Site hosted by Angelfire.com: Build your free website today!
Home Willkommen Geschichten Serien Gedichte - Texte Bilder Links
E-Mail Update-Infos Mein Buch Meine Gedichte Maya's Gallerie
 

 

Jenseits der Träume

Buch 3 - Schatten in der Nacht

Wir sollten niemals aufhören, zu Träumen
Ohne sie wären wir ärmer
Und manchmal trifft man so neue Freunde

Jetzt kennen wir die Grenzen, nun können wir sie übertreten
Viel Spaß beim Träumen wünscht MP © 2004

Nehenia und Phale

How long will your mourn for the lost
When the heart dies with pain imperceptible
Honour in exchange for love at high cost
Obey the rule, though its wisdom unacceptable

 Neugierig schaute ich mich um. Im Kleiderschrank fanden sich meine Sachen aus Zürich und einige Dinge, die mir wohl passen würden, aber nicht meine waren. Etwas unentschlossen ließ ich mich auf dem großen französischen Bett nieder. Müde war ich nicht, der Abend war noch viel zu jung, kein Mensch in Sichtweite und eine fremde Umgebung. Keine sehr gute Voraussetzung. Wenn ich auf eine Besichtigungstour gehen würde, wer weiß, ob ich zurück finden könnte oder wer mir so begegnen würde – nicht, daß ich Angst hatte, aber eine gewisse Nervosität… Ob es angemessen war, sich zumindest hier in den Räumen des ‚Kader’ umzusehen? Warum nicht, immerhin war ich hier einquartiert.

Ich ging zurück in den Salon. Mehrere Sofas, einige niedrige Couchtische, Bücherregale, ein großer Kamin sowie eine wohl sortierte Hausbar waren die augenscheinlichsten Dinge. Vier Türen, eine davon zurück in meine Räume, gingen von hier ab, nicht mitgerechnet die breite Eingangs-Doppeltür. Die beiden Durchgänge an der Kopfseite des Raumes führten in ähnliche Wohn-Schlafzimmer, wie mein eigenes. Blieb die Tür auf der rechten Seite. Hier dann: ein riesiger schwarzer Flügel in der Mitte des Raumes, davor ein einzelner breiter Hocker. Die Wände waren mit schwarzem Samt ausgekleidet, der Fußboden bestand aus sehr dunklem Parkett ohne Teppiche. Es gab keine weiteren Sitzgelegenheiten, keine Ablageflächen und wenn es einen zweiten Ausgang gab, sah ich ihn nicht. Die Decke war ebenfalls schwarz, vielleicht aus Holz oder mit dunklem Tuch bespannt und darin integriert warten stecknadelgroße Lichtpunkte. Sie ließen den Raum erscheinen, als befände man sich unter einem Sternenhimmel, Tausende von winzigen Sonnen über einem, die ein irritierendes aber phantastisch unwirkliches Licht warfen.

Der Raum strahlte eine eigentümliche Stimmung aus. Ruhe, aber auch sehr viel Stille und eine gewissen Traurigkeit. Fasziniert blieb ich mitten im Zimmer stehen, eine Hand leicht auf den Flügel gelegt. Wie lange ich so stand, weiß ich nicht, doch irgendwann spürte ich eine Präsenz hinter mir. Gabriel war unbemerkt eingetreten, still und in dunkelblaue Stoffe gehüllt. Ich ahnte ihn hinter mir, denn er war stehen geblieben, vielleicht einen Meter entfernt und wortlos. „Was für ein unglaubliches Zimmer. Es kommt mir vor, als hätte ich eine fremde Welt betreten. Was ist das hier, mein Rabe?“ Ich sprach leise und mit einer gewissen Ehrfurcht in der Stimme, die der Raum verlangte. „Ein Traum, eine Erinnerung, eine Zuflucht.“ Er klang anders. Es war schwer, genau den Finger darauf zu legen. Er hatte so leise gesprochen, daß er kaum zu hören war, dennoch schien er verändert. Traurig, wie dieser Raum, oder doch zumindest versunken. Oder als würde dieser Raum ihn mit einem dunklen Schatten umhüllen. Ganz anders als noch vor kurzem, als er mich mit seiner Begeisterung für das Treffen angesteckt hatte. Ich drehte mich zu ihm um. Da war etwas in seinen Augen, das vorher nicht da gewesen war. „Der Raum ist bezaubernd – aber traurig. Woran soll er erinnern, Gabe?“ – Er schaute mich direkt an, hob die Augenbrauen, lächelte aber nicht. Mit gleicher ruhiger Stimme antwortete er: „An verlorene Träume. Daran, daß uns alle das Schwarz umgibt und wir nur Punkte im großen Nichts sind.“ Ich starrte ihn an.

Ohne weitere Worte setzte er sich an den Flügel und begann zu spielen. Und wieder dieses Gefühl, einen völlig anderen Gabriel vor mir zu sehen. Er schloß die Augen und dann glitten die schlanken Finger wie mit einem eigenen Leben über die Tasten und entlockten ihnen eine Melodie von ungeahnter Melancholie. Der Raum schien von einem eigenen Leben erfüllt, er warf die Musik als Echo zurück und gab ihr noch mehr Substanz. Fließend folgten Stücke, die ich nicht kannte, erst sehr traurig, dann, langsam lebender, bis schließlich die letzten Töne einen gewissen Frieden ausstrahlten. Gabriel hatte noch nie so … so intensiv gespielt. Der Mann vor mir wandelte sich mit den Tönen und als er schließlich die Hände zurück zog, umspielte ein Lächeln seine Lippen. Anders als sonst, aber dennoch sehr schön. Er öffnete die Augen, stand auf und zog mich an sich. „Hallo LaVerne! Schön, daß du hier bist.“ Er hauchte mir einen Kuß auf die Stirn und ich legte den Kopf an seine Schulter. Was war nur mit meinem Raben los? Das Kribbeln war da, er duftete verlockend wie immer – und doch. Dieser Raum zeigte mir eine fremde Seite. Dann schob er mich etwas von sich zurück, schaute mir in die Augen und sein Lächeln war auf einmal fast das alte: „Du wirst deine Erklärungen bekommen, schwarze Rose, schon bald. Bevor die große Feier beginnt. Aber jetzt mußt du in deine Räume gehen. Einer von uns wird kommen und dich abholen. Habe noch etwas Geduld, vielleicht eine Stunde, ja?“ Ich nickte gehorsam, wenn auch noch immer leicht irritiert. Dann zog er mich noch einmal an sich, es folgte ein Kuß, der bis in die Tiefe meiner Seele drang, oder? Selbst jetzt blieb eine gewisse Fremdheit, es fehlte das Gefühl der schwarzen Schwingen um mich, um meine Existenz. Dennoch wirkte die ‚Überredung’. Bevor meine Knie zu weich wurden, löste ich mich, lächelte und verließ schweigend das schwarze Zimmer. Er blieb alleine zurück.

Ich ging direkt in meine Räume zurück, schloß die Tür und steuerte auf das große Bad zu. Tief in heißes Schaumbad vergraben und mit geschlossenen Augen döste ich eine Weile vor mich hin. Konnte ein Ort einen Menschen so verändern, hatte ich mich geirrt, oder was war los? Ein kleines Zupfen an meinem Herzen, und sofort eine Panik? Pfui, LaVerne, gar nicht deine Art. Vermutlich gab es hier so viele Erinnerungen für Gabriel und noch mehr Aufgaben. Und wie konnte ich mir anmaßen, zu glauben, ich kenne diesen Mann in- und auswendig. Ich fönte die chaotischen Gedanken zusammen mit dem Wasser aus meinen Haaren. Sorgfältig wählte ich ein schwarzes Kleid aus, tief ausgeschnitten und mit passenden Schuhen. Dazu ein hauchdünnes schwarzes Tuch und dann war ich mit meinem Spiegelbild fast zufrieden. Ein witziger Anblick irgendwie übrigens, denn selbst in meinem Bild konnte ich meine eigene, helle Aura erkennen.

Ich war dabei, die Haare hochzustecken, als es klopfte. Kolya trat ein, völlig verändert, in einem dunkelroten Anzug! Wir starrten uns einen Moment an, dann mußten wir beide lachen. Er stellte eine Flasche und zwei Gläser auf den kleinen Couchtisch und hielt mir die Hand hin: „Komm Kleine! Hier herrscht heute Chaos, die Angestellten schaffen es nicht mal, alle Gäste mit Essen zu versorgen. Zu viele sind schon heute angekommen, die erst für morgen eingeplant waren. Also dachte ich, wir sollten zumindest einen Schluck zusammen trinken, bevor du hier verhungerst – oder so was. Klasse siehst du aus, du wirst allen den Kopf verdrehen.“ Wir setzten uns und Kolya verteilte den blutroten Wein. „Oh, Kolya, das Kompliment geht zurück! Wenn ich nicht Gabriel mein Herz geschenkt hätte…“ – „Na komm, ein Teil davon gehört doch mir auch!“ Als wir uns zuprosteten, nickte ich „stimmt, und nicht mal so ein kleines Stücken, mein Bär. Und die Idee, mit Wein zu verhindern, daß ich verhungere, ist auch nicht schlecht. – Und? Wie läuft’s mit den Vorbereitungen? Ich habe vorhin kurz Gabriel gesehen, in dem schwarzen Zimmer gegenüber. Er wirkte irgendwie anders, traurig oder zumindest versunken.“

Kolya bedachte mich mit einem seltsamen Blick, den hatte ich nur zu ganz seltenen Gelegenheiten gesehen. Eine Mischung aus echter Verwunderung und etwas unterdrückter Heiterkeit. „So, du hast ihn dort gesehen? Na ja, es ist noch einiges zu tun, aber wir schaffen es auf jeden Fall rechtzeitig. Ich bin soweit eigentlich auch fertig, weil meine Leute super vorgearbeitet haben. Es gibt nur noch Kleinigkeiten zu erledigen. Was hat Gabriel denn gesagt?“ – „Nur, daß der Raum an verlorene Träume erinnern soll und wir nur ein Punkt im Nichts sind, oder im Schwarz, hat er es glaube ich genannt. Wenn ich alles richtig verstanden habe. So wie dort, hat er noch nie gespielt, und das liegt nicht nur an diesem wundervollen Flügel. Irgendwie herrschte dort eine seltsame Stimmung. Und Gabriel …“ Ich sprach nicht weiter. Noch immer diese seltsame Ausdruck auf Kolyas Gesicht. „Ja?“ „Ich weiß nicht, irgendwas war anders, als ob nur ein Teil von ihm da war.“

Kolya hob das Glas: „Keine Sorge, Kleine. Gabriel ist noch immer der Gleiche. Du wirst bald verstehen. Aber ich bin sehr zufrieden mit deinen Fähigkeiten, in die Menschen zu fühlen. Und Tejat wäre auch stolz auf dich.“ Dann wechselte er ohne ersichtlichen Grund das Thema. „Dieses mal haben wir neun neue Mitglieder in der Oscuro. Darin ist John eingeschlossen, aber du nicht. Für dich wird die Aufnahme etwas anders verlaufen, daher zählen wir dich nicht. Trotzdem wirst du mit den anderen neuen Mitgliedern unterwiesen werden. Eine Besonderheit bei diesem Jahrestreffen ist, daß eine Wandlung stattfinden wird. Die anderen sind ja schon in der Gemeinschaft, doch müssen sie noch das Ritual des Blutschwurs durchführen und den anderen vorgestellt werden. Und drei von unseren Brüdern werden uns verlassen. Eine geht zu ihrem Gefährten in einen anderen Zirkel. Ein weiterer hat beschlossen, den Alterungsprozeß zu beginnen. Der Dritte – nun, er will ins Licht treten.“ Mein fragender Blick brachte ihn zu einer Erklärung. Mit einem leichten Seufzer fuhr er fort: „Er will seinem Leben ein Ende setzen. Gabriel hat mit ihm gesprochen, aber er läßt sich nicht abbringen. Für uns ist es immer so, als ob ein Teil der Familie geht, aber wir haben keine Macht, ihn zu halten, wenn sein Entschluß fest steht. Also werden wir ihn verabschieden, wie die anderen beiden auch. Aber es bekümmert uns.“ Man konnte es deutlich auf Kolyas Gesicht sehen. Das war es, was Tejat schon angesprochen hatte. Zumindest gab es neun neue ‚Brüder’ zu begrüßen. „Wie geht die offizielle Aufnahme vor sich, Kolya?“ Das brachte ihn hoffentlich auf bessere Gedanken. Er schien sich innerlich zu schubsen, sah mich wieder mit dem gewohnten Grinsen an: „Das, Kleine,  bleibt auch für dich eine Überraschung. Morgen.“ Ohne ein ersichtliches Zeichen erhob er sich dann plötzlich. „Stichwort Überraschungen! Komm, der Kader ist jetzt eingetroffen!“

Galant reichte er mir seinen Arm und gemeinsam gingen wir in den Salon zurück. Gabriel hatte sich umgezogen. Das übliche Schwarz, doch eine rote Schärpe um die Hüften und die Haare mit einem roten Band zu einem Zopf gebunden. Er stand mit dem Rücken zum Kamin, in dem jetzt ein lustiges Feuer brannte. An einem der Tische war für vier Personen gedeckt. Vier? Der Rabe lächelte uns entgegen und da war wieder seine Magie. Er streckte mir beide Hände entgegen und Kolya ‚übergab’ mich. Gabriel strahlte jetzt förmlich: „Schwarze Rose. Willkommen auf dem Corvus Stammsitz. Mein Heim, wenn auch nicht mein Zuhause. Jetzt habe ich eine Überraschung. Ich möchte dir meinen Bruder vorstellen. Raphael.“ – Ich hatte niemanden gehört und doch klang eine Stimme durch den Raum: „Wir sind uns bereits begegnet.“ Noch immer Gabes Hände haltend, drehte ich mich um. Da stand Gabriel an der Tür zum Klavierzimmer – noch immer in dunkelblau gekleidet, wie ich ihn vorhin gesehen hatte. Nein, Korrektur … seinen Bruder…??

Das Duplikat meines Raben durchmaß den Raum mit der gleichen grazilen Kraft und nahm eine meiner Hände von Gabriel in Empfang. Nicht, daß ich offenen Mundes gestarrt hätte. Aber ich war knapp davor. Doch das erklärte mein komisches Gefühl von vorhin. Raphael lächelte auf mich herunter. Die Traurigkeit schien für diesen Moment verschwunden, seine Augen blitzten und er strahlte mich an: „Ich habe nur vergessen, mich vorhin vorzustellen. Die Gelegenheit war einfach zu verlockend. Willkommen jetzt also auch von mir, schwarze Rose.“ Er küßte meine Hand – ähnlich wie Gabriel vor … vor… irgendwann. Ich schaute von einem zum anderen. Kein Unterschied. Jedenfalls nicht sofort ersichtlich. Und Gabriels Grinsen erreichte fast seine Ohren. Wie konnte ich da böse sein, daß er so lange geschwiegen hatte. Trotzdem…!

