunkelheit zu füllen. Er wirkte in der Tat gefährlich, stark und er bewegte sich mit der grazilen Kraft eines Tänzers. Erst als er an seinen Kopf griff, bemerkte ich, daß er eine Maske über dem Gesicht trug, die er nun abstreifte. Daher war er so schlecht zu erkennen gewesen.

Darunter kamen lange dunkle Haare zum Vorschein, fast in der Länge von Gabriels leicht lockiger Mähne. Er gehörte zu den dunkelhäutigen Typen, ohne dabei schwarz zu sein, möglicherweise ein leichter südländischer Einschlag, obwohl seine Gesichtszüge das nicht bestätigten. Augen wie die Nacht musterten mich forschend aber ohne Feindseligkeit. Nun, er haßte mich ja auch nicht, ich war nur ein ‚Auftrag’ für ihn. Schweigend starrten wir uns eine Weile an. Ohne die Entfernung und das leichte Echo klang seine Stimme nicht mehr ganz so bedrohlich aber immer noch sehr tief, als er meinte: „Du bist kleiner, als die Aufregung um dich vermuten läßt. Jetzt hat mein Auftrag erst einen Namen und dann noch ein Gesicht bekommen. Und jetzt, LaVerne, erzähle mir, oder besser, zeige mir, warum Fenian sich geirrt haben sollte. Und wähle deine Argumente gut, denn ich höre nicht oft zu.“

Ein Schlachtplan oder zumindest ein bißchen mehr geistige Vorbereitung wären jetzt bestimmt nicht schlecht gewesen. Bei Nathaniel war es einfacher gewesen, den konnte ich schon etwas einschätzen und der wirkte nicht so bedrohlich. Aber warum herumirren, ich konnte genauso gut mit seinen Worten beginnen: „Nun, ich weiß noch nicht, wie ich dich überzeugen soll, Charon. Aber eines gleich vorweg. Fenian hat sich nicht geirrt. Wobei die Betonung auf irren liegt. Denn er weiß sehr genau, wer oder was ich bin. Darüber gibt es keine Zweifel. Fenian hat sich nicht geirrt, sonder er hat dich belogen, so einfach ist das. Hast du den Aufschrei der Oscuro gehört, als das Los auf ihn fiel? Warum waren so viele Zirkel gegen diese Wahl, nicht nur der Corvus?“

Ich mußte ihn eine Weile beschäftigen, bis ich meine Gedanken sortiert hatte, die momentan munter in meinem Kopf durcheinander purzelten. Er antworte nach einem Moment der Überlegung: „Ich weiß es nicht, doch ich habe Gerüchte gehört, daß er, obwohl unabhängig, weiterhin dem Anguis-Zirkel Rechenschaft ablegen muß. Wie übrigens jedes Mitglied dieses Zirkels.“ Nun, das war zumindest ein guter Anfang. Eventuell lag hier der richtige Weg. Wenn ich nur wüßte, was Dezmont wirklich von mir wollte, hätte ich vielleicht noch bessere Argumente. Aber hier war jetzt etwas zu erledigen, also antwortete ich „Ja, das habe ich auch gehört. Bevor ich auf meine angebliche ‚Krankheit’ eingehe, will ich dir noch ein paar Dinge berichten.“ Ich erzählte kurz von unserem Besuch des Rates der Alten und davon, wie Scuro Paridus den Inhalt dieses Gespräches ausgeplaudert hatte – und daraufhin aus dem Rat ausgeschlossen wurde. Ich erwähnte nicht, warum wir dort waren, noch nicht. Ich berichtete weiter von der Jagd, die nach dem Besuch des Rates auf mich und meine Begleiter begann. Und daß hinter dieser Jagd Dezmont steckte.

„Jeden Teil dieser Geschichte können verschiedenste Leute bestätigen. Wenn du Scuro Tejat nicht traust, frage Scura Seraphina – wenn du sie finden kannst. Ich hörte, sie versteckt sich vor Fenian. Frage jemanden namens Sokrates, der verraten hat, wo ich wohne. Oder frage Gabriel und Kolya, warum sie Hals über Kopf das Haus verlassen haben und mit mir um die Welt geflohen sind. Jeder wird dir die Geschichte bestätigen. Und wenn ich gleich den Rest erzähle, behalte immer im Kopf, daß Darian seine Leute ausgeschickt hat, mich zu holen und daß Fenian ein Lakai des weißen Drachen ist.“

Hier machte ich eine Pause. Zum einen mußte ich Luft holen, aber ich wollte mich und den Rest meiner Kraft auch noch einmal sammeln. Und ihm dann die Wahrheit sagen. Ich hatte ja wohl kaum was zu verlieren. Und er würde, ähnlich wie Nathaniel, alles andere durchschauen und ich hatte meine Chance vertan. Doch bevor ich noch weiter reden konnte, hob die Gestalt vor mir die Hand. Mühsam unterdrückte ich den Impuls wegzuzucken. Aber er legte mir die Hand auf die Schulter und sagte mit ruhiger Stimme: „Bis hierher glaube ich deine Geschichte. Obwohl dein Besuch beim Deliberatio Aetas mehr als ungewöhnlich ist. Aber vieles paßt zusammen. Und wenn du magst, können wir im Sitzen weiterreden. Dies ist eine Unterhaltung, die nicht innerhalb weniger Minuten beendet ist.“

Ganz leicht drückte er mich nach unten und ich folgte, fast dankbar, denn meine Knie waren von der starken Anspannung schon ganz weich und ich fühlte mich zitterig. Also setzen wir uns: in einem unbeleuchteten Gang auf den Fußboden, vor und hinter uns Leute mit Waffen. Er zog die Knie an und legte die Arme fast entspannt um die Beine, ich wählte einen lockeren Schneidersitz. Er sah mich auffordernd an, also fuhr ich fort: „Jetzt die entscheidende Frage! Was hat uns veranlaßt, den Rat aufzusuchen, was ist so besonderes, daß Dezmont unbedingt seine Krallen nach mir ausstrecken muß? Es ist eigentlich ganz simpel: ich bin Nathaniel sehr ähnlich. Es gibt sicherlich Unterschiede, am deutlichsten zu sehen durch meine weiße Aura, aber im großen und ganzen bin ich wie er. Deshalb sind wir auch hier. Ich kann Wunden heilen, im Dunkel sehen, ich habe keine Problem mehr mit der Wirkung von Alkohol –“ ich stockte einen kurzen Moment und dachte grinsend an den Wein auf Gabriels Fest „– und ich kann ins Licht gehen, ohne Schaden zu nehmen. Auch mir wachsen lange Reißzähne. Ich gebe zu, daß niemand bisher ergründen konnte, was sie anrichten können, vorher müssen wohl einige Tests gemacht werden. Aber das ist die einzige konkrete Sache, die man vielleicht in die Nähe des Begriffs Gefahr stellen könnte.

Und all diese Dinge sind Tatsachen, die ich auch beweisen kann. Wenn du jetzt diese Gefahr betrachtest, die ich darstelle und dagegen die Bemühungen von Dezmont hältst, meiner habhaft zu werden, dann sollte der Befehl von Fenian zumindest fragwürdig, wenn nicht verdächtig erscheinen. Das ist die ganze Geschichte. Ich bin überzeugt, daß Fenian euch geschickt hat, da Dezmont bisher keinen Weg gefunden hat, mich zu erwischen. Ich weiß, daß Scuro Tejat versucht hat, euch zu erreichen. Entweder ist es ihm bisher nicht gelungen oder Fenian – nicht Scuro denn viele akzeptieren ihn nicht – war so überzeugend, daß ihr ihn ignoriert habt. Gabriel hat mir erklärt, daß ihr an das Urteil des Rates der Alten gebunden seid Aber bedenkt, wer dieses Urteil über mich gefällt hat. Und, daß es nicht der vollständige Rat war. Und wenn ich jetzt auch nur einen Funken Zweifel gesät habe, bin ich zufrieden. Jetzt liegt es an dir, Charon.“

Ich war völlig geschafft. Einige Zeit sagte er gar nichts, schaute mich nur an. Die tiefschwarzen Augen ließen nicht erahnen, wie er die Geschichte aufgenommen hatte, was in seinem Kopf vorging. Als er antworte, sprach er leise und etwas nachdenklich: „Tejat konnte uns nicht erreichen. Auf der Suche nach dir hielten wir uns verborgen und die Überfahrt hierher war eine Katastrophe, so daß wir mehr als einen Tag brauchten, um uns zu erholen.“

Der Gedanke erschreckte mich, daß sie schon auf der Insel gewesen waren, als ich meinen einsamen Spaziergang gemacht hatte. Manchmal war doch wirklich das Glück mit mir, aber ich war eindeutig leichtsinnig. Kolya hätte dazu vehement genickt.

„Du hast mir einen Rückweg angeboten, indem du sagst, daß Fenian alleine nicht der Rat der Alten ist. Da aber sonst keiner verfügbar war, müssen wir sein Wort als Beschluß akzeptieren. Also kann ich wohl dieser Straße nicht folgen.“

Mir sank das Herz ein wenig bei seinen Worten. Ich hatte wirklich gehofft, daß kein Blut fließen mußte, er sich irgendwie überzeugen ließ. Aber Charon war noch nicht fertig:

„Einiges von dem, was du gesagt hast, macht einen schrecklichen Sinn. Vor vielen Jahren hat Dezmont alle Hebel in Bewegung gesetzt, alles ihm Mögliche aufgeboten, um Nathaniels habhaft zu werden. Doch damals schon war ihm der Rat der Alten im Weg, allen voran natürlich Scuro Tejat, und Nathaniel standen Leute wie Bouvier und Gabriel und andere Freunde zur Seite. Allerdings habe ich nicht viel selber davon mitbekommen. Eine Tatsache ist auch, daß Nathaniel schon damals äußerst wehrhaft war und es noch immer ist.“ Zum ersten Mal schien fast so etwas wie ein leichtes Lächeln in seinem Gesicht aufzutauchen. Seine noch immer bedrohlich wirkende Erscheinung schien dadurch ein wenig menschlicher. Aber nur etwas. Und wieder hatte jemand Bouvier im Zusammenhang mit Nathaniel und Gabriel erwähnt. Sollte ich diese Situation einigermaßen unbeschadet überstehen, würde ich definitiv danach fragen. Jeder schien irgendwie jeden zu kennen und über sehr viel Bescheid zu wissen.

„Also bin ich jetzt die zweite Wahl, nachdem es bei Nathaniel nicht geklappt hat. Ein viel leichteres Ziel, neu in der Oscuro und noch dazu eine Frau.“

„Vielleicht.“ nickte er. „Hast du eine Ahnung, was er von dir will?“ Ich schüttelte den Kopf. „Das ist etwas, worüber wir schon nächtelang diskutiert haben. Ohne Resultat. Allerdings bin ich nicht unbedingt wild darauf, es von ihm selber zu erfahren. Und ich glaube kaum, daß es etwas Gutes ist, was ihn antreibt.“

„Nein, wohl eher nicht. Vielleicht habe ich da eine Idee. Aber das ist nicht unsere momentane Sorge. Oder eher deine. Die Frage bleibt, muß ich dich zu Fenian bringen, weil du gefährlich bist oder soll ich mich weigern, weil ich nur als Spielball benutzt werde.“ Er hatte es treffend auf den Punkt gebracht.

Aber meine Argumente waren verbraucht. Ich zuckte die Schultern: „Gabriel sagt immer: folge dem Herzen. Ich kann dir nur anbieten, meine Worte zu beweisen, aber ich kann dich nicht zwingen, mir zu glauben.“ Eine ganze Weile dachte er über meine Worte nach. „Du hast vorhin ein Messer weggelegt. Geh und hole es.“ Also stand ich auf, ging zurück und kehrte mit der kleinen silbernen Klinge zurück. Ich setze mich wieder vor ihn und reichte ihm das Messer mit dem Griff zuerst. Dieses Mal zeigte sein Gesicht eindeutig das Anzeichen eines leichten Lächelns. Er nahm es und schaute es genau an wie etwas, das er noch nie gesehen hatte.

„Die Klinge ist aus Silber und sehr scharf.“ Das war eine Feststellung und bedurfte wohl schwerlich einer Bestätigung durch mich. Noch immer hielt er sie in der Hand als er fort fuhr: „Du hast heute großen Mut und viel Ehre bewiesen. Du wärest bereit, dein Leben für das deiner Freunde zu geben. Obgleich Gabriel das niemals zulassen würde – es gar nicht könnte. Allein diese Geste hat mich bewogen, dir überhaupt zuzuhören. Entscheide mit dem Herzen sagst du. Eigentlich habe ich diese Freiheit nicht, aber heute werde ich den Kodex über den Rat stellen. Beweise mir, daß du das bist, was du gesagt hast. Gib mir dein Blut!“

Und mit diesen Worten reichte er mir die Waffe. Vorsichtig nahm ich sie ihm wieder ab. Dies war wichtig. Also setze ich, wie Nathaniel vor kurzem – oder vor einer Ewigkeit – die Klinge auf die Pulsader. Einen Moment zögerte ich aber dann machte ich einen entschlossenen Schnitt. Für mich, meine Freunde und meine Liebe. Ein leichtes Zupfen an der Hand war der ganze Schmerz, obwohl das Blut sofort floß.

Ich sah zu Charon hinüber, der mich nur schweigend beobachtete. Ich folgte mit meiner Zunge dem Schnitt und es hörte auf zu bluten; ebenso wie bei Nathaniel war nur noch einiges von dem Blut als Rest auf dem Handgelenk zu sehen, keine Narbe.

Charon streckte die Hand aus und ich reichte ihn das Messer. Er schob es wortlos zur Seite und griff statt dessen nach meiner mittlerweile wieder unversehrt aussehenden Hand. Zuerst inspizierte er den gänzlich verschwundenen Schnitt, dann zog er die Hand an den Mund und ließ seine Zunge vorsichtig über einige der übrig gebliebenen Blutstropfen gleiten. Selbst Scura Seraphina war nicht soweit gegangen, mein Blut direkt zu testen. Trotz Nathaniels Erklärung, daß nur Gefahr bei Gebrauch der Zähne bestand, sollte er, nach allem, was ich ihm erzählte hatte, so was nicht tun. Nachher war ich wirklich noch Schuld, wenn ihm ‚irgendwas’ passierte. Aber zumindest kurzfristig schien er keinen Schaden genommen zu haben. Wieder hatte einer dieser Männer nicht das gemacht, was man erwarten konnte. Er ließ meine Hand los und nickte.

„Das ist mir Beweis genug, daß du wahrheitsgemäß über dich berichtet hast. Es hat sich einiges in dem Moment geändert, in dem ich dein Blut in meinem Mund geschmeckt habe, LaVerne. –

Der Fluch des Blutes besteht immer aus fünf Personen. Eine von uns ist schwer verletzt. Ich werde jetzt zu ihnen gehen und wir werden beraten. Es geht dabei um sehr schwere Entscheidungen. Ich glaube dir, du hast mich überzeugt. Aber ich bin nur der Anführer, jeder von uns hat das Recht auf Mitsprache, so wie wir alle auch gemeinsam handeln müssen. Ich werde ihnen berichten, was ich von dir erfahren habe und wir werden eine Entscheidung treffen, der wir alle folgen werden. Kehre solange zu deinen Leuten zurück, ich werde rufen, wenn wir fertig sind.“ Er stand auf und bot mir die Hand. Als ich zugriff, zog er mich hoch wie eine Feder. Er sah nicht nur stark aus, er war es auch. Mit einen leichten Hochziehen der Mundwinkel reichte er mir den Dolch – mit dem Heft zuerst – drehte sich um und verschwand hinter der Biegung.

Ich tat es ihm gleich und ging auch zurück. Direkt hinter meinem Gang traf ich auf Gabriel und Nathaniel, die auf mich warteten. Mir war kaum bewußt gewesen, wie angespannt ich wirklich war, bis ich förmlich in Gabriels Arme wankte. Kurze Zeit stand ich so unbeweglich und nahm von der Kraft, die sein Körper mir spendete. Dann raffte ich mich auf.

„Tut mir leid, aber ich mußte ihm die Wahrheit sagen. Ich kann einfach nicht zulassen, daß ihr euch gegenseitig umbringt. Und alles andere hätte er nicht geglaubt.“ Noch immer hielt er mich fest im Arm. „Es ist schon gut, meine Rose. Du folgst halt deinem Herzen – wie wir alle hier. Und vielleicht war das sogar eine kluge Entscheidung. Ich kenne Charon nicht persönlich, habe aber verständlicherweise viel von ihm gehört. Ich bin schon erstaunt, daß er dir überhaupt zugehört hat. Wenn er einen Auftrag hat, kann nichts und niemand ihn stoppen. Und daß er jetzt noch nachdenkt, kommt einem Wunder gleich. Und wenn wir das hier ohne weiteres Blutvergießen beenden können … “ Er sprach nicht weiter. Aber ich spürte seine grenzenlose Verwunderung. Vielleicht war ich ja einfach noch zu unwissend oder naiv, um die ganze Tragweite dieser Ereignisse zu begreifen. Es mußte jedenfalls was Größeres sein, nach seiner Reaktion zu schließen. Dabei war es doch nur die Wahrheit.

Dann fiel mir was auf: „Wo sind Kolya und Tres? Ist er OK?“ „Soweit ja, Kolya versorgt seine Wunde. Er wird wieder fit werden, nicht so schlimm, obwohl es Silber war.“ Im Moment hatte ich einfach nicht mehr zu sagen. Ich war endlos erschöpft und wollte nur noch, daß es bald vorbei war. Wenn die Fünf sich gegen mich entschieden, würde ich versuchen, mit ihnen zu gehen. Der Entschluß stand ziemlich fest und selbst Gabriel würde mich nicht so ohne weiteres und widerstandslos davon abbringen können.

Aber noch war es nicht soweit. Ich lehnte mich enger an meinen dunklen Raben, sah kurz zu Nathaniel herüber, der an der Wand gelehnt stand, die Augen halb geschlossen aber die Körperhaltung wirkte kein bißchen schläfrig. Gabriel hielt mich nur im Arm, er bewegte sich nicht und hatte seinen Kopf an meinen gelegt. Obgleich sich unsere Körper berührten und kleine Fünkchen von ihm zu mir sprangen, blieb mein Verstand wach – dieses eine Mal triumphierte er. Aber ich spürte ganz deutlich die dunklen Schwingen, die mein Rabe schützend und beruhigend um mich und meine Seele breitete. Und mehr brauchte ich im Moment auch nicht. „Ich liebe dich!“ Ich flüsterte es fast, doch er faßte mich etwas fester und antwortete: „Ich dich auch, meine Schwarze Rose. Jeden Tag mehr und aus immer mehr und neuen Gründen.“

Wir warteten eine Ewigkeit. Vermutlich verging rund eine halbe Stunde, aber es war in Wahrheit ein halbes Menschenleben, das wir da umschlungen standen. Dann endlich waren im Gang leise Schritte zu hören. Charons Stimme klang klar zu uns: „Kommt raus, alle, die ihr da steht. Wir haben eine Entscheidung getroffen.“

Fragend sah ich Gabriel an, doch auch er konnte mir nicht sagen, ob diese Aufforderung etwas Gutes oder Schlechtes bedeutete. Und die Stimme war erneut keinerlei Anhaltspunkt. Mir war es im Endeffekt egal, ich hatte alles gegeben, Hauptsache, es war bald zu Ende – wie auch immer. Also trat ich als erste um die Ecke, dicht gefolgt von Gabriel und Nathaniel. Die zwei blieben stehen aber ich folgte dem Gang bis ich vor Charon stand, ungefähr dort, wo wir vorhin gesessen hatten. Hinter ihm waren am Ende des Ganges zwei weitere Personen auszumachen, aber auch sie hielten Abstand.

„Wir haben uns gestritten, das ist bisher noch nie vorgekommen.“ fing er an. Eine der Personen im Hintergrund bewegte sich leicht. „Aber am Ende sind wir doch zu einer Entscheidung gelangt, die wir alle akzeptieren werden.“ Dann schaute er an mir vorbei zu den beiden Männern hinter mir. Lauter sagte er: „Nathaniel, schwörst du bei deinem Blut, daß sie die Wahrheit gesagt hat?“

Obgleich wir uns erst so kurz kannten, er die Geschichte auch grad erst erfahren hatte, antwortete er sofort und ohne Zögern: „Bei meinem Blut und meiner Ehre.“ Charon nickte und wand sich dann wieder mir zu. „Nun, so sei es denn: der Imprecatio Curor wird die Autorität des Rates nicht anerkennen, soweit es die Auslieferung deiner Person betrifft. Der Fluch des Blutes wird erst wieder den Anweisungen Folge leisten, wenn mindestens zwei der drei Mitglieder des Deliberatio Aetas diese befehlen. Und mindestens eines dieser Mitglieder muß wenigstens für den Zeitraum von zwanzig Jahren dem Rat angehört haben. Wir betrachten den Auftrag, dich dem Ratsmitglied Fenian zu übergeben, als unrechtmäßig und werden ihn daher nicht ausführen.“

Er schwieg. Ich hatte gewonnen?  Wir hatten es geschafft? Ich konnte es kaum glauben. Aber noch war er nicht ganz fertig. Nach diesen Sätzen, die wohl nach einem alten aber für die anderen sehr wichtigen Ritual klangen, fügte er etwas ‚normaler’ hinzu: „Dir droht von uns keinerlei Gefahr mehr. Ich gebe dir mein Wort, das ich noch nie gebrochen habe.

Und noch eine Sache. Du fragst dich, was Dez von dir will. Vielleicht ist die Antwort darauf ganz simpel, so einfach, daß deshalb keiner darauf kommt. Deine Ähnlichkeit mit Nathaniel hat mich darauf gebracht und seine vergeblichen Versuche, ihn zu bekommen. Mein Tip lautet: Er will so sein, wie du und Nathaniel. Ganz simpel, ganz konsequent und äußerst logisch. Dezmont greift nach der Macht. Schon immer. Er schaltet Gegner aus und nimmt sich, was ihm nicht gegeben wird. Mit den Fähigkeiten, die du und Nathaniel haben, stände ihm nicht nur unsere Welt offen, sondern auch die der Sterblichen. Stell dir eine Armee von euch vor, die niemand stoppen kann. Wenn er das Geheimnis eurer Besonderheit enträtseln kann, sind wir vielleicht alle dem Untergang geweiht. Auch das ist ein Argument, warum wir dich nicht zu Fenian bringen werden und dürfen. Denkt darüber nach und dann versucht, eine Lösung zu finden, denn das darf niemals geschehen. Und als Schlußwort: Wir sind ab jetzt in eurer Nähe. Zum einen, um euch –  nein, dich – zu schützen, aber auch, um mit all unserer Macht zu verhindern, daß der Weiße Drache gewinnt. Wir werden an eurer Seite kämpfen, wenn ihr uns braucht. Und für dich LaVerne: Du hast viel gewagt hier. Viel Mut und viel Herz gezeigt. Auch dir gehört unser Dank, daß wir nicht Unschuld in Schuld gewandelt haben. Für heute sagen wir: wir sehen uns wieder, meine Brüder und dann in Freundschaft.“

Er nickte, drehte sich um und ging. Die beiden Gestalten am Ende des Ganges deuteten eine Verbeugung an, die ich mechanisch erwiderte und dann waren auch sie weg. Kein Wort darüber, wie sie die Insel verlassen wollten, wo sie hin gingen oder wann sie wieder auftauchen würden. Und es fragte auch keiner…

Bestandsaufnahmen und Reisepläne


And for every pit of darkness,
There's a light so pure divine
And I ask you to protect me
From those shudders and shivers down my spine   (Angels arise)

 Leicht benommen und wie in Trance ließ ich mich von Gabriel zurück führen. Irgendwann waren wir wieder im Aufenthaltsraum unter der Empore. Und die Lichter brannten wieder und schmerzten in den Augen. Kolya schaute alarmiert hoch, als wir drei den Raum betraten. Tres lag auf einem der Sofas, die Hose unten aufgeschnitten und mit dickem Verband um das Bein. Aber er war nicht mehr so blaß. Gabriel hob beschwichtigend die Hand, während Nathaniel mir ein Glas mit einer klaren Flüssigkeit reichte. Es brannte dermaßen, daß ich mit einem Schlag wieder voll da war und ihn entgeistert anschaute. „Selbst gebrannt. Nur für besondere Situationen,“ grinste er erklärend. Das war auch wohl besser, unter normalen Umständen wäre ich von dem Zeug jetzt vermutlich blind. Einen Angriff konnte ich überleben, einen freundschaftlichen Drink aber nicht, klasse…

„Was ist passiert? Wo ist der Fluch des Blutes und wieso seid ihr alle hier und wer hat das Licht wieder angemacht?“ Kolya war ernsthaft ärgerlich.