Von hinten kam ein Räuspern und Kolya mischte sich ein: „Ich will euch ja nicht den Spaß verderben, aber LaVerne hat euch nicht verwechselt. Wenn sie auch nicht die richtigen Schlußfolgerungen gezogen hat.“ Noch immer hielt ich je einen der Brüder an der Hand. Leicht vorwurfsvoll wand ich mich an meinen Raben: „Pfui. Du hättest was sagen können!“ Und zu dem anderen: „Du auch.“ Dann konnte ich nicht mehr, ich mußte lachen. „Das ist wirklich phantastisch. Eure Mutter hatte wohl ein Faible für Engel? Zwei Erzengel haben wir schon beisammen, gibt es noch mehr von euch?“ Endlich ließen beide mich los, das wurde ja schon irritierend. Gabriel schob mich an der Schulter zu einem der Stühle. „Nein, das war’s. Reichen wir nicht?“ – „Schon, aber wenn wir grad dabei sind…“ Als wir alle saßen, verteilte ein breit grinsender Kolya den Aperitif: „Seht ihr, kein Schreck, die nimmt es gleich mit beiden von euch auf.“ Ich konnte es nicht lassen, immer wieder schaute ich von einem der Brüder zum anderen. Wenn sie nicht verschiedene Farben getragen hätten… „Nein, aber ehrlich, warum hast du nichts gesagt, Gabriel?“

Der wurde langsam wieder ernst. Er schaute seinen Bruder an, dann mich: „Nun, das ist ein sehr gut gehütetes Familiengeheimnis. Wenige wissen um Phales Existenz. So soll es möglichst auch bleiben. Und es gibt noch weitere Gründe. Außerdem habe ich mich so auf die Überraschung gefreut.“ Zum ersten Mal mischte sich jetzt auch Raphael in die Unterhaltung ein: „Zum Teil ist das auch meine Entscheidung. Ich wußte schon länger von deiner Existenz, aber ich hatte Gabriel gebeten, zu schweigen. Und natürlich auch Kolya.“ – Ich warf diesem einen Blick zu: „Verräter!“

Raphael grinste sehr gabriel-mäßig: „Ihm drohte eine schreckliche Strafe, hätte er was gesagt. Ich wollte dich unvorbereitet treffen. So, wie es mir – zufällig mit deiner Hilfe – auch gelungen ist. Und ich stimme Kolya zu, du hast etwas bemerkt, auch wenn du nicht wußtest, was es war, es nicht ahnen konntest. Ich war sehr gespannt auf die Gefährtin meines kleinen Bruders. Ich hätte ihm kaum so viel Tiefblick“ er warf Gabe einen schelmischen Blick zu „und Geschmack zugetraut.“ Gabriel zog nur einen Mundwinkel hoch. Ich mußte erst mal den Gedanken an zwei von dieser Sorte verkraften. Also schwieg ich, während die beiden noch einige Neckereien austauschten. Auch Kolya aß schweigend, warf mir nur hin und wieder einen undeutbaren Blick zu. Irgendwann bemerkte Gabriel unser Schweigen. „Alles in Ordnung LaVerne? Bist du böse mit mir?“ – Wie könnte ich. „Nein, mein Rabe, ich muß nur erst die Neuigkeiten verdauen. Klar, daß man so eine ‚Überraschung’ ausnutzen muß. Trotzdem, so etwas so lange vor mir zu verstecken?“ Gabriel grinste wieder. „Du hast Phale schon mal gesehen. Als du bei Tejat in meine Gedanken geschaut hast. Du hast meine Mutter und ihn gesehen. Nur dachtest du, daß ich es wäre.“ Jetzt, wo er es sagte, erinnerte ich mich wieder an die Bilder. Stimmt, ich hatte ihn – welchen ihn auch immer – gesehen.

„Es gibt einiges zu erklären, aber vorher solltest du deiner Rose Zeit und Gelegenheit geben, mich kennen zu lernen, Gabriel.“ Raphael legte seinem Zwilling sanft eine Hand auf den Arm. „Wie wäre es mit ein wenig Musik und vielleicht einem kleinen Tanz für den großen Bruder?“ Gabriel grinste ihn an „das hättest du wohl gerne – na gut, weil du es bist….“

Wir verließen die Reste des Essens und betraten wieder den schwarzen Raum mit dem Flügel. Kolya folgte uns nicht aber ich hatte auch keine Gelegenheit, ihm zu winken, denn Raphael hatte wie selbstverständlich seinen Arm um mich gelegt und folgte Gabriel, der sich zielsicher vor den Flügel setzte. Ein Walzer entwickelte sich unter seinen Händen und Raphael zog mich wortlos aufs Parkett. Wir tanzten eng und er führte genauso geschickt und graziös wie ‚einst’ Gabriel. Auch in seinen Armen konnte ich mich verlieren. Seine Aura war stark, einnehmend, doch nicht wie Gabriels. Wenn das Auge auch etwas anderes sagte, das Herz spürte den Unterschied. Und so war es auch gut. Ich fühlte mich sicher, geborgen und begehrt. Dieses Verlangen nach Nähe strahlten beide aus. Raphael beugte sich etwas runter zu mir und flüsterte: „Ich bin nicht dein Rabe, aber wir sind so eng verbunden, daß seine Gefühle auch die meinen sind. Also liebte ich dich schon, als wir uns noch nicht kannten. Ich hoffe, daß du mich auch irgendwann als einen Teil meines Bruders anerkennst.“

Je länger wir tanzten, desto stärker wurde seine Ausstrahlung. Ich hatte die Augen geschlossen und versuchte mich zu erinnern, mit wem ich tanzte. Ich flüsterte zurück: „So, wie Gabriel ein Teil von mir geworden ist, so bist auch du ein Teil von mir – schon immer gewesen – auch, als ich es noch nicht wußte.“ Er zog mich näher und nach einer unermeßlichen Zeit verklang die Musik. Gabriel kam zu uns, legte jedem von uns einen Arm um die Schulter. Zu dritt standen wir einen Augenblick unbeweglich, dann sagte er: „Die zwei Menschen, die ich am meisten liebe. Mein Herz für euch und auch mein Leben. Ohne euch könnte ich nicht existieren. Wenn ich könnte, würde ich jetzt mit euch das Blut tauschen. Bitte, geht nie von mir, bitte, seid auch ihr in dieser Liebe verbunden.“ Da waren sie, die schwarzen Flügel meines dunklen Engels. Unaufgefordert antwortete ich: „Ihr zwei seid eins. Wie könnte ich den einen lieben, den anderen nicht? Ihr seid mein Herz und meine Seele.“ Eng umschlungen standen wir eine endlose Sekunde. Langsam drang die Präsenz der beiden Männer durch mein noch leicht irritiertes Gehirn zu meinem Körper durch, der ganz und gar nicht so sicher war, ob er einen großen Unterschied machen wollte. Raphael schien in der Hinsicht keine geringere Anziehungskraft auszuüben als Gabe. Das konnte ja heiter werden…

Zum Glück wurde ich erlöst. Gabriel trat zurück und der Bann war gebrochen. Er atmete durch und meinte. „Kolya ist schon vorgegangen. Ich habe noch elendig viel zu erledigen. Phale, warum bringst du LaVerne nicht in ihre Räume. Du könntest ein bißchen von dir erzählen, damit sie dich kennen lernt und du sie.“ Auch Raphael löste sich. „Klar. Geh nur, Kleiner. Wir kommen zurecht. Du findest mich später dann hier – oder oben.“

Gabriel verabschiedete sich bei mir mit einem Kuß, der viel zu kurz war und ein Versprechen beinhaltete, daß er sicher heute nicht einlösen würde. Sei es drum. Dann war er weg und Raphael zog mich in den Salon zurück. „Komm, wir machen es uns bequem und dann darfst du mich mit Fragen bombardieren.“ Wir schnappten uns unsere Gläser und er zog mich auf ein Sofa. Schnell war ein Sessel davor gestellt und mit unseren Füßen darauf starrten wir gemeinsam eine Weile ins Feuer. Ich mochte nicht recht beginnen, zu neu war alles, um vernünftige Fragen zu finden. Doch halt, eine gab es da vielleicht doch.

„Warum bist du so traurig, Raphael?“ Sein Blick informierte mich, daß er mit allem möglichen gerechnet hatte. Nur nicht damit. Und wirklich: „Man sollte meinen, daß du vielleicht mit was Einfachem anfängst, wie, wo ich lebe oder so. Aber nein, ich wußte doch eigentlich, daß Gabriel eine Gefährtin finden würde, die durch die Nebensächlichkeiten auf den Kern schaut. Ich habe dich nur dieses eine Mal unterschätzt. Nie wieder.“ Dann schwieg er eine Weile. Aber die Frage war doch offensichtlich. Der schwarze Raum, die Melancholie, die er ausstrahlte. Im Geiste formulierte ich schon fast eine Entschuldigung für meine direkte Frage. Aber Raphael kam mir zuvor: „Ich erzähle die Geschichte nicht so gerne und auch nicht vielen. Sie ist traurig, aber sie erklärt mein Leben und auch Teile von Gabriels Geschichte. Du bist ein Teil von uns, daher mußt du sie kennen und jetzt ist so gut wie irgendwann sonst.“

Er nahm einen Schluck und legte in einer fast unbewußten Geste einen Arm um mich. Also lehnte ich mich an ihn, ließ die Beine über das Sofa baumeln und hörte zu. Am Anfang noch sehr zögerlich erzählte er:

„Vor vielen Jahren – wirklich vielen Jahren – hatte auch ich eine Gefährtin. Ihr Name war Nehenia. Sie war mein Licht im Dunkel, mein Feuer, wenn ich fror und mein Anker, wenn ich fort gespült wurde. Ich liebte sie mit jeder Faser meines Herzens. Und Gabriel teilte auf seine Art diese Liebe mit mir, so, wie ich jetzt seine mit dir teilen darf.

Nehenia war – wie du – eine sterblich Geborene. Du weißt, wir wandeln wenige und normalerweise braucht so etwas viel Zeit. Zu der Zeit, als ich sie kennen lernte, war sie eine wundervolle Blume, voller Leben, Liebe und einem unstillbaren Drang nach Abenteuer. Als ich ihr selber den Blutschwur abnahm und sie in die Nadiesda Thurus aufgenommen wurde, war es, als wäre ihr Leben perfekt. Ich zeigte ihr alles, erklärte, bereitete sie auf die Wandlung vor. Sie besaß mein Herz, lange bevor sie mein Blut besaß. Die Nacht, in der ich ihr den Kuß des Lebens gab, wird für immer in mir bestehen. Wir waren glücklich und berauscht.

Doch dann geschah das Unglück. Kurz nach ihrer Aufnahme in die Oscuro suchte Nehenia ihre Schwester auf, um sich zu verabschieden. Als die beiden zusammen unterwegs waren, gab es einen schweren Unfall. Nehenia blieb fast unverletzt aber ihre Schwester war dem Tode näher, als dem Leben. Obwohl Nehenia wußte, daß sie einen Kodex brach, gab sie ihrer kleinen Schwester in jener Nacht den Kuß des Lebens und empfing den Atem des Todes.“ Hier unterbrach er sich. Seine Hand, die locker auf meiner Schulter gelegen hatte, schien sich zu verkrampfen. Sanft griff ich nach ihr. Und ich hatte ein Dejá-vu Erlebnis. John, im Sterben, in der Höhle nach einem Autounfall. Sollte das Leben soviel Ironie bereit halten? Das konnte nicht wirklich wahr sein. Aber bevor ich näher darüber nachdenken konnte, schien Raphael sich gesammelt zu haben.

Ruhig fuhr er fort: „Ihre Schwester überlebte. Nehenia brachte sie danach zu mir. Aber sie wußte, was sie getan hatte. Das Gesetzt ist simpel: wandle nicht Unschuld in Schuld. Also trat sie vor den Rat der Alten und bat, ihre Schwester anzunehmen – im Tausch für ihr Leben. Das Angebot wurde angenommen und sie wählte für sich eine eigene Strafe, bevor der Fluch des Blutes ausgesprochen werden konnte. Und meine Welt brach zusammen, als sie das ‚Wasser der Wandlung’ trank und mich verließ. Und am Ende war ihr Opfer auch noch umsonst gewesen, denn ihre Schwester nahm sich nur drei Monate später ebenfalls das Leben – sie konnte und wollte unsere Welt nicht akzeptieren. Eine Welt, die ihre Schwester für sie freiwillig verlassen hatte. Und so haben wir alle verloren. Ich, Nehenia, ihre Schwester und auch Gabriel, dessen Welt fast mit der meinen zusammenbrach. Daher wandelte er lange Jahre niemanden, scheute sich, auch nur für kurze Zeit eine engere Verbindung einzugehen und weigerte sich schlichtweg, eine Gefährtin auch nur in Erwägung zu ziehen. Zu tief saß auch bei ihm der Schmerz. Erst du hast diese Angst besiegt, diese Erinnerung, die nicht mal seine ist.“

Seine Geschichte war zu Ende und tausend Fragen blieben zurück. Jetzt wußte ich, warum Gabriel keine Partner suchte. Warum er so ‚zurückhaltend’ war. Aber es gab hier Dinge in Raphaels Erzählung, die ich nicht verstand. Ich mußte wieder an John denken. So ähnlich die Ereignisse. „Sag mir Raphael, du kennst meine und entsprechend auch Johns Geschichte. Auch Gabriel hat ihn nach einem Unfall verändert – vor dem sicheren Tod bewahrt. Ich dachte, ihr hättet das Recht dazu.“

Er sah verwundert auf mich herunter. Doch als er merkte, daß ich die Frage ernsthaft meinte, schüttelte er leicht den Kopf. „Nicht zu glauben, nach all den Monaten haben sie nichts gesagt…“ „Was?“ – „Du hast schon vom Kodex gehört, ja?“ Ich nickte nur. „Nun, wir dürfen – bei Notfällen – Mitglieder der Nadiesda Thurus ohne Beschluß und ohne Rückfragen umwandeln. Hast du den Sinn verstanden? Nein, scheinbar nicht. Ein normaler Sterblicher ist unschuldig! Nur die Nadiesda Thurus darf zur Oscuro werden. Es gibt keinen direkten Weg, wir dürfen laut unseren Regeln niemanden wandeln, der nicht der Nadiesda Thurus angehört. Und es müssen, selbst in den schlimmsten Fällen 24 Stunden zwischen dem Blutschwur und der Wandlung liegen. War dir nicht klar, wenn John und du nicht ein paar Tage vorher die Wahrheit erfahren hättet, wäre John in jener Nacht gestorben. Gabriel hätte nichts für ihn tun können, es wäre sein eigenes Todesurteil gewesen. Hat euch niemand darauf hingewiesen, daß der Dolch, den ihr bei der Versteigerung zufällig bekommen habt, ein grausames Schicksal abgewendet hat? Bei denen, die davon wissen – und das sind zum Glück nur wenige – wird über kaum etwas anderes gesprochen: Eine höhere Macht hat Gabriel dazu veranlaßt, gegen seine Entscheidung den Blutschwur einzufordern. Oder vielleicht funktioniert es auch anders herum: eine höhere Macht hat John – und vielleicht auch dich – gerettet.“

Ich war sprachlos. Ich hatte die Regeln gelesen, aber so natürlich nicht verstanden. So ähnlich Johns und Nehenias Geschichte auch war, ein so kleiner Unterschied entschied über Leben und Tod? Welche Ungerechtigkeit. Und wie mußte sich Raphael bei dieser ganzen Geschichte fühlen. Seine Geliebte hatte er verloren – für nichts. Und Gabriel hätte vielleicht fast ein ähnliches Schicksal erlitten. Kein Wunder, daß dieser Mann so viel Melancholie ausstrahlte. Ich drückte seine Hand auf meiner Schulter etwas fester. Er ließ es zu, erwiderte den Druck sogar. „Schmerzt es dich, jetzt unsere Liebe auch in dir zu spüren, Raphael?“ Er schüttelte sofort den Kopf. „Nenn mich Phale, das tut mein Bruder auch und – nein! Du hast Gabriel endlich wieder voll ins Leben geführt, wohingegen ich ihn fast in meinem Sog ertränkt hätte. Wenn du an Gabe denkst, sehe ich schwarze Schwingen und diese tragen momentan nicht nur dich. Du hast uns beiden, mir und ihm, Hoffnung geschenkt.“ Es klang fast ein wenig pathetisch, aber diesem Menschen glaubte ich. Wieso? Ich kannte ihn schon so lange, auch wenn ich ihn nie gesehen hatte – ein Teil meines Rabens. Doch was konnte ich sagen? Trost bedurfte er nicht. Mitleid würde er verabscheuen. Also gab ich ihm mein Herz – ich war freizügiger geworden, nein, ich hatte die Kraft, ihn als einen Teil von Gabriel zu lieben. Jetzt wurde ich auch noch pathetisch…. „Dann schenke ich auch dir meine Liebe, Ra… Phale, wie ich sie Gabriel gebe – ohne Grenzen. Als ein Teil von mir, wie mein Rabe es schon ist.  Wenn du sie haben magst.“ Es war doch so leicht, warum hatte ich früher gezögert? Doch Raphael setzte sich auf und nahm mich ‚richtig’ in die Arme. Erst sagte er nichts, drückte mich nur und dann schien auch er mich fast einzuhüllen. So warm und so sinnlich war er. Er flüsterte: „Bete, daß ich diesen Fluch nicht mehr mit mir trage, daß alle, die ich liebe, nicht noch mehr leiden müssen. Ich könnte es nicht ertragen, wenn noch ein Herz brechen würde. Doch seit langer Zeit bin ich jetzt das erste Mal wieder auf dem Wege ins Licht, habe ich das Gefühl, das Glück flüchtet nicht länger vor mir. Ich danke euch beiden, aber am meisten natürlich dir, daß du deine Macht über uns beide so einfach verschenkst. Was kann ich im Tausch bieten? Mein Leben für dich.“ Wenn nicht dieses letzte bißchen Schatten gefehlt hätte, das Gabriel erst ausmachte, wäre ich in seinen Armen verbrannt, wie bei meinem dunklen Raben. So loderte ‚nur’ die Flamme und brachte meine Nervenenden zum vibrieren. Ich mußte hier dringend weg oder … was dachte ich noch gerade…?

Endlich ließ er mich los. Fast leider. Sein Lächeln kannte ich schon so lange, als er mich an der Hand nahm und in mein Zimmer zog. Dieses ‚Lauern’ hinter der Tür mußte in der Familie liegen. Mit beiden Händen links und rechts von mir schaute er auf mich herab. Mein Rabe. Nein! „Du solltest jetzt etwas ruhen. Heute Nachmittag gegen fünf werden die ‚Neuen’ dem Kader – Gabriel – vorgeführt. Mich kennen nur sehr wenige – und so soll es bleiben. Kolya wird dich abholen und alles erklären. Und ich werde Klavier spielen, doch heute keine traurigen Weisen. Wenn alles vorbei ist, werden wir reden und uns richtig kennen lernen. So viel Zeit muß sein. Darauf freue ich mich, und nehme als Anzahlung ein Lächeln von dir mit. Willkommen, kleine Schwester, mein schwarzer Engel.“

Ein gehauchter Kuß und ich war alleine. Und völlig verwirrt, berauscht und irgendwie auch ein wenig grundlos traurig. In Ermangelung einer Alternative gehorchte ich und machte es mir in meinem Himmelbett bequem.

Rituale


Hold me in your arms, beloved one
Feel the fire, as it burns through each vain
Turn to the moon, our own pale sun
As each drop of our blood falls like rain

 Nicht Kolya weckte mich, sondern eine junge Frau. Sie brachte Kleidung mit, eine schwarze Hose, schwarzes Hemd, beide aus feinsten Stoffen und in meiner Größe. Diese Bekleidung war für die nachfolgende ‚Zeremonie’ vorgeschrieben, ebenso, wie ein weiter weißer Umhang, der bis zum Boden reichte und hinten Stickereien von unbekannten Zeichen aufwies. „Das ist das Symbol der Wandlung,“ erklärte sie, während sie den Umhang zurecht zupfte und die Kapuze über meinen Kopf legte. „Zuerst sind wir weiß und werden zu schwarz. Die Stickerei besagt ungefähr ‚der Blutzoll wurde entrichtet.’ Heute, bei der Vorstellung, tragt ihr alle diese Kleidung, bei dem Ritual der Aufnahme morgen werft ihr die weiße Kleidung dann einfach ab.“

Sie lächelte mich freundlich an, als sie einige Falten noch einmal sorgfältig zurecht legte. „Keine Angst, heute gibt es wenige vorgeschriebene Teile. Ihr werdet zusammen mit dem, der die Wandlung vollzogen hat, vor den Kader treten. Ihr sagt euren Namen und Insegnator – das ist der, der euch in die Oscuro gebracht hat – wird euch vorstellen. Und das war es im Großen und Ganzen.“ Zufrieden mit ihrem Werk trat sie zurück, nickte und bat mich dann, ihr zu folgen. Trotz ihrer Worte kroch jetzt doch langsam die Nervosität wieder in mir hoch. Wir verließen den mittlerweile leeren Aufenthaltsraum, gingen den Gang zurück, runter in den ersten Stock und wandten uns dann so, daß wir direkt eine Etage unter unseren vorherigen Räumen ankamen. Ohne zu klopfen, öffnete sie die Doppeltüren.

Obgleich der Raum vermutlich nicht größer war, als sein darüber liegendes Gegenstück, schien er mir doch wesentlich gewaltiger. Das lag sicher an der Einrichtung. An der Kopfseite ein riesiger gestickter Gobelin, darauf das Oscuro Symbol – der durchbrochene Kreis – mit den riesigen Flügeln des Rabens – der Corvus - Zirkel. Der Hintergrund des Wandteppichs war blutrot, so, wie alle Wände des Raumes. Vor dem Gobelin standen Gabriel und schräg dahinter Kolya mit Blick auf die Eintretenden. Mein Rabe trug noch immer die schwarze Kleidung von vorhin, mit der Schärpe in der Farbe der Wände. Auch Kolya war seinem dunkelroten Anzug treu geblieben – und alle Rottöne des Raumes und der Kleidung waren identisch. In einem Halbkreis um die beiden standen sechs Personen, wie ich ebenfalls mit einem weißen Umhang, doch alle mit dunkler Aura. Vier Positionen zum Kreis waren noch unbesetzt und sanft dirigierte die Frau mich an einen dieser Plätze. War es hier so warm? Als ich meinen Platz einnahm, schauten die anderen ‚Neuen’ unauffällig zu mir rüber. John war unter ihnen und wir tauschten ein sehr zaghaftes Lächeln. Gabriel stand unbeweglich wie eine Statue und schaute auf einen Punkt über unseren Köpfen. Als meine Führerin den Raum verließ, traf gerade ein weiterer ‚Neuer’ mit einer ähnlichen Begleiterin in. So standen wir still und warteten auf die Restlichen – es sollten noch drei folgen. Als letztes traf eine junge Frau ein – wie ich mit einer weißen Aura. Als sie den ihr zugewiesenen Platzt einnahm, war unser Kreis komplett. Gabriel schien sich aufzurichten, lächelte einmal in die Runde, dann sprach er: „Seid willkommen im Kreis des Corvus. Ich bin Gabriel de Suvroc, der Kader, und euer Bruder im Herzen wie im Blut. Ihr wurdet in meine Familie aufgenommen und meine Seele wurde bereichert. Ich lege euch heute meine Ehre und meine Liebe zu Füßen, wie ihr es morgen für mich tun werdet.“ Gabriel trat vor, in die Mitte des Kreises, und kniete nieder. Langsam ließ er den Blick in die Runde wandern, jedes Augenpaar fing er kurz auf. Er lächelte. „Im Blut sind wir vereint und ich gebe euch diesen Teil von mir, wie es der Kodex befiehlt – und mein Herz gebietet.“

Kolya trat leise vor. Und unbemerkt von uns hatte er einen Dolch gezogen, ähnlich dem, mit dem Gabriel den Blutschwur abgenommen hatte. Hinter ihm auf dem Boden stand ein kleiner goldener Kelch und mit den beiden Utensilien ging er zu Gabriel und kniete ihm gegenüber ebenfalls nieder. Ich konnte nicht genau sehen, was geschah, Kolya machte eine rasche Bewegung, dann hielt Gabriel seine linke Hand über das Gefäß und deutlich waren die Blutstropfen zu sehen, die in die Flüssigkeit darin tropften. Beide erhoben sich und Gabriel nahm den Kelch. Er trat zu dem jungen Mann links von ihm und reichte ihm diesen: „ Trink und ich bin ein Teil von dir. Trink und ich werde dich mit meinem Leben schützen. Trink, denn ich liebe dich.“ Damit reichte er ihm den Kelch. Sein Gegenüber hatte ihm mit leuchtenden Augen zugehört. Jetzt folgte er der Aufforderung, nahm einen Schluck und gab das Gefäß zurück. Gabriel trat vor den nächsten, wo sich die Prozedur genauso abspielte. Als die Reihe endlich an mir war, sprach er die gleichen Worte, doch sehr leise ergänzte er: „Berühre das Gefäß nicht mit deinen Lippen.“ Also gehorchte ich, nahm das angebotene Getränk und imitierte nur das Trinken der anderen. Sollte es jemand überhaupt bemerkt haben, so zeigte keiner eine Reaktion. Und als ich Gabriel das Gefäß zurück gab und dabei leicht seine Hände berührte, hörte ich leise, ganz leise in meinem Kopf eine verträumte Melodie. Raphael am Flügel! Als der letzte der Gruppe getrunken hatte, übergab Gabriel den Kelch an Kolya. Beide traten zurück an ihre Positionen im Kreis. Dann sprach Gabriel wieder: „Jetzt wollen wir die begrüßen und ihnen danken, die mir diese neue Familie geschenkt haben.“ Er warf Kolya einen Blick zu, der leise an eine Tür trat, die in den roten Samt eingebettet an einer Seite des Raumes lag. Während dieser die Tür öffnete, sprach Gabriel uns noch einmal an. Und diesmal strahlten seine dunkeln Augen, als er sagte: „Und zu diesem Jahresfest habe ich die Freude, mich in die Reihen derer einzuordnen, die mir und euch ein solches Geschenk gemacht haben. Kommt zu mir, John, LaVerne!“

Einige schauten überrascht, als wir beide zu Gabriel traten. Doch schnell richtete sich alle Aufmerksamkeit auf die Nebentür, aus der jetzt sieben weiter Personen traten. Sie alle waren Mitglieder der Oscuro, alle in Schwarz und mit einem dunkelroten Gürtel gekleidet. Ich kannte keinen der drei Männer und vier Frauen. Doch jeder von den Neuankömmlingen trat zu ‚seinem’ Schützling, eine Frau gesellte sich zu einem jungen Paar. Bei näherem Hinsehen konnten diese beiden Neuen durchaus Geschwister sein. So löste sich der Kreis auf und es fielen leise Worte. Ich hörte einen jungen Mann neben mir zu seinem ‚Wandler’ sagen: „Seine Persönlichkeit ist überall hier, er strahlt so viel Freude aus und Zuneigung.“ Den Rest – oder die Antwort – bekam ich nicht mehr mit, denn Gabriel legte je einen Arm um mich und um John. Nur für uns hörbar flüsterte er: „Ich wird jetzt mit jedem hier sprechen, noch einmal alle persönlich willkommen heißen. Ich übergebe euch solange in Kolyas Obhut. Wenn ihr mögt, mischt euch unter die Anderen.“ Und schon war Kolya neben uns, das typische Grinsen schon wieder da, nichts mehr von der ernsten und würdevollen Ausstrahlung von eben. „Kommt ihr zwei, nebenan steht Wein für alle, jetzt wird’s erst mal etwas formloser. Hier ist der rituelle Teil vorüber.“

 Langsam schlenderten wir mit den meisten der Gruppe in den Nebenraum. Die ersten hatten schon Gläser in den Händen und nippten, während sie lachten und sich unterhielten. Kolya verteilte drei Gläser, ließ den Blick kurz durch den Raum schweifen und nickte uns dann zu. „Folgt mir mal, ich möchte euch jemanden… äh … Interessantes vorstellen.“ Brav gingen wir hinter ihm her, als er auf die Frau zusteuerte, die mit dem Pärchen an einer Seite des Raumes stand. Sie blickte auf und lächelte uns entgegen. „Hallo Kolya! Gut siehst du aus. Ich würde euch gerne meine Begleiter vorstellen.“ Den letzen Satz hatte sie an uns alle drei gerichtet. Sie war eine große Person, fast 1,80, und trug die grellrot gefärbten Haare in einem einfachen Pferdeschwanz. Kolya begrüßte sie mit einem gehauchten Kuß auf beiden Wangen, ohne sie zu umarmen. Diese Vorsicht war bei dem Bären eher ungewöhnlich. Oder es lag an der Umgebung. „Gerne, aber vorher sollten wir doch dich vorstellen. John, LaVerne, das ist Althena. Fast schon so lange ein Mitglied der Blutsgemeinschaft wie ich. Althena, das sind John und LaVerne, Gabriels Gefährtin.“ Wir erhielten beide erst einen kritischen Blick und dann ein strahlendes Lächeln. Zu mir gewandt sagte sie: „Du bist also dieses Wunder, das unseren Kader so verändert hat. Ich freue mich wirklich.“ Und dann wurden erst ich und dann John mit den gleichen sanften Küssen auf beide Wangen bedacht.

Dann schob sie das Paar neben sich etwas vor. „Darf ich bekannt machen, Lilian und Malachai, wie man unschwer erkennen kann, Bruder und Schwester. Wir trafen uns vor gut vier Jahren und seit rund zehn Monaten sind sie uns im Blut verbunden. Sie sind eine wahre Bereicherung meines Lebens. Bisher haben sie sich – zum Glück für mich – noch nicht entscheiden können, ein eigenes Haus zu beziehen. Lilian ist Wissenschaftlerin, daher kennen wir uns auch. Ihr Fachgebiet ist theoretische Mathematik und sie ist jetzt schon so klug, in einigen hundert Jahren müssen dann wohl einige Bücher neu geschrieben werden.“ Althenas Augen strahlten und die Benannte, Lilian, wurde merklich größer und auch ein wenig rot. Sie hatte große Augen, die mit Staunen und Begeisterung um sich blickten. Doch sie sagte nichts, lächelte nur still. Althena fuhr fort, während sie eine Hand auf die Schulter des jungen Mannes legte: „Malachai ist da eher ein Praktiker. Was seine Schwester mit dem Kopf leistet, zaubert er aus seinen Händen. Ich habe noch niemanden gekannt, der so wundervolle Dinge schnitzen oder meißeln kann, wie er. Eine unglaubliche Gabe, ich komme mir dagegen so furchtbar ungeschickt und tolpatschig vor. Überall in meinem Haus finden sich Figuren aus Holz, Stein, Ton, oder Wachs, seien es Tiere, Pflanzen und sogar Menschen, winzig klein und doch kann man sogar die Gesichtszüge erkennen.“

Einen Moment kam ich mir richtig dumm vor. Wurden die anderen Mitglieder nach ihren Fähigkeiten ausgewählt? Dann hätte ich hier niemals stehen dürfen. Malachais Augen hatten bei dem Lob ebenfalls angefangen zu strahlen. Doch Kolya lächelte nur und nickte. „Ich habe einige dieser kleinen Wunder gesehen. Und den Raben, den Gabriel per Boten bestellt hatte, trägt LaVerne um den Hals.“ Oh! Der kleine Rabe, den ich in Zürich zu Weihnachten bekommen hatte. Unbewußt griff ich an die Stelle, wo er sich auch jetzt an meiner nackten Haut unter der Kleidung wärmte. Malachai sprach mich direkt an: „Gabriel hatte genaueste Vorstellungen, was er wollte. Ich habe mir besonders viel Mühe gegeben, weil Althena meinte, es wäre ein ganz besonderer Auftrag. Ich hoffe, er gefällt dir.“ Das konnte ich aus vollem Herzen beantworten: „Ich habe nie etwas Schöneres, Lebendigeres und für mich Wertvolleres besessen.“ Daraufhin wurde ich dann auch mit einem strahlenden Lächeln bedacht.