Während ich selbstmörderisch einen zweiten Schluck nahm, berichtete Gabriel ihnen von den Ereignissen, seid sie sich zurück gezogen hatten. Die rituellen Worte von Charon über ihren Urteilsspruch wiederholte er fast wörtlich. Nachdem er geendet hatte, saßen wir alle schweigend da, nur Nathaniel verteilte auch an die anderen Gläser mit diesem Gebräu. Vielleicht sollte ich sie warnen? Nein!

Kolya trank einen Schluck und verzog ebenfalls entsetzt das Gesicht: „Wenn du uns los werden willst, brauchst du es doch nur zu sagen. Vergiften funktioniert da nicht.“ So gewarnt nippten Gabriel und Tres nur. Letzterer erholte sich  zusehends. Er setze sich sogar auf. Und er war es auch, der das wieder eingesetzte Schweigen unterbrach: „Ich persönlich bin ja froh, daß das leidige Schießen vorüber ist. Dennoch erscheint mir der Ausgang dieses Abenteuers mehr als ungewöhnlich. Des Weiteren geben mir die sich möglicherweise ergebenden Auswirkungen dieser Entscheidung zu denken. Nicht, daß ich sie mißbillige. Nur, ist euch allen klar, was Charon damit in Gang gesetzt hat?“ Daß er von diesen letzten Stunden als ‚Abenteuer’ sprach, war schon eine feine Untertreibung. Aber während alle zu seinen letzen Worten mehr oder weniger nickten, sah ich es nicht ein, wieder als einzige unwissend zu bleiben.

„Nein! Und wenn bitte irgend jemand so nett wäre, diesen Zustand zu korrigieren…“ Alle sahen mich an, Kolya grinste sogar schon wieder. Wieder antwortete Tres: „Nun! Jetzt werden alle überzeugt sein, daß sich die Prophezeiung erfüllt. Darin steht klar und deutlich, daß die Fünf wider das Gericht entscheiden. Eigentlich paßt die ganze Passage sehr gut auf die letzten Monate, wenn ich es so bedenke. Die Drei sind der Rat der Alten, jetzt im Moment nicht existent. Die Fünf sind der Fluch des Blutes, die gegen die Entscheidung des Rates – sei es in diesem Fall auch nur Fenian – handeln. Und du bist das Licht mit der weißen Aura, die dich umgibt. Und ich bin sicher, Charon war sich dessen durchaus bewußt. Dennoch hat er sich so entschieden. Wem könnte man nach dieser Nacht noch verdenken, daß er denkt, daß er einen Teil der Prophezeiung erfüllt sieht. Sobald Charons Entscheidung bekannt wird, haben wir ein Chaos.“ Alle nickten wieder zustimmend. Konnte denn wirklich nicht ein einziges Mal etwas einfach nur gut sein, gab es denn wirklich immer einen Haken?

„Herrje, hätte ich denn zusehen sollen, wie ihr euch alle gegenseitig umbringt?“, brauste ich auf. Gabriel lächelte nur und antwortete dann: „Du kennst die Antwort. So war es besser, daß wußte sogar Charon. Ich bin sehr beeindruckt von ihm. Übrigens auch von seinen Worten über Dezmont. Alles macht irgendwie Sinn. Wie er schon sagte, die Lösung ist vielleicht von Anfang an vor unserer Nase gewesen. Ich denke, er hat den Punkt getroffen – zum größten Teil zumindest.“

Ach ja, das ja auch noch. Das mein Leben nur nicht langweilig wurde. Und ich hegte keinerlei Illusionen, daß ich mich bei dieser Person ebenfalls mit Reden aus der Schlinge ziehen konnte. Dafür hatte ich schon zu viel gehört. Wie gut, daß Charon sich so entschieden hatte. –

Eine Weile war ich unaufmerksam gewesen. Die vier Männer stritten sich lebhaft über unsere nächsten Schritte. Und da die Chance, daß ich auch nur mitreden durfte, ungefähr so groß war, wie die berühmte Nadel im Heuhaufen zu finden, verabschiedete ich mich: „Leute, ich lege mich hin. Ich bin völlig erschlagen, ihr braucht mich hier nicht – tatsächlich könnt ihr vermutlich ohne mich viel offener reden – also fahre ich hoch und schlafe. Bis morgen.“ Ich wußte selbst nicht, warum ich meine Worte so gewählt hatte, vielleicht, weil die Anspannung noch nicht ganz abgefallen war. Aber immerhin war es ja auch wahr. Also ließ ich sie mit diesem leicht bissigen Kommentar sitzen und fuhr hinauf in mein Gästezimmer. Und trotz der Aufregung fiel ich sofort in einen bleiernen Schlaf.

Erst am nächsten Nachmittag ließ ich mich wieder blicken. In meinem Zimmer fanden sich ein Obstkorb und eine Kanne mit Tee und damit kehrten auch meine Lebensgeister zurück. Eigentlich müßte meine Laune bestens sein, ein großes Problem weniger und unsere Gruppe weitgehend unbeschadet. Trotzdem. Ich fühlte mich etwas ausgelaugt aber das konnte auch eine Nachwirkung der letzten Ereignisse sein,. Mit einem Kopfschütteln wischte ich die Gedanken weg und fuhr in den Keller.

Auf Anhieb war niemand zu sehen, aber der Trainingsraum stand etwas offen und seltsame Geräusche drangen heraus. Also ging ich leise zur Tür und schielte um die Ecke. Gabriel und Nathaniel waren am Trainieren. Genauer gesagt, beide hatten ungefähr zwei Meter lange, dicke Holzstangen in den Händen, mit denen sie sich gegenseitig heftig attackierten. Sie trugen beide nur Trainingshosen und waren barfuß und scheinbar schon eine ganze Weile dabei, denn die Oberkörper glänzten vom Schweiß – und sie bemerkten mich nicht einmal. Nathaniel holte mit seinem Stock von oben aus, Gabriel hielt seinen mit beiden Händen über den Kopf als Blockade. Nathaniel machte eine so schnelle und fließende Bewegung, daß ich sie kaum sehen konnte und griff von der Seite an. Der Tiger zeigte seinen Muskeln. Aber Gabriel hatte mindestens genauso schnell reagiert und blockte mit einem senkrechten Schlag wieder ab. Und ohne abzusetzen konterte er mit einer Aufwärtsbewegung, die Nathaniel dann wieder abwehrte. Beide hatten eine unglaubliche Geschwindigkeit, bewegten sich mit der gefährlichen Grazie von Raubtieren und mußten irgendwie die Attacken des Gegners vorausahnen und nur in den Momenten, da sie die Stäbe gegeneinander drückten und unsichtbar für das Auge ihre Kräfte maßen, gab es eine Art von Pause. Während einer dieser bewegungslosen Momente bemerkte ich, daß bei beiden die Zähne gewachsen waren. Ganz leise und vorsichtig zog ich mich zurück. Dies war privat und ging mich nichts an.

Am Abend, als es dunkel war, fanden wir uns zum ersten Mal alle gemeinsam im gläsernen Zimmer ein. Nathaniel berichtete von einigen Neuigkeiten: „Ich habe heute eine Nachricht von Charon erhalten. Er wird Fenian nicht von seinem Beschluß informieren, nur, daß es auf Grund der Lage meines Hauses zu Problemen gekommen ist und er uns weiter folgen wird. Somit haben wir in doppeltem Sinne Zeit gewonnen: Niemand weiß etwas und solange Fenian glaubt, daß er uns jagt, wird er niemanden anders schicken. Ich habe seine Taube umgehend… – LaVerne! Was ist, wieso lachst du?“ – „Taube? Doch nicht etwa eine Brieftaube?“ Ich konnte fast nicht sprechen, so mußte ich lachen. „Ja, natürlich! Es gibt keinen besseren Weg der Kommunikation!“ – „Nach all den vielen hundert Jahren, die ihr Zeit gehabt habt, euch etwas einfallen zu lassen, seid ihr noch immer bei Tauben. Manchmal seid ihr unglaublich.“ Unauffällig wischte ich einige Tränen aus dem Auge. Gespielt beleidigt und etwas süffisant meinte er: „Nun, zum einen hatten wir immer was anderes zu tun und außerdem, was spricht gegen Tauben?“ „Davon abgesehen, daß sie unzuverlässig und langsam sind? Schon gut, ich höre ja auf, aber noch ein kleiner Tipp, wenn ihr irgendwann mal modern werden wollt. Es gibt Möglichkeiten, Nachrichten zu verschlüsseln, sogar die Möglichkeit, den Standort von bestimmten Geräten zu fälschen. Aber erzähl ruhig weiter, ich lach noch ein bißchen und bin dann still.“

Kolyas Blick war eindeutig gequält, ich kannte ja sein Verhältnis zu moderner Technik. Fehlte eigentlich nur noch, daß jemand das als Teufelswerk abtat. Mein Rabe grinste fröhlich über meinen Ausdruck, Tres wirkte nachdenklich aber er war ja auch noch lange nicht fit. Nathaniel räusperte sich und fuhr fort: „Also! Ich habe ihm sofort eine Nachricht zukommen lassen, daß wir noch gut zwei bis drei Tage hier bleiben werden und uns dann trennen. Sobald wir die nächsten Schritte ausgearbeitet haben, werde ich ihn wieder kontaktieren.“ Er warf mir einen vielsagenden Blick zu, der wohl vorwurfsvoll sein sollte, mußte am Ende dann aber doch mitgrinsen. Kopfschüttelnd griff er nach seinem Glas. „Also, was jetzt?“

Gabriel sah zu mir rüber. Dann meinte er: „Nun, wir werden bei Mikail erwartet, aber es gibt keinen festen Termin – es eilt nicht. Genau wie Charon müssen auch wir uns um die Verletzten kümmern – den Verletzten.“ Er grinste Tres an, der die Hand hob: „Ist eigentlich nur eine größere Kleinigkeit, aber ich kann nicht lange stehen und ständig wird mir schwindelig.“ Und Kolya fügte hinzu, „dabei hast noch Glück gehabt, das hätte viel schlimmer kommen können.“ Gabriel mischte sich wieder ein: „Was wir schon beim Treffen des Zirkel besprochen haben: wir sollten die aufsuchen, die zu uns stehen. Meine Leute sind schon dabei und durch Gideons Informationen sind noch ein paar Namen dazu gekommen.

Aber einer ist unter diesen Leuten, dem ich alles gerne selber erzählen würde, und nicht nur die ganze Geschichte über LaVerne, er sollte auch von unserer Versöhnung erfahren und er darf  - nein, muß – auch von Charons Entscheidung erfahren. Es wäre sicher ein Umweg auf dem Weg zu Mikail, aber ich würde ihm gerne in die Augen sehen, wenn ich berichte.“ Dann schaute er mich an, schwieg kurz und reduzierte dann meine Aufmerksamkeit ganz gewaltig mit einem strahlenden Lächeln: „Du kennst ihn, ich spreche von Bouvier St. Roche, dem Kader des Colubra-Zirkel. Er hat seinen Sitz in Kanada und es wäre sicher ein weiter Weg. Also, schwarze Rose, wärest du einverstanden, wenn wir ihn besuchen, bevor wir zu Mikail und Berenice reisen?“ Ich sah in völlig entgeistert an und wußte auch sofort, warum er so gelacht hatte. Sein völlig unschuldiger und betont unwissender Blick war Beweis genug. Er hatte tatsächlich mich gefragt, ob ich mit der Entscheidung der Reiseroute einverstanden war. Wie war das passiert, seit wann genau wurde ich gefragt. Und wieso hatte ich dieses verdächtige Gefühl, daß vielleicht schon eine Entscheidung getroffen worden war. Doch ich sollte ja wohl weit über solchen bösen Gedanken stehen:

„Natürlich, Gabriel. Ich erinnere mich gut an ihn.“ Ich warf Kolya einen bedeutsamen Blick zu, den er grinsend erwiderte. „Es würde mich freuen, ihn zu treffen und wenn wir doch keine Eile haben…“ Gabriel lächelte noch immer doch es war ihm deutlich aufgefallen, daß er diesen kleinen Austausch nicht unbedingt gewonnen hatte, nur schien er keine Ahnung zu haben, warum das so war. Und als er etwas fragend Kolya anschaute, fand der gerade sein Weinglas schrecklich interessant. Fragend sah er mich wieder an, aber ich hob nur gespielt unschuldig die Augenbrauen. Er seufzte leicht: „Tolle Freunde – nun gut. Nathaniel, wir werden also abreisen. Übermorgen Abend. Kolya, LaVerne und ich nehmen das Flugzeug. Wenn Tres wieder soweit reisefit ist, soll er nach Rumänien kommen – und du bist ganz herzlich eingeladen ihn zu begleiten. Du weißt, daß du dort jederzeit wirklich willkommen bist. Du solltest auch Charon von unseren Plänen unterrichten, damit er Zeit hat, seine eigene Reiseroute zu planen. Es wäre wundervoll, wenn wir uns alle bei Mikail treffen könnten. Ein echter Festtag.“

Irgendwann in der fernen Zukunft meines einstmals normalen Lebens hatte ich vorgehabt, eine Weltreise zu machen. Eigentlich fehlten nur noch ganz wenige Punkte auf meiner persönlichen Landkarte und ich hatte diese Reiseroute innerhalb weniger Monate absolviert, wenn auch anders, als geplant. Während Nathaniel die Nachricht an Charon in Angriff nahm, blieben wir sitzen und starrten in den zunehmenden Mond. Ich suchte nach der Fernbedienung und demonstrierte meine ganz eigene Art von Magie, indem ich für Musik sorgte: diesmal floß Smetanas Moldau durch die Dunkelheit. Ich setzte mich auf die Armlehne von Gabriels Stuhl, er legte sanft einen Arm um mich und still genossen wir alle eine zeitlang die Musik. Mein Rabe war verführerisch warm, duftete nach Gabriel und wo seine Finger gedankenverloren über meinen Rücken strichen, hinterließen sie die wunderbar vertrauten kleinen Brandherde. Ganz bewußt schickte ich ihm eine Botschaft aus meiner Seele, griff ganz kurz nach seinem Herzen, obwohl ich versprochen hatte, es nicht zu tun. Nur einmal – und ganz kurz. Er sah auf und seine Augen waren tiefste Dunkelheit – wie damals. Sie sprachen von dem Feuer, das immer zwischen uns schwelte und nur einen Lufthauch brauchte, um sofort hell zu lodern. Einen Hauch dieser Glut schickte er mit seinem Blick an mich zurück, damit verbunden ein Versprechen: eines Tages, in unserer Zukunft, würde es keine Bedenken geben, keine Grenzen, dann gehörten wir uns ganz. Noch einen Moment ließ ich mich durch seine Augen in seine Seele führen, wärmte mich dort und verließ ihn dann. Aber nicht, ohne ihm vorher einen sanften Kuß zu geben, den er mit geschlossenen Augen erwiderte.

Am nächsten Tag fragte ich Nathaniel, ob wir noch eine Fahrt mit dem Schnellboot machen könnten und er stimmte begeistert zu. So verbrachten wir den Nachmittag auf dem Wasser im Kampf gegen die Wellen. Meine Haut brannte vom Wind und vom Salzwasser und wieder waren wir komplett durchnäßt aber es war herrlich. Ich wäre am liebsten gar nicht mehr an Land gegangen, hier fühlte man sich frei und so lebendig. Aber irgendwann wurde es einfach zu kalt. Wir trennten uns in den Schlafzimmern und ich gewann den Wettlauf zur Dusche.

Erfrischt und in ein großes Badetuch gehüllt, kehrte ich ins Schlafzimmer zurück, um mir für den letzten Abend etwas Schönes aus dem Kleiderschrank zu fischen. Da tauchte Nathaniel in der Tür zu meinem Raum auf, nur in Shorts bekleidet. Auch er war frisch geduscht, das Wasser tropfte noch aus seinen Haaren. Kurz vor mir blieb er stehen und sah mich von oben bis unten an – das Handtuch kam mir plötzlich so klein vor. So hatte er mich eigentlich nicht mal beim ersten Zusammentreffen gemustert. Er sagte nichts, strahlte wieder seine typische Gelassenheit aus und sein Blick ließ nicht erkennen, was hinter den grauen Augen vorging. Ich hielt seiner Musterung trotz meiner unzulänglichen Bekleidung stand.

Dann trat er den letzten Schritt auf mich zu und griff nach meiner Hand. Er zog sie an seinen Mund und küßte die Stelle, wo ich die Pulsader geritzt hatte – obgleich keine Narbe geblieben war. Der nächste Kuß landete in der Armbeuge und dann berührten seine Lippen sanft die Bereich zwischen Hals und Schulter, die Stelle, die sie oft für denn Blutstausch verwendeten. Seine Haut war noch warm von der Dusch, doch trotzdem bekam ich eine Gänsehaut. Eigentlich sollten wir uns nach so wenigen Tagen noch fremd sein, aber ich hatte das Gefühl, ihn schon lange zu kennen. Also legte ich meinen freien Arm um seine Schulter – die andere Hand brauchte ich dringend, um das Handtuch an seinem Platz zu halten. Einen Moment verharrten wir so, ich spürte nur seinen warmen Atem auf meiner Haut. Dann schob er mich ein klein wenig zurück und schaute mich mit schief gelegtem Kopf an. Jetzt waren wieder die grünen Punkte in seinen Augen. Dann beugte er sich zu meinem Ohr. „Dies ist meine Gelegenheit, mich von dir zu verabschieden. Ich bin selbst überrascht, aber ich werde Tres nach Rumänien begleiten und euch dort treffen. Es ist Zeit zu handeln. Aber bevor ihr aufbrecht, bitte ich dich um einen Gefallen, etwas, was du mir schenken sollst.“

Er machte eine kurze Pause. Und griff mit beiden Armen um mich herum. Was immer es war, wenn er noch näher kam, sah ich kaum eine Möglichkeit, ihm etwas abzuschlagen. Und natürlich zog er mich noch fester an seinen warmen Körper und fuhr dann fort: „Zeig mir deine Zähne, Lumina.“ Die Bitte war ungewöhnlich, selbst innerhalb der Oscuro, soviel hatte ich gelernt, aber wenn jemand sie sehen durfte, dann doch wohl er. Entschlossen legte ich also auch den zweiten Arm um ihn und küßte ihn dann aufs Schlüsselbein – höher konnte ich nicht gelangen. Durch den Druck und mit viel Glück blieb das Handtuch – vorerst – wo es sein sollte. „Das würde ich gerne tun, aber du mußt mir dabei helfen, Nathaniel – ich bin noch ein Anfänger auf dem Gebiet, vermag sie kaum zu kontrollieren.“ „Nein, ein Naturtalent.“ Damit küßte er mich, tief, mit viel Leidenschaft und Verlangen. Er hatte eine sehr starke Persönlichkeit, die mich berauschte, in ihren ganz eigenen Bann zog. Irgendwann gehorchte dann mein Handtuch auch den Gesetzen der Schwerkraft. Seine Hände erkundeten die neu entstandenen Flächen und verstärkten die Gänsehaut erheblich. Dann legte er eine seiner Hände um meinen Nacken unter den Haaren und drehte meinen Kopf, bis ich zu ihm aufschaute. „Nicht denken, Lumina, fühle nur und laß dich fallen.“ Jetzt waren seine Augen fast grün, nur noch Reste von Grau. Ich lehnte mich in seinen Griff, schloß die Augen, genoß seine forschenden Finger auf meiner nackten Haut. Nun, da ich beide Hände frei hatte, konnte ich sie auch einsetzen. Sanft ließ ich meine Fingerspitzen von Nathaniels Schlüsselblättern abwärts wandern,  an den schmalen Hüftknochen vorbei und dann nach vorne, soweit ich gelangen konnte, ohne den Körperkontakt mit ihm zu verlieren. Nach den Adrenalinschüben auf dem Schnellboot begann mein Herz erneut zu rasen, während eine seiner Hände meinen Unterleib fester an ihn drückte. Ich spürte deutlich seine wachsende Erregung, wurde davon mitgezogen und unser beider Atem beschleunigte sich, der eine erregt durch das Begehren des Anderen. Ich sah ihn an, und doch nicht, nur meine Seele nahm ihn in diesem Moment wirklich wahr, der Blick ging ins Leere und doch war seine Zuneigung zu mir – und auch sein Verlangen – deutlich zu sehen. Und ich fühlte es ebenfalls. Als er mich fest an seine Erektion preßte, mußte ich schwer atmen und dann waren sie auf einmal da, ich spürte, wie die Zähne wuchsen.

Sehr vorsichtig öffnete ich den Mund und küßte dann erneut Nathaniels Schlüsselbein. Der atmete tief durch. Als ich ihn ansah, waren auch seine Augen fast geschlossen, ein schmaler grüner Schimmer, aber er lächelte mich mit seinen Reißzähnen an. Die Raubkatze war erwacht. Doch er war ebenfalls vorsichtig, wir küßten uns trotz des brennenden Verlangens in uns beiden eher sanft, ohne daß auch nur ein Tropfen Blut geflossen wäre. „Danke!“ hauchte er in mein Ohr. „Es war mir ein Vergnügen“ flüsterte ich zurück. Ungelogen. Noch etwas unwillig und eher zögerlich ließen wir voneinander ab. Es war einfach nicht die richtige Zeit, der richtige Ort, um weiter zu gehen. Wir atmeten in diesem Moment wohl beide tief durch. Nathaniel bückte sich, hob das Handtuch auf und rechte es mir: „Obwohl abtrocknen etwas sinnlos erscheint.“ Das sah ich ebenso und falsche Scham war hier nicht angebracht: „Behalte es, aber jetzt raus mit dir, ich will mich für den Abend umziehen und das würde ich gerne alleine tun.“ Er nickte, warf mir einen Kuß zu und verschwand mit dem Tuch. Beim Anziehen und fertig machen ließ ich mir dann viel Zeit.

In dem großen Raum unter der Empore war festlich gedeckt worden, inklusive einer Unmenge von Kerzen. Alle trugen angemessene Kleidung, soll heißen, mein Rabe schwarze Lederhose und ein weit geöffnetes dunkelrotes Seidenhemd, was mehrfach zu Unaufmerksamkeiten von mir bezüglich der Unterhaltung führte. Einige Male mußte ich mich zusammenreißen, ihm nicht durch die Haare zu streifen, wenn sich wieder eine der dunklen Locken munter irgendwo kringelte, wo sie nicht hin gehörte. Womit hatte ich eigentlich die Liebe dieses ungewöhnlichen Mannes verdient – und das Ungewöhnliche bezog sich wahrlich nicht auf Äußerlichkeiten.

Es wurde ein herrlicher Abend. Wir unterhielten uns, wir lachten, aßen mehr, als uns gut tun konnte und tranken dazu viel – zu viel Wein, zum Glück ohne die schlimmen Folgen.