Nach einiger Zeit schlenderten wir weiter. Als wir außer Hörweite waren, meinte Kolya gedämpft: “Ich wollte euch damit etwas zeigen, aber nicht das, was ihr jetzt vielleicht vermutet. Althena ist durchaus nett, aber manchmal bin ich nicht sicher, ob sie den vollen Sinn der Wandlung verstanden hat. Nicht das Können, sondern das Wesen der Menschen ist entscheidend. Die zwei sind ein Gewinn, trotzdem, ein liebendes Herz, ein guter Mensch, all das ist wichtiger. Die Entscheidung sollte nicht mit dem Kopf, sondern mit der Seele gefällt werden. Aber solltet ihr zwei jetzt trotz meiner Worte auf den absolut dummen Gedanken kommen, euch zu fragen, was denn eure besonderen Fähigkeiten sind, laßt mich mal überlegen.“ Sein Grinsen konnte man einfach nur unverschämt nennen. Und John sprang sofort darauf an: „Soll ich dir helfen, mein Freund…?“ Kolya prustete los und einige schauten verwundert zu uns rüber. „Na, mal sehen, bei dir wären das dann wohl … na klar,  Hilfsbereitschaft.“ Den Knuff von John hatte er vermutlich nicht mal richtig gespürt. Sich mühsam zusammen reißend fuhr er dann fort: „Ach John, es ist doch eigentlich so einfach: du hinterfragst, du kannst Verbindungen herstellen. Du hast das Herz eines Löwen, du hast einen sehr offenen Verstand, du genießt die Straße der Suche, während andere darauf zum Ende entlang hetzen. Was noch? Du hast Mitgefühl und kannst dich Veränderungen sehr schnell anpassen und auch dein Geist hat unseren Kader verändert. Er hätte nicht jedem das Geschenk des Lebens gemacht. Und das ist vorsichtig formuliert. Und – John, wird da unser gestandene Polizist etwas rot?“ Tatsächlich, während Kolya gesprochen hatte, war Johns Farbe langsam in einen leichten Pink-Ton übergegangen. Verständlich. So viele nette Worte auf einmal waren ja auch kaum zu verkraften, und das auch noch von Kolya. Hoffentlich war für den Bären das Thema damit erledigt, jetzt, wo John einen ‚faszinierenden‘ Flecken auf seinem Glas entdeckt hatte. Aber nein, natürlich nicht…

„Und du LaVerne, wo ich schon mal dabei bin, sollst auch ein paar nette Worte bekommen, bevor ich danach wieder alles abstreiten werde. Auch du hast einen klaren Verstand, wenn du ihn nicht zum Schweigen verdonnerst. Du strahlst Gelassenheit und Neugierde aus. Mittlerweile umgibt dich Selbstsicherheit – nicht zu verwechseln mit Arroganz. Du kannst dich einer Sache mit Herz und Seele verschreiben, wenn du den Entschluß dazu einmal gefaßt hast. Du strahlst auch eine erschreckende Sinnlichkeit und Liebe aus. Und die beiden schlingst du um jeden, dem du bisher begegnet bist von uns, vielleicht deshalb, weil bisher keiner dabei war, der es nicht wert war. Du vervollständigst etwas, heilst eine Wunde, die zu lange nicht heilen konnte. Du bist – in mehrfachem Sinne – ein Licht in der Dunkelheit. Und nicht zuletzt: Du liebst Gabriel, er liebt dich und ich liebe euch beide. Was gäbe es noch mehr zu sagen?“

Nichts. Kolya war fertig und was sollte ich darauf sagen. War überhaupt eine Antwort nötig? Ich sah John an, er erwiderte den Blick, doch seine Augen sagten mir heute nicht, was er dachte. Trotzdem konnte das Gesagte nicht unbeantwortet bleiben. Wenn hier mal wieder eine Zeit für Wahrheiten war, sollte es eben so sein: „Kolya! Das Leben kann so schön sein, das habt ihr mir – uns – gezeigt. Einfach dem Herzen folgen. Und dann ist es eigentlich ganz einfach. Davon abgesehen, ich liebe jeden von euch, auf meine Weise. Doch ohne Menschen wie dich und John und natürlich auch Gabriel könnte ich nicht mehr leben. Und das ist dann wohl eine Sache von geben und nehmen.“ Das war nur ein blasses Bild dessen, was in meinem Kopf vorging. Während ich schwieg, meinte ich wieder, leise Musik zu hören. Doch Kolya hatte Raphael nicht erwähnt, also tat ich es auch nicht.

Nach und nach empfing Gabriel alle neu aufgenommenen in dem roten Salon. Die Frau mit der weißen Aura zuletzt. Als er danach zu uns trat, schien er von innen in einem fremden Licht zu strahlen. Er schenkte mir einen leichten Kuß und flüsterte: „Es ist so wundervoll. Sie sehen mich alle mit solcher Liebe an, Bewunderung, die ich mir noch nicht einmal verdient habe. Wie könnte ich so etwas jemals mit Gewalt erreichen, Dezmont weiß gar nicht, was er durch seine Art verliert. Ach, meine schwarze Rose, heute wünschte ich mir wieder, ich könnte mein Blut mit dir teilen, den Weg bis zum Ende gehen….“ Seine Wange lag an meiner und die Wärme seiner Haut brannte wie Feuer auf meiner. Seine Worte weckten eine Sehnsucht, die ich tief in mir vergraben meinte. „Irgendwann, mein Rabe, ich verspreche es dir!“ Er mußte meine Gefühle durch die Worte empfangen haben, denn: „Wie selbstsüchtig von mir. Du mußt genau so leiden, wie ich.“ Dann wechselte er abrupt das Thema, ohne den Kontakt mit meiner Haut zu lösen. „Geh doch wieder in unsere Räume, schwarze Rose. Ich habe hier – leider – noch zu tun. Du kannst ausruhen, oder, wenn du magst, unterhalte dich mit Raphael, er scheint deine Gesellschaft zu genießen. Vielleicht kannst du ihm ja etwas von dem Leben zurück geben, das er sich so endlos viele Jahre versagt hat. Er hat dir ein Teil seines Herzens gezeigt, das hat er bisher nicht getan. Vielleicht ist deine Liebe für mich auch seine Heilung. Bring ihn dazu, sich dir zu öffnen. Und – danke, daß du ihn akzeptierst.“

„Wie könnte ich nicht, mein Rabe, wenn ich dich liebe, muß ich ihn doch auch lieben, er ist doch ein Teil von dir.“ Er schlang beide Arme um mich. Eine kurze Ewigkeit vergrub er seinen Kopf in meiner Halsbeuge, dann schob er mich von sich. „Geh, schwarzer Engel. Ich liebe dich. Wieso du mir geschenkt wurdest, weiß ich nicht. Aber … aber ich bin glücklich. Wir sehen uns später. Danke!“ Damit drehte er sich um und kehrte in den Raum aus rotem Samt zurück. Die anderen Neuen waren noch im Zimmer verteilt. Nach einem Blick auf Kolya – er nickte und lächelte – ging ich.

Ohne Probleme fand ich die Quartiere des Kader. Ich legte den weißen Umhang aufs Sofa im großen Salon und betrat denn möglichst geräuschlos das dunkle Musikzimmer. Die künstlichen Sterne leuchteten noch immer und Raphael saß am Flügel und ließ seine Finger in fließenden Bewegungen über die Tasten gleiten. Obgleich er mich sicher gehört hatte, unterbrach er sein Spiel nicht. Leise trat ich an den Flügel und lauschte. Ich kannte das Stück nicht, doch es paßte zu meiner momentanen Verfassung: Nicht traurig, eher angemessen melancholisch.

Nach einiger Zeit ließ Raphael die Töne leise ausklingen und schaute mich dann an. Mit Gabriels Lächeln. „Die Zeremonie ist ein Lebenselixier. Danach ist man berauscht und morgen wird es noch schlimmer werden. Gabriel hat mir erzählt, du darfst sein Blut nicht trinken.“ Ich nickte, während ich mich auf den Flügel stützte. „Er sagte mir, ich solle es nicht an meine Lippen lassen.“ Raphael schloß den Deckel des Klaviers und stand auf. Wahrend er mich zurück in den anderen Raum und zur Couch führte, antwortete er: „Er weiß nicht, ob das Blut dir schaden könnte. Seines könnte vielleicht damals für dich verändert worden sein. Vermutlich würde es keinen Schaden anrichten, aber er will kein Risiko eingehen. Ich spüre, daß er mit aller Macht seines Geistes versucht, ständig die Kontrolle zu behalten. Er fürchtet nicht um sich, er hat Angst, was sein Blut in dir anrichten könnte. Was passieren könnte, wenn er sich einmal nicht mehr beherrschen kann! Ich setzte mich neben ihn. „Eigentlich müßte er Angst um sich haben, Phale. Ich habe seit jener Nacht sein Blut in mir, aber was mein Blut bei ihm ausrichten könnte, das weiß auch niemand. Auch nicht der Rat der Alten. Ich habe mehr Angst um ihn, um jeden, der mein Blut nehmen würde.“

Raphael schwieg eine Weile, ließ meine Worte wirken. Dann antwortete er: „Irgendwann wird es geschehen. Das ist Schicksal. Aber wenn ihr es gemeinsam ertragt, ist es eben ‚nur’ ein Schritt auf eurem Weg.

Gabriel glaubt an die Prophezeiung - ich übrigens auch. Und schon seit längerer Zeit ist er sich sicher, daß du ein Teil dieser Vorhersage bist. Nach einigem Zögern stimme ich ihm mittlerweile zu. Was genau das bedeutet, weiß ich natürlich auch nicht. Allerdings interpretiere ich einige Passagen anders, als es Scuro Tejat oder der Rat der Alten tut. Davon erzähle ich dir später mal.“ Er schwieg und schaute auf seine versonnene Art vor sich hin. Auch ich sagte nichts, aber es war eine gemütlich Stille und eine Weile hingen wir beide unseren Gedanken nach. „Phale, würdest du mir ein bißchen von deinem – eurem Leben erzählen? Ich weiß noch so wenig, nur manche Andeutungen. Aber irgendwie ging in den letzten Monaten alles so schnell und es scheint, daß einfach keine Gelegenheit war, über solche Dinge zu sprechen.“ Was wußte ich schon über meinen Raben, seine Vergangenheit? Hier saß ich neben der besten Quelle bisher.

Raphael schien die Frage nichts auszumachen. Im Gegenteil, er legte die Beine wieder hoch, machte es sich noch etwas bequemer auf dem Sofa und zog mich, so daß ich mit dem Rücken an seiner Seite lehnte. „Nun, fünfhundert Jahre sind eine lange Zeit und da sollte man gemütlich sitzen. Nicht alles davon ist interessant und manche Dinge wirst du nur von Gabriel erfahren. Trotzdem formen uns unsere Taten und Erfahrungen der Vergangenheit und es gibt auch so noch genug zu erzählen. Also:

Wir wurden in die Oscuro hineingeboren. Unsere Mutter war eine sterbliche Bürgerliche, unser Vater ein Adeliger, der den Blutschwur abgelegt hatte, also im Prinzip auch nicht in die Oscuro geboren wurde. Mutter war viele Jahre erst in der Nadiesda Thurus gewesen. Sie wurde in der Hochzeitsnacht – früher wurde dieser Brauch noch oft gepflegt – im Blut gewandelt. Jahre später, als wir geboren wurden, waren wir so eine Art kleine Sensation, bisher die ersten Zwillinge. Trotzdem machte unser Vater es nicht überall bekannt. Und natürlich hatten wir beide von Geburt an die weiße Aura der Nadiesda Thurus.“

Er hielt kurz inne und schien zu überlegen. „Vermutlich weißt du das nicht: ist ein Elternteil, oder beide, in der Oscuro, werden die Kinder in die Nadiesda Thurus geboren, im Alter von ca. 20 dann offiziell mit dem Blutschwur oder dem Blutstausch in die Oscuro gewandelt. Sind die Eltern, einer oder beide, nur in der Nadiesda Thurus, werden die Kinder ohne Aura als normale Sterbliche geboren. – Wo war ich? Ach ja, wir wurden vorbereitet und mit 21 beide am gleichen Tag gewandelt. Und wir beide wählten den Weg des Blutschwurs – eine besondere Art, das Blut zu wandeln –, nicht den des Bluttausches. Im Zuge der Festlichkeiten übernahm unser Vater auch als Kader den Corvus – Zirkel. Obgleich Gabriel und ich uns äußerlich immer sehr ähnlich waren, sind wir doch verschieden. Jeder baute sich eine Art eigenes Leben auf, mit Freunden, Vertrauten und Dingen, die unseren jeweiligen Interessen entsprachen.

Gabriel beschäftigte sich mit unserer Geschichte, der vergangenen und der kommenden. Er liebte Bücher, sammelte mystische und magische Dinge. Das weißt du ja. Ich kümmerte mich um praktische Dinge. Von Anfang an war unser Zirkel darauf konzentriert, einen Ersatz für das notwendige Blut zu schaffen, ohne das wir nicht existieren können. Das war mein Gebiet, du hast meine Firma – Exopharm – ja kennen gelernt, obwohl sie jetzt unter Gabriels Leitung läuft. Wir hatten immer genug finanzielle Mittel und auch Macht, um die Jahrhunderte unbeschadet zu überstehen. Unser Vater lehrte uns moralische Werte, machte uns unsere Verantwortung bewußt. Wir genossen unsere Fähigkeiten und die Besonderheiten unsere Körper – doch so gut wie nur innerhalb der Oscuro. Denn wenn wir jemanden wandeln, schulden wir ihm ein Leben, wir gehen eine tiefe Verpflichtung ein, Verantwortung, der wir uns stellen müssen. Im Corvus-Zirkel, wie in den meisten anderen auch, ist die Wandlung an Liebe geknüpft, mein Herz für dein Blut. Doch man muß ja nicht wandeln, um zu lieben. Sicher gab es da immer wieder  auch schöne Alternativen.“ Ich hörte förmlich, wie er lächelte.

„Aber seltener. Gabriel hat erst nach rund hundert Jahren den ersten Menschen aus der Nadiesda Thurus selber in den Bund des Blutes aufgenommen. Trotz aller Ressentiments, es ist ein unglaubliches, wundervolles und berauschendes Erlebnis, für beide. Und wir sind zu sehr miteinander verbunden, als daß ich nicht ein wenig daran teilhaben könnte. Für uns war es immer besonders schwer, vor dem anderen für längere Zeit etwas zu verbergen. Weitere hundert Jahre später – du merkst, ich mache ein paar kleine Sprünge – ging mein Vater. Er hatte seine Gründe, die er niemandem offen legen mußte. Damit ging die Leitung des Zirkels auf Gabriel über. Es gibt kein Gesetz dafür, der Kader entscheidet. Er hatte die freie Wahl und bot die Leitung uns beiden an. Wir einigten uns untereinander. Ich arbeitete im Hintergrund, Gabriel vertrat – und vertritt noch immer – den Zirkel nach außen und hält mögliche Kontakte in die ‚normale’ Welt aufrecht. Und das geht jetzt schon sehr lange so. Mittlerweile wissen nur noch wenige von meiner Existenz. Und das bietet – gerade in der letzten Zeit – einige ungeahnte Vorteile.“ Er sprach nicht weiter und ich dachte schon, er wäre fertig. Aber er schien sich nur durch die Erinnerungen zu arbeiten.

„Als ich Nehenia traf, schien mein Leben, meine Existenz, komplett. Wir zogen in unser eigenes Heim, alles wäre gut gewesen. Doch dann verließ sie mich und mein Leben zerbröckelte in meinen Händen. Ich kehrte hierher, in unser Stammhaus zurück. Ich weinte, ich fluchte, ich haßte und ich verzweifelte. Gabriel versuchte, mir Hoffnung zu geben, den Schmerz zu lindern. Doch ich wollte nichts sehen und hören. Und mein Bruder hatte so eine doppelte Last. Den Corvus-Zirkel zu leiten, meine Aufgaben zu übernehmen und nicht mit mir zusammen in Dunkelheit zu versinken.“

Wieder breitete sich Schweigen im Raum aus. Meine Gedanken schlugen munter Purzelbäume. So viele neue Dinge, so viele Fragen, die sie mitbrachten. Ich wußte gar nicht, wo ich anfangen sollte. Doch ja, eine Sache war da.

„Was ist aus eurer Mutter geworden? Lebt sie noch und wird sie auch hier sein?“ Wieso war ich eigentlich nicht vorher auf solch eine Idee gekommen. Vielleicht stimmte es ja, die Zeit für Nachdenken war irgendwie immer so knapp. Tröstlich, daß ich da vielleicht noch ein paar Jahrzehnte vor mir hatte, um das nachzuholen.

Raphael setzte sich auf und zog mich dabei mit sich. Er schenkte unsere Gläser voll und nachdem wir beide genippt hatten, schüttelte er leicht den Kopf. „Sie wird nicht hier sein. Einige Jahre nachdem Vater uns verlassen hatte, wollte sie die Welt sehen. Vielleicht konnte sie auch das Haus ohne ihren Gefährten nicht länger ertragen. Jedenfalls blieb sie irgendwie bei Freunden aus dem Satyrus-Zirkel hängen. Es gab schon immer sehr enge Bindungen dort hin. Und später entschloß sie sich, dort zu bleiben. Jetzt hat sie in dem Zirkel schon lange einen Gefährten und somit ein neues Glück gefunden. So sprach Gabriel sie los und wir sehen uns nur noch selten. Aber unsere Zirkel sind so fest in Freundschaft verbunden und Mikail so etwas wie ein väterlicher Freund.“

Jetzt war ich wieder voll da. „Satyrus-Zirkel? Zentauren? Wie in dem Club von Gabriel?“ Er grinste mich an, ohne die Traurigkeit saß ein zweiter Rabe neben mir.

„Treffer, schwarze Rose. Der Name ist Gabriel als ‚Verbeugung’ eingefallen. Und wie ich hörte, läuft er auch sehr gut, man soll dort schöne Frauen antreffen…“

Ich grinste zurück. „Aber tolle Männer gibt’s dort auch. Ja, der Laden ist voll ‚in’. Übrigens habe ich den Namen Mikail auch schon gehört. Scuro Tejat hat ihn erwähnt und meinte, wir sollten ihn besuchen – allerdings meinetwegen.“

„Das war klar. Ja, ein Besuch dort wäre in mancher Hinsicht eine gute Idee. Sicher würdest du  Berenice – unsere Mutter – gerne kennen lernen und sie dich auch. Sie hat sich immer gewünscht, daß wir unseren Weg finden. Sie und Mikail haben uns schon so oft eingeladen… und der Zirkel der Zentaur hat sich ebenfalls der Wissenschaft verschrieben, der Forschung sowohl in realem Sinn wie auch im spirituellen. Daher auch die uralte Verbundenheit. Ich glaube, ich würde die beiden auch gerne mal wieder sehen…“

Er ließ seine Worte nachdenklich verklingen. Ich mußte mir immer wieder in Erinnerung rufen, daß diese Wesen in andern zeitlichen Dimensionen dachten. „Weißt du, Phale, es stürzt manchmal soviel auf einmal auf mich ein, daß mein Gehirn gar nicht so schnell mitkommt. Und da sind dann Zeiten, in denen ich Gelegenheit finde, nachzudenken. Und leider fallen mir erst dann die richtigen Fragen ein. Und oft ist die Gelegenheit dann einfach vorbei. Nach jener Nacht der Wahrheit in Schottland komme ich mir vor wie, … äh… wie jemand vor einem Puzzle. Allerdings kenne ich nicht das fertige Motiv oder die Größe und in unregelmäßigen Abständen wirft jemand eine handvoll neue Teile dazu, so daß das verflixte Ding immer größer wird, eine Form nicht mal ansatzweise zu erkennen ist und noch dazu die Teile seitenverkehrt oder kopfüber liegen. Und Gabriel – oh, ja und natürlich Kolya – haben die schlechte Angewohnheit, nicht einmal anzudeuten, daß an einem fertigen Eckchen noch Hunderte von Stücken fehlen. Manchmal ist das alles fast zum Verzweifeln.“

Raphael lachte – wirklich – laut und hell. Selbst Gabriel hatte ich selten so gehört und es machte diese Männer einfach schön. Äußerlich und innerlich. Bei diesem Anblick erinnerte mich mein Bauch plötzlich wieder daran, neben wem ich da saß, denn die Augen schickten nur die oberflächlichen Daten weiter. Zum Glück lenkte mich mein Gesprächspartner erst mal von diesen Gedanken wieder ab. „Tue das besser nicht, das ist schlecht für den Teint. Aber normalerweise ist es ja nun auch so, daß die Vorbereitung für einen Eintritt alleine in die Nadiesda Thurus Monate bis einige Jahre dauert, und dann liegen manchmal viele weitere Jahre zwischen der fertigen Wandlung. Jahre, um alles über uns zu lernen, unsere Regeln, den Kodex, unsere dunklen Abgründe und besonderen Fähigkeiten. Diese Zeit wurde euch genommen. Ihr werdet unvorbereitet mit so vielen Dingen konfrontiert. Außerdem hätte ich noch zwei weitere Argumente. Der Zustand der gesamten Oscuro ist nicht, wie er sein sollte. Veränderungen finden statt. Und bestimmt ist dir aufgefallen, daß in unserer Familie sehr viele Dinge ungesagt bleiben. Das liegt an der Art unserer Kommunikation, fürchte ich. Da ich immer mit Gabriel verbunden war, haben wir durch Bilder miteinander gesprochen, seid wir Kinder waren, wir können mittlerweile bei Bedarf fast ohne Wort kommunizieren. Und Kolya – ja – der gehört auch zu diesem Bund. Wir haben so oft miteinander das Blut getauscht, daß auch er fast wie ein Bruder ist. Und Kaj und Kader verbindet immer blindes Vertrauen und über Jahrhunderte gewachsenes Verständnis.“

„Ja, das habe ich auch festgestellt, Es ist etwas, das ich uneingeschränkt bewundere. Nur manchmal ist es eben ganz schön schwer. Es ist schön, jemanden zu finden, der ein wenig Licht in euer Dunkel bringt.“

Raphael sah mich an, mit diesen Augen, die die gleiche Fähigkeit hatten, mich in ihnen versinken zu lassen. Nicht darüber nachdenken, das könnte sonst zu echten Problemen führen… „Was sagtest du Phale, ich war etwas unaufmerksam…“

Sein Grinsen ließ mich fürchten, daß er auch so eine Ahnung haben könnte, wo meine Gedanken grad hin gewandert waren: „Ich sagte, du hast eine sehr ungewöhnliche Analogie gewählt. Nicht ich bin ein Licht in deiner Dunkelheit, es ist genau anders herum: du bringst Licht in unsere ewige Nacht. Bildlich und physisch. Und eigentlich bin ich auch gar nicht so gesprächig. Aber irgendwie habe ich das Gefühl, seit einiger Zeit aus einer Art Alptraum aufzuwachen. Ich sehe mich um und erkenne mich und meine Welt kaum wieder. Vielleicht habe ich lange genug getrauert und Gabriels Kraft und Liebe werden auch mich heilen. Nicht sofort. Aber ich wache auf. Dafür muß ich dir danken, denn ohne dich wären viele Dinge nicht geschehen. Und ich verspreche dir, irgendwann werde ich meine Schuld an dich zurückzahlen. In Blut, wie es der Kodex und mein Herz diktieren.“ Er war immer ernster geworden und sah mir bei den letzten Worten – so ähnlich denen von Gabriel bei der Zeremonie –  durch die Augen in die Seele. Und da war er wieder, dieser Purzelbaum meines Herzens. Einen Moment hielt ich noch seinem Blick stand. Dann zog ich ihn ganz vorsichtig zu mir und küßte ihn ganz sanft auf die Lippen. Sein Duft war der von Gabriel. Er schloß die Augen und hielt ganz still. Mühsam zog ich mich ein wenig zurück.

„Raphael, ich werde mich hinlegen. Ich habe einiges zum Nachdenken, morgen wohl einen langen Tag vor mir und … und du bist zu sehr Gabriel, als daß wir uns jetzt noch vernünftig unterhalten könnten. Du weißt das und daher werde ich mich jetzt verabschieden. Aber ich danke dir und – du schuldest mir gar nichts!“ Seine Augen schienen mich zu durchbohren, als er mich langsam vom Sofa zog, mit ihm hoch, als er aufstand. Langsam führte er mich zu der Tür, die in meine Räume führte. Dort zog er mich kurz an sich und als er mich dann losließ, sagte er leise: „Du kennst unsere Regeln, unsere Art, wie wir miteinander umgehen, mit unserem Verlangen. Ich weiß, daß du diese Moralvorstellungen akzeptierst. Für heute lasse ich dich gehen. Du hast Recht, morgen ist ein großer und wichtiger Tag. Im Moment gibt Gabriel die drei frei, die den Zirkel verlassen wollen, danach muß er sich auf die große Feier morgen vorbereiten. Er wird wenig Zeit finden, genau wie Kolya. Wenn du jemanden bei dir haben willst, rufe mich. Ansonsten werden wir diese Unterhaltung nach dem Ball fortsetzen. Jetzt schlaf gut, schwarze Rose, und laß dir die Seele nicht schwer werden.“ Und er drehte sich um und verschwand im Klavierzimmer.

Nach einigen Augenblicken drang durch die geschlossene Tür leise Musik. Und ich stand noch immer im Türrahmen und starrte ihm nach. Diese Männer machten mich noch wahnsinnig. In mehr als einer Bedeutung des Wortes. Seine letzten Sätze hallten wie ein Echo durch mein Gehirn, als ich meine Sachen achtlos über einen Stuhl warf und ins Bett kletterte. Jetzt nur nicht denken! Ich kniff die Augen zu und irgendwie schaffte ich es dann, ins Reich der Träume abzugleiten

Blutschwur


Whatever you do, wherever you go
A shadow will cling to your mind
Though darken – it still is no foe
Look inside: it is me you will find

 Der große Tag war gekommen! Als ich Mittags aufstand, war keiner aus der Oscuro zu sehen. Das Haus schwärmte dafür von Mitgliedern der Nadiesda Thurus und ständig kamen und fuhren dunkle Limousinen über die große Brücke und steuerten auf eine Art ‚Tiefgarage’ im Kellergeschoß des Schlosses zu. Die weiteren Mitglieder des Corvus-Zirkel trafen ein.

Nach einem kurzen Gang durch das Schloß war ich nach einer halben Stunde schon wieder im Salon. Irgendein dienstbarer Geist hatte ein kaltes Frühstück – wie viel Uhr war es eigentlich – und heißen Tee abgeliefert. Ich war fast fertig, als es klopfte und die junge Frau von gestern eintrat. „Eine Freundin von ihnen ist hier: Carré. Sie würde sie gerne sehen.“ Oh! Toll! „Klar…?“ – Die junge Dame nickte und lächelte ein wenig nachsichtig: „Niemand außer dem Kader und wenigen Ausnahmen dürfen diese Räume betreten. Bitte folgen sie mir in einen der Besucherräume.“ Leicht überrascht gehorchte ich und wir gingen zurück zur Treppe. Daß es so streng gehandhabt wurde? Wir blieben im zweiten Stock aber nahmen eine andere Abzweigung. Sie lieferte mich wiederum vor einer Tür ab, verbeugte sich leicht und entfernte sich dann. Nun gut.

Der Raum erinnerte an unseren ‚Salon’: Sitzgruppe, Tische und Bücherregale. Und mitten im Zimmer Carré! Sie drehte sich um, als ich eintrat und ihr ganzes Gesicht strahlte. „Hallo LaVerne! Wie schön!“ Und wir umarmten uns fest und herzlich. Dann schob sie mich etwas ab: „Gut siehst du aus! Komm, setz dich zu mir. Ich habe schon Tee für uns bestellt. Und? Erzähl! Wie ist es dir ergangen. Und hast du schon Gabriels Überraschung kennen gelernt?“

Ich wußte gar nicht, wo ich anfangen sollte. Stimmt ja, in Australien hatte sie etwas von Gabriels ‚Überraschung’, einem ‚Trumpf’ gesprochen. Sie mußte wohl über Raphael Bescheid wissen. Wenn nicht, würde ich wohl mächtig Ärger bekommen, wenn ich mich verplapperte. Also fing ich erst mal vorne an, unserem Besuch bei Simeon, den Unterricht bei Tejat. Dazu meinte sie: „Ich beneide euch, so einen Lehrer zu haben, wenn auch nur für kurze Zeit. Ich kann nach so vielen Jahren immer noch nicht rausfinden, was Trevor grad wieder so anstellt. Los, weiter!“ Also gehorchte ich, erzählte von der Zeremonie gestern,, von den anderen Neuen aber sie schüttelte leicht den Kopf: „Ich find es gut, daß Kolya da gleich was richtig gestellt hat. Aber die Veranstaltung? Ach, das ist doch nichts gegen heute Abend, das wird toll, obwohl ich denke, daß Gabriel ein paar dezente Veränderungen – nur für dich – an dem Ritual vorgenommen hat. Aber jetzt sag schon, was sagst du zu ihm! Und keine Angst, du erzählst mir kein Geheimnis, ich habe ihn – und Nehenia – vor ewiger Zeit mal kennen gelernt.“

Na, damit war die Frage geklärt. Also konnte ich frei sprechen: „Ich war sprachlos. Kurz vorher hatte ich Raphael schon gesehen, wußte es aber nicht. Gabriel schien mir etwas verändert, ich habe es auf die Umgebung und die Vorbereitungen geschoben. Und dann am Abend, sagte er völlig unzeremoniell: ‚Ich möchte dir meinen Bruder vorstellen!’ und der gibt prompt zurück, daß wir uns schon kennen. Und ich stehe nur da, starre von einem zum anderen und … und… nee, da war ich einfach nur sprachlos.“

Während meiner Schilderung hatte Carré sich fast vor Lachen ausgeschüttelt. Sie zeigte sich begeistert. „Das war geplant. Du weißt doch, Gabriel liebt dramatische Auftritte. Ich hätte nur nicht zu hoffen gewagt, daß Raphael mitspielt. Lange Zeit hat sein Sinn für Humor stark gelitten. Vielleicht hat er ja ein bißchen erzählt, vielleicht auch nicht. Obwohl –“ Sie legte den Kopf zur Seite und schaute mich einen Moment mit einem nachdenklichen Blick an – „obwohl ich mir vorstellen könnte, daß sich auch für ihn einiges geändert hat mit deinem Auftauchen. Nein, das ist eure Sache, geht mich nichts an aber ich hoffe, daß ich Recht habe. So, und jetzt zu banalen Dingen.“

Sie kam nicht mehr auf das Thema zurück. Sie erzählte, was hier im Hause so alles los war, von ihrer Anreise und von hundert anderen Dingen, Kleinigkeiten, die uns die nächsten Stunden vertrieben. Irgendwann schaute sie auf die Uhr: „Huch, ich halte dich auf. In gut einer Stunde geht die Zeremonie los, du mußt dich noch umziehen und ich auch. Ab, husch, zurück in dein Zimmer. Wir sehen uns nachher mit den anderen im großen Saal.“ Damit stand sie auf und schob mich vor sich her zur Tür. Eh ich mich versah, lief sie wie ein junges Mädchen die Stufen zum 1. Stock runter. Etwas gemäßigter ging ich in mein Zimmer zurück. Noch immer war keine Menschenseele zu entdecken. Also zog ich die Kleidung von gestern Abend wieder über. In Ermangelung einer vernünftigen Beschäftigung setzte ich mich in einen Sessel und wartete. Nach einiger Zeit erschien die junge Frau von gestern respektive von vorhin wieder. Sie kontrollierte erneut meine Kleidung sehr sorgfältig, bis sie mit dem Ergebnis voll zufrieden schien. Wieder folgte ich ihr, zwei, nein drei Treppen runter bis ins Untergeschoß. Vor einer unscheinbaren Tür blieben wir stehen. Obwohl so viele Personen im Haus waren, war uns niemand begegnet. Sie öffnete die kleine Tür und wir traten in eine Art Vorraum. Und da waren auch die anderen Neuen, acht schon anwesend. John drehte sich mit den anderen um und kam uns dann entgegen. Meine Begleiterin nickte mir zu und verschwand dann wortlos.