Nathaniel grinste Kolya an: „Und, freust du dich schon auf die Überfahrt zum Festland? Der Wetterbericht hat klare Sicht angesagt und du könntest an Deck den herrlichen Ausblick genießen!“ Kolya fand die Bemerkung gar nicht so witzig und auch Gabriel machte ein wenig begeistertes Gesicht. Und als ich dann entgegnete, daß ich eigentlich viel lieber mit dem Schnellboot fahren würde, warf Gabriel mit einem Brotrest nach mir. Nathaniel lachte und meinte dann: „Tut mir leid, ich muß euch alle enttäuschen, aber ich habe eine kleine Überraschung für euch organisiert. Gegen fünf kommt ein Hubschrauber und wird euch zum Flughafen bringen. Euer Jet wartet da schon auf euch. Ich habe leider nur einen kleinen Landeplatz auf der Insel, das reicht nicht für ein normales Flugzeug. Sehr enttäuscht, Kolya?“ Dessen Enttäuschung manifestierte sich in einem Grinsen, daß locker die Ohren verband: „Du bist ein echter Freund Nathaniel! Wie kann ich meine Dankbarkeit zum Ausdruck bringen? Vielleicht ein paar Unterrichtsstunden im Faustkampf?“ Die Antwort kam prompt: „Klar, tolle Idee, als Lohn darf ich dich verprügeln – als ob du mir noch was beibringen könntest…“ Und so ging es weiter. Mir war es eigentlich egal, die Jacht war beeindruckend aber ein Helikopter war ein besonderes Transportmittel – bestimmt genauso gut, wenn nicht besser. Außerdem hatte ich auch ein wenig Mitleid mit meinen Freunden, sie waren ja noch Stunden danach völlig verändert. Nein, das war ein toller Gedanke von Nathaniel gewesen.“

Von Ferne konnten wir ihn schon hören und wir mußten uns beeilen, die letzen Sachen zusammen zu suchen. Der Abschied war kurz aber herzlich, wir würden uns ja alle in Rumänien wieder sehen. Ruckzuck waren wir am Landeplatz und bekamen noch einen Rest des Windes zu spüren, den die Rotoren erzeugten. Zwei normale Fremde begrüßten uns und wiesen auf die hinteren Bänke. Mit ohrenbetäubendem Getöse und einer ungewohnten Vorwärtsbewegung hoben wir ab und es ging Richtung Festland. Ich erhaschte noch einen Blick auf Nathaniels Haus aber dann waren wir über dem Wasser. Im Flugzeug spürte man ja eigentlich nur Start und Landung, aber hier war es anders: neben dem ständigen Dröhnen meldete der Körper jede noch so kleine Richtungsänderung, mal zur Seite oder auch auf und ab. Und das sollte in Kolyas Augen harmloser sein, als eine Schiffspassage?

Viel zu schnell landeten wir in der Nähe eines zurückgesetzten Hangars des örtlichen Flughafens. Gabriels Männer waren per Boot vorausgefahren und warteten bereits an Bord. Die Dämmerung setzte schon ein, als wir in den Jet stiegen. Der mittlerweile bekannte Anblick begrüßte uns: Lichtgeschützte Kabine, Sitzgruppe, Minibar und einer von Gabriels Männern, der uns zu den Sitzen brachte und mit Getränken versorgte. Wir mußten eine ganze Weile warten, bis es wieder in die Luft ging. Unser Ziel – vorerst – war Vancouver und von dort aus würde ein Minibus für uns bereit stehen. Allerdings würden wir vorher einige Zeit im Flugzeug warten müssen, denn es gab keine speziellen Hangars, und wir mußten warten, bis es dunkel genug geworden war. Am Ende dauerte es aber nicht so lange, daß uns noch langweilig wurde.

Wir hatten uns auf den Sesseln ausgestreckt, wir wurden mit Getränken versorgt und es gab einen Fernseher. Für uns eine ungewohnte Beschäftigung, aber für einige Zeit doch sehr unterhaltsam.

Von Schlangen und Raben


There's no such thing as too far
I've got to be where you are
Going all the way is just a start
The crusaders of the heart

 Erst als Gabriels Mann uns Bescheid sagte, daß wir umsteigen sollten, machten wir uns fertig. Draußen war es erheblich kälter als auf Nathaniels Insel und fröstelnd ließen wir uns in dem großen, dunklen Van nieder. Nur unser ‚Steward’ begleitete uns. Sofort ging die Fahrt los. Wir saßen auf eher zweckmäßigen als bequemen Bänken hinten, Kolya und Dyke – unser Aufpasser – saßen rückwärts fahrend, Gabriel und ich ihnen gegenüber. Und da die Fahrt auch noch ins Gebirge ging – die Rockies waren nicht weit – hatten wir Allradantrieb aber dafür nicht unbedingt Fahrkomfort. Als wir die Hauptstraßen verließen, wurde die Fahrt noch deutlich ungemütlicher. Und so ging es einige Stunden weiter, an eine Unterhaltung war gar nicht zu denken, zum einen war es auch hier ziemlich laut und außerdem war jeder mehr oder weniger damit beschäftigt, sich irgendwo festzuhalten oder abzustützen. Nachdem ich zweimal recht unsanft bei Gabriel in den Rippen gelandet war, legte er einen Arm um mich und hielt uns beide. Lächelnd drückte er mir einen Kuß auf die rechte Wange anstatt auf den Mund, wo er eigentlich hingezielt hatte – danke an ein weiteres Schlagloch. Endlich wurden wir langsamer.

Wir stiegen in einer noch sternklaren Nacht aus, obgleich sich im Osten ein ganz leichter heller Schimmer zeigte. Aber es gab in der Nähe keine Stadt und damit kein künstliches Licht und der Himmel war übersät mit Milliarden von Sternen. Etwas steif und durchgeschüttelt gingen wir auf ein seltsames Gebäude zu, das an einem kleinen See lag. Rundum von Wald eingeschlossen, in einiger Entfernung Berge und ein Geruch nach feuchtem Gras und fremden Tieren waren die ersten Eindrücke. Wenn es hier Strom gab – Leitungen konnte ich nicht sehen – war das für die abgelegene Gegend schon wirklich ein Fortschritt. Aber bei diesen Leuten setzte ich mittlerweile gar nicht mehr voraus. Aus dem dunklen Schatten des ‚Gebäudes’ trat ein alter, zerknitterter Mann ohne Aura, um uns zu grüßen. „Sie werden erwartet. Folgen sie mir bitte.“

Der erste Eindruck von unserem Ziel war alles andere als ermunternd. Wir standen auf jedem Fall nicht vor einem Haus, so viel war klar. Es schien sich eher um ein altes Fabrikgebäude zu handeln, die langgezogene Seite schien aus Wellblech zu bestehen. Zwei bis drei Stockwerke hoch, ohne Fenster oder anders geartete Öffnungen und alles wirkte verlassen und ungastlich. Der Mann war aus einer kleinen Tür an der Schmalseite getreten. Ich schwankte zwischen Verwunderung und leichtem Mißtrauen, als ich den drei Männern ins ‚Haus’ folgte. Der Eindruck hatte nicht getäuscht, es war ein Fabrikgebäude, eventuell eine alte Eisengießerei oder vielleicht ein Stahlwerk. Aber: Es war eine eindrucksvolle Aussicht, die sich vor uns auftat und zumindest ich blieb erstaunt stehen.

Rechts wäre die Wellblechwand gewesen, die aber von innen mit Stahlträgern und Beton massiv verkleidet war. Hier befanden sich die geheimnisvollen Maschinen, die solch eine Fabrik benötigt. Wir traten von der Eingangstür direkt in die ehemalige Produktionsstätte. An der linken Seite befanden sich auf ebener Erde große, offene Räumen, nach vorne ohne Wand, ähnlich wie Pferdeställe, nur wesentlich größer. Die Etage darüber war etwas länger in die Halle gebaut, als die Decke des Erdgeschosses, so daß es aussah, als wären die unteren Räume mit einer Markise versehen. Die Räume in diesem Geschoß waren durch Glaswände voneinander getrennt, während der Überhang davor eine Art durchgehenden Balkon bildete. Darüber befand sich das letzte Stockwerk, wiederum mit einer Balustrade aus Stahl davor. In diese Räume konnte man nicht hinein sehen. In regelmäßigen Abständen führten Wendeltreppen – auch aus Metall – nach oben. Der restliche Teil der Halle war von Stahlträgern durchzogen, Kesseln, überall hingen Ketten von Decken und Balken und geheimnisvolle Rohre kreuzten sich in verschiedenen Höhen. Alles wurde von einem rötlichen Licht beleuchtet, das von verschiedenen Feuern stammte, die in offenen Kesseln flackerten. Gegen die Kälte draußen war es mollig warm.

Durch das Starren hatte ich ein wenig den Anschluß an unsere kleine Gruppe verloren, die schon bei der ersten Wendeltreppe angekommen war. In den offenen Räumen unten brannten ebenfalls Feuer, aber die Einrichtung stand im krassen Gegensatz zu den vorherigen Eindrücken. Es gab darin Sofas, Tische, ein Raum beinhaltete eine moderne Küche und einer einen Pool-Tisch. Und wenn es auch keine Wände und Türen nach vorne gab, so waren alle Räume doch mit dicken Vorhängen ausgestattet, die nur aufgezogen waren. Die Wohnungen sahen gemütlich aus und bei genauem Hinsehen erheblich größer, als man vermutet hätte, weil sie weit nach hinten gingen. Vor der Treppe warteten die anderen und ein wunderschöner Husky kam wedelnd aus einem der Räume. Gabriel bückte sich – offensichtlich kannten die zwei sich – und kraulte das Tier liebevoll. Der Husky drehte sich begeistert im Kreis und legte sich dann hin. Dann kletterten wir Gäste die Treppe rauf.

Und hier empfing uns der Kader des Colubra-Zirkel, Bouvier St. Roche. Seine Zähne – sie waren mir deutlich in Erinnerung geblieben – blitzten und dann hatte er Gabriel im Arm. Wie schon vermutet, war er etwas größer aber weniger muskulös. Sie umarmten sich lange und herzlich, ohne ein Wort zu sprechen oder sich zu bewegen. Bouvier war aber nicht alleine. Still stand eine junge Frau in einer der gläsernen Türen und lächelte scheu zu uns rüber. Am Bemerkenswertesten war, daß sie keinerlei Aura hatte. Dann endlich traten die zwei etwas zurück und Bouvier sah zu mir rüber. „Der Engel aus dem Schloß! Was für eine wundervolle Überraschung, daß du meine Einladung doch noch annimmst und mich besuchst.“ Wieder waren die relativ kurzen Haare mit Gel zurück gekämmt und die Augen strahlten mich an. Als er auch mich umarmte, strahlte er Wärme aus und wieder hatte er diesen Kribbel-Effekt auf meinen Magen. Er hielt mich mit mehr Kraft fest, als man vermuten sollte und seine Hände lagen nicht unbedingt still. Als er mich nach einem zarten Kuß auf die Wange losließ, war ich fast ein wenig enttäuscht. Er hatte eine unglaubliche Wirkung und es stand zu vermuten, daß er das auch wußte. Seine Umarmung mit Kolya war dann wieder wesentlich fester.

Dann strahlte er begeistert in die Runde: „Es ist einfach phantastisch, daß ihr hier seid. Ich habe Neuigkeiten und es gibt bestimmt auch von euch viel zu erzählen. Aber das muß noch etwas warten. Ich möchte euch jemanden vorstellen: Dies reizende Wesen ist Liobá, eine gute Freundin.“

Sie griff nach seiner ausgestreckten Hand und lächelte ihn an. „Mein Schatz, darf ich vorstellen: Gabriel, ein Jugendfreund. Wir sind zusammen aufgewachsen und wenn wir uns dann endlich mal wieder sehen, müssen wir stundenlang reden, Wein trinken und Neuigkeiten austauschen. Das werden wir auch noch tun, aber später. Zusammengefaßt wir sind fast Brüder.“ Gabriel hielt galant seine Arme auf und ohne zu zögern umarmte auch sie ihn. Offensichtlich wirkte er auf sie ähnlich, wie auf mich damals und noch heute. Sie riß sich sichtlich zusammen, als sie losließ. „Dieser stattliche Mann ist Kolya. Gabriel bekommt man eigentlich nicht ohne ihn zu sehen, er ist Freund, Beschützer und Berater. Und immer für einen guten Kampf zu haben. Und dabei immer nett und hilfsbereit.“ Auch ihn umarmte sie und er ließ die geboten Vorsicht walten, während er wieder sein breites Grinsen zeigte. Liobá war sichtlich beeindruckt von unserem Muskelberg. Dann kam ich an die Reihe und mit einem Strahlen sagte er: „Und das ist LaVerne, Gabriels Freundin aber irgendwo noch viel mehr. Sie ist klug, schön, hat einen festen Willen und ein großes Herz. Und ist immer ein Licht in der Dunkelheit.“ Da hatte er schön improvisiert, er kannte ja die neusten Geschichten noch gar nicht.

Auch ich wurde umarmt. Sie war sehr schlank und hatte blonde, ganz glatte Haare bis zur Hüfte. Dazu eine helle Haut und schöne blaue Augen. Sie lächelte mich an und meinte: „Schön, daß Gabriel eine Frau mitgebracht hat, dann bin ich wenigstens nicht ganz allein unter Männern.“ Ich nickte und ergänzte: „Und ich freue mich auch. So nett meine Begleiter auch sind, manchmal sind sie auch ein wenig anstrengend.“ – „Das glaube ich gerne“ grinste sie – schon ein wenig selbstsicherer, als sie die zwei musterte. „Hey ihr! Kaum hat man zwei Frauen beisammen, schon schreien sie Revolution!“ warf Bouvier ein. „Dazu braucht es eigentlich nur eine, aber zu zweit sind wir euch gegenüber in der Überzahl.“ hielt ich ihm galant entgegen. Das Grinsen der Männer fiel doch leicht Mitleid erregend aus. Bouvier lenkte geschickt ab: „Kommt, ich führe euch etwas rum, zeige euch eure Räume und dann wird erst mal gegessen. Ihr seid bestimmt ein bißchen zerschlagen.“ – Kolya brummte: „Ein bißchen? Mir tut jeder Knochen im Leib weh. Hattest du nicht mal irgendwann eine Landebahn?“ Während wir alle wieder die Wendeltreppe runter stiegen, antwortete Bouvier: „Schon. Aber nach dem strengen Winter ist das Rollfeld in einem furchtbaren Zustand. Der Frost hat riesige Löcher gerissen und die Reparaturen haben grad erst angefangen. Hätte ich gewußt, daß ihr kommt…“ – „hättest du dich nicht beeilt, nur, um uns zu ärgern“ ergänzte Kolya gespielt vorwurfsvoll. Unten wurden wir wieder von dem Husky erwartetet, der sich sofort wieder Gabriel anschloß und uns nachdrücklich ignorierte. „Verräter!“ brummte Bouvier „nur weil du ein Geschenk von ihm warst, brauchst du nicht gleich zu vergessen, wer dich füttert.“

Wir gingen durch den Mittelgang die ganze Länge der Halle entlang, vom Eingang bis zur hinteren Wand. Rechts die chaotischen Maschinen, Rohre, Kessel und Träger, links die offenen Räume. Am Ende der Halle kehrten wir in den ersten Stock zurück über eine weitere der eisernen Wendeltreppen. Alle Räume hier waren nur durch Glas getrennt, auch die Eingangsseite. Ich fand das sehr ungewöhnlich, dieser offensichtliche Mangel an Privatsphäre, denn es gab neben Wohnräumen auch Schlafzimmer, passend modern eingerichtet mit Chrom und noch mehr Glas.

An der hinteren Wand fanden sich sogar gläserne Schränke. Nur Badezimmer gab es nicht. Dann ging es noch einen Stock hinauf und hier endlich fanden sich ‚normale’ Räume. Einige der Türen standen offen, dahinter die fehlenden Badezimmer, einige wenige Schlafräume, ein großes Besprechungszimmer, mehr war nicht zu sehen und Bouvier hielt auch nicht an. Am hinteren Ende der Halle stiegen wir wieder die Treppe runter, obwohl hier oben ein großer Fahrstuhl bereit stand, über die ganze hintere Breite der Halle. Auch er war aus Metall, grobmaschiges Stahlgeflecht mit einer Tür, die sich von Hand nach oben und unten schieben ließ. Unten betraten wir einen der großen offenen Räume und eine Angestellte reichte uns Gläser mit Wein.

Hier stand ein großer Tisch mit ungefähr zehn Stühlen, an der hinteren Wand brannte als Wärme- und Lichtquelle ein großer Kamin in Bodenhöhe. Dies war eindeutig die ungewöhnlichste Behausung, die ich je gesehen hatte. Aber die Mischung aus kaltem Stahl, modernem Glas, heimeligem Feuer und den offenen Zugängen gefiel mir sehr gut. Bouvier hob das Glas und sah uns Versammelte der Reihe nach an – wo Gabriels Mann abgeblieben war, hatte ich überhaupt nicht mitbekommen. „Meine Freunde: Mein Haus sei euer Haus, solange ihr wünscht. Herzlich willkommen und mögen wir eine schöne Zeit miteinander verbringen und möge sie nicht zu kurz sein. Auf euer Wohl.“

Der Wein war genau richtig temperiert und Kolya machte ein Gesicht, als würde er auf Wolke Sieben schweben. „Den muß ich haben!“ murmelte er. Bouvier grinste nur wissend, sagte aber nichts. Statt dessen fragte er: „Wir sind zum Essen nur fünf Leute. Wollen wir hier bleiben, oder oben in einem der kleineren Zimmer gemütlich sitzen?“ Die Abstimmung war einstimmig und so ging es wieder in den ersten Stock. Ein Raum hatte einen kleinen runden Tisch, sechs bequeme Sessel darum und ebenfalls einen - etwas kleineren – Kamin. Wir arrangierten uns und dann brachten zwei Angestellte jede Menge Essen. Wir ließen uns Zeit, tranken Wein dabei und unterhielten uns. Allerdings mit keinem Wort über Dinge der Oscuro oder andere ungewöhnliche Themen.

Da Liobá offensichtlich nicht zu den Eingeweihten gehörte, drehten sich die Gespräche um Kunst, Musik, aktuelle Geschehnisse und simple andere Dinge. Nach einiger Zeit flüsterte Liobá mir leise zu: „Ist das nicht ein tolles Haus hier? Als ich zum ersten Mal hierher kam, war ich so erstaunt, ich habe geglaubt, ich träume.“ Das konnte ich nachvollziehen. „Und ich finde es absolut klasse. Ist es neugierig, wenn ich frage, wie lange du Bouvier schon kennst?“ Sie lächelte auf eine gewinnende Art: „Gar nicht, ich freu mich, wenn ich darüber berichten kann. Wir kennen uns jetzt bald ein Jahr aber zuerst haben wir uns immer nur mal wieder in der Stadt getroffen. In dieses Haus bin ich erst vor vier oder fünf Monaten zum ersten Mal gekommen. Und weißt du, Bouvier hat selten Besuch und solche Leute wie ihr, waren noch nie hier. Du bist doch nicht böse, wenn ich das sage, aber ihr seid so … so anziehend irgendwie!“ Da hatte ich den Beweis, auch ich war schon ‚anders’ geworden, von Gabriel kannte ich diesen Effekt ja nur zu gut. „Natürlich bin ich nicht böse, warum denn. Ist doch irgendwie ein Kompliment. Aber ich weiß genau, was du meinst, als ich Gabriel zum ersten Mal sah, hat mein Herz fast ausgesetzt. Und es geht mir eigentlich noch immer so.“ Sie nickte: „Genau, man kann sich nicht konzentrieren, die Hände zittern oder werden schweißnaß, aber – entschuldige – irgendwie wirken Gabriel und äh – Kolya, genau – ebenso auf mich. Das ist mir schon fast peinlich, was mußt du von mir denken?“

„Quatsch, das ist völlig normal, das kenne ich. Ja, sie alle haben dieses gewisse Etwas! Dein Bouvier natürlich auch und es ist sehr schwer, sich dem zu entziehen.“ „Ja, stimmt, aber du hast das auch, du wirkst, als ob du von innen strahlst. Ich freue mich wirklich, daß ihr hier seid und ich euch kennen lernen darf. Bouvier rief mich vor ein paar Tagen an und sagte, daß gute Freunde kommen würden und er eine Überraschung für mich habe. Etwas, was meine Sicht der Dinge für immer ändern würde. Da war ich natürlich doppelt gespannt. Und ihr seid jetzt alle so nett, was kann da noch besseres kommen.“

Zum Glück war das keine Frage gewesen. Ich ahnte, daß ich sowohl die Überraschung als auch die Antwort kannte. Ein kurzer Blick zu Bouvier und ich hatte meine Bestätigung. Er wollte sie heute einweihen, oder zumindest in der nächsten Zeit. Und er hatte den Termin extra so gewählt, daß wir da waren. Ich schaute wider zu ihm, er lächelte nur noch ganz leicht, sollte er nervös sein? Nun, warum nicht, die Überraschung war auf jeden Fall eine sehr große. Aber sie kannten sich lange und es ging mich nichts an. Also antwortete ich: „Ich finde es jedenfalls wunderbar, daß er dich eingeladen hat.“ So redeten wir noch eine Weile, bis Gabriel aufstand: „Ich denke, nach dieser Reise brauchen wir jetzt etwas Ruhe. Und morgen ist noch jede Menge Zeit zum Reden.“ Dann drehte er sich zu mir und sein Lächeln drang umgehend in mein Herz. „Meine Rose, begleitest du mich?“ Wie sollte ich ablehnen, warum sollte ich, was …? äh, ich stand auf: „Es wird mir ein Vergnügen sein.“ Ich nahm seine ausgestreckte Hand. Kolya erhob sich ebenfalls. „Gutes Stichwort! Wir finden schon passende Zimmer, bemüh dich nicht. Gute Nacht, schöne Frau!“ Und mit einer leichten Verbeugung zu Liobá verabschiedete er sich.

Wir gingen den Gang entlang und dann steuerte Kolya eines der gläsernen Schlafzimmer an. „Gute Nacht!“ Und weg war er. Wir betraten zusammen den nächsten Raum. Ein seltsames Gefühl war das. Durch die Wände konnte ich sowohl Bouvier und Liobá in dem Speisezimmer sehen, als auch Kolya, der seelenruhig sein Shirt auszog. Etwas verwundert sah ich Gabriel an, der sich auf das große Bett gesetzt hatte. Licht fiel durch die Feuer im Fabrikteil ein. Er deutete auf den Platz neben sich: „Wenn du es als sehr unangenehm empfindest, können wir nach oben gehen, dort gibt es noch zwei geschlossene Schlafzimmer. Mir macht es nichts aus, zum einen war ich schon öfter hier und außerdem haben wir nichts zu verstecken. Und natürlich ist im Schrank auch Nachtbekleidung. Und, was sagst du, meine schwarze Rose?“ Nun, wenn er damit zurecht kam, würde ich es auch können. Außerdem hatte er Recht. Kolya schlüpfte in Unterhose unter seine Decke und winkte unverkrampft zu uns rüber. Ich winkte zurück. „Kein Problem, Gabe. Vermute ich richtig, daß Bouvier heute Nacht Liobá in die Nadiesda Thurus einweihen will?“ Ich ging in Richtung Kleiderschrank. Gabriel öffnete sein Hemd, als er antwortete: „Richtig. Er hat seine Entscheidung mit viel Bedacht getroffen. Wir sind gute Freunde, sie mag uns, das war ihm wichtig. Und du wirst ihr erscheinen, wie sie selbst auch sein wird – und du bist eine Frau. Wenn sie sich unsicher fühlen oder reden will, hat sie eine andere Art von Ansprechpartner, etwas, was ich dir auch vorenthalten habe, meine Rose!“

Ich kehrte mit einem dünnen Shirt zurück, wo ich einen Mann in meinen Kissen vorfand, der nicht einmal eine Unterhose trug. Was wollte ich noch sagen? „Du hast mir nichts vorenthalten, mein Rabe, du hast auf einen Wink des Schicksals richtig reagiert … äh … ich danke dir dafür, mein großer, starker Mann.“ Ich ließ das Shirt vors Bett fallen, zog ohne zu zögern meine Bluse und BH aus, gefolgt von der Hose. Nur mit Slip ließ ich mich neben ihn gleiten. Er duftete herrlich nach Rotwein und Gabriel und schmeckte noch viel besser. Unter der Decke befreiten wir uns gemeinsam von meinem letzten Kleidungsstück und auf dem Weg zurück nach oben ließen sich Gabriels Finger sehr viel Zeit. Dunkelheit und ein warmes Verlangen hüllten mich ein, als er mich dann endlich küßte.