„Weißt du, was uns hier erwartet“, fragte John leise. Ich schüttelte den Kopf. „Ich habe Gabriel und Kolya seit gestern nicht mehr gesehen. Oh, aber schöne Grüße von Carré.“ Damit schwiegen wir, wie die anderen auch. Kurze Zeit später öffnete sich die kleine Tür erneut und die Letzte trat ein, ebenfalls von meiner Führerin begleitet. „Ihr werdet gerufen, wenn die Zeremonie beginnt. Es dauert nicht mehr lange.“ Und damit ließ sie uns erneut alleine.

Durch die Stille konnte man leises Gemurmel wie von vielen Stimmen im Nebenraum hören. Die nächsten Minuten zogen sich dann zu einer Ewigkeit. Wir standen still und wurden nur noch nervöser. Doch dann wurde die große Tür zum Nebenraum aufgestoßen – mein Magen schlug einen erbosten Haken – und Kolya stand in der Tür. Wieder – oder immer noch – in blutrotem Anzug. Aber heute grinste er mal nicht, er hatte einen ernsten, konzentrierten Blick. Doch als seine Augen zu John und mir wanderten, zuckte ein Mundwinkel ganz verdächtig. Aber das half uns jetzt auch nicht.

„Bitte kommt mit mir.“ Wir folgten brav im Gänsemarsch. Die Halle, die wir betraten, ging über zwei Stockwerke, riesige Marmorsäulen erinnerten fast an das Schiff einer Kirche. Keine Fenster, dafür gab es überall Nischen auf mehreren Etagen, in denen Kerzen brannten. Wir gingen über dunklen Parkettboden. Und der Saal war voll mit Menschen, alle in Schwarz oder zumindest in dunklen Farben. Man hatte für uns eine Art Spalier gebildet, durch das wir an all den Leuten vorbei auf eine große freie Fläche schritten. Auch hier, in einem weiten Kreis, standen Fremde, die uns anzustarren schienen. Im Boden eingelassen fand sich ein Mosaik, der Kreis der Oscuro und niemand stand innerhalb dieser Linie. Kolya ging uns noch immer voraus und als der den Kreis betrat, schloß sich langsam der Durchgang hinter uns. Irgendwie war es ein schreckliches Gefühl, die vielen Fremden und nicht zu wissen, was kommt. Dann wies Kolya jedem von uns einen Platz innerhalb des Kreises zu. Jegliches Gemurmel war jetzt erstorben und es war totenstill. Und Kolya verließ den Kreis.

Dann öffnete sich das Spalier erneut: Gabriel wurde durchgelassen. Selbstsicher und attraktiv trat er in die Mitte des Kreises und schaute jeden von uns ruhig kurz an:

„Meine Freunde, Vertraute und Brüder im Blut!“ Seine Stimme hallte durch die Größe des Saals. Wieso bekam ich eigentlich grad eine Gänsehaut, eigentlich war mir doch heiß…

„Ich habe die Ehre, diese neuen Mitglieder der Oscuro in meinen Zirkel aufzunehmen. Es gibt keine schönere Aufgabe für mich. Gestern gab ich ihnen mein Blut als Zeichen meiner Liebe und als Unterpfand meiner Verpflichtung. Nach dem Kodex nehme ich heute ihr Blut, denn wir geben und nehmen.“

    Damit wand er sich direkt an uns zehn. „Wir sind verbunden den vier Elementen, die Bestandteil des Lebens sind. Zeigt also dem ersten Element, der Erde, eure Achtung und dem, der euch das Blut gab, denn nach dem Kodex sollen wir unser Blut ehren. Kniet nieder.“ Wir gehorchten anstandslos, ohne den Blick von ihm zu nehmen. Das galt jedenfalls für mich. Er sah heute selbst für meine – an ihn gewöhnten – Augen unglaublich aus, er war ein Anführer, jemand, dem man folgen mußte. Allerdings begann ich, mir leichte Sorgen zu machen, wo sollte die Sache mit dem Blut hinführen – andererseits hatte Carré von leichten Änderungen gesprochen. Außerdem war es jetzt leicht zu spät für Bedenken.

„So wollen wir dann das zweite Element ehren, das Feuer!“ Er machte kurz Pause. Hinter mir gab es eine Bewegung und jemand reichte mir eine Kerze – nein, jeder von uns bekam eine von hinten gereicht. „Unser Kodex sagt, wir sind Licht in der Dunkelheit – und dieses Feuer spendet Licht und Wärme.“ Gabriel nahm von jemandem neben ihm eine brennende Kerze. Langsam schritt er den Kreis ab und entzündete damit die Kerzen, die jeder von uns ihm entgegenhielt. Einen kurzen Augenblick trafen sich unsere Augen und die Wärme darin blies sämtliche Bedenken fort.

„Erhebt euch, meine geliebten Brüder!“ Wir taten wie befohlen. Eine fremde Frau trat von der Seite an mich heran und flüsterte: „Deine Kerze bitte.“ Ich gab sie ihr, während die anderen auch von Nebenstehenden aufgefordert wurden. Die Kerzen wanderten durch viele Hände und verschwanden irgendwo in den Tiefen des Saals. Ich hatte keine Gelegenheit, weiter zu schauen, denn Gabriel fuhr mittlerweile fort: „Wir ehren das dritte Element, die Luft, die uns umgibt. Wir alle geben den Kuß des Lebens und empfangen dem Atem des Todes. So wollen wir einen Atemzug teilen.“

Gabriel trat auf die erste Person im Kreis zu, umarmte sie und gab ihr einen Kuß. So verfuhr er dann wiederum mit jedem. Vor mir blieb er einen Moment stehen. Dann nahm er mich in den Arm und unser Kuß dauerte lange. Seine schwarzen Schwingen um mich gelegt, fühlte ich nichts mehr außer seinen Lippen auf meinen. Und als er mich fast widerstrebend los lies, schwankte ich ganz leicht. Einige der vorderen Zuschauer, die ich grad noch sehen konnte, schauten mich jetzt länger an und lächelten.

Gabriel hatte seine Runde beendet und trat wieder in die Mitte des Kreises.

„Das letzte Element, dem wir die Ehre erweisen wollen, ist das Wasser. Wasser ist Leben und unser Leben ist das Blut, das uns verbindet. Wir teilen es mit unseren Brüdern. So nehme ich jetzt euer Blut.“

Wie auf Stichwort durchtrat Kolya den Kreis und reichte ihm wieder einen Dolch – vermutlich den gleichen, wie gestern – und eine gläserne Schale, die zur Hälfte mit Wasser gefüllt war. Doch Gabriel nahm nur den Dolch. Gemeinsam gingen die beiden auf den ersten im Kreis zu. Leise sagte Gabriel: „reiche mir deine Hand.“ Und sehr geschickt ritzte er dann einen Finger der dargebotenen Hand an. Kolya fing einige Blutstropfen auf und dann ging es zum nächsten. Als die Reihe an mir war, forderte er mich auch auf, ihm die Hand zu geben. Mit einem unguten Gefühl gehorchte ich. Doch Gabriel lächelte nur und wie ein Taschenspieler drehte er sie so geschickt, daß bei seinem schnellen Schnitt niemand sehen konnte, daß es sein Blut war, das in die Schale tropfte. Und Kolya stand auch sehr günstig im Wege, ein äußerst geschicktes Manöver. Und als er dann von jedem von uns etwas Blut in der Schale hatte, nahm er sie und Kolya verließ mit dem Dolch den Kreis. Gabriel hob das Gefäß und sagte:

„So ist der Kreis vollendet. Seid willkommen, Kinder des Raben. Legt eure Umhänge ab.“ Während er einen Schluck aus der Schale nahm, griffen wieder von hinten Leute nach uns. Die weißen Umhänge verschwanden, wie vorher die Kerzen. Dann übergab Gabriel die Schale wieder an Kolya, der sie wie eine Trophäe fort trug. Im Raum waren jetzt das erste Mal wieder leise Stimmen zu hören. Aber Gabriel war noch nicht fertig, obwohl es schien, als wäre das Ritual beendet.

„LaVerne, komm bitte zu mir.“ Er sprach viel zu laut, das hatte sicher jeder in einem größeren Umkreis gehört. Und das war wohl auch die Absicht gewesen, denn sofort war es wieder still geworden. Langsam trat ich zu ihm in den Kreis und fühlte alle Augen auf mir. Es kam noch ein wenig schlimmer: „Dies hier ist LaVerne!“ Wieder hallte seine Stimme durch den Saal. „Sie ist mein ganz eigenes Licht in der Dunkelheit, meine schwarze Rose. Ich möchte euch sagen, sie ist meine Gefährtin, solange wir beide es wünschen. Wir sind durch ein besonderes Band verbunden und ich lege ihr mein Leben zu Füßen.“ Und damit kniete er nieder, mitten im Kreis, direkt vor mir und vor all den Leuten. Ich war sprachlos – mal wieder. Da wäre eine Vorwarnung angebracht gewesen. Improvisieren! „Und ich meines in deine Hände, solange du sie mir reichst.“ Ich streckte ihm optimistisch die Arme entgegen. Gott sei Dank, er griff zu. „Komm, mein Rabe, breite deine Schwingen um mich, um uns alle.“ Damit zog ich ihn hoch und er nahm mich in die Arme. Ich glaube, als er mich küßte, donnerte Applaus durch den Raum, aber ich war mir nicht sicher, meine Aufnahmefähigkeit war stark eingeschränkt.

Als wir uns voneinander lösten, herrschte auf einmal Chaos. Sowohl in meinem Kopf als auch in dem großen Saal. Ich sah lachende Gesichter, fremde Leute, die mich umarmten und die anderen aus unserem Kreis wurden in diese Woge gespült und verschwanden darin. Hilflos schaute ich mich nach einem bekannten Gesicht um. Da war niemand. Leute sprachen auf mich ein, hießen mich willkommen, warfen mir ihre Namen zu oder klopften mir auf die Schulter; der Raum war laut und von Lachen erfüllt. Dann setzte Musik ein und der Strom der Menschen bewegte sich langsam auf einen der Ränder des Saales zu, ich mitten drin. Wo waren meine Freunde?

„LaVerne!“ Über den Lärm meinte ich, eine bekannte Stimme zu hören. Jemand bahnte sich nachhaltig einen Weg durch die wogende Menschenmasse. „LaVerne!“

„Trevor! Du glaubst ja nicht, wie froh ich bin, dich zu sehen!“ Ich schloß ihn in die Arme und beschloß, ihn nicht eher loszulassen, bis ich diesem Wahnsinn entkommen war. Er lachte, legte einen Arm um mich und zog mich mit. „Was machst du denn? Ein Bad in der Menge? Hätte ich gar nicht von dir gedacht. Komm doch mit, die anderen sind da drüben.“ Und er zeigte unbestimmt in irgendeine Richtung. Sollte er nur spotten, Hauptsache, ich war nicht allein.

Er bahnte uns einen Weg, wobei noch immer Leute uns zuwinkten, und uns auf die Schultern klopften, lachten und redeten. Endlich gelangten wir an eine der Wände. Ein Tisch zog sich an der ganzen Länge entlang. Darauf standen Krüge mit dunklem Wein und Gläser. Und hier fanden wir Carré, John und Kolya. Letzterer hatte ein Grinsen aufgesetzt, das mich irgendwie an Schadenfreude erinnerte. War da etwas Vorsatz im Spiel gewesen? Bevor er also noch eine unkluge Bemerkung machen konnte, fauchte ich ihn deshalb an: „Solltest du mich nicht beschützen? Wenn Trevor mir nicht geholfen hätte, wäre ich vermutlich in diesem Chaos verloren gegangen. Unglaublich, daß der deinen Job macht.“ Kolyas Bemerkung blieb ihm wohl im Halse stecken – ich hatte also richtig vermutet. Und ihm genau rechtzeitig noch den Wind aus den Segeln genommen. Verblüfft schaute er sich zu Carré um, die aber nur unverbindlich die Schultern zuckte.  John hätte mich dann doch beinah verraten, aber er verdeckte sein Lächeln schnell hinter einem Glas Wein. Irgendwie war es ja erstaunlich, daß ich bei Kolya mit so was immer wieder durchkommen konnte.

„Ich… ich…“ Kolya war sprachlos. Na ja, verdient hatte er es ja irgendwie. Aber ich wollte mal gnädig sein: „Nun gut, ich verzeihe dir. Ausnahmsweise.“ Und dann mußte ich doch noch lachen. Und John versuchte mühsam, nicht an seinem letzten Schluck zu ersticken. Also nahm ich meinen großen Bären in den Arm und sagte leise zu im: „Ein wunderbares Fest. Danke für alles!“ Meine Rippen krachten arg bedenklich, als er mich drückte. „Ich danke dir, Kleine!“ Und lauter meinte er: „So, jetzt wird getanzt, gelacht und gefeiert.“ Er ließ mich los. „Ich habe einer entzückenden Lady aus Zürich den ersten Tanz versprochen. Da vorne kommt der Rabe, dann könnt ihr ja auch gleich mitkommen. Viel Spaß.“

In den nächsten Stunden tanzten wir – bis zur Erschöpfung und dann noch weiter. Die Tänze mit Gabriel waren voller Leidenschaft und stärkten mich. Aber ich, nein, wir alle, tanzten mit vielen. Mit Bekannten, mit Fremden. Gesichter und Namen kamen und gingen. Und dieses Mal schien der Wein eine gewisse Wirkung zu zeigen, ich fühlte mich wie im Rausch. Nach vielen Stunden erst löste sich die Menge langsam auf. Gabriel war wieder irgendwohin verschwunden und mir war schwindelig. Also sagte ich Kolya Bescheid und kehrte langsam und vorsichtig in die Räume des Kader zurück.