Vergessen die gläsernen Räume. Ich spürte eine leichte Gänsehaut, wo meine Finger seine Haut erkundeten. Mochte Gabriel auch an durchsichtige Räume gewöhnt sein, als er sich langsam auf mich rollte, zog er unsere Decke mit sich und über uns, daß nicht mal die Köpfe zu sehen waren. Es wurde warm darunter, von uns und der verbrauchten Luft aber wer brauchte Luft, wenn doch ein einziger Kuß  von ihm mir den Atem raubte. Ganz langsam bewegten wir uns und das Wissen um die Möglichkeit von Zuschauern war nur ein zusätzlicher Einfluß, auf jeden Fall anregend, kribbelnd. Unter der Decke wanderte Gabriels Mund langsam abwärts, liebevoll eine Spur von Küssen auf meiner Haut hinterlassend, von der Brust bis zu den Schamhaaren. Und weiter forschten die Lippen, die Zähne, dorthin, wo sich mein Körper ihm entgegenstreckte. Als seine Zunge die geplante Route erkundete, konnte ich kaum genug Luft in meine Lungen bekommen. Ich griff ziellos und mit geschlossenen Augen nach ihm. Ich erwischte eine Hüfte von ihm und zusammen mit Lippen und Händen arbeitete ich mich sanft abwärts, ihn vorsichtig zu mir drehend, bis ich mit meinen Lippen sein hartes Glied umschließen konnte. Sein Stöhnen war nur unterdrückt zu hören und hinderte ihn nicht, seine Zunge und seine Finger weiter die Teile von mir zu verwöhnen, die sich am meisten nach ihm sehnten. Eine Hand um den Ansatz seines Gliedes gepreßt, meine Zunge seiner Länge folgend, unternahm meine andere Hand eine Exkursion seinen Unterleib hinauf. Seine Dunkelheit wurde intensiver, je fester ich zugriff, seine Flügel umfingen uns und zogen uns in den Abgrund des Vergessens und des Verlangens. Einige Teile meines Körpers schienen unter seinen Manipulationen ein Eigenleben zu entwickeln, so, wie sein Unterleib sich meinem Diktat unterwarf. Und als ich spürte, daß meine Zähne wuchsen, kehrte meine suchende Hand zurück, um das Werk an ihm zu vollenden. Und als mein Körper sich Gabriel entgegenstreckte, um ihn zu unterstützen, um ihm das letzte Restchen abzufordern, das noch zu meinem Höhepunkt fehlte, folgte er willig, nur um durch meine unkontrollierten Zuckungen dann ebenfalls seine Erfüllung zu  erreichen. Wir hielten einander in verkehrter Umarmung, während das Höllenfeuer lodernd brannte. Und wir versanken in seinem Schatten, der von unserem eigenen Feuer genährt wurde.

Ich wachte davon auf, daß Gabriel sich leise aus dem Bett schleichen wollte. Unmutig knurrte ich, als er seinen Arm unter mir weg zog. „Ich wollte dich nicht wecken, meine Rose. Aber Kolya ist auch schon auf und vielleicht können wir ein wenig trainieren. Wir haben lange geschlafen.“

„Gut! Du gehst trainieren und ich suche ein Badezimmer und danach was zu essen. Viel Spaß, mein Rabe.“ Ich küßte ihn sanft und einen Moment zögerte er. „Nein, ich sollte wirklich aufstehen.“ Er grinste etwas verschämt und suchte seine Hose unter dem Bett hervor. Ich erledigte diese Suche unter der Decke und zog dann das Shirt über. Gemeinsam verließen wir den Raum, er nach unten und ich nach oben, ins nächste Bad zu einer ausgiebigen Dusche. Frisch und ordentlich bekleidet suchte ich dann unten, bis mich einer der Angestellten von gestern zu Dyke in die Küche brachte. Zusammen bekämpften wir das Buffet. Als wirklich nichts mehr rein paßte, ging ich in den Fabrikteil auf eine kleine Wanderung. Erstaunt bemerkte ich den grauen Husky, der in geringer Entfernung hinter mir her lief. „Na, du schönes Tier! Auch nicht viel zu tun im Moment?“ Meine Worte schienen ihn erst ein wenig zu verwundern, dann wedelte er und kam näher. Es war ein wundervolles Tier, mit den üblichen zweifarbigen Augen. Ich hockte mich hin und er kam und ließ sich genußvoll hinter den Ohren kraulen. „Schade, ich kenne deinen Namen nicht.“ – „Er heißt Ice, weil er so gerne im Schnee tollt.“ Ich stand auf, Bouvier war von irgendwoher aufgetaut. Er sah – wie immer – blendend aus, allerdings wirkte er nicht so, als hätte er viel geschlafen. Was auch wohl nicht verwunderlich war. „Ein wunderschönes Tier!“ – Und weil ich ihn nun grad vor mir hatte, konnte ich ihn auch gleich fragen, statt auf einen Bericht zu warten: „Und? Wie hat sie es aufgenommen? Ich kann mir vorstellen, daß es für euch beide nicht einfach war, nicht nur für sie. Ich denke noch an Gabriels Zögern.“

Bouvier sah mich überraschend ernst an: „Wenige, die das noch nie gemacht haben, erkennen das an, LaVerne. Ich brauchte viel Mut, um den ersten Schritt zu gehen. Es ist immer Angst dabei.“ Jetzt lächelte er wieder, wie damals in dem Gang: „Aber es ist – glaube ich – gut ausgegangen. Wir verstehen uns sehr gut, obwohl ich noch nicht unbedingt von Liebe reden will. Aber vielleicht ist sie auch die, die ich einst als Gefährtin erwählen würde. Wer weiß. Wir haben sehr lange geredet und sie schläft jetzt. Und wenn sie aufwacht, wird sie es sehen. Das ist dann die endgültige Entscheidung. Der ultimative Beweis. Ich hoffe, sie entscheidet sich für uns, aber das bringt vielleicht auch erst die Zeit. Und davon habe ich genug.“ Ich dachte an meinen ersten Morgen, die Verwunderung und auch den kleinen Schreck, daß alles wahr gewesen war. „Zu Anfang ist es sicher schwer. Aber ich denke auch, daß sie sich ‚richtig’ entscheiden wird. Übrigens glaube ich schon, daß sie dich liebt. Und das hat nicht unbedingt was mit dieser verflixten Ausstrahlung zu tun, mit der ihr ständig rumlauft und armen Leuten die Köpfe verdreht.“ Ich mußte selbst grinsen. Er lachte zurück: „Schön, wenn nicht wir Männer alleine leiden müssen. Aber dir ist schon klar, daß du auch …“ – „Ja, ja,“ unterbrach ich ihn, „laß uns das Thema wechseln.“ Jetzt zeigte er wieder Zähne. „Vorerst. Komm, wir gehen mit Ice auf die Suche nach Gabriel und Kolya. Ice findet ihn noch immer im Schlaf, und er hat sicher auch seinen Geruch an dir erkannt. Immerhin hat Gabriel ihn damals mit der Flasche aufgezogen.“

Während wir der Halle nach hinten folgten, auf den Spuren des Husky, erzählte Bouvier aufgeräumt von diesen und ähnlichen Geschichten. In der Nähe des Aufzuges fanden wir dann die beiden gesuchten Männer beim Klimmzüge machen. Sie ließe sich heute gerne unterbrechen und gemeinsam kehrten wir in die Küche im Erdgeschoß zurück, wo die drei und ein hungriger Husky mit mehr als genug Essen versorgt wurden. Danach ging es über die Wendeltreppen in den Speisesaal von gestern. Wir setzten uns und dann begann Gabriel unsere Erlebnisse seit der Abreise aus dem Schloß von Lord Rodenby haarklein vor Bouvier auszubreiten.

Wie er es angekündigt hatte, ließ er nichts aus. Bouvier unterbrach ihn nicht, sah nur mehrfach mit größer werdendem Erstaunen zu mir rüber. Gerade, als Gabriel von unserem Besuch beim Congregat berichtete, hob Bouvier einen Arm: „Später! Liobá ist auf dem Weg hierher, sie muß das alles nicht jetzt sofort hören. Erst braucht sie etwas Zeit. Wir reden später weiter.“

Er hatte Recht! Ich war selbst nicht unbedingt ein Fan von Geheimnissen, aber das war wohl doch etwas zu viel auf einmal. Also wechselten wir das Thema und kurz danach trat Liobá ein, heute auch von diesem hellen Schimmer umgeben. Dadurch wirkte sie irgendwie anders, ich würde nicht unbedingt sagen heller, aber fast schöner. In diesem Moment stellte ich fest, daß man andere Dinge sieht, je nachdem ob einem etwas selber passiert oder ob es bei jemandem anderen geschieht. Sie war in der Tür stehen geblieben und sah uns nur mit einer Mischung aus Staunen und Verwunderung an, zuletzt blieb ihr Blick an mir hängen. Ich lächelte sie an und wir alle erhoben uns. Gabriel sprach zuerst: „Willkommen in unserer Gemeinschaft, schöne Frau! Es ist mir eine Ehre, dich als Erster begrüßen zu dürfen.“ Damit nahm er sie wie gestern fest in die Arme und sie entspannte merklich. Als Gabriel sie an Kolya weiter gab, hatte ihr Gesicht einen leicht roten Schein. Der nächste drückte sie ebenfalls und ich meinte fast, ein leichtes Ächzen zu hören. „Vorsicht Kolya.“ Warnte ich mit einem leichten Grinsen: „Wir Frauen sind nicht ganz so robust wie ihr.“ – Gnädig ließ er der Armen etwas Luft: „Ach ja, ich vergaß. Du hast dich aber bisher auch nie beschwert.“ – „Wie auch, ohne Atemluft und Bewegungsraum.“ Endlich ließ er sie los, jetzt war sie eindeutig rot im Gesicht.

Trotzdem lächelte sie über diesen Austausch oder über den gewaltigen Kraftberg neben ihr. Ich ging ebenfalls auf sie zu und drückte sie fest und herzlich: „Ich hoffe, die zweite Überraschung des Abends war ebenso nett, wie die erste. Willkommen in einer neuen Welt.“ Sie sah erst mich an, dann Bouvier mit einem liebevollen Lächeln. „Oh ja, eine phantastische Geschichte. Ich wollte es erst nicht glauben, bis ich euch sah. Aber jetzt verstehe ich natürlich einiges viel besser. Leuchte ich auch wie du, LaVerne?“ Ich nickte: „Oh ja, das tust du. Nach einer Weile verblaßt es vor dem Auge und nur, wenn man sich darauf konzentriert, wird es wieder deutlicher.“

Sie trat zu Bouvier und tauschte einen kleinen Kuß mit ihm. „Danke, mein Liebster.“ Nach diesem Austausch gingen wir alle nach unten. Während Kolya und ich Liobá beim Essen Gesellschaft leisteten, gingen Gabriel und Bouvier ein wenig in die kalte Nacht hinaus. Gabriel wollte ihm noch den Rest der Geschichte erzählen, und vorwiegend auch von der Versöhnung mit Nathaniel. Ice schloß sich ihnen an, während wir uns mit einem Essensvorrat in der Nähe des Kamins niederließen.

„Bouvier hat so viel erzählt, ich hab einfach nur zugehört und konnte gar nicht fragen. Mir fiel nichts ein und wenn er nicht so ernst gewirkt hätte, hätte ich ihm vielleicht nicht mal geglaubt. Er sagt, er gehöre zum Colubra Zirkel und ihr zum Corvus. Sind alle zehn Zirkel Tiere?“ Eine sehr gute Frage, warum war ich noch nie darauf gekommen. Fragend sah ich zu Kolya. Der nickte. „Wie man es nimmt, irgendwo schon. Drei Ausnahmen bilden Tiere, die in das Reich der Fabelwesen gehören. Monoceros, das ist das Einhorn. Dann natürlich der Anguis Zirkel, der Drache eben und dann noch Satyrus, der Zentauer-Zirkel. Als die Oscuro entstand, wählten die damaligen Führer sich ein Leitsymbol. Manche hatten wohl so eine Art Vision von ihrem Tier, andere schon immer eine Verbindung mit dem Tier ihrer Wahl. In Gabriels Zirkel wurden von jeher Raben gehalten und auch wohl etwas verehrt. Und das Einhorn steht zum Beispiel auch heute noch für Schönheit und Reinheit und der Zirkel ist sehr stark künstlerisch ausgeprägt, es gibt Musiker dort, Dichter und ähnliche Talente. So scheinen bestimmte Zirkel bestimmte Leute anzuziehen. In deinem Zirkel, Liobá, gibt es viele Rhetoriker, ehemalige Anwälte, er scheint Leute der Sprachwissenschaften anzuziehen. Aber natürlich ist das nicht erzwungen, ich kenne da, als Beispiel, einen vorzüglichen Redner in unserem Zirkel, dafür aber einen brillanten Kybernetiker aus eurem Zirkel.“ Bei der Erwähnung des Redners mußte ich gleich an Tres denken und Kolyas Grinsen in meine Richtung bestätigte meine Vermutung.

Dann stand er auf: „Kommt ihr kurz ohne mich zurecht? Ich will mal eine Flasche Wein und ein paar Gläser holen.“ Ich nickte: „Es wird schwer ohne dich, aber wir werden ob deiner baldigen Rückkehr harren.“ Als Belohnung erhielt ich einen kleinen Kuß auf die Stirn und er lachte noch, als er die Treppe hinauf stieg.

Liobá grinste ebenfalls. „Unglaublich, wie sicher du dich unter diesen Männern bewegst. Selbstbewußt aber doch immer liebevoll. Ich müßte ständig ein leichtes Zittern unterdrücken und das hat bestimmt nichts mit Angst zu tun.“ Ich grinste: „Das geht mir auch jetzt noch teilweise so. Aber irgendwie gewöhnt man sich auch daran und sicher gibt es viel schlechtere Dinge. Außerdem reise ich ja auch schon eine ganze Weile mit diesen Leuten.“ Eine Weile schwiegen wir beide. Dann fragte sie leise: „Sag mal, äh, Bouvier hat gesagt, ich darf selber entscheiden, ob und mit wem ich vielleicht das Bett teilen möchte. Das ist mir jetzt ja ziemlich peinlich, aber …“ Ich nickte. Zu gut erinnerte ich mich noch an ähnliche Fragen an Kolya. „Muß es nicht sein, er hat dir doch bestimmt gesagt, daß hier alles viel lockerer oder selbstverständlicher gehandhabt wird.“ Sie nickte nur, schaute aber weiter ziemlich kleinlaut.

„Laß mal sehen, ob ich das ordentlich erklären kann, meine Begleiter neigen nämlich nicht unbedingt zu weitschweifigen Erklärungen.“ Jetzt mußte sie wenigstens richtig lächeln. „Da Bouvier dich in den Kreis der Nadiesda Thurus aufgenommen hat, steht im – symbolisch – das Recht der ersten Nacht mir dir zu. Aber nicht wirklich das Recht, nur eine Art ‚Bonus’ gegenüber anderen interessierten Parteien. Du hast jederzeit und überall die freie Entscheidung ‚ja’ oder ‚nein’ zu sagen. Und auch anders herum ist das so. Jeder, für den du dich interessierst, hat das gleiche Recht. Es muß nur in angemessener Form passieren, ich meine: sag nicht, ‚nein, du bist häßlich’. Sag eher ‚nein, ich bin im Moment nicht interessiert’. Also immer höflich, ohne Kränkungen. So wird immer der Stolz bewahrt, man trennt sich bei einer Ablehnung also als Freunde und vielleicht ändern sich die Meinungen ja auch beim nächsten Mal.“

Ich meinte, Kolya an dem Raum vorbei huschen gesehen zu haben. Drückte er sich etwa? Sie grinste leicht verschämt: „Aus deinem Mund klingt das viel verständlicher und auch irgendwo glaubwürdiger als von Bouvier. Und kein bißchen verwerflich. Ich konnte mir nicht vorstellen, daß er wirklich einverstanden wäre, wenn ich mit einem anderen Mann ins Bett gehe. Aber wenn du das auch sagst… Obwohl, ich habe Bouvier unheimlich gerne. Warum sollte ich also…“

Ich seufzte. Nicht ihretwegen. Sondern weil ich damals genau die gleichen Fragen gestellt hatte und eigentlich erst das Leben die Antworten anbot. Wie konnte ich so was in Worte fassen? „Du mußt verstehen, daß Bouvier kein ‚Anrecht’ auf dich hat und du nicht unbedingt auf ihn. Als ich das begriff, tat es erst ganz schön weh, daß ich meinen geliebten Raben – so nenn ich Gabriel – teilen müßte. Aber hier geht es um Recht, niemand besitzt einen anderen. Aber! Unsere Herzen haben miteinander gesprochen. Gabriel gehört mir und ich ihm, aus einer Entscheidung heraus, die meine Seele gefällt hat – und seine. Nichts, gar nichts, kann diese selbstbeschlossene Verbindung zerstören. Er kann sich – genau wie ich – jederzeit andere Partner wählen aber seine Essenz, seine Persönlichkeit, vielleicht seine Seele, ist immer in mir. Wir finden uns jedes Mal wieder in dem anderen. Und der Rest ist eben Vergnügen und daher nicht verwerflich.“

Besser konnte ich es nicht ausdrücken, doch ich hatte das Gefühl, sie verstand zumindest den Gedanken, der dahinter stand. Aber sie war noch nicht fertig. „Hast du schon mal ‚ja’ zu jemandem gesagt? Wenn ich nämlich so an meine früheren Freunde denke, von denen möchte ich eigentlich keinen nochmals treffen. Und du würdest die Leute ja immer wieder sehen.“ Eigentlich hatte sie da Recht, aber hier war es anders. „Ja, ich habe schon ja gesagt. Obgleich ich beim ersten Mal auch sehr gezögert habe, aber der Mann hatte einfach die richtige Art – übrigens ein Freund von Gabriel. Und du hast ja gemerkt, was für eine Wirkung sie alle haben und da bin ich auch nicht immun. Und fast jeder, den ich bisher getroffen habe, hat so einen Effekt. Und der Mann? Später haben wir uns noch immer wunderbar verstanden. Es gibt eine gewisse liebevolle Vertrautheit, die uns am Ende zu guten Freunden gemacht hat.“

Sie lächelte. „Schön, daß du hier bist, LaVerne. Über manche Dinge kann ich irgendwie mit Bouvier nicht so gut sprechen, vermutlich weil er ein Mann ist oder ich ihn so gerne mag. Danke!“ Sie war aufgesprungen und umarmte mich jetzt stürmisch. Ich drückte zurück. „Soweit ich die Antworten weiß, gebe ich sie gerne, aber ich bin sicherlich kein Experte. Da wirst du dich dann doch wohl an die Männer wenden müssen.“ Sie ließ mich nur langsam los als sie meinte: „Ich könnte wetten, daß Bouvier absichtlich dafür gesorgt hat, daß nach seinen Eröffnungen eine Frau in der Nähe ist. Und hast du eben Kolya gesehen, wie er sich an der Tür vorbei geschlichen hat? Egal, welches Band sie verbindet, in manchen Dingen sind alle Männer gleich.“ – „Ich habe ihn gesehen und ich werde sicher nicht dagegen wetten, daß Bouvier das Timing sorgfältig gewählt hat. Aber um Kolya zu entlasten: mit ihm kann man wunderbar reden, man muß ihm zwar alles aus der Nase ziehen, aber er ist sehr ehrlich, beantwortet alles und hat immer irgendwie eine amüsierte, beruhigende Art.“ Sie schien einen Moment zu überlegen, dann gab sie zurück: „Ich habe ihn bisher nicht einmal ohne sein Grinsen gesehen. Gabriel ist eher etwas ernster, hat aber mehr von dieser erotischen Ausstrahlung, wie Bouvier. Bei den beiden kann ich mich kaum konzentrieren, Kolya wirkt eher wie … wie …“ ich half ihr weiter: „ein großer, lieber Bär. Stimmt genau und auch deshalb kann man so gut mit ihm reden. Meistens ist er nicht ganz so ablenkend. – Wir sollten mal schauen, wo er mit dem Wein abgeblieben ist, sonst bekommen wir gar nichts mehr davon ab.“

Wir machten eine langsame Runde durch das Erdgeschoß, doch außer einigen Angestellten sahen wir niemanden. Aber im ersten Stock fanden wir ihn im Speisezimmer von gestern, vertieft in ein Buch. „So, so, nur kurz Wein holen und dann die Frauen alleine lassen und alles selber trinken. Und ich habe dich auch noch als Freund gelobt…“

Kolya sprang auf und schaute fast schuldbewußt, wenn er nicht dieses Grinsen zur Schau gestellt hätte: „Ach, äh… ihr unterhieltet euch grad so schön, da wollte ich, als Mann, nicht stören…“

„Wie rücksichtsvoll von dir, mein Schätzchen!“ Scheinbar geknickt besorge er noch Gläser für uns und verteilte den Rest aus der schon arg geplünderten Flasche. Einige Zeit später tauchten dann auch Gabriel und Bouvier auf, die ihre Unterhaltung wohl abgeschlossen hatten. Bouvier meinte zu mir gewandt: „Da habt ihr ja schon echt viel erlebt, in der kurzen Zeit, seit wir uns kennen gelernt haben. Abgesehen von der Sache mit Gideon sind das zum Teil ja ganz erfreuliche Entwicklungen. Du scheinst einen guten Einfluß auf manche Dinge zu haben.“ Ich sah ihn etwas zweifelnd an: „Eher gehen die Dinge gut aus, die durch meine Schuld erst ausgelöst wurden. Ansichtssache.“ Er schüttelte den Kopf. „Nein, manche Dinge sind lange vor deiner Geburt schon geschehen oder ins Rollen gekommen. Aber es ist müßig, darüber zu diskutieren. Einige ‚Gerüchte’ hatte ich schon gehört, aber Gabriel hat klug gehandelt, mir alles persönlich zu erzählen. Vermutlich hätte ich nicht mal die Hälfte der Geschichte geglaubt, wenn es ein anderer erzählt hätte.“

Damit war das Thema vorerst abgeschlossen. Neue Flaschen wurden aufgefahren, wir knabberten an diversen ungesunden Leckereien, die uns gebracht wurden und unterhielten uns wie alte Freunde. Ich hatte keinerlei Gefühl für die Uhrzeit aber irgendwann meinte Kolya: „Ich leg mich schlafen, es ist schon Mittag draußen.“ Aha, also Tag. Gabriel und Bouvier erhoben sich ebenfalls. Erster warf mir einen fragenden Blick zu. Ich schüttelte den Kopf: „Nein, meine innere Uhr ist völlig durcheinander, ich möchte noch ein bißchen spazieren gehen, ich komme später nach.“ Er nickte und Liobá schloß sich meinem Entschluß an. Durch die Glasfenster kamen wir dann in den Genuß, drei Männern beim Ausziehen zuzuschauen. Und wir versuchten nicht mal so zu tun, als ob wir nicht hinsahen. Als es nichts mehr zu sehen gab, holten wir uns in einem der unteren Räume dicke Jacken und gingen zusammen mit Ice in den strahlend hellen aber kalten Tag. Auf dem See kräuselte sich nicht eine einzige Welle, es war völlig windstill.

Wir gingen um das Gebäude herum, das von außen in keiner Weise erahnen ließ, was sich darin verbarg. Aber irgendwo kam es mir merkwürdig vor, daß es keinerlei Sicherheitsvorkehrungen zu geben schien, die den Kader des Colubra-Zirkel schützten. Und sollte der Kaj nicht auch irgendwo sein? Hier war wirklich alles anders. Als wir endlich wieder oben waren, waren wir trotz der dicken Jacken ordentlich durchgefroren. Wir verabschiedeten uns voneinander und jeder suchte sein Zimmer von gestern auf. Beim Ausziehen winkten wir uns dann lachend noch mal zu. Schön, mein Bett war von Gabriel schon angenehm vorgewärmt und ohne ihn zu wecken, schlüpfte ich vorsichtig unter die Decke neben und an ihn.

Schwarzes Licht


If blood will flow when flesh and steel are one
Drying in the colour of a darkened sun
Tomorrow's rain will wash the stains away
But something in our minds will always stay      (Sting)

 Ich mußte lange und tief geschlafen haben, als ich endlich aufwachte. Gabriel war nicht da, die Räume von der gegenüberliegenden Seite nur sehr schwach beleuchtet und ein Fremder stand vor meinem Bett! Erschrocken setzte ich mich auf und zog die Decke mit. Als ich ihn anstarrte – und er ruhig zu mir runter sah – war es doch kein völlig Fremder, nur jemand, der absolut nicht an meinem Bett stehen sollte, wenn ich aufwachte. Und alleine und fast unbekleidet war. Obwohl es nicht hell war, sah ich eine sehr große Gestalt vor mir, etwas dunklere Haut und pechschwarze Augen. Die langen, dunklen Haare umrahmten das Gesicht von Charon. Ich kam mir vor wie ein Kaninchen, das von einer Schlange hypnotisiert wird.

Als er sah, daß ich mich einigermaßen gefaßt hatte, sagte er leise: „Nathaniel hat vorgeschlagen, dich Lumina zu nennen. Du strahlst Licht aus, wenn du schläfst. Ich bereue meine Entscheidung nicht.“ Das war tröstlich. Wieder zeigte er kein Lächeln, strahlte nur diese gefährliche Kraft aus. Es machte mich eindeutig nervös und meine Position war nicht förderlich. Aber ich hatte keine Angst vor ihm. „Ich bereue sie bestimmt auch nicht. Und ich freue mich auch, dich wieder zu sehen, allerdings würde ich es bevorzugen, wenn wir ungefähr auf gleicher Höhe kommunizieren würden. Also laß mich aufstehen und was Vernünftiges anziehen, dann können wir uns gerne unterhalten.“ Er sah weiter schweigend auf mich runter. Von meinem Magen aus wanderte ein leichtes Kribbeln in alle Richtungen durch meinen Körper. Er antwortete weiterhin gelassen: „Die andere Möglichkeit wäre natürlich, daß ich mich zu dir lege. Ich bin nicht sicher, ob ich deinem Vorschlag den Vorzug gebe – nein, wohl eher nicht.“ Die undurchdringlichen Augen ließen keinen Schluß zu, was er dachte, ob er das wirklich ernst meinte oder mich irgendwie testen wollte. Einen Scherz schloß ich bei diesem Mann als Möglichkeit komplett aus. Aber was sollte ich sagen. Ich lud doch keine fremden Männer in mein Bett ein. Sicherlich sprach mich seine Art an, diese dunkle Kraft, da brauchte ich nur auf meinen Körper zu hören. Andererseits war die Situation mehr als etwas ungewöhnlich. Doch genau das entschied es irgendwie, denn was war bisher schon normal gewesen in der letzten Zeit. Also würde ich herausfinden, was hinter seinen Worten steckte. Ich erwiderte seinen Blick also fest, schob demonstrativ die Decke zurück und meinte: „Na, wenn das so ist, komm herunter auf meine Ebene, Charon.“

Jetzt hatte ich ihn doch überrascht. Man sah es an die Augen, die sich einen kurzen Moment weiteten. Also hatte er nicht wirklich mit dieser Antwort gerechnet. Jetzt war es an ihm, aber er zögerte nicht lange: „Wieso schaffst du es, mich nach unserer ersten Begegnung noch zu überraschen? Du weißt doch, wer – was – ich bin. Viele Größere als du fürchten mich. Warum du nicht, Lumina?“ und mit einer fließenden Bewegung zog er das enge Hemd über den Kopf und setzte sich auf die Bettkante.

Fragend sah er mich an, während er in aller Ruhe die Stiefel auszog. Also würde er es wahr machen. Na gut, ich hatte es ja provoziert. „Ich weiß, was du tust. Ich weiß, warum du es tust und ich kenne deinen Namen. Doch kennen tue ich dich nicht, also, warum sollte ich Angst vor dir haben.“ Als er so nah bei mir saß, konnte ich seinen Rücken sehen, dort waren einige tiefe Narben in die Haut eingegraben. Was mußte passieren, um bei einem solchen Menschen derartige Spuren zu hinterlassen? Er hatte bei meiner Antwort innegehalten und ich fuhr vorsichtig – und rein instinktiv, ohne nachzudenken – mit meinen Fingern über eine der Narben. Einen Moment schien er zu verkrampfen, dann atmete er durch und entspannte ein wenig. Ohne sich umzudrehen meinte er: „Vielleicht aus genau den Gründen, die du gerade genannt hast. Ich bin ein gefährlicher Spielkamerad, LaVerne.“ Er stand langsam wieder auf und sah mich direkt an. „Ich habe schon vor längerer Zeit festgestellt, daß ich gerne mit Feuer spiele.“ Damit hatte ich die Wahrheit gesagt und gleichzeitig sein Angebot zu einem geordneten Rückzug für mich ausgeschlagen

Er schob die Hose runter und schlüpfte in Unterhose unter die Decke neben mir, wahrte aber einen kleinen Abstand. Seine Ausstrahlung war fast stärker als bei unserem ersten Treffen, ich hatte Schwierigkeiten, mein Gehirn auf Empfang zu lassen während mein Körper meinte, eine kleine Untersuchung meines Nachbarn wäre eine prima Idee. Nein, dieser Mann erforderte meine volle Konzentration, obwohl er eine wandelnde Ablenkung war. Vermutlich nutzte er diese Tatsache auch irgendwo aus. Wieso eigentlich, was machte ihn so anders? Und wieso lag ich eigentlich neben einem fast Fremden im Bett??

Er hatte sich auf die Seite gelegt, so wie ich, und wir sahen uns an. „Dann sollte vielleicht ich vor dir Angst haben. Vielleicht werde ich ja vom Feuer verzehrt, weil ich zu hell brenne oder aber du bist mein Wasser. Wer weiß.“ Was für eine groteske Situation. Diesmal war ich mit der Antwort etwas schneller, er hatte ja gute Worte vorgelegt: „Du weißt, wer ich bin und was ich bin. Aber keiner weiß genau, was das bedeutet. Vielleicht bin ich also wirklich eine Gefahr für dich. Das alles ist dir klar, Charon. Die Konsequenzen aus diesem Wissen mußt du selbst ziehen.“ Das stimmte – wenn auch nicht ganz, denn im Zweifel mußte auch ich mit Konsequenzen rechen, obwohl ich das mittlerweile fast bezweifelte. Und im Moment war das auch gar nicht so wichtig, wir sprachen beide auf einer rein hypothetischen Ebene, nur eben in einer etwas ungewöhnlichen Position. Er schien die Sache genauso zu sehen, wie ich, denn er antwortete: „Manchmal ist es aber unmöglich, aus lückenhaften Informationen einen halbwegs vernünftigen Schluß zu ziehen. Und wie könnte der Kopf Konsequenzen wälzen, wenn der Körper sein Verlangen bekundet.“ Ich mußte ernsthaft zugeben, daß ich damit – nein, mit beiden Teilen der Feststellung – auch schon gekämpft hatte. „Es ist schwer, sicher, aber nicht unmöglich. Wenn man Angst hat, dem anderen zu schaden, läßt man nie völlig los, ein Stück von einem ist immer wachsam und schreitet rechtzeitig ein.“ Ich hoffte wirklich, daß dem auch weiterhin so war. Die Vorstellung, daß ich Gabriel schweren Schaden zufügen könnte, war einen Moment erschreckend deutlich vor meinem geistigen Auge aufgetaucht.

Aber schon antwortete Charon: „Aber wenn man immer festhält, die Kontrolle nie ganz verliert, hat man auch nie ganz gewonnen, nie alles erlebt. Und was ist, wenn das Wohlergehen des Partners nicht so wichtig ist, er es vielleicht nicht wert ist, geschützt zu werden?“ Das war auch wieder so eine hypothetische Frage – vielleicht auch ein Test meiner Persönlichkeit – aber ich konnte ohne Umschweife antworten: „… dann wäre es nicht mein Partner. Ganz einfach. Wie könnte jemand mein Partner sein, und sei es auch nur ein einziges Mal, wenn mir nichts an ihm liegen würde. Das wäre unmöglich.“ Er schwieg und dachte wohl über meine Antwort nach. „Dann hoffe, daß du immer jemanden hast, der dir die gleiche Wertschätzung entgegen bringt.“ Gut gesagt. Aber ich traute mir schon zu, eine gewisse Differenzierung treffen zu können. Meistens – oder bisher – zumindest. Ob meine Einladung an den Führer des ‚Fluch des Blutes’ in mein Bett unbedingt ein eindeutiger Beweis für meine Menschenkenntnis war, würde sich ja vielleicht noch rausstellen.

„Ich denke doch, daß das unter Leuten der Oscuro eine Grundvoraussetzung ist. Immerhin ist doch euer Grundsatz, Unschuld nicht in Schuld zu wandeln.“ Er zog die Augenbrauen hoch. „Du zitierst mir unseren Kodex? Bemerkenswert.“ Noch immer lagen wir voreinander und schauten uns in die Augen. Langsam gewöhnte ich mich an seine Präsenz und konnte mich mehr auf die Unterhaltung konzentrieren. „Warum nicht, wenn ich mit euch leben will, sollte ich doch die Regeln kennen. Nach denen du ja auch lebst, vielleicht noch mehr, als manch anderer.“ Er nickte. „Ja, ich folge dem Kodex – Willst du wissen, was ich in dir sehe, warum wir hier liegen und reden?“ Hatte er das Thema gewechselt?

„Ja, denn obwohl ich kein Problem mit der Situation habe, kommt es mir ein wenig ‚ungewöhnlich’ vor.“ Sozusagen. Hob sich da ein Mundwinkel? Aber er ging nicht näher auf den Kommentar ein sondern sagte: „Dein Einschreiten bei Nathaniel hat mich beeindruckt. Und deine Worte haben mich überzeugt und sehr nachdenklich gestimmt. Ich sehe in dir ein Ende, das Ende unserer Zeitrechnung, wenn du so willst. Sicher hat Gabriel dir gesagt, welche Konsequenzen meine Entscheidung haben wird. Ich habe sie wohl bedacht. Dennoch. Wir beide haben einen Teil der Prophezeiung erfüllt und ich bin überzeugt, daß wir damit einem Schicksal gefolgt sind. Ich denke, daß die Prophezeiung von dir spricht. Du bist die Dreizehn. Vielleicht irre ich mich, vielleicht auch nicht, das ist völlig unwichtig. Ich mußte für mich entscheiden und das habe ich getan. Will ich die Prophezeiung verhindern oder nicht. Du kennst die Antwort, LaVerne. Deshalb habe ich versprochen, dich zu schützen, was Bouvier nicht so gut zu können scheint. Ich habe gesagt, daß ich deinem Weg folgen werde.“

Ich war sprachlos. Das erklärte natürlich nicht, wieso er neben mir lag, aber doch einiges anderes. Gabriel hatte Recht gehabt, er war sich der Tragweite seiner Entscheidung bewußt. Nur waren es andere Gründe, als wir jemals vermutet hätten. Ich glaubte nicht einen Moment, daß ich mehr als ein kleines Teilstück der Prophezeiung sein könnte, aber das war nicht so wichtig. Erschreckend war Charons Überzeugung, er war sich sicher, sonst hätte er sich – möglicherweise – anders entschieden. Würde er seine Entscheidung revidieren, wenn er seinen Irrtum erkannte? Schon aus einem gewissen Selbstschutz heraus, sollte ich nicht protestieren. Schon so standen so viele Fragen im Raum, daß ich gar nicht wußte, wo ich anfangen sollte.

Er hatte geschwiegen und nur weiterhin seine schwarzen Augen in meinen versenkt. Hoffentlich funktionierten meine von Tejat gelernten Abwehrmechanismen noch. Und hoffentlich konnte mein Gehirn mein Mundwerk in Schach halten. Ich fing also erst einmal mit einer einfachen Frage an, die mir aber durchaus passend schien, denn ich hatte da einen Verdacht: „Sag mir, Charon, was bedeutet das Wort Lumina?“ Wenn er überrascht war, zeigte er es nicht. Oder es bestätigte ihm etwas, denn er antwortete: „Im romanischen steht es für ‚Licht’.“

Aber nicht Charon hatte mich zuerst so genannt, sondern Nathaniel. Ich versuchte, den Konsequenzen aus dieser Erkenntnis aus dem Wege zu gehen. Ablenken, nicht näher darüber nachdenken, vorerst. „Und wieso liegen wir hier, anstatt vor einem gemütlichen Feuer eine schöne Flachse Wein zu teilen?“ Darauf richtete er sich ein wenig auf und kam mir etwas näher, eine Wärme strahlte von ihm aus, die mich einhüllte und sich in mir ausbreitete. Soviel zu einer Gewöhnung an ihn. Leise meinte er: „Weil, Lumina, es hier auch sehr gemütlich ist, und weil ein Mensch an einem scheinbar sicheren Ort besonders anfällig für mögliche Bedrohungen oder notwendige Ehrlichkeit ist. Und weil ich so meine Selbstbeherrschung – und auch deine – auf die Probe stellen kann. Denn du beeindruckst meinen Verstand, verwirrst meinen Geist und berauscht meinen Körper. Du bist eine Gefahr, die mich magisch anzieht.“

Und auf einmal war er über mir, ohne daß ich eine Bewegung gesehen hätte. Seine Hände lösten auf meine Haut Stromstöße aus und sein Kuß war fest und fordernd und ich konnte nicht anders, als ihn zu erwidern. Seine Kraft war um mich verteilt, wie eine zweite Haut, nicht wie Flügel, aber doch warm und voller Verlangen. Er berauschte und verwirrte mich so völlig anders als Gabriel – natürlich – aber auch anders als die anderen Männer der Oscuro, die ich erlebt hatte. Sein Begehren wurde zu meinem, seine fremde Wildheit zu einer berauschenden Droge. Er fragte nicht aber er nahm ohne zu fordern. Unter ihm eingeklemmt konnte ich ihm nur meinen Körper entgegen drücken. Er brauchte keine Hilfe, mit einer weiteren fließenden Bewegung nach unten verschwand seine Unterhose und meine nur wenige Sekunden später ebenfalls. Es blieb keine Zeit, seinen Körper weiter zu erkunden, so schnell lag er wieder mit seinem Gewicht auf mir. Zielbewußt fand sein Glied meine Öffnung und nur kurz hielt er inne, wartete, bis mein Körper sich unter ihm leicht entspannte. Seine körperliche Kraft spiegelte sich in den folgenden Stößen wieder, ich krallte mich förmlich in seinen Rücken. Wieder folgte eine seiner unglaublichen Bewegungen, er rollte uns, bis ich auf ihm lag. Endlich mit etwas Bewegungsfreiheit ausgestattet, setzte ich mich leicht auf, wobei er seine Stöße keinen Moment unterbrach. Dieses Mal verbargen wir uns hinter meinen Haaren, er hielt mich um die Taille gefaßt, die schwarzen Augen dunkle Flecken in einem schwarzen Licht. Mein ganzer Körper schien zu brennen, auch ich nahm ohne zu fragen, was er mir geben wollte. Wir schienen eine seltsame Einheit zu bilden, angefüllt mit Kraft, Verlangen und auch Zuneigung. Es wurde so viel schwerer, die Kontrolle zu behalten.

Und da begriff ich es. Er hüllte mich in seine spezielle Magie ein. Die anderen hatten diesen Teil von mir fern gehalten, nur bei Gabriel hatte ich es einmal einen Moment lang erlebt. Jeder von ihnen hatte eine andere Magie, aber sie war eine echte Gefahr. Für ihn, wie für mich. Auch wenn Charon mit ständiger Gefahr lebte, durfte ich es nicht zulassen. Mit allen Mitteln versuchte ich die Droge in meinem Geist zu bekämpfen, ihn aufzuhalten. Doch er zog mich mühelos zu sich heran und küßte mich – so voller Leidenschaft. Dann hob er seine Lippen von meinen und flüsterte in mein Ohr: „Ja, das ist meine Magie, du erkennst sie, auch wenn du sie noch nie so gespürt hast. Habe keine Angst, ich bin viel zu stark, um ihr zu verfallen. Und ich bin dir nicht so verbunden wie Gabriel, was ihn gegen dich schwächt. Ich bin stark genug für uns beide. Vertraue mir, hab keine Furcht. Erst hast du mich etwas gelehrt, mir etwas von deinem Blut gegeben, jetzt lehre ich dich etwas: Absolutes Vertrauen in eine Freundschaft, unbeschränktes Verlangen  und echte Magie.“

Selbst wenn mein Körper mir eine echte Wahl gelassen hätte, wäre die Entscheidung wohl  gleich ausgefallen. Ich vertraute ihm, das erwähnte Blut nur eine Nebensächlichkeit in diesem Moment. Also folgte ich seinem Weg, ergab mich seiner Magie und er war wirklich so stark, wie er gesagt hatte: er beschützte uns beide. Mit jedem Stoß fühlte ich nicht nur einen Teil seines Körpers in mir, ich fühlte auch Kraft in mir wachsen, sie breitete sich aus, von meinem Unterleib in alle Richtungen. Ich nutzte sie, für mich, um ihn noch tiefer in mir zu fühlen, aber auch für ihn, zog seinen Oberkörper zu mir hoch, hielt ihn mit mehr Kraft als möglich war an meine Brüste gepreßt. So schloß ich die Augen und erlaubte meinem Geist dieses eine Mal, nach ihm zu greifen, ihn zu mir zu ziehen, in den tiefsten Teil von mir, wo es keine Angst und keine Schranken gab. Er stöhnte unter mir, nicht nur von seinen Stößen und meinem Echo. Wären alle Bewohner dieses Hauses jetzt neben uns aufgetaucht, ich hätte sie nicht einmal bemerkt. Seine Magie verstärkte die Schwärze um uns, baute uns ein eigenes dunkles Reich, durchzogen von Kraft, Vertrauen und Verlangen. Und mein Vertrauen in seine Führung belohnte uns beide. Ohne meine innere Sperre konnte ich ihn in mir voll genießen, mir von ihm nehmen, was ich haben wollte und er konnte sich an meinem Körper berauschen. Er kam mit aller Macht in mir, wir beide in Schweiß gebadet und nur etwas später fand auch ich die Erlösung. Erschöpft brach ich in seinen Armen zusammen, er hielt mich fest umschlungen, noch immer von Dunkelheit umgeben, bis die Erschöpfung langsam einem leichten Schlaf wich.

Als ich irgendwann aufwachte, war ich alleine, keine Spur meines nächtlichen Besuches. Wo waren überhaupt die anderen und wozu gab es hier soviel Glas, wenn ich weder jemanden sehen konnte, noch jemand zu meinem ‚Schutz’ herbeigeeilt war. Nicht, daß ich unbedingt Hilfe brauchte, es ging ums Prinzip… Ich schnappte mir etwas Kleidung, ging hoch zum Duschen und machte mich dann auf die Suche nach meinen verschollenen Freunden.

Ich fand sie im Erdgeschoß unbeschwert plaudernd um den Eßtisch gruppiert. Gabriel sah kurz hoch, als ich eintrat und meinte lächelnd: „Du mußt ja sehr müde gewesen sein, gestern morgen. Ich habe vorhin nach dir geschaut, aber du warst so fest am Schlafen, da wollte ich dich nicht wecken. Der Tag ist schon fast wieder vorbei.“

Ich sah ihn leicht bestürzt an. Sollte es wirklich so sein, daß niemand Charon bemerkt hatte? Verwundert schaute ich die anderen an, die mich nur – nun gleichfalls überrascht - ebenso ansahen. Das konnte doch nicht wahr sein, oder? Erneut schaute ich Gabriel an, der mittlerweile leicht besorgt wirkte – zu Recht, meiner Meinung nach. Ich schüttelte ungläubig den Kopf: „Charon war da.“ Mehr sagte ich nicht. Und es schien, als wollte mir niemand so recht glauben. „Unmöglich. Wir waren die ganze Zeit hier und das Haus ist geschützt. Er wäre nie unbemerkt bis in dein Zimmer gekommen“, wand Kolya schließlich ein. Ich hätte da einen Kommentar, daß er sogar noch weiter gekommen war, aber ich schluckte ihn runter. Ich hielt meinen Blick weiterhin auf Gabriel gerichtet: „Er war bestimmt zwei Stunden da. Alleine. Und wir haben über die Prophezeiung gesprochen – du hattest Recht, es war ihm bewußt, was er tat. Aber seine Gründe sind andere, als wir vermutet haben.“ Jetzt endlich glaubte er mir. Er sah zu Bouvier, der sich erhob und Liobá mit sich zog: „Komm, du kannst mir helfen, ein paar Sachen zu überprüfen und ein paar Leute zurecht zu weisen.“ Mit einem etwas verwirrten Ausdruck folgte sie ihm.

So konnte ich offen mit Gabe und Kolya sprechen. Aber dann fiel es mir schwer, den richtigen Anfang zu finden. Bevor ich aber noch beginnen konnte, knurrte Kolya: „Das wäre bei uns nie passiert. Obwohl Charon der Beste ist, wäre er nie ungesehen an unsern Leuten vorbei gekommen. Wenn er dir was getan hätte…“ – „Nun, Kolya, er hatte jede Möglichkeit dazu, aber er hat sich entschieden, mir statt dessen einiges zu erzählen.“ Ich sah zu Gabriel rüber, der leise nickte „…und mich ein wenig zu ‚unterrichten’.“ Sie wußten, was ich sagen wollte, aber nicht erzählen würde. Gabriel reichte mir wortlos ein Glas, nahm mich in den Arm und zog mich auf einen freien Stuhl: „Ich kann mir vorstellen, daß er ein starker Lehrer ist. Und jetzt erzähl uns, was er gesagt hat.“ Ich nickte, lehnte mich in seinen Arm und berichtete, soweit ich es vermochte, von seiner Interpretation der Prophezeiung. „Nathaniel hat dich Lumina genannt und Charon hat den Namen übernommen?“ Gabriel fragte nach, während er ablenkend an einer meiner Locken spielte. Ich nickte dazu.

Erst sagte dann keiner was, dann räusperte sich Kolya: „Also, seine Interpretation ist genauso gut oder genauso schlecht, wie jede andere, die ich bisher gehört habe. Eigentlich tendiere ich auch eher zu der Vermutung, daß die Dreizehn ein Symbol ist und nur verschiedene unabhängige Ereignisse aufgezählt werden. Ich habe nie angenommen, daß Dreizehn für eine Person steht, nicht einmal, als viele dachten, Nathaniel wäre gemeint. Ich sehe bisher keinen Grund, meine Meinung zu ändern. Natürlich hat Charons Version eine gewisse Logik und einige Punkte sprechen dafür aber es gibt auch genug Gegenbeweise. Und wenn seine Entscheidung nur auf dieser Vermutung basieren würde, dann würde ich mich um dich sorgen. Aber ich denke, er hat sich erst entschieden und dann interpretiert. Ungefähr so, wie wir es schon mal besprochen haben, hinterher paßt alles perfekt zusammen, man kann immer alles passend zusammenbasteln. Daher denke ich nicht, daß er seine Entscheidung auch nur überdenken wird – egal, wie es weiter geht.“ Kolya hatte natürlich Recht. Und Gabriel grinste: „Und außerdem haben wir mit ihm einen sehr wichtigen Verbündeten. Dieser Einbruch hier war – trotz allem –  eine Meisterleistung. Schade eigentlich, daß er schon wieder verschwunden ist, ich würde ihn gerne mal wirklich kennen lernen und mich persönlich mit ihm unterhalten, ohne daß wir Waffen aufeinander richten.“

„Das kannst du haben, denn ich verspüre einen ähnlichen Wunsch!“ Wir alle drehten uns zur Tür, Kolya sprang auf. Da stand Charon wieder, so, wie ich ihn vor einigen Stunden auch vor meinem Bett entdeckt hatte. Er hatte noch immer die schwarze Kleidung an – oder eigentlich wieder – und stand direkt vor der Schwelle des Raumes. Gabriel winkte Kolya beschwichtigend zu: „Laß gut sein, er ist ein Meister darin. Aber vielleicht solltest du mit LaVerne nach Bouvier suchen und ihn über unseren Gast in Kenntnis setzten.“ Während dieser Worte hatte er Charon nicht aus den Augen gelassen, war aber scheinbar ruhig sitzen geblieben. „Tritt doch ein, Führer des Blutes, und trink ein Glas Wein mit mir.“ Wir verstanden den Hinweis. Als ich mit Kolya an Charon vorbei ging, sah er mich an und dieses Mal zeigte er tatsächlich ein Hauch eines Lächelns. Ich lächelte zurück und zog den knurrenden Kolya mit mir. Der zeigte dafür keinerlei Ansätze seines alten Grinsens. „Wie macht er das nur. Und das mir, als Kaj. Das ist eine Beleidigung meiner Ehre.“ Ich mußte mich beherrschen, um ihn mit meinem Lachen nicht noch mehr zu verärgern. „Nein, ich denke, es ist wohl seine Aufgabe, unbemerkt zu kommen und zu gehen und er hat wohl sehr viel Übung darin. Und ich kann mir sehr gut vorstellen, daß es für ihn eine besondere Herausforderung war, so dicht an Gabriel zu gelangen, ohne mit dir zusammen zu stoßen. Genug geknurrt mein Bär, laß uns nach Bouvier suchen, bevor es noch einen echten Zusammenstoß gibt.“

Einigermaßen beruhigt und schon fast wieder der Alte, bot er mir seinen Arm. „Nun denn, Friedensstifterin und schöne Verführerin, weise mir den Weg.“ Obwohl er furchtbar jammerte, konnte der Knuff, den er von mir bekam, bevor ich mich einhakte, überhaupt nicht weh getan haben. Aber wieder besser gelaunt trafen wir an der Hallentür auf Bouvier, der mit einigen seiner Leute sprach und eine etwas verlassen wirkende Liobá. Ich ließ Kolya Bouvier die veränderte Situation erklären und zog statt dessen Liobá auf die Seite. Leise erklärte ich: „Ein Bekannter von uns – der vielleicht nachkommen wollte – hat die Sicherheitssysteme hier ausgetrickst. Deswegen die ganze Aufregung. Und weil er immer noch da ist, wollten wir Bouvier lieber Bescheid sagen, bevor er noch Leute los schickt. Jetzt ist der Besucher – Charon heißt er – bei Gabriel und die wollten sich ungestört unterhalten. Hast du Lust auf einen Spaziergang, bis die Leute sich wieder einigermaßen beruhigt haben?“ Etwas entspannter nickte sie: „Gerne. Keiner wollte mir so recht sagen, was los ist aber Bouvier war richtig wütend eben.“

„Das glaube ich wohl. Immerhin sollen sie ihn ja beschützen. Zum Glück ist Charon aber keine Gefahr.“ Gemeinsam gingen wir die Halle runter, im Vorbeigehen erhaschte ich einen Blick auf Gabriel und Charon, die sich im Speisezimmer gegenüber saßen. Dann waren sie außer Sichtweite. Liobá hängte sich bei mir ein und meinte: „Hier schwirren noch so viele Geheimnisse durch die Räume, so viele Dinge, die ich noch nicht weiß, oder die Bouvier von mir fern hält.“ Ein leichter Vorwurf klang aus ihrer Stimme. Ich hätte nicht mal im Traum daran gedacht, daß ich eines Tages auch zu diesen ‚Geheimniskrämern’ gehören würde, aber ich antwortete: „Das Wissen kommt nur in Teilstücken, nach und nach und das ist viel besser als eine Lawine, die dich überrollt. Außerdem sind in letzter Zeit einige Dinge passiert, die selbst unsere Freunde nach so vielen Jahren noch überraschen. Damit müssen sie erst mal fertig werden, bevor sie versuchen können, uns ‚Neulingen’ alles zu erklären. Auf manche Entwicklungen reagiert die Blutsgemeinschaft nur sehr schwerfällig.“ Ich erzählte ein wenig von der Aversion vieler Mitglieder gegen moderne Technik. Wir lachten viel und hatten eine unbeschwerte Zeit, während wir Beobachtungen austauschten und gemeinsam lästerten. Es war eine tolle Sache, einfach mal wieder entspannt mit einer – fast – normalen Frau zu plaudern. Wir suchten uns ein gemütliches Zimmer im Erdgeschoß und einige Stunden verbrachten wir dort ohne einen Gedanken an seltsame Umstände und geheimnisvolle Menschen.