Es war nicht dunkel, im ganzen Schloß brannten Kerzen. Aber ich begegnete niemandem auf meinem Rückweg. Wenn Alkohol bei uns nicht wirkte, wieso fühlte ich mich dann so – berauscht? Gedankenverloren und ein wenig unsicher trat ich in den Aufenthaltsraum. Hier brannten keine Kerzen und es dauerte einige Zeit, bis mein benebeltes Gehirn meldete, daß jemand unbeweglich mitten im Raum stand.

Da war irgendwas wichtiges, was ich vergessen hatte, doch mein Gehirn arbeitete heute so schrecklich langsam. Woran wollte es mich erinnern… Mit einer einzigen grazilen Bewegung war die Gestalt bei mir und legte einen Arm um mich. Gabriel? Nein, natürlich nicht. Raphael, ich hatte seinen Bruder vergessen, nein, eher einen Teil unserer letzten Unterhaltung verdrängt. Vorsichtig schüttelte ich den Kopf. Wieso konnte ich ihn grad jetzt nicht klar kriegen, wo ich ihn wirklich mal brauchte? Sanft zog er mich ganz fest an sich. Seine Persönlichkeit überschattete jegliche Versuche des Denkens. Er flüsterte: „Das wird nicht helfen, Schwarze Rose. Der Wein des Jahresfestes wirkt sogar bei uns.“ Na toll, das sagte er mir jetzt. Vorsichtig legte ich meinen Kopf an seine Schulter, ließ die Augen aber offen, um nicht ungewollte Rotationen zu provozieren. Und natürlich strahlte sein ganzer Körper diese erregende Wärme aus, fast so stark, wie Gabriels. Und der nachfolgende Kuß ließ mich erst einmal atemlos, erregt und frei von vernünftigen Überlegungen zurück.

Behutsam und sehr langsam schob er mich etwas von sich. Teile meines Körpers begannen sofort zu murren. Und heute mehr Teile als sonst, dank des unerwarteten Zustandes, den der Wein herbeigeführt hatte. Er zwang mich, tief auf den Grund seiner Augen zu schauen. „Gabriel und ich sind Brüder, aber das heißt nicht, daß wir immer alles miteinander teilen wollen oder müssen. Nur, wenn wir beide es wünschen. Du hast mir gegenüber keine Verpflichtungen, schöne Rose, nicht heute und auch sonst niemals. Deine Seele gehört Gabe. Daher biete ich dir heute Nacht meinen Körper an und mein Herz, wenn du es nehmen magst. Entscheide frei und ohne Bedenken, ob du mir und dir die Freude machen willst, unser Lager für einige Zeit zu teilen.“

Wie sollte ich frei entscheiden, wenn er mich so in den Armen hielt. Wenn mein Kopf vom Alkohol und seinem Duft schwamm. Wenn mein Körper doch nach dieser sinnlichen Berührung schrie. Aber wozu war schon ein freier Wille da, außer ihn zu ignorieren. „Ich nehme dein großzügiges Angebot an, deinen Körper und dein Herz, wenn du es mit mir teilen magst. Doch nicht als Gabriels Bruder, sondern als Raphael, einen wunderbaren Mann und Liebhaber.“

Noch einmal bohrte sich sein Blick in den meinen, er hatte ebenfalls diese Gabe, bis auf den Grund meiner Existenz zu blicken. Doch auch ich hatte gelernt. Mit meinen letzen Worten hatte ich ihn besiegt. Rau flüsterte er: „Mein Leben für dein Leben.“ Und damit waren genug Worte gewechselt. Er hob mich hoch und ich legte den Kopf zurück an seine Schulter, noch immer langsam und vorsichtig. Aber wo ich schon hier war, konnte ich gleich mal naschen. Also knabberte ich an seiner Halsbeuge, als er mich mühelos in meine Räume trug. Das leichte Zittern, das ihn bei diesem Experiment durchfuhr, war eindeutig ein gutes Zeichen.

Auch in meinen Räumen war es dunkel. Behutsam setzte er mich auf dem Bett ab, dann kniete er sich davor und öffnete langsam mein Hemd. Beim Abstreifen half ich dann, ebenso, als wir uns seines Hemdes entledigten. Erschöpft von dieser schweren Arbeit fiel ich rückwärts auf Bett und zog ihn mit mir. Er war so warm und duftete und seine Haut schmeckte nach Salz. Seine erkundenden Finger zogen Linien aus Feuer, wo sie nicht von Stoff gebremst wurden. Er war wie Gabriel, und doch ganz anders. Er sah so aus, er schmeckte ähnlich, fühlte sich fast so an, das kontrollierte ich sehr gründlich. Und er war sehr empfänglich für die geringste Berührung meiner Hände, Zähne oder Lippen. Ich folgte sanft mit der Zunge einer nicht unbedingt geraden Linie vom Adamsapfel bis zum Ansatz seiner Hose. Und ein leichtes Pusten auf die noch feuchten Stellen belohnte mich mit einer Gänsehaut.

Seine Reaktionen auf meine Zärtlichkeiten bestätigten seine Worte von einer langen Abwesenheit von ‚weltlichen‘ Dingen. Zu Anfang hielt er sich deutlich zurück, tastete sich nur ganz langsam vor. Seine Finger suchten und fanden den Verschluß meiner Hose und er zog sie mit sich, als er sich kurz vom Bett zurück zog. Seine Hose gesellte sich dann zu den anderen Kleidungsstücken, die sich vor dem Bett sammelten. Erneut nahmen  wir unsere vorsichtigen Erkundungen wieder auf.

Seine Hände streichelten meine Brüste, wanderten langsam an den Seiten abwärts, während unsere Lippen sich wieder fanden. Und so wie wir uns näher kamen, verschwanden langsam die Auswirkungen des Weines aus meinem Kopf, doch nicht seine Präsenz aus meinem Geist. Mit wachsender Selbstsicherheit zog er mich in einer Drehung auf sich, noch immer fest aneinander gepreßt. Ich spürte seine Erregung hart auf meinem Unterleib und der leichte Druck durch mein Gewicht entlockte ihm ein leises Seufzen. Noch nie hatte ich einen Mann erlebt, der so intensiv reagierte, ein unendliche sanfter Biß brachte seinen Körper schon dazu, sich mir entgegen zu strecken. Langsam arbeitete ich mich wieder in Richtung seiner Unterhose und zog sie sanft herunter, als diesmal ich mich vor das Bett kniete. Als ich sein vor mir aufragendes Glied küßte, griffen seine Hände spontan in meine Haare und zog mich fordernd zu ihm hinauf. Mit einer Hand entledigte ich mich meines Slips, als ich seiner Bitte folge leistete und viel zu langsam für ihn und genüßlich den Rückweg in Richtung seines Mundes antrat. Dieser unglaublich zärtliche Mann war ein wertvolles Geschenk. Und ich erkannte ihn als Raphael an und ließ es ihn spüren, flüsterte liebevoll: „Du bist wundervoll, Phale! Ich danke dir, daß ich dich so kennen lernen darf.“

Und damit löste ich bei ihm einen unsichtbaren Bann, der ihn beschränkt hatte. Sein Griff nach mir wurde fordernder, das Zögern wandelte sich in echtes Verlangen. Erneut rollte er über mich, sein Glied mit überraschender Zielsicherheit meine auf ihn wartende Öffnung treffend. Und im nächsten Moment war er in mir, mit einem lauten Seufzer – aber ich weiß nicht mehr, ob er ihn ausstieß oder ich, oder beide. Aber wir verharrten gemeinsam einen Augenblick, um zu genießen, das Gefühl des ersten Kontaktes auszukosten, den anderen voll zu spüren. Aber auch, um die Erregung ein wenig abklingen zu lassen, bei mir vielleicht durch den Wein unterstützt, bei ihm vielleicht durch lange Zurückhaltung. Er zog mich mit einem Arm etwas näher zu sich, den anderen stützte er auf das Bett neben mir. Irgendwann hatte ich die Augen geschlossen und als ich sie jetzt öffnete, fand ich seinen Kopf nach hinten gelegt, Augen ebenfalls geschlossen, aber den Mund leicht geöffnet und diese wundervollen langen Zähne gewachsen.

Fast mein Gabriel – und doch nicht. Er war viel vorsichtiger und sanfter, er bewegte sich unendlich langsam in mir und noch ließ ich ihn den Rhythmus diktieren. Doch selbst die langsamste Bewegung von ihm konnte nicht verhindern, daß wenige Stöße schon ausreichten, um für ihn das viel zu frühe Ende zu bringen. Ich spürte sein Zittern, er zog mich fester an sich und ich konnte nicht anders, als den Druck auf sein Glied noch zu verstärken. Drei oder vier feste Stöße genügten und er kam mit einem lauten Stöhnen in mir, während sein uns stützender Arm den Dienst versagte. Ich zog ihn womöglich noch enger an mich und verstärkte  seine zuckenden Bewegungen in mir.

Doch wir waren eigentlich nicht am Ende, sondern es war nur der Beginn. Männer die ich früher kennen gelernt hatte, hätten sich entweder entschuldigt, oder wären eingeschlafen. Doch Phale war natürlich anders, er sagte nichts, doch seine Hände, die meinen Körper umgehend weiter erkundeten, sprachen für sich selber. Viel sicherer als zu Beginn drehte er mich auf den Bauch und seine Zähne zupften an meiner Haut während seine Hände sich erneut auf die Wanderschaft machten. Auch dieses mal fand sein Glied gleich wieder den richtigen Weg, schon wieder steif und hart und erregend. Und dieses Mal war die erste Erregung abgeklungen, zumindest bei ihm. Voller Kraft und ohne Zögern stieß er direkt in mich, so daß dieses mal mir der Atem weg blieb. Er zog mich hoch, bis ich vor ihm kniete und er hinter mir. Seine Hände auf meinen Brüsten folgte ich erneut seinem Rhythmus, fester, härter und verlangend. Und meine Zähne begannen zu wachsen. Doch dieses eine Mal wollte ich ihm in die Augen sehen, in ihnen sehen, was ich fühlte. Also unterbrach ich ihn, wenn es auch schwer war. Ich drückte ihn auf die Kissen, setzte mich rittlings auf ihn ohne daß ich bei seinem erneuten Eindringen helfen mußte. Seine Hände schienen sich nicht entscheiden zu können, welchen Teil von mir sie zuerst streicheln wollten. Und wieder waren auch seine Zähne gewachsen. Er fühlte sich so gut an, einfach richtig. Und schon wieder wurde unser beider Tempo schneller. Seine Augen sprachen von Verlangen und von Liebe – seiner Art von Liebe. Und so er zeigte er mir endlich seine Welt, führte mich in sein Traumland, das so lange aus Alpträumen bestanden hatte. Wir schenkten uns in dieser Nacht Vertrauen und nahmen Kraft voneinander. Und nur unseren Zähnen legten wir eine Sperre auf. Und ich verlor mich nicht in den schwarzen Schwingen, denn sie waren nicht hier. Doch unsere Körper waren zufrieden, während meine Seele sich gemütlich an Gabriels Erinnerung kuschelte und genoß und Raphael – zumindest für einige Zeit – Frieden fand.

Als ich am nächsten Tag aufwachte, schwebte noch immer sein Duft im Raum, aber ich war alleine. Eine Weile blieb ich liegen, ließ die Augen geschlossen und versuchte, mit meinen Gedanken den schwarzen Raben zu finden, wie es Tejat mich gelehrt hatte. Gabriel hatte seine Blockade errichtet. Ich fühlte, daß er sich im Hause befand und daß er müde, aber zufrieden war. Und es waren einige Leute bei ihm. Also war es auch wohl für mich Zeit, aufzustehen. Es stellte sich heraus, daß der Wein wenigstens keine Kopfschmerzen verursachte. Ich suchte mir dunkel Jeans, und ein schwarzes Shirt und machte mich auf die Suche. Vorerst ignorierte ich das reichhaltige Frühstücksbüffet im Salon – es war doch bestimmt schon Mittag oder noch später. Mir schien, es gab etwas Wichtigeres. In den Gängen traf ich Mitglieder des Corvus. Alle grüßten freundlich, einige wünschten einen ‚guten Tag’ und andere wünschten ‚viel Glück’, ‚gute Reise’ und andere Dinge. – Endlich lief mir ein Hausmädchen über den Weg, die mich im ersten Stock in einen weiteren Raum brachte. „Bitte warten sie, der Kader ist in einer Besprechung, ich werde jemanden holen.“ Aber sie brachte statt dessen Kolya mit zurück.

„Hallo Kleine! Ausgeschlafen und erholt?“ – „So einigermaßen. Irgend jemand hätte mir die Sache mit dem Wein erzählen können.“

„Wie, das wußtest du nicht?“ Beinah hätte ich seinem unschuldigen Gesicht geglaubt. Aber dann verriet ihn doch ein leichtes Zucken im Mundwinkel. „Oh, warte nur, das gibt Rache!“

Dann wechselte ich das Thema. „Ich wollte zu Gabriel. Ihr seid heute ziemlich schwer zu finden.“ Kolya schaute zurück zur Tür, aus der er grad gekommen war. „Äh, ja… wir… haben hier so eine Art Konzil, einer Art von äh, Beratung.“ Er wollte nicht so recht mit der Sprache raus. Das war etwas ungewöhnlich, denn entweder war er sonst ehrlich, oder er sagte nur, daß er über irgendwas nicht sprechen könne. Aber drumherum reden? „Kolya, was ist los? Wollt ihr mich nicht dabei haben? Willst du etwa sagen, es geht nicht um Dinge, die auch mich betreffen?“ Er schien sich wirklich etwas unwohl in seiner Haut zu fühlen. „Nun… nein, also ja, schon, es geht auch um dich. Aber da wird vielleicht über Dinge gesprochen, die du noch nicht verstehen kannst, oder die vielleicht in deinen Ohren komisch klingen könnten. Wir wollen ein paar Vorbereitungen treffen, und solche Planungen und unsere Welt wie sie sich dir präsentiert ist so schon zu dunkel geworden.“ Einen Augenblick schaute ich ihn sprachlos an. Dann schüttelte ich den Kopf. „Ach Kolya! Du redest von Dunkelheit, dabei seid doch ihr mein Licht darin. Mit euch würde ich doch alles ertragen und immerhin bin ich ja auch wohl etwas Schuld an dem Dilemma. Aber sag es ganz deutlich. Darf ich eintreten oder nicht? Dann gehe ich zurück in mein Zimmer und werde nicht mehr davon reden – und garantiert auch nicht schmollen, versprochen.“ Er zögerte einen Moment. Dann nickte er. „Es wurde dir nicht verboten, es war ein ‚Vorschlag’. Doch vielleicht hast du Recht, aber auch wir haben Recht, es gibt noch so viel Dunkel, das jemand wie du eigentlich nie erfahren sollte. Keiner sollte mit so etwas konfrontiert werden, der so viel Licht in sich trägt. Daher der Versuch, dich zu schützen, nicht zu verheimlichen. Sei nicht böse, Kleines. Und wenn du bereit bist, tritt mit mir ein.“

Einen ernsthaften Moment überlegte ich wirklich. Wollte ich zuhören oder nur folgen. „Nein Kolya, ich bin jetzt ein Teil von euch. Natürlich bin ich nicht böse, im Gegenteil, ich danke für eure Überlegungen. Aber schützt mich nicht. Beschützen könnt ihr mich gerne. Ich will dabei sein, ich werde nicht urteilen, nur zuhören. Wenn es euch recht ist.“ – „Nun gut, dann komm, Kleine. Das Konzil tagt schon einige Zeit. Es sind einige unserer engsten Vertrauten, von denen du die meisten noch nicht kennst. Aber sie kennen mittlerweile dich und deine Geschichte. Und höre gut zu, vielleicht schreiben wir hier ein wenig ein neues Kapitel in das Buch der Oscuro.“ Damit öffnete er die Tür und führte mich in einen Raum, der nur mit einem langen Tisch und vielen Stühlen ausgestattet war. Neun Personen saßen um den Tisch verteilt und schauten zu uns auf, als wir eintraten.