Irgendwann tauchte Dyke auf und frage uns, ob wir den Männern Gesellschaft leisten wollten. Also ließen wir uns in den großen Speisesaal zurück führen. Charon war verschwunden und die Männer saßen in ebenfalls aufgeräumter Stimmung bei Wein und Käse. Kein Wort fiel über meinen Besucher und so blieb es bei entspannten Konversationen.

In der darauf folgenden Woche kam und ging Charon, wie es ihm gefiel. Niemand schien herausfinden zu können, wie er es schaffte, plötzlich mitten im Raum zu stehen. Oft bemerkte man ihn erst, wenn er sich in eine Unterhaltung einmischte. Kolya war nicht sauer auf Charon, eher auf Bouviers Nachlässigkeit, aber es war auch irgendwo eine persönliche Beleidigung für ihn, daß selbst er den Führer des Fluchs des Blutes nicht austricksen konnte. Liobá hatte uns für einige Tage verlassen müssen und oft saßen Gabriel und Bouvier lange Stunden beisammen und redeten über alte Zeiten. Dann war Kolya meistens irgendwo im Fabrikteil der Halle und mißbrauchte Streben, Ketten, Haken oder andere Geräte für sein Training. Viel mir selbst überlassen, unternahm ich Spaziergänge drinnen und draußen mit Ice, den ich Gabriel erfolgreich abspenstig gemacht hatte. Manchmal, wenn ich spontan nach oben auf Stahlträger oder Quergänge schaute, entdeckte ich dort die reglose Gestalt von Charon. Zu anderen Zeiten bemerkte ich ihn, als er mit Bouvier und Gabriel zusammen saß. Und einmal überraschte ich Kolya und ihn bei einem beeindruckenden Zweikampf. Beide mit immenser körperlicher und physischer Kraft ausgestattet, war dieser Anblick atemberaubend und fast in sich erregend.. Eine kurze Zeit schaute ich zu: die Attacken, Finten, unglaublich schnelle Bewegungen und sekundenlanges regungsloses Verharren. Ich würde auf keinen der beiden als Sieger tippen. Ice sah mich fragend an und zögerlich riß ich mich von diesem Anblick los.

Einige Tage später kehrte Liobá zurück und eines Abends saßen Bouvier, Gabriel, Kolya, Liobá und ich gemütlich in einem der gläsernen Räume. Gabriel räusperte sich und sagte dann: „Liebe Freunde, schweren Herzens verkünde ich, daß wir bald abreisen werden. Nathaniel und Tres sind schon unterwegs und wir werden ebenfalls erwartet. Und zu viel Ruhe ist auch nicht gut. Und nicht alle haben sich so viele Dinge zu erzählen, wie Bouvier und ich.“ Dabei warf er Kolya einen Blick zu, der etwas gepreßt zurück grinste. „Allerdings habe ich meine Einladung zu Mikail und Berenice auf Bouvier und Liobá ausgeweitet. Und diese wurde angenommen, was mich aus vielen Gründen sehr freut. Wir werden dort eine sehr große Runde haben. Meine Leute waren in der Zwischenzeit nicht untätig und haben Gideons Liste durchgearbeitet und es gab erste Kontaktaufnahmen. Verschiedenste meiner Brüder aus unterschiedlichen Zirkeln oder Hintergründen werde ich also vermutlich dort treffen oder noch einladen. Obgleich es kein Kriegsrat ist, würde ich für einen solchen Fall genau diese Männer und Freuen um mich wünschen.“ Er warf mir einen warmen Blick zu. „Wir werden am kommenden Wochenende abreisen. Bis dahin ist sogar die Landebahn einsatzbereit, so daß wir eine Fahrt in dem Jeep gegen einen kurzen Flug nach Vancouver tauschen können.“ Diese Worte brachten ihm einige lobende Worte von Kolya und mir ein. „Dann werden wir über England nach Rumänien fliegen, wo viele Freunde bereits warten.“ Jetzt sah er Kolya an: „Ich habe meine Einladung auch auf Charon und seine Leute ausgeweitet. Doch der hat dankend abgelehnt mit einer leider sehr logischen Begründung. Bisher weiß niemand, wie sein Verhältnis zu uns aussieht und dieser Zustand soll so lange wie möglich erhalten bleiben. Aus den bekannten Gründen. Allerdings wird eine Frau aus seiner Gruppe mit uns fliegen, die vor kurzem verletzt wurde und nicht in der Lage ist, schnell und unauffällig zu reisen. Ich habe ihr unsere volle Hilfe und medizinische Zuwendung zugesagt.“ Ich vermutete, daß diese Verletzung vielleicht bei unserem Zusammenstoß in Nathaniels Haus entstanden sein könnte. Aber Gabriel erläuterte es nicht weiter, er erklärte nur: „Der Rest des Imprecatio Curor  wird sich öffentlich zeigen und wir werden die Verletzte – Phelia – hier in der Nähe übernehmen. In seiner Funktion wird uns Charon dann allerdings in gewissem Abstand ebenfalls nach Rumänien folgen.

Dir, Bouvier, möchte ich noch einmal für deine Aufnahme und die Gastfreundschaft danken. Ich kann nicht mehr – oder weniger – als Gleiches mit Gleichem vergelten, daher freue ich mich natürlich, daß ihr uns begleitet.“ Bouvier nickte, zeigte seine unverschämt weißen Zähne in die Runde und antwortete: „Ihr wart ein warmer, frischer Wind in meiner Welt. Und natürlich ist die Gesellschaft, die du in Mikails Haus bestellt hast, so außergewöhnlich, daß ich gar nicht ablehnen könnte. Und obwohl dies kein Abschied wird, möchte ich dennoch alle am Freitag Abend in ein örtliches Gasthaus einladen. Ihr habt in eurer Zeit nichts von den lokalen Attraktionen gesehen und dort gibt es das beste Steak weit und breit und dazu viele nette Menschen, Musik und Tanz.“

Ein guter Gedanke, mal wieder unter normale Leute zu kommen. Aber noch war Bouvier nicht fertig: „Und zum Schluß möchte ich mein Glas erheben. Auf anwesende und abwesende Freunde. Liobá, du wolltest noch etwas sagen, meine Maus!“ Er lächelte ihr mit viel Wärme zu. Grazil stand sie auf, berührte ihn dabei ganz sanft und sagte mit einer neu erlernten Selbstsicherheit: „Ich will euch auch danken. Ihr alle habt mir beigestanden, in den ersten Tagen eines neuen Lebens. Dir, Bouvier, daß du mich an deinem Geheimnis teilhaben läßt. Und daß du eine Zeit gewählt hast, wo solche Menschen wie ihr hier seid. Dir Gabriel, für deine Ruhe, Wärme und gelassenes Verständnis, dir Kolya für einige Antworten aus ungewohnter Sicht und deine stetig gute Laune. Und besonders dir, LaVerne. Für viele Stunden des Erklärens, Zuhörens, einfach da seins. Für die Art, wie du deiner Umwelt begegnest, für die Liebe, die du uns allen schenkst und für so viel mehr, das ich nicht aufzählen kann und will. Ich danke euch, daß ihr mir euer Vertrauen schenkt. Ich werde es nicht enttäuschen.“

Wir alle schwiegen und sahen sie nur überrascht an. Keiner hatte mit so viel Dank gerechnet, es war doch alles selbstverständlich, was sie aufgezählt hatte. Wir waren eher auf ein freundliches Schlußwort gefaßt gewesen, nicht auf so viel Lob. Leicht beschämt antworte ich: „Liobá, das alles gehört zu unserem Leben. Du mußt uns doch nicht dafür danken, daß wir sind, wie wir eben sind.“ Sie hatte sich gesetzt und strahlte mich an, als sie den Kopf schüttelte: „Nein, wenn ich ein wertvolles Geschenk erhalte, muß ich mich dafür bedanken. Ihr habt eure Herzen für mich geöffnet und ich erkenne sicher, daß nicht jeder auf die gleiche Weise begrüßt wird.“ Nun, vielleicht hatte sie Recht, aber das war sicher auch ihr eigener Verdienst. Bevor ich aber darauf antworten konnte, mischte sich mit dem gleichen Gedanken Gabriel ein. „Das ist wahr, aber jeder von uns handelt nach seinem eigenen Temperament. Und wir hören auf unser Herz, wenn es uns sagt, daß wir einen Menschen vor uns sehen, der wie wir ist, oder, anders gesagt, der von der Art in unsere Gemeinschaft paßt. Also bedanke dich doch eher bei dir selbst, daß du ein guter Mensch bist Liobá und bei Bouvier, daß er diese Tatsache erkannt hat. Und jetzt ist Schluß mit den Lobeshymnen. Wir alle sind keine Engel. Oh, natürlich, meine schwarze Rose ist manchmal einer…“

Ich sah ihn an, spürte einen warmen Hauch in meiner Seele, als er mir ein Bild schickte: einen kleinen, wundervoll geschnitzten Raben. Nein, ich würde darüber nicht mit ihm diskutieren. Ich lächelte zurück und versuchte, ihm das Bild einer weißen Rose auf einem Nachttisch zu schicken. Seine Augen verrieten, daß es angekommen war. Kolya räusperte sich vernehmlich: „Würdet ihr bitte aufhören! Eure Funken sprühen überall durch den Raum und kokeln hier alles an, inklusive uns. Also bitte. Ihr seid nicht allein.“

Verdutzt schaute ich ihn an, er hatte wieder sein gemeines kleines Grinsen, ich sollte wirklich versuchen… „Hey, das ist nicht komisch!“ brauste er trotzdem lachend auf, als ich ihm ein Bild von einer großen Nase mit einigen Warzen darauf schickte. Es hatte geklappt. Kolya knurrte betont vorwurfsvoll: „Danke Tejat. Na warte, LaVerne, das fordert Rache!“ Liobá sah Bouvier fragend an, der zuckte nur die Schultern: „Sie reisen schon lange in einer engen Gemeinschaft, sie haben gelernt, manche Sachen ohne große Worte zu tun.“ Waren wir wirklich so ungewöhnlich, hatte ich mich so verändert? Aber ich wollte noch einen Schlußsatz loswerden: „Da stell dich mal hinten an, Kolya! Du weißt doch, auch John hat fürchterliche Rache geschworen und er hat das lange vor dir getan. Also Geduld, mein Bär.“ Damit war die Sache erledigt, das Wort ‚Bär’ hatte ihn friedlich gestimmt. Der Rest des Abends ging mit ausgelassener Plauderei, kleinen Neckereien und sehr viel Lachen viel zu schnell vorbei.

Blut und Tränen


Helpless and full of pain I stand at your side
Nothing I can do, this stunning fear I can‘t hide
My heart cries with love for your soul‘s comin’ death 
Nothing to soften the grief, the fear and the wreath

 Freitag Abend machten Liobá und ich uns in einem der oberen Schlafzimmer ausgehfertig, unbeobachtet von den Männern. Es war zu kalt und auch nicht der richtige Ort für ein Abendkleid. Also wählten wir für uns Leder, es gab eine riesige Auswahl in allen Schattierungen, Größen und Sorten. Liobá suchte sich ein härteres, schwarzes Leder aus, ich entschied mich für ganz helle, fast weiße, hautenge und kuschelige Kleidung aus Schafsleder. Weißes Hemd mit Fransen für mich, Liobá fand ein ganz ähnliches Stück in Schwarz, was einen schönen Kontrast zu den langen blonden Haaren bildete. Beide hatten wir passende Stiefel und nach höchstens einer Stunde im Bad waren wir schon fertig. Wir trafen die Männer – vermutlich schon länger – abmarschbereit in der Haupthalle.

Die bewundernden Blicke, die wir hier ernteten, waren ein guter Start in den Abend. Dyke fuhr den Jeep, der uns alle zu einem einsam gelegenen Gasthaus brachte. Es drang Licht und Musik in die klare kalte Nacht.

Vor dem Haus war ein großes freies Feld zum Parken abgeteilt und rund die Hälfte der Plätze war schon von Fahrzeugen belegt. Hinter dem Haus gab es noch Schuppen, eine große Pferdekoppel schloß sich direkt an die Veranda. Es roch nach Kühen, Stall und gutem Essen. Und so war es auch. Es gab ein riesiges Buffet mit allem, was man erwarten konnte, und mehr: Rindfleisch in jeder Variation, Schwein, Geflügel, Hummer, verschiedenste Salate. Wir bestellten mehrere Flaschen Wein und genossen den Trubel um uns herum. Mit dem bevorzugten Tanz hier in der Gegend konnten nur Liobá und Bouvier etwas anfangen: es war eine Art Gruppentanz, wo alle gleichzeitig bestimmte Bewegung ausführten, sich drehten und umeinander tanzten. Aber später bekam ich die Gelegenheit, wieder mal mit meinem Raben zu tanzen. Schlagartig wurde alles um mich herum gedämpft, dunkler und ich tauchte in seine Wärme, mit der mich sein Körper umhüllte. Ich kam mir gegen seine grazilen Bewegungen fast plump vor aber seine Gegenwart verdrängte bald alle vernünftigen Gedanken. Wir durchschwebten unsere persönliche kleine himmlische Hölle. Dann tanzte ich sogar mit Bouvier, der Liobá dafür an Gabriel abtrat. Auch er konnte tanzen wie ein Magier, wir waren eng umschlungen und die Welt schien sich zu entfernen. Aber wenn Gabriel mir schon oft wie ein gezähmtes Wildtier vorkam, so war Bouvier dagegen kontrolliert und überlegend. Er war nicht unbedingt gelassen, strahlte sicher auch diese irritierende Sinnlichkeit aus, aber er war stets selbstbeherrscht. Jemand, der seine Emotionen jederzeit voll im Griff hatte. Und erst beim Tanzen konnte ich das Ausmaß seiner Selbstkontrolle erkennen, vorher war ich ihm nie bewußt so nah gewesen, sowohl seinem Körper als auch dem Geist.

Es war schon sehr spät, die meisten Gäste waren schon längst gegangen, als ich nach draußen ging, um etwas frische Luft zu schnappen. Der Parkplatz vor mir war fast leer, gerade mal noch fünf Wagen und bei der Koppel hinten an der Seite stand noch ein riesiges Wohnmobil, das vorher nicht da gewesen war. Ich blieb auf der Terrasse stehen und lehnte mich über die Brüstung. Die Schritte hinter mir hatten einen vertrauten Klang: Kolya. Er lehnte sich neben mich und starrte in die Nacht hinaus. Leise meinte er: „Ich habe ein ungutes Gefühl, Kleine. Irgendwas stört mich, ich weiß nur nicht was.“

Bevor ich noch eine Antwort geben konnte, krachte ein Schuß dröhnend durch die Stille der Nacht. Ein Pferd wieherte. Und dann ging Kolya mit einem leisen Schmerzlaut  neben mir zu Boden. Entsetzt und wie versteinert starrte ich auf das dunkle Blut, das aus seiner Schulter floß. Im nächsten Augenblick sah ich mehrere dunkle Gestalten, die sich von verschiedenen Seiten, vom Parkplatz und auch von der Waldseite, dem Hauptgebäude näherten. Sofort duckte ich mich hinter den Zaun der Veranda.

Der Weg zur Eingangstür war mir versperrt, soweit reichte der schützende Zaun nicht, Kolya lag davor und außerdem stand genau dort eine Lampe. Langsam und vorsichtig kroch ich auf die nahe Ecke des Hauses zu Richtung Pferdekoppel. Hoffentlich hatten die anderen den Schuß gehört, die Chancen standen gut, weil die Musik schon seit einiger Zeit nicht mehr spielte. Hektisch suchte ich in meiner Tasche nach der kleinen Pistole, die ich seit einiger Zeit immer bei mir hatte. Die Gestalten näherten sich langsam dem Hauptgebäude, immer die Lampen vermeidend, die auf dem Parkplatz an einigen Stellen ein mageres Licht spendeten. Es waren bestimmt zehn Leute, die sich da von verschiedenen Richtungen näherten. Die dunkle Aura machte es schwer, sie zu erkennen, machte aber sehr deutlich, was da auf uns – genauer – auf mich zukam. Dann krachte von der andren Seite des Hauses ein weiterer Schuß und eine der vorderen Gestalten ging zu Boden. Hilfe? Ich hatte die Ecke erreicht und schielte vorsichtig an der Seite des Gebäudes entlang. Es schien niemand hier zu sein, aber am Wohnmobil war eine schwache Bewegung auszumachen.

Aus dem Haus hörte ich Rufe und das Splittern von Glas. Also waren sie zumindest aufmerksam geworden. Aber sie wußten nicht, daß hier so viele Leute lauerten. Ich machte mir schreckliche Sorgen um Kolya und hatte Angst um meinen Raben, daß er direkt in eine Falle lief. Doch für beide konnte ich momentan nichts tun. Aber für mich: am Leben bleiben.

An der hinteren Ecke des Hauses tauchte geduckt ein dunkler Schatten auf. Ohne zu zielen und sicher völlig ungefährlich für den Angreifer drückte ich ab und der Schatten verschwand wieder. Ich schaute zu dem Wohnmobil. In der Tür davor stand völlig ungedeckt ein einzelner Mann, der direkt zu mir rüber sah. Er trug keine sichtbaren Waffen und dennoch war er gefährlich, jeder Zentimeter von ihm strahlte es aus, seine Haltung zeigte siegesgewissen Stolz und Arroganz. Er war eine imponierende, sehr ungewöhnliche Erscheinung und er sah mich direkt an, so daß ich einfach aufstand und zurück blickte.

Ich wußte sofort, wen ich vor mir hatte, man brauchte ihn mit nicht vorzustellen.

Das war Dezmont Darian. Der weiße Drache. Er trug den Namen zu Recht. Obwohl er zu weit weg war, um Einzelheiten zu erkennen, würde ich ihn auch so nicht vergessen. Schlank, sehr groß, komplett in Weiß gekleidet, im Gegensatz zu all seinen  ‚Brüdern’, die ich bisher kennen gelernt hatte. Er hatte helle Haut und aus dieser Entfernung sahen sogar seine Haare schneeweiß aus. Das Licht konnte trügen und die schwarze Aura verstärkt sicher den Kontrast, dennoch war ich überzeugt, daß die langen, offenen Haare keine Farbe hatten.

Hinter mir ertönten weitere Schüsse, man hörte jemanden aufschreien und abrupt verstummen, jemand anders rannte. Ich drehte mich nicht um, ich wollte diesen Mann nicht aus den Augen lassen, sah ihn unbeweglich weiter an. Nein, das war niemand, der reden wollte. Der tat nur, was er wollte, gehorchte seinen eigenen Regeln. In diesem Augenblick verstand ich viel von der Sorge, die Gabriel hatte. Das war ein gefährlicher Gegner und um das zu erkennen, reichte mir ein einziger Blick. Er machte mir Angst.

Auch Dezmont hatte auf die Geräusche nicht reagiert. Unbeweglich stand er da, nur ein leichter Wind in seinen Haaren bestätigte, daß er keine Statue aus Marmor war. Irgend etwas jaulte und berührte mich leicht am Arm. Erst jetzt bewegte die Gestalt sich. Er hob einen Arm, ballte eine Faust und senkte den Arm wieder. Dann trat er ein paar Schritte in meine Richtung. Er sprach nicht laut, aber trotzdem konnte ich sogar auf diese Entfernung jedes Wort verstehen: „Dieses Mal hattest du Hilfe, wir wurden überrascht. Das passiert nicht wieder. Beim nächsten Mal nehme ich dich mit. Oder du kommst jetzt zu mir und rettest so vielleicht deinen Freunden das Leben. Überlege es dir, ein einmaliges Angebot, LaVerne.“

Seine Stimme war ruhig und die Drohung darin war nicht versteckt, sondern gewollt. Er wollte einschüchtern, das war seine Macht. Und er war gut darin. Nie wieder würde ich auf den Gedanken kommen, mich freiwillig zu ergeben. Er nannte sich Weißer Drache, aber er strahlte die tiefste und kälteste Dunkelheit aus, die ich je erlebt hatte: „Nein, auch beim nächsten Mal wirst du verlieren, denn manche Dinge kann man nicht mit Gewalt erreichen.“ Das war eine schwache und optimistische Antwort aber mehr konnte ich nicht sagen, ich hatte viel zu viel Angst, um mehr zu erwidern. Aber ich riß mich zusammen und ging langsam rückwärts zur Ecke des Hauses von wo ich gekommen war, weg von ihm.

Bewegungslos sah er mir nur zu, wie ich mich vorsichtig rückwärts tastete. Er wartete und nach und nach fanden sich mehrere der dunklen Männer hinter ihm ein und verschwanden im Wagen. Dann endlich, in einer geschmeidigen Bewegung hob er grüßend den Arm, drehte mir den Rücken zu und Sekunden später setzte sich das Wohnmobil über eine Seitengasse an der Koppel in Bewegung, weg vom Haus.

Ohne mich noch einmal umzusehen, eilte ich um die Ecke. Was war mit meinen Freunden? Gabriel war nicht zu sehen, ebenso wenig wie Liobá, aber auf der Terrasse kniete Bouvier und hielt Kolyas Kopf in seinem Schoß, ein Tuch auf die Wunde gedrückt. Bouviers Haare standen wirr ab. Unter der Veranda näherte sich von der anderen Seite Charon mit einem weiteren Mann. Dann tauchte endlich Gabriel auf, hinter mir, er war wohl um das Haus herum gegangen. Ohne ein Wort nahm er mich in die Arme. Ich drückte mich an ihn und fragte: „Was ist mit Kolya?“ Noch einen Moment hielt er mich, dann schien er sich zu sammeln, zurück zu kehren, und antwortete: „Es scheint, er ist schlimm verletzt, eine Silberkugel steckt noch in der Schulter. Wir werden ihn schnellstens zurück in Bouviers Haus bringen müssen und alles tun, was möglich ist.“ Er schwieg wieder und ich spürte seinen Körper leicht zittern. Sehr leise sagte er: „Ich weiß nicht, ob er überleben wird, meine Rose.“ Ich war fassungslos. Dies war schlimmer, als damals bei John, bei ihm gab es noch einen Ausweg. Und ich spürte deutlich die Verzweiflung, mit der Gabriel jetzt gerade kämpfte.

Zum Glück mischte sich Charon ein: „Wir müssen uns beeilen, Gabriel, die Kugel muß raus, jede Minute zählt. Du fährst mit Kolya und Bouvier voraus, ihr seid am Qualifiziertesten. Ich werde mit meinen Leuten und den Frauen nachfolgen. Keine Sorge, ich habe versprochen, sie zu schützen und das tue ich auch. Außerdem hat Dezmont für heute genug. Er hat sechs Männer verloren.“ So schlimm war es also. Gabriel reagierte noch immer nicht, stand starr und hielt mich fest – oder sich an mir. Sanft machte ich mich los und zog seinen Kopf, daß ich die dunklen Augen sehen konnte. Sie waren so weit fort. Ich sprach eindringlich: „Mein schwarzer Rabe, er hat Recht! Bitte beeilt euch mit Kolya! Ich bin hier sicher und ich werde mit Liobá gleich nachkommen. Bitte Gabriel, ich will nicht, daß Dezmont auch nur einen kleinen Sieg davon trägt.“

Die Worte drangen durch. Er sah mich jetzt endlich an, direkt in meine Augen. „Heute gibst du mir von deiner Kraft, meine Rose. Gut, wir fahren sofort los, ich weiß dich in guten Händen.“ Mit vereinten Kräften wurde Kolya in den Jeep gehievt. Dyke hatte ich bisher noch nicht gesehen. Der Bär war leichenblaß und seine Augen waren geschlossen. Dann fuhr Bouvier den Wagen selber, ganz vorsichtig, während Gabriel hinten Kolya wie ein kleines Kind in den Armen hielt.

Ich sah zu Charon: „Ich gehe rein und sehe nach Liobá. Treffen wir uns in ein paar Minuten hier draußen? Er nickte: „Meine Leute sind soweit unverletzt, aber euer Begleiter hat einen Streifschuß abbekommen, wie du auch. Wir werden euch verarzten, bevor wir losfahren.“ Ich auch? Ich sah an mir runter. Dreckig, ja, aber kein Blut Charon schüttelte den Kopf, trotz der ganzen Situation entlockte ihm mein fragender Blick fast ein Lächeln. Wortlos deutete er auf den Arm. Genau, da war was an mir vorbei geflogen, als ich Dez angestarrt hatte – nicht mehr dran denken. Sofort kam diese unbestimmte Angst zurück. Ich warf einen Blick auf die Stelle. Wenn es nicht weh tat, konnte es auch nicht so schlimm sein. Nur eine dunkle Spur auf dem hellen Hemd und vielleicht ein Tropfen Blut. Also unwichtig – im Vergleich zu Kolya. Ich zuckte die Schultern und kehrte ins Gasthaus zurück. Von den Angestellten und den anderen Gästen war nichts zu sehen, ein paar Stühle waren umgekippt und nur ein leichtes Glühen im Kamin spendete etwas Licht. Wo steckte sie? „Liobá?“ Ich rief nicht sehr laut und bekam dementsprechend keine Antwort. Die Küche schien mir nicht der richtige Ort für eine Suche, also ging ich in Richtung Toiletten. Noch einmal rief ich.

„LaVerne?“ Das kam aus der Herrentoilette. Ohne Zögern ging ich rein. Eine der Türen öffnete sich und eine etwas zerzauste Liobá steckte den Kopf raus. Im nächsten Moment stürzte sie raus und umarmte mich während sie schniefte: „Ich hatte solche Angst. Gott sei Dank, ist dir nichts passiert. Es war so schrecklich. Wo ist Bouvier, ist er OK?“ Ich drückte sie an mich und zog sie langsam in den Gastraum zurück. „Ihm ist nichts passiert. Und ich hatte auch Angst. Aber wir müssen zurück, Kolya ist schwer verletzt und sie bringen ihn gerade nach Hause.“

Mein Herz verkrampfte sich. Ich wollte schnellstens zu ihm, auch wenn ich nichts tun konnte. Liobá schaute entsetzt, faßte sich aber etwas. Während wir in Richtung Ausgang schritten, erzählte sie: „Als wir den ersten Schuß hörten, sprangen beide gleichzeitig auf. Sie haben kein Wort gewechselt, Gabriel ist wortlos Richtung Küche gestürzt und Bouvier hat mich zu den Toiletten gezogen. Er hat fast befohlen: ‚Versteck dich, hier  sucht dich niemand.’ Dann war er weg und es wurde mehr geschossen. Und dann war auf einmal alles ganz still. – Wie kommen wir zurück, wenn sie Kolya schon weggebracht haben und wer war das überhaupt? Galt uns das? Ja, vermutlich wohl.“

Vor der Tür auf der Terrasse standen fünf Leute. Dyke war einer von ihnen, ebenfalls blaß, mit bloßem Oberkörper trotz der Kälte und eine Frau legte gerade eine Bandage um seinen Arm. Charon nickte uns zu und wand dann seine Aufmerksamkeit der Umgebung um den Parkplatz zu. Ich beantwortete Liobá’s letzte Bemerkung: „Er bringt uns zurück“ und nickte zu Charon. Sie starrte den dunklen Mann eingeschüchtert an. „Und das waren die Leute, die schon eine ganze Weile hinter uns her sind. Mehr weiß ich bisher auch nicht. Aber ich will zurück. Können wir?“ Doch Charon schüttelte den Kopf. „Im Moment könnt ihr Kolya nicht helfen. Wenn überhaupt. Dyke braucht noch einen Moment, wir müssen noch das Auto holen und ich will mir deinen Arm ansehen.“ Ich schaute den bleichen Dyke an. Seufzend zog ich das verdreckte Hemd aus. Wie schon vermutet, war es nicht schlimm, ein roter Striemen am Oberarm, mehr nicht. Charon griff nach meinem Arm, sah ihn sich genau an und schüttelte den Kopf. Dann trat die Frau zu mir, gab eine Salbe auf den Kratzer und umwickelte den Arm dann ebenfalls mit einem lächerlich gewaltig wirkenden Verband.

Einer der Männer ging über den Parkplatz und verschwand im Wald dahinter. Liobá legte liebevoll einen Arm um Dyke und zog ihn zu einer der Holzbänke auf der Veranda. Ich zog das Hemd provisorisch wieder über  und lehnte mich an einen Pfosten. Bisher hatte ich mich noch nicht genug beruhigt, um vernünftig über die letzten Ereignisse nachzudenken. Und der Knoten in meinem Magen verhinderte effektiv eine zusammenhängende Überlegung. Charon sah mich an und meinte dann leise: „Jetzt hast du in die Augen des Drachen geblickt.“ Das war keine Frage, obwohl es im Prinzip nicht die Augen waren, die Gestalt hatte gereicht. Trotzdem meinte ich: „Ja. Er hat mir furchtbare Angst gemacht. Ich hab mich gefühlt wie das Kaninchen vor der Schlange.“ Charon ließ sich mit der Antwort viel Zeit. Aus der Ferne näherten sich Motorengeräusche. Dann meinte er: „Ich fürchte ihn nicht. Wir verfügen beide über ähnliche Qualitäten, aber ich setze meine anders ein. Auf eine Art sind wir Gegensätze des Gleichen. Und bis zum heutigen Tag waren wir keine Gegner. Und beim nächsten Mal wird es nicht so einfach werden. Er hat sechs Männer verloren, weil er nicht vorbereitet war. Und ohne uns wäret ihr das auch nicht gewesen.“ Nun, sechs Leute auf der Seite des Gegners war im Prinzip eine gute Quote für uns, wenn nicht die Sache mit Kolya wäre. So gesehen waren wir gut davon gekommen. Er hatte sein Versprechen wahr gemacht, er hatte geholfen. Und ich konnte auch verstehen, daß Charon Dezmont irgendwo möglicherweise etwas bewunderte. Sie waren sich wirklich ähnlich - zumindest was ihre Ausstrahlung anbetraf. Wo waren wir alle da nur reingeraten?

Ein großer Van ohne Fenster aber geländetauglich tauchte auf und hielt vor der Terrasse. Wir stiegen ein, einer von Charons Männern stützte Dyke und Liobá setze sich neben ihn. Schweigend fuhren wir zu Bouviers Haus in die Wildnis zurück.

Charon, Liobá, Dyke, die Frau und einer der Männer und ich stiegen vor dem großen Tor aus, der dritte Mann fuhr mit dem Wagen weiter. Charon meinte trocken: „Die Sicherheitsvorkehrungen sind hier miserabel. Kolya hatte die ganze Zeit gewarnt, und jetzt muß er dafür den Preis zahlen.“ Ich drehte mich zu Liobá. Wir mußten ein paar Sachen organisieren. „Willst du Bouvier suchen, dann kümmere ich mich um Charon und seine Leute?“ Sie nickte. „Ich schätze, sie sind oben, da gibt es so eine Art ‚Behandlungsraum’, mit Bahre, Medikamenten und so was. Wenn sie da nicht sind, geh ich suchen und sag dir dann Bescheid. Danke, daß du das hier erledigst, ich will jetzt erst mal Bouvier sehen.“ Das konnte ich nur zu gut verstehen. Also trennten wir uns, ich führte Dyke mit Charons Hilfe in die Küche und verteilte Gläser und Rotwein. Dann griff ich mir einen von Bouviers Angestellten und bestellte Essen für die Gäste. Dyke hielt sich an den Wein, aber die anderen nahmen gern was von den angebotenen Sachen. Als ich sie gut versorgt wußte, ging ich schweren Herzens nach oben, in den zweiten  Stock.

Liobá hatte Recht gehabt, aus einem der Räume drangen leise Stimmen und warmes Licht. Wieder mit diesem mulmigen Gefühl betrat ich den Raum. Mitten im Zimmer stand eine Liege, darauf Kolya, sein bloßer Oberkörper mit den vielen Muskeln fast farblos. Links von ihm stand ein Stuhl, auf dem Gabriel saß, neben ihm ein Rollwagen und darauf Schalen mit Blutresten darin, zerrupfte Tücher, Spritzen und verschiedene Messer und andere Werkzeuge. Mit dem Rücken zu mir saß Bouvier auf einem zweiten Stuhl auf der anderen Seite von Kolya. Liobá stand hinter ihm und hatte ihre Hände auf seine Schulter gelegt. Keiner schaute auf, als ich eintrat. Leise ging ich ans Kopfende und legte meine Hände auf Kolyas Wangen. Er war eiskalt, mit einem leichten Schweißfilm und reagierte in keinster Weise. Gabriel hob den Blick nicht, als er mit einer mir sehr fremden Stimme sagte: „Er stirbt. Mein Bruder will mich verlassen und ich finde keinen Weg, zu ihm durchzudringen. Es übersteigt meine Fähigkeiten.“ Ich konnte nichts tun, um Gabriels Schmerz zu lindern, ich fühlte eine ganz ähnliche hilflose Verzweiflung in mir, aber auch Wut. Die Wunde in seiner Schulter war tief und dunkel verfärbt. Langsam ging ich zu Gabriel und strich ihm eine Strähne aus der Stirn. Endlich löste er den Blick von dem Mann vor uns auf der Liege und schien mich richtig wahrzunehmen. „Kolya war unruhig vorhin, er ist dir nachgegangen, weil ihm irgendwas nicht gefiel.“ Ja, das hatte er noch zu mir gesagt. Und wie recht hatte er gehabt. Ich spürte, wie die Tränen sich in meinen Augen sammelten. Aber ich würde nicht weinen. Noch nicht.

Ich zog Gabriels Kopf zu mir und gab ihm einen einzelnen sanften Kuß. Ich versuchte, meine ganze Kraft und alle Zuversicht, die ich aufbringen konnte, da hinein zu legen, die Angst zu unterdrücken, die Verzweiflung. Gabriels Augen waren tiefdunkel und undurchdringlich. Nach meinem Kuß schloß er sie kurz  und als er mich dann wieder ansah, schien er etwas gefaßter zu sein. „Danke, meine Rose.“ Ich sah zu Bouvier, der ähnlich blaß war. „Ihr beide müßt einen Moment Pause machen. Ihr habt alles Menschenmögliche für ihn getan. Jetzt müßt ihr eure eigenen Kräfte wieder sammeln. Unten sitzen Charon und Dyke. Holt euch etwas Wein, ich bleibe solange bei Kolya. Wenn was passiert, rufe ich euch, aber es bringt nichts, wenn ihr hier gleich zusammenbrecht.

Ich war überrascht, daß sie sogar gehorchten. Aber auch sie hatten die ganze Zeit unter Spannung gestanden. Liobá ging mit ihnen und plötzlich fand ich mich völlig alleine mit meinem großen Kolya und meinen chaotischen Gedanken. Auch ich hatte bisher kaum Gelegenheit gefunden, über die Ereignisse der letzten Stunden nachzudenken. Und darüber zu reden. „Ich will, nicht, daß du stirbst. Wer paßt dann auf mich auf? Wer lacht mit mir und wer erklärt mir euer Leben, wer trainiert dann mit mir, mein Bär?“ Wie fremd klang meine Stimme!

Natürlich bekam ich keine Antwort. Gedankenverloren schaute ich meinen starken Freund an, wischte ihm den Schweiß von der Stirn. Und dann begann ich, ihm von meinen Gefühlen beim Anblick von Dez zu erzählen. Wenn er mich auch nicht hören konnte, tat es trotzdem gut. „Ich hatte furchtbare Angst, aber trotzdem die Waffe in der Hand, wie du es mir immer eingebleut hast. Sein Name paßt, aber gegen ihn wirkt selbst Charons kalte Kraft verloren.“ Ich legte sanft eine Hand neben die Wunde. Die Haut war noch immer eiskalt aber schien auch hier feucht von Schweiß zu sein. Näher an der Verletzung spürte ich eine unangenehme Hitze beginnen, die sich ausbreitete und mit ihr eine dunkle, böse aussehende Färbung, wie von einer Blutvergiftung. Ich holte eine Decke aus der Ecke und legte sie ihm bis zur Brust über.

Dann starrte ich ihn an. In Zusammenhang mit Dezmont war mir ein Gedanke gekommen. Keine rettende Idee – bestimmt nicht – aber vielleicht eine Möglichkeit, auch etwas beizutragen. Ohne zu fragen wußte ich, daß sowohl Gabriel als auch Bouvier von ihrem Blut gegeben hatten, um Kolya zu helfen. Der Dolch und Spuren auf Kolyas Gesicht waren Beweis genug. Charon hatte ohne Schaden mein Blut gekostet, wichtig war nur, daß es nicht durch einen Biß floß. Und um es ganz klar zu formulieren, ich konnte Kolya nicht schaden, denn sogar Gabriel sah für ihn kaum eine Chance. Was hatte ich also zu verlieren? Oder Kolya. Die Männer hatten mit ihren Fähigkeiten Kolyas Wunde nicht schließen können, denn Silber widersetzte sich ihnen.

Entschlossen griff ich nach dem Dolch und einer kleinen Schale, die in der Nähe stand. Ohne nur weiter nachzudenken schnitt ich mir in den linken Arm und hielt ihn ungeschickt über die Schüssel. Natürlich lief einiges vorbei und auch meinen Arm runter aber ich nahm mir nicht die Zeit, das zu beachten. Und ich wollte nicht unbedingt, daß irgend jemand von meiner Aktion was mitbekam. Ich schloß meine Wunde und hielt die Schale etwas ungeschickt über Kolyas Oberkörper. Und wie ging es weiter? Hätte ich vielleicht vorher darüber nachdanken sollen. Ich sah mich fragend um. An der Wand stand ein Tisch mit verschiedensten ‚Werkzeugen’, Zangen, Skalpelle, Pinzetten und einige Spritzen ohne Nadeln. Genau das, was ich brauchte. Unzeremoniell stellte ich die Schale auf Kolyas unbewegliche Brust und holte eine davon. Vorsichtig zog ich etwas Blut auf und schaute mir die Wunde genau an. Mit einiger Überwindung zielte ich direkt dorthin, wo das Herausschneiden der Kugel ein Loch hinterlassen hatte. Soweit ich mich traute – und meine zitternde Hand es mitmachte – schob ich die stumpfe Spritze hinein und drückte den Kolben.

Wenn ich mit einer Reaktion gerechnet hatte, wurde ich enttäuscht. Das Blut verschwand einfach irgendwo in Kolyas Wunde. Noch zwei Mal legte ich nach, dann nahm ich den kläglichen Rest des Blutes und praktizierte es wieder nach einiger Überwindung und  mit Hilfe der Spritze in seinen Mund. Er schluckte es wohl eher aus Reflex. Als alles verbraucht war, räumte ich die verräterischen Spuren weg. Aber etwas wollte ich noch versuchen. Ich beugte mich über ihn und küßte die Haut neben seiner Wunde. Vermutlich bildete ich mir nur ein, daß sie nicht mehr so heiß war. Ich überwand ein kurzes Zögern und fuhr liebevoll mit der Zunge über die Ränder des Schnittes. Und tatsächlich, die Verletzung wurde eindeutig kleiner und nach kurzer Zeit, während der ich nicht absetzte, schloß sich die Wunde. Also funktionierte zumindest meine Fähigkeit der Heilung noch bei ihm. Ob es aber reichte? Die verletze Stelle war noch immer heiß und geschwollen, aber nicht mehr offen. Aber ob es am Ende Kolya überhaupt helfen würde, war mehr als fraglich, er hatte eine tiefe Vergiftung in seinem Körper. Ich hatte alles getan, was mir möglich war. Hoffentlich hatte ich das Gift in seinem Körper nicht nur einfach eingeschlossen.

Schnell deckte ich ihn bis zum Hals zu, als ich draußen Schritte hörte. Ich wollte einfach nicht, daß irgend jemand diesen vielleicht lächerlichen Versuch mitbekam oder mir Vorhaltungen machte, warum auch immer. Oder falsche Hoffnungen geweckt wurden, denn sehr optimistisch war ich nicht, er sah so furchtbar aus. Aber so konnte ich wenigstens einen kleinen Beitrag leisten. Gabriel und Charon betraten zusammen das Zimmer, ersterer noch immer sehr blaß und ohne den für ihn typischen raubtierhaften Gang. Charon sah auf Kolya: „Er ist ein starker Kämpfer. Wenn jemand eine Chance hat, dann er. Jetzt werden wir bei ihm wachen, geh runter zu den anderen und ruh dich aus, LaVerne.“ Er hatte ungewohnt sanft gesprochen und sachte mit einer Hand über Kolyas Kopf gestrichen. Ich nickte. Im Vorbeigehen berührten Gabriel und ich uns an der Hand, nur einen Moment, aber Energie schien zwischen uns zu fließen. Gabriel blickte mich einen Augenblick an, lächelte ganz leicht und setze sich dann auf den Platz, den ich geräumt hatte. Beide richteten ihre Aufmerksamkeit auf Kolya. Gabriel ließ die Decke an ihrem Platz und griff nur nach Kolyas Hand, die an der Seite hervorlugte.

Ohne ein weiteres Wort ging ich nach unten und setze mich zu der schweigenden Runde in der Küche. Bouvier hatte den Kopf in den Händen vergraben und Charons Leute waren – abgesehen von der verletzen Frau, die wir noch nicht gesehen hatten – vollzählig versammelt, nur er selber war noch irgendwo im Gebäude verschollen. Liobá hatte sich in eine Ecke zurück gezogen und sprach mit einem der Angestellten.

„Das ist alles meine Schuld!“ Bouvier hatte mich gesehen und diesen Satz laut in den Raum geworfen. Scheinbar hatte er etwas ähnliches schon vorher gesagt, denn niemand beachtete ihn weiter, Liobá hatte kurz aufgeschaut und dann ihre Unterhaltung wieder aufgenommen. „Kolya hatte mich mehrfach gewarnt, Charon auch aber ich war so sicher, daß uns hier nichts passieren kann.“ Die fremde Frau am Tisch schüttelte dezent den Kopf und hob leicht eine Augenbraue in meine Richtung. Bouvier vergrub den Schädel wieder in den Händen. Die Frau antwortete mit einer ungewohnt tiefen Stimme: „Es bringt nichts, über etwas Vergangenes zu grübeln. Lerne einfach daraus.“ Und dann schaute sie zu mir. Obgleich sie saß, war sie eine stattliche Frau, bestimmt über 1,80, wenn nicht so groß wie Gabriel. Sie hatte kurze braune Haare, nur wenige Zentimeter an den längsten Stellen und passende hellbraune Augen. Aber sie wirkte mindestens so kräftig, wie Bouvier. Auch sie hatte mich gemustert und meinte jetzt wesentlich freundlicher: „Also, du bist der Grund für dieses ganze Chaos. Es freut mich, dich jetzt doch noch kennen zu lernen. Ach, und mein Name ist Cesira. Leider ist bisher niemand auf den Gedanken gekommen, uns vorzustellen.“ Sie warf einen deutlichen Blick auf den zusammengesunkenen Bouvier. Wir tauschten einen Händedruck, der Kolya gefallen hätte…

„Und ich denke, die anderen hier kennst du auch noch nicht. Der schweigsame Herr dort drüben ist Nicolas und das hier ist Aaron, der meistens irgendeinen Spruch parat hat.“ Die beiden nickten mir zu und ich erwiderte den Gruß und antwortete: „Es tut mir leid, daß wir uns so kennen lernen. Ich glaube nicht, daß ich die anderen noch groß vorstellen muß. Bouvier St. Roche kennt ihr sicher, da vorne, das ist Liobá und der noch etwas blasse junge Mann dort Dyke, einer von Gabriels Aufpassern.“ Auch hier wurde sich gegenseitig zugenickt.