Ich erlebte dann noch eine kleine Überraschung, als ich sah, daß auch Carré mit am Tisch saß und mir beim Eintreten freundlich zunickte. Trevor hingegen war nicht anwesend. Auf dem Tisch lagen einige Landkarten und andere Papiere. Der Platz neben Gabriel war frei, anscheinend hatte Kolya dort gesessen. Jetzt wies dieser mir genau den Platz zu. Gabriel trug einen undurchdringlichen Blick zur Schau, weder zeigte er sich erfreut noch vorwurfsvoll. Aber als ich mich neben ihn setzte, strich er mir einmal sanft über die Hand. Kolya suchte sich einen Platz weiter unten am Konferenztisch. Und noch immer waren einige Stühle frei, es paßten sicherlich mehr als zwanzig Personen bei Bedarf hier herein.

Die Blicke der anderen Anwesenden waren ernst aber ebenfalls erschienen sie freundlich. Während deren Aufmerksamkeit sich danach wieder Gabriel zuwandte, musterte ich die Fremden. Ich meinte, einige von den Feierlichkeiten wieder zu erkennen, aber Namen fielen mir natürlich nicht ein, dafür waren es gestern einfach zu viele gewesen. Aber es war eindeutig nicht die Zeit für höfliche Vorstellungen. Gemäß meinem Versprechen nickte auch ich in die Runde und schaute dann ebenfalls zu Gabriel, der wohl als Letzter gesprochen hatte. Der räusperte sich und fuhr dann, an alle gewandt, fort:

„Die Frage, die uns weiterhin beschäftigen muß ist, was will Dezmont? Gut, sein primäres Ziel ist klar. Aber wie geht es weiter? Was will er wirklich. Das sind wichtige Fragen, denn auch oder gerade sie beeinflussen unsere nächsten Schritte.“

Ein Mann aus der Runde antwortete leise aber bestimmt: „Macht! Er will Macht über alles, Leben und Tod, uns, die Sterblichen. Er sieht sich als eine Art Übermensch, dem sich alle beugen müssen.“ Einige der Anwesenden nickten, aber Gabriel schüttelte den Kopf: „Das reicht mir nicht. Es stimmt, er hat sich bis zum Kader hoch gekämpft und gemordet. Trotzdem. Es kann kein Zufall sein, daß er gerade jetzt so aktiv wird. Es gab immer Reibereien und die Zirkel waren in den letzen Jahren öfter in kleinere Auseinandersetzungen verstrickt. Aber jetzt? Er hat mich öffentlich herausgefordert. Er kennt mich viel zu gut, um so was leichtfertig zu tun. Entweder ist er also bereit, für etwas ganz Großes, das er plant. Das glaube ich aber nicht. Zum einen hätte ich davon erfahren, zum anderen ist sein Vorgehen dafür zu undiszipliniert. Also geht es ihm um etwas anderes. Und wenn ich nicht furchtbar irgendwas verpaßt habe, ist nur LaVernes Auftauchen eine größere Sache. Und das auch erst, seit wir vom Rat der Alten zurückgekehrt sind.“

„OK, Gabriel.“ Nickte Kolya. „Setzen wir voraus, daß du richtig liegst. Was will er also von LaVerne. Wie weit betrifft das unseren Zirkel und was kann man tun?“

Nun wußte ich zumindest, was Kolya gemeint hatte. Ich dufte nicht böse sein, daß so eine Frage aufkam. Immerhin, wenn Dezmont hinter mir her war – das schien schon geklärt – warum sollte der Zirkel mich schützen. Warum mein Rabe zu mir stand, war klar, aber hatte ich denn überhaupt das Recht, seinen ganzen Zirkel dort mit hinein zu ziehen. Oder hatte ich da überhaupt eine Wahl? Entschied das nicht Gabriel für mich? Da kamen ganz neue Gedanken auf mich zu – und ich war froh, daß ich hier war und zuhören konnte. Wie weit wollte ich denn, daß Liebe zu Tod führen sollte, wollte ich den Tod dieser wunderbaren Wesen hier verantworten? Alles Fragen, die ich schon viel früher hätte stellen müssen. Und zwar nicht dem Raben, sondern mir. Der war nämlich garantiert befangen und würde nicht vernünftig mit sich diskutieren lassen. Genauso wenig, wie Kolya vermutlich, aber da könnte ich mich vielleicht irren. Bevor ich weiter überlegen konnte, antwortete der Mann, der vorhin schon gesprochen hatte: „Nun, es gibt offensichtliche und versteckte Antworten.“ Er pausierte und schaute mich das erste Mal direkt und bewußt an. Unter dem forschenden Blick wurde mir ganz warm. Aber dann schickte er einen – überraschend – freundlichen Blick in meine Richtung: „Er will sie haben. Lebend. Gabriel auch. Verständlich. Sie hat also etwas, was er will. Er kennt sie nicht, also wird es wohl kaum ihre Gesellschaft sein, die er sucht. Aber das gibt Antwort auf die zweite Frage von dir, Kolya. Er will Macht – mehr Macht – viel Macht. Sie bedeutet für ihn Macht. Warum auch immer. Er darf nicht mehr Macht bekommen, also darf er sie nicht bekommen – entschuldige Gabriel – objektiv gesprochen. Was das für dich und deine Gefährtin bedeutet, sei erst einmal dahingestellt. Der Punkt ist, Dezmont darf seine Hände nicht auf LaVerne legen. Also muß unser Zirkel, wie jeder andere Zirkel auch, der sich gegen den weißen Drachen entscheidet, sich zwischen ihn und sie stellen. Ich denke mal, LaVerne dauerhaft äh … ‚verschwinden’ zu lassen, wäre nicht unbedingt die Lösung – und wenn ich mir unseren Kader so ansehe – auch keine Option“, grinste er, als Gabriel gerade Luft holen wollte. „Ich wollte nur alle Möglichkeiten aufgezählt haben. Entschuldigt bitte!“ Wobei er überhaupt nicht zerknirscht aussah – eher etwas angriffslustig.

„Also. Die Möglichkeiten sind recht begrenzt. La Verne vor ihm verstecken. Wie bisher. Das ist aber auf Dauer keine Lösung. Das sagtest du ja vorhin schon Carré. Eine Auslieferung kommt genauso wenig in Frage, wie eine Beseitigung. Bleiben also nur noch zwei Möglichkeiten.“ Er schwieg und schaute in die Runde. Er hatte unser aller vollste Aufmerksamkeit: „Möglichkeit eins: Dezmont aus seinem Loch locken, ihm vielleicht eine Falle stellen und ihn ein- für allemal vernichten. Und damit entweder unsere Fehden beenden oder es zu einem offenen Krieg kommen lassen.“ Wieder schwieg er. Einige schüttelten erneut leicht den Kopf. „Und die zweite Möglichkeit, die vermutlich besser wäre, ist, daß wir selber herausfinden, was Dez will, uns das ‚besorgen’, was er sucht und vielleicht am Ende entweder gegen ihn einsetzen können oder ihm permanent und effektiv vorenthalten. Also, daß wir herausfinden, was dich so besonders macht, LaVerne.“ Damit sah er mich wieder so an, daß ich mir wie auf dem Präsentierteller vorkam.

„Deshalb brechen wir auch morgen Abend zum Congregat auf. Scuro Tejat hat uns angekündigt und Gideon ‚freut’ sich angeblich auf unseren Besuch. Allerdings weiß er nicht, wer kommt, oder warum. Also stimme ich dir in dem Sinne zu, wir müssen mehr über LaVerne erfahren. Aber vermutlich reicht das nicht und kann unter Umständen auch länger dauern. Also werden wir direkt aus dem Anguis-Zirkel die Informationen holen, was genau Dezmont will. Als wir im Februar hier waren, haben Kolya und ich schon einige Vorbereitungen für diese Aktion getroffen. Wir sollten bald Antworten erhalten. Bei diesem Treffen heute geht es darum, bestimmte Aufgaben zu verteilen. Wir müssen weitere Spione einsetzen, wir brauchen vorläufig noch falsche Fährten, müssen uns trotz allem auf eine eventuelle Konfrontation vorbereiten und nicht zuletzt werden wir eine Art Bestandsanalyse machen müssen. Wir werden die anderen Zirkel kontaktieren, vorläufig natürlich nur die, die offen auf unserer Seite stehen. Aber wir müssen auch unsere verdecken Freunde einbeziehen. Wie lange das alles in aller Stille gehen wird, hängt von unserem Glück ab, nicht an den Falschen zu geraten. Aber ab einem bestimmten Zeitpunkt ist mir das auch egal. Wir müssen überlegen, was wir den anderen Zirkeln berichten. Der Colubra-Zirkel kennt vermutlich schon einen – wenn auch nicht großen – Teil der Geschichte, weil bei Alistair die Dinge begonnen haben. Und übrigens kennt Bouvier LaVerne sogar persönlich.“

Woher kannte ich diesen Namen… Lord Rodenby fiel mir dazu ein. Ja, richtig. Der Herr mit den glatten Haaren und der netten Art, die Zähne zu zeigen, der mich ganz zu Anfang so furchtbar ins Schwitzen gebracht hatte, mit seinem ‚freundlichen Angebot’. Damals – nein, oh Gott, Anfang November, vor nur Vier Monaten – hatte Kolya mich aus meiner Unwissenheit gerettet. Das war also jemand aus dem – was – Colubra-Zirkel. Mit einem Ohr hörte ich bei diesen Reflexionen weiter zu. Die nächsten Namen kannte ich auch. „Die Noctua kennt die Geschichte bereits komplett. Simeon hatte ja auch LaVerne einige Zeit persönlich zu Gast. Der letzte Zirkel, der informiert wird, ist der Satyrus. Ich brauchte gar nicht erst zu versuchen, dort mit irgendwelchen Geschichten anzukommen. Und Mikails Leute haben in der kommenden Zeit noch mehr Aufgaben. Von dem nächsten Teil des Planes bin ich nicht allzu begeistert, aber zum einen wurde ich überstimmt, weiterhin ist die Idee leider zu gut und außerdem … also… vielleicht bringt es mir am Ende jemanden zurück, den ich fast verloren glaubte.“

Er hatte einen seltsamen Gesichtsausdruck. Eine Art trauriges Lächeln und er hatte die letzen Worte leiser gesprochen. Mein Blick fiel auf Carré: auch sie hatte einen ähnlichen Blick, aber etwas heiterer. Die anderen schauten genauso fragend wie ich auch. Aber als Gabriel nicht sprach, ergriff Carré das Wort: „Ich erkläre euch jetzt, was Gabriel vorhin schon kurz andeutete, daß wir eine Ablenkung planen. Raphael wird als Gabriel den Satyrus-Zirkel aufsuchen, was ja eine logische Aktion für Gabriel wäre. Ich werde ihn begleiten in der Hoffnung, daß man mich eine zeitlang für LaVerne hält. Wir werden morgen zeitgleich abreisen und euren bisherigen Begleiter John als weitere Tarnung mitnehmen. Teile dieses Planes stammen sogar von ihm. Er weiß nicht, daß Raphael nicht Gabe ist, wie ich ihm kenne, wird er es aber sehr schnell rausfinden. Wir können dort dann schon mal Vorbereitungen für euch, Gabriel, Kolya und LaVerne treffen, wenn ihr später nachkommt. Und so können wir über die Ereignisse auch persönlich berichten, was immer besser ist.“ Ich hatte mit wachsendem Erstaunen zugehört. Sollte John nicht mit zum Congregat kommen, er konnte mich doch nicht einfach ‚im Stich’ lassen. Und angeblich hatte Raphael diese Räume seit Jahren nicht verlassen. Und sollten wir nicht mit vier Personen reisen? Was war mit Trevor und … nachdem ich aufhörte, nur an mich zu denken: was, wenn der Trick klappte und Carré und Raphael und John in Gefahr gerieten. Gabriel konnte das doch nicht einfach zulassen. Ich warf ihm einen entsetzten Blick zu. Er verstand mich offensichtlich sehr genau, denn er griff nach meiner Hand, drückte sie und schüttelte dann leicht den Kopf: „Ich bin mit dem Plan – wie gesagt – nicht glücklich. Aber ich muß die Realität anerkennen. Es ist eine lohnenswerte Idee. Außerdem komme ich gegen drei gute Freunde und einen Bruder nicht an. Fast wünschte ich, er wäre nicht gerade jetzt aus seiner Lethargie erwacht um mitzumischen.“

Da hatte ich dann das Gefühl, daß auch er überrollt worden war.

Die Besprechung ging noch eine ganze Weile weiter. Es ging um Reiserouten, bestimmte Personen in verschiedenen Zirkeln, und um viele andere kleine Dinge. Endlich schien das Konzil beendet. Zum Schluß war mir die Zeit doch lang geworden. Die meisten erhoben sich, wechselten noch einige freundliche Worte und verschwanden. Carré blieb genauso, wie Gabriel und Kolya und der Fremde mit dem durchdringenden Blick. Jetzt kam er zu mir, reichte mir die Hand: „Darf ich mich jetzt auch persönlich vorstellen: Tres Carrt’Dheas. Ich spiele oft und gerne den Advocatus Diaboli, sicher ist das hier kaum aufgefallen. Aber es müssen immer alle Seiten gehört werden, wie der kluge Römer sagte: audiatur et altera pars. Du bist ja wohl nicht böse? Eigentlich kann ich auch manchmal recht nett sein.“ Dazu servierte er ein Lächeln, das perfekt zu dem Ausdruck ‚Anwalt des Satans’ paßte. Aber er hatte ja Recht. Und warum sollte ich daher verärgert sein. Also schenkte ich ihm eines meiner strahlendsten Lächeln: „Aber nein! Wie könnte ich mir erlauben, einem Anwalt böse zu sein! Es ist immer am besten – habe ich gelernt – solche Menschen auf der eigenen Seite zu wissen. Übrigens, ich finde deinen Namen interessant. Hat er eine Bedeutung?“

Ich hatte wohl angemessen reagiert, denn das Lächeln wärmte sich von ‚Nordpol’ zu ‚Eiswürfel’. Er nickte und während wir nebeneinander zu Gabriel und Carré gingen, erläuterte er: „Selbstverständlich. Wenn unser eigentlicher Name uns nicht gefällt, können wir bei Eintritt in die Oscuro oder zu passender anderer Gelegenheit gewisse ‚Änderungen’ vornehmen lassen. Das tun einige, aber nicht alle. Oft steht für den Namen ja eine gewisse Bedeutung, bei Gabriel der Rabe, bei Colubra die Schlange und so weiter. Mein Titel ‚Tres’ bezieht sich auf ‚drei’, die dritte Generation in der Oscuro. Der Teil mit Carrt ist ein Erbstück meines Vaters, er trug auch diesen Namen im Corvus-Zirkel. Und Dheas ist ein Wort aus dem Gälischen. Es wird ungefähr mit ‚Wind’ übersetz – ein Luftzug. Und das war das ganze Geheimnis. Zusammengesetzt klingt das doch gar nicht so schlecht. Tres Carrt’Dheas. Vielleicht fällt uns für dich ja auch noch ein schöner Name ein. Ich mag gallische und romanische alte Formen.“

Während er sprach, war er merklich aufgetaut