Cesira übernahm weiterhin das Reden: „Wir haben geholfen, Bouviers Wachen vernünftig zu verteilen, also sollten wir jetzt erst mal sicher sein. Aber auch ich denke nicht, daß Dezmont es hier noch mal versucht. Er muß erst seine Wunden lecken und im Moment sind wir gewarnt. Unser Führer hat mehrfach vorgeführt, wie verwundbar ihr wart. Aber Kolya zahlt vielleicht einen hohen Preis für eine Nachlässigkeit. Charon hat viel Gutes über ihn berichtet. Ich hatte mich darauf gefreut, ihn kennen zu lernen.“ Ich sah sie an und fühlte wieder diesen Kloß in meinem Hals. „Du hättest ihm gefallen. Er liebt Stärke.“ Das brachte mir ein warmes Lächeln ein. Aber meine Stimme klang selbst in meinen Ohren nicht gut. Der Mann, den sie Aaron genannt hatte, fragte: „Wir haben alle lange nicht geschlafen und viel Aufregung hinter uns. Gibt es hier Räume, wo wir eine Weile ausruhen können?“ Er hatte sich an Bouvier gewandt, aber der reagierte nicht. Also sagte ich: „Natürlich. Wie rücksichtslos von uns. Wenn ihr mitkommt, zeige ich euch die Gästezimmer.“ Ich warf Liobá fragend einen Blick zu, sie war bisher eine gute Hilfe gewesen und erwies sich auch weiterhin als klug und beherrscht. Sie sah zu Bouvier und nickte dann: „Geht, ich kümmere mich um ihn.“

Dyke stand auch auf. „Ich lege mich auch etwas hin. Danke für alles.“ Also nahm ich die Frau und die zwei Männer über die Wendeltreppe mit in den ersten Stock. „Hier sind Schlafzimmer, allerdings nur durch Glas getrennt, oben gibt es einige dunkle Räume. Ihr habt die Auswahl.“ Sie wechselten einen Blick. „Hier unten ist OK.“ Also suchten wir freie Zimmer und zuletzt brachte ich Cesira ganz am Ende der Halle unter. Als ich gehen wollte, hielt sie mich vorsichtig am Arm fest: „Bleib noch ein wenig, LaVerne. Ich würde mich gerne mit dir etwas unterhalten.“

Ich wollte auch nicht gerne alleine sein und zu Kolya im Moment auch nicht. Gerne nahm ich die Einladung an. Wir ließen uns auf dem großen Bett voreinander im Schneidersitz nieder. Sie schaute auf ihre Hände und meinte dann: „Entschuldige unsere Kühle gegenüber Bouvier. Aber schlimm genug, daß er alle Warnungen ausgeschlagen hat, jetzt läßt er auch noch andere für sich handeln, seine Aufgaben übernehmen, und sei es auch nur die Vorstellung der Gäste. Wir alle haben ein Problem mit solcher Schwäche. Nicht mit Fehlern, die machen wir alle mal, sondern damit, sich darin dann zu vergraben.“ Ich war nicht sicher, ob ich im Moment willens war, Bouvier zu verteidigen. Er kannte unsere Geschichte, vielleicht hatten unsere Gäste Recht und er hätte das alles verhindern können. Aber wie hatte sie vorher gesagt, es war zu spät. Sie schien keine Antwort erwartete zu haben denn auf einmal fragte sie: „Wie geht es deinem Arm? Es schien ja nicht so schlimm zu sein.“ Ich schaute auf den Verband unter dem zerrupften Hemd: „Ich habe es nicht mal bemerkt, auch nicht, als du sie verarztet hast.“ Sie schaute mich einen Moment an, dann grinste sie – und sah dabei gleich zehn Jahre jünger aus – obwohl sie so schon wie erst knapp über dreißig wirkte. „Du hast dich da draußen sehr gut gehalten. Dein Lehrer kann stolz auf dich sein. Aber du bist trotzdem verletzt. Kolyas Wunde brennt in deinem Herzen und dein Begegnung mit dem weißen Drachen in deiner Seele. Und auch diese Verletzungen müssen erst mal heilen.“

„Das kann dauern, Cesira. Und hängt davon ab, was mit Kolya wird. Er ist mittlerweile mehr als ein Freund. Und Dezmont? Ich hab noch niemanden erlebt, der mir so viel Angst eingejagt hat, so nachdrücklich und das einfach durch seine Anwesenheit. Keine Ahnung, warum. Ich weiß, daß ich ihm nicht noch mal in die Augen sehen will, aber ich werde mit dem Schrecken zurechtkommen – wenn es auch noch etwas länger dauern sollte.“ Sie nickte. „Du hast in eine schwarze Seele geblickt. Auch der Imprecatio Curor  ist Dunkel, aber wir genießen unsere Arbeit nicht, wir folgen dem Kodex und dem Rat der Alten, daher sind wir doch anders als er. Doch möglicherweise macht dich diese Begegnung am Ende stärker. Und du hast Freunde, die zu dir stehen und dich so heilen werden. Kolya kenne ich leider nicht. Natürlich habe ich von dem Kaj des Corvus-Zirkel gehört. Und bedenke, daß er sein Leben der Aufgabe widmet, die zu schützen, die er liebt, und wenn er dafür den letzten Schritt gehen muß. Aber wir alle in der Blutsgemeinschaft haben schon so lange gelebt und irgendwann muß jeder von uns gehen, wir haben das lange akzeptiert. Und es hat für uns den Schrecken verloren. Auch für jemanden wie Kolya.“

Sie hatte natürlich Recht, aber trotzdem… „er vielleicht, aber ich habe es noch nicht akzeptiert. Ich will nicht, daß er stirbt!“ Diese einfachen Worte brachten die Tränen zurück, die ich vorhin erfolgreich unterdrückt hatte. Wortlos hielt sie ihre Arme auf, ich legte meinen Kopf an ihre Brust und hielt mich krampfhaft fest. Langsam formten die letzten Ereignisse in meinem  Geist nicht ein Band von eigenständigen Bildern, sondern ein Stück echtes Geschehen. Und ich fühlte mich so müde und verlassen und hilflos. Liebevoll strich Cesira über meinen Kopf und ließ mich einfach eine Weile weinen. Erstaunlicherweise half es. „Entschuldige, ich wollte nicht…“ mir blieb die Stimme weg. Doch sie machte nur eine leichte Bewegung: „Wir alle brauchen solche Zeiten! Du wärest kein Mensch, wenn es dich nicht berühren würde.“ Ich schniefte leicht und wirklich ging es mir um einiges besser.

Dann machten wir es uns auf dem großen Bett etwas gemütlicher und ich erzählte von meinen Erlebnissen mit Kolya, versuchte in Worte zu fassen, was für ein Mann er war, wie er war und was er für mein Leben bedeutete. Und Cesira hörte begeistert zu, lachte mit mir und indem ich ihn mit ihr teilte, ging es mir besser. Ich wurde ruhiger und nach und nach fielen ein Großteil der Spannung und Angst von mir ab. Eine Weile erzählte dann Cesira aus ihrem abenteuerlichen Leben und irgendwann waren wir so erschöpft, vom Reden und Lachen, daß wir auf dem großen Bett aneinandergekuschelt eindösten.

Gabriel weckte mich ganz vorsichtig: „Komm mit, schwarze Rose“ flüsterte er. Cesira drehte sich im Halbschlaf um, öffnete ein Auge, schloß es wieder und schlief weiter. Leise folgte ich ihm in das obere Stockwerk. Ich hatte sein Gesicht nicht richtig erkennen können und er sagte nichts, also hatte ich keinen Anhaltspunkt, wie es um Kolya stand und der Weg wurde mir lang. Ich war um einiges ruhiger, seit meiner Unterhaltung mit Cesira. Aber je näher wir dem Raum kamen, desto nervöser wurde ich wieder. Ich wollte mich einfach noch nicht von Kolya verabschieden, auch wenn es ein Teil des Lebens sein sollte.

Der Raum war nur noch schwach beleuchtet und Kolya lag noch immer zugedeckt auf der Liege in der Mitte des Raumes. Gabriel blieb an seinem Kopfende stehen und wartete, bis ich an dessen Seite getreten war. Liebevoll legte Gabriel eine Hand auf Kolyas Wange, mit der anderen Hand zog er die Decke zur Seite und enthüllte die Stelle, an der die schwere Verletzung gewesen war. Aber außer einer leichten Verfärbung und einer Schwellung darum war die Wunde verheilt. Ich starrte auf die Stelle und sah dann Gabriel an. Er lächelte nicht, schaute mich nur an und wartete. Es war nicht zu erkennen, was er in diesem Moment dachte. Oder ob es Kolya besser oder schlechter ging. Gabriel hatte – natürlich – den richtigen Schluß gezogen, doch wie er zu meiner Einmischung bei seinem engsten Vertrauten stand, wußte ich nicht. Aber ich würde dazu stehen, zum Guten oder Schlechten, ob es half oder nicht. Ich wollte meinen Teil dazu beitragen und Kolya war auch mein Freund.

„Ich habe versucht, die Wunde zu schließen. Ich dachte, daß es ihm vielleicht helfen würde. Ich konnte doch nicht da dasitzen und ihm beim Sterben zusehen. Ihr habt doch auch alles versucht.“ Noch immer sagte er nichts. Vorsichtig deckte er seinen Freund wieder zu und preßte sanft seine Lippen auf dessen Stirn. „Es sieht so aus, als ob er überleben wird. Zumindest sind die Chancen gestiegen, er ist nicht mehr so kalt und vorhin war er kurz wach.“

Ich hatte das Gefühl, als würde sich das Zimmer um mich drehen, wieder spürte ich die Tränen aufsteigen – doch diesmal aus Erleichterung. Gabriel schien etwas zu ahnen, denn mit einer schnellen Bewegung war er bei mir und legte beide Arme um mich. So standen wir eine Ewigkeit und genossen die Erleichterung des anderen, daß unser Freund eine echte Chance hatte. Gabriel hielt mich noch immer fest umschlungen, als er fragte: „Warum heimlich, warum hast du nichts gesagt, warum nicht mal zu mir?“ Eine gute Frage. „Ich weiß nicht, zum einen wollte ich wohl keine falsche Hoffnung wecken, ich hab nicht wirklich geglaubt, daß ich was ausrichten kann. Außerdem war es eher spontan und ich wollte nicht darüber näher nachdenken oder gar die Vor- und Nachteile mit jemandem durchdiskutieren. Sei nicht böse, mein Rabe.“ Er drückte mich nur um so fester und meinte: „Böse? Niemals! Dankbar und ärgerlich auf mich, daß ich nicht selber auf diese Idee gekommen bin. Aber mein Geist war nur bei ihm, bei seinem Schmerz. Ich hab erst Verdacht geschöpft, als seine Hand sich etwas bewegte.“

Er küßte mich mit so viel Leidenschaft, daß mir der Atem weg blieb, obwohl sicher nicht alles davon mir galt. Trotzdem, Verlangen flackerte in uns auf, und für eine kurze Zeit vergaßen wir alles um uns herum, als der Rabe seinen Flügel um mich legte und unsere Seelen sich im Feuer verbrannten. Mühselig und widerstrebend lösten wir uns voneinander, aber das Band aus Wärme und Kraft blieb zwischen uns.

Wir saßen wortlos lange an Kolyas Liege. Unsere Hände hielten einander über seiner Brust und plötzlich und unerwartet regte er sich. Gabriel legte die flache Hand auf seine gesunde Schulter: „Bleib liegen, mein geliebter Bruder. Wir wachen über dich und du wirst wieder gesund.“ Kolya öffnete die Augen, sah Gabriel und dann auch langsam mich an. Ein Schatten seines alten Grinsens erschien, als er rauh flüsterte: „Ich habe geträumt, ich hätte dein Blut genommen, LaVerne, und danach durchströmte mich eine neue Kraft. Ein schöner Traum.“ Erschöpft schwieg er und schloß dann wieder die Augen. Aber jetzt schien er eher zu schlafen, er atmete langsam und sehr gleichmäßig. Gabriel sah mich an und zog mich dann leise aus dem Zimmer. „Lassen wir ihn schlafen. Ruhe ist oft die beste Medizin. Komm, ich habe seit Stunden nichts gegessen und getrunken.“ Wir gingen in den Aufenthaltsraum im ersten Stock, wo ein dienstbarer Geist Tassen, Thermoskannen und belegte Brote aufgebaut hatte. Während Gabriel uns beiden Wein einschenkte, fragte er: „Hat Kolya wirklich geträumt, oder hast du noch mehr getan, als die Wunde zu schließen?“ Ich nahm das Glas. „Nathaniel hat gesagt, wenn es nicht mit den Zähnen vergossen wird, ist mein Blut im Prinzip so normal wie eures. Er war ebenso überzeugt davon, wie Charon. Ich mußte einfach einen Beitrag leisten und ich konnte es wohl kaum schlimmer machen.“

Gabriel lehnte sich entspannt zurück und trank. „Nein, konntest du nicht. Und Kolya hätte es angenommen, wenn er gefragt worden wäre, allerdings nicht als Heilmittel sondern als deine Art, eure Freundschaft und Verbundenheit zu vertiefen. Ob es weise war, weiß ich nicht, aber es ist jetzt egal geworden.“ Einige Zeit waren wir alleine, aber nach und nach gesellten sich die anderen Besucher des Hauses zu uns. Cesira lächelte mich an: „Ich hab schon gehört, Kolya geht es etwas besser. Nach deinen Geschichten bin ich jetzt natürlich doppelt auf das Original gespannt.“ Der Einzige, der sich nicht blicken ließ, war Bouvier. Liobá zuckte etwas hilflos mit den Achseln: „Er wollte nicht mit mir reden. Er gibt sich an allem die Schuld. Vor einiger Zeit ist er weggegangen, wie er sagte, um seine Leute zu kontrollieren.“ Charon bemerkte kühl: „Nun, ihn trifft wirklich einige Schuld. Selbstsicherheit kann ganz schnell zu Ignoranz werden. Jetzt ist es für Reue zu spät.“ Gabriel neben mir wollte etwas sagen, schwieg dann aber doch. Die Angst um seinen Bruder dort oben im nächsten Stockwerk saß noch zu tief. Ich antwortete statt dessen: „Jeder macht mal Fehler. Denk dran, Charon, wenn Dezmont keinen gemacht hätte, säßen wir jetzt nicht hier. Und wir lernen, noch mal wird so was garantiert nicht passieren.“

Und da gaben mir alle Recht. Dann begannen Charon und Gabriel über unsere baldige Abreise zu reden, welche Pläne geändert werden mußten, Vorgehensweisen und dergleichen. Also entschuldigte ich mich und kletterte nach unten. Am Fuß der Treppe lag – wie fast immer – Ice und wartete auf Streicheleinheiten. „Hey, mein Freund, kannst mir helfen? Die zweifarbigen Augen sahen mich fragend an. „Weißt du, wo Bouvier ist? Such dein Herrchen, mein Lieber!“ Er stand gemächlich auf, schüttelte sich einmal und setze sich dann Richtung Ausgang in Bewegung. Nun gut. Aus einem der Zimmer lieh ich mir eine viel zu große Jacke und ging dann dem Husky nach. Wir folgten ein Stück dem Verlauf des Sees und dann einem Pfad zu einer kleinen Lichtung. In der Mitte stand ein alter Baumstumpf und im Mondlicht erkannte ich Bouviers dunkle Haare. Der Hund ließ sich zufrieden zu seinen Füßen nieder und wurde mit einem abwesenden Kraulen belohnt.

Bouvier reagierte nicht, als ich mich neben ihn setzte. Er starrte weiter auf einen fernen Punkt. „Kolya geht es etwas besser, er wird wohl wieder fit werden.“ Wenn er sie überhaupt gehört hatte, reagierte er nicht auf meine Worte. In meinem Kopf gab ich ihm eigentlich keine Schuld, ich wußte nichts über Sicherheitsvorkehrungen und dergleichen, nur, daß all das mir gegolten hatte. Also, wenn jemand etwas für das momentane Dilemma konnte, war das doch wohl ich. Aber es brachte nichts, ihm das zu sagen, es würde einfach abperlen. Also konnte ich genauso gut das tun, was ich schon länger wollte, ihn nach einer bestimmten Begebenheit fragen. Vielleicht half ihm diese Ablenkung ja auch ein wenig.

„Bouvier, du mußt für mich ein Geheimnis lüften, das mich schon länger verfolgt. Ich habe gehört, daß du und Gabriel vor vielen Jahren Nathaniel als erste akzeptiert habt. Und ihr ward Freunde. Aber irgendwas ist dann passiert und hat die Freundschaft so sehr belastet, daß Gabriel nie mit mir darüber sprechen wollte und nur äußerst ungern Nathaniels Haus betrat. Würdest du mir sagen, was es war?“

Zuerst reagierte er noch immer nicht und ich hatte schon fast den Vorsatz, ihn alleine zu lassen. Doch dann sprach er leise, ohne aufzusehen: „Das alles geschah zu der Zeit, kurz bevor Charon den Imprecatio Curor übernahm. Und auch bei dieser Geschichte ist der Weiße Drache vertreten. Darian hatte seinen Kader gefangen genommen, obgleich er noch der Nadiesda Thurus angehörte. Der Rat der Alten sah die potentielle Gefahr  dieses Mannes und forderte den Fluch des Blutes auf, diese unsägliche Handlung gegen den Kodex zu beenden. Doch Darian, noch fähig im Licht zu wandeln, tötete deren damaligen Anführer. Das ist nicht bewiesen, aber die Vermutung drängte sich auf.

Daraufhin wurde Nathaniel gebeten, Dezmont zu stoppen. Du weist sicher, daß er immer die Wahl hatte, einen Auftrag abzulehnen. Und genau das tat er in diesem Fall. Er war wohl der Meinung, Dezmont sei nur ein kleiner Wichtigtuer mit viel Glück. Er sah in ihm keine Gefahr für die Zirkel. Warum er das so sah, weiß ich nicht. Aber Gabriel war anderer Ansicht. Ein Angriff auf den eigenen Kader war ein sehr schweres Vergehen. Trotz heftiger Diskussionen ließ Nathaniel sich nicht umstimmen, er wollte nicht die Hand gegen ein Mitglied der Nadiesda Thurus erheben, das nicht eines Verbrechens überführt war. Und so trennten er und Gabriel sich nach vielen harten Worten, gerade rechtzeitig, um sich nicht gegenseitig zu schaden.

Viel später tauchte Dezmont dann wieder auf – er hielt sich einige Zeit versteckt. Er hatte seinen Kader gezwungen, ihn zu wandeln. Mehr noch, er erklärte, er wäre der Nachfolger des mittlerweile toten Kader des Anguis-Zirkel. Einige folgten ihm, weil sie ihn bewunderten, die meisten aus reiner Furcht. Dann wurde es erst einmal eine Zeit still um Dezmont, er sammelte Kräfte und erst dann ging sein Zug gegen den Kodex und die Zirkel richtig los. Als Nathaniel endlich ebenfalls erkannte, daß er einen Fehler begangen hatte, waren zu viele harte Worte zwischen ihm und Gabriel gefallen, als daß die Freundschaft einfach wieder hätte gekittet werden können. Und so wurde die Macht des Drachen stärker und Nathaniel und Gabriel gingen sich aus dem Weg.“

Ich war verblüfft, um es vorsichtig zu sagen. Zu Anfang zögerlich, hatte Bouvier nach und nach mit mehr Emotionen gesprochen. Das war der Fehler gewesen, den Nathaniel angesprochen hatte. Und Gabriel hatte Dezmont von Anfang an richtig eingeschätzt. So alt waren die Differenzen zwischen den Zirkeln schon. Vielleicht lag da auch ein Trost für Bouvier. „Ich kann mir vorstellen, daß Nathaniel lange darunter gelitten hat, so, wie Gabriel auch. Und die Ereignisse der letzten Zeit haben Gabriel nur schrecklich deutlich gezeigt, wie richtig er gelegen hat. Trotzdem. Als wir abreisten, waren Nathaniel und er wieder Freunde. Und grade jetzt, wo wir Freunde brauchen, darfst du dich nicht vor ihm zurückziehen. Wenn du einen Fehler gemacht hast, gib ihn zu und sorge dafür, daß es nicht wieder passiert. Sprich mit ihm – schließlich seid ihr Freunde. Aber jammere nicht und bade in deinem eigenen Mitleid, das hast du nicht nötig, als Kader.“ Er atmete tief durch, ob wegen meiner Frechheit oder aus anderen Gründen, war nicht klar. „Es ist nicht leicht, weißt du. Es stimmt, als Kader bin ich ihm gleich gestellt aber trotzdem fühle ich mich ihm unterlegen. Natürlich hast du Recht, aber ich habe sein Vertrauen enttäuscht.“ – „Vielleicht. Aber nicht in böser Absicht und das ist es, was zählt. Und je länger du dich hier verkriechst, desto schwerer wird der Rückweg werden. Bring es hinter dich, Bouvier.“

Jetzt zeigte sich seit langer Zeit zum ersten Mal wieder ein kleines Lächeln. „Ich verstehe, warum er dich so liebt. Du bist wie er und doch bist du völlig anders. Wenn er schwach ist, gibst du ihm Kraft; wenn du sie brauchst, gibt er dir von seiner. Du sprichst von Freundschaft, Vertrauen und Liebe wie er, aber du lebst viel deutlicher danach, zeigst jedem dein Herz, während er nur still lächelt. Ihr seid wie zwei Seiten einer Münze.“ Diese letzten Worte trafen. Ich dachte an den Janus-Kopf, über den ich mir Sir Rodenby gesprochen hatte. Vielleicht hatte ich immer an der falschen Stelle nach der Rückseite der Münze gesucht. Was hatte ich gesagt? Ich wollte, daß Herz und Verstand einmal gemeinsam schwiegen. Wann hatte ich aufgehört, danach zu suchen? Eine Weile blieb ich gedankenverloren neben Bouvier sitzen. Endlich erhob er sich mit einem Seufzer: „Komm, wir gehen zurück, ich muß ein wichtiges Gespräch führen. Und mich bei Liobá bedanken und entschuldigen, weil sie sich um alles gekümmert hat, so wie du, und ich euch hab sitzen lassen. Und außerdem scheint es langsam hell zu werden.“

Er reichte mir die Hand und ließ sie nicht eher los, bis wir wieder in der Fabrikhalle standen. Oben im Speisezimmer konnten wir Licht und Umrisse von mehreren Leuten sehen. Während Bouvier sich dorthin aufmachte, kletterte ich eine Etage höher und ging leise in Kolyas Raum. Erstaunt fand ich dort Cesira an seiner Seite sitzend. Kolya schien zu schlafen. Leise holte ich mir den zweiten Stuhl und setzte mich neben sie. „Ich wollte ihn mir nur mal ansehen“, flüsterte sie grinsend. „Ich dachte mir gleich nach deinen Erzählungen, daß er mein Typ ist. Ich freue mich schon darauf, wenn er wieder fit ist. Dann würde ich ihn gerne mal anknabbern.“ Fast hätte ich laut losgeprustet. Anknabbern, Kolya? Obwohl die Ausdrucksweise sehr zweideutig war… Nun, sie paßten sicherlich gut zusammen, aber: „Ich würde dir eine etwas weniger … äh … liebevolle Vorgehensweise empfehlen.“ Grinste ich schließlich zurück.

Bevor sie noch antworten konnte, kam leise von Kolya: „Es gibt nichts schöneres, als aufzuwachen und zwei Engel über sich reden zu hören. Du hast sicher Recht, Kleine, daß ich mich nicht so leicht anknabbern lasse. Aber wenn ihr noch länger davon redet, bekomme ich Lust, das mal bei euch auszuprobieren. Wie soll ich mich denn bei solchen Gedanken entspannen?“ Er war nach der langen Rede sichtlich erschöpft aber das Grinsen war fast zurück, obwohl er die Lieder geschlossen gelassen hatte. Cesira lachte hell auf und bei diesem Laut öffnete er dann doch vorsichtig die Augen. Man konnte deutlich sehen, was er von der fremden Frau an seinem Bett hielt: er hob den Kopf weiter und starrte sie mit einem Ausdruck an, der an seinen Blick bei einem extrem guten Rotwein erinnerte. Da hatte ihn eindeutig was erwischt. Gut. Ein Grund mehr, schnell gesund zu werden. Cesira beugte sich unanständig weit über ihn und flüsterte: „Mich kann man auch nicht so einfach anknabbern, aber ich werde LaVernes Rat befolgen und mir auf meine Weise ein Häppchen von dir holen, starker Mann.“ Sie hauchte ihm einen Kuß auf die Wange und der arme Kolya wurde rot wie ein kleiner Junge. Es war zum Schreien komisch. Dann starrte er in gespielter Angst an ihr vorbei zu mir: „LaVerne, wo hast du die her? Ein Körper wie ein Engel um eine Seele der Hölle. Darf ich dein Genesungsgeschenk behalten, wenn ich wieder auf den Beinen bin? … hey, laß mich nicht alleine mit … äh …“ Ich war schon halb an der Tür. „Cesira. Sie wird auf dich aufpassen, mein Bär. Und ich schätze, wenn du ganz lieb und brav bist, wirst du sie nicht behalten dürfen.“ Cesira hatte sich wieder an seine Seite gesetzt und mußte dann doch bei diesen Worten wieder loslachen. „Stimmt, ich mag keine braven Männer.“

Hier wurde ich nicht mehr gebraucht. Etwas unentschlossen kletterte ich ein Geschoß runter. Gabriel und Bouvier unterhielten sich noch immer, von den anderen fehlte jede Spur. Und was nun? Ich hatte mich erfolgreich als Friedensstifter und Heiler betätigt, und mich so gleichzeitig vor Stille und damit verbundenem Nachdenken gedrückt. Aber dafür einiges erreicht. Doch Erfolg verdirbt den Charakter. Also besser nicht noch irgendwas anfangen, oder über die letzten Stunden nachdenken. Überhaupt, was war eigentlich für ein Tag und welche Uhrzeit? Kopfschüttelnd ging ich in mein Schlafzimmer. Ich hatte jegliches Gefühl verloren, wie lange der Überfall jetzt her war. Mechanisch und ohne an irgendwelche Zuschauer zu denken, zog ich mich aus und rollte mich in dem großen Bett zusammen. Und war binnen ein paar Augenblicken eingeschlafen.

 Ende Teil 3

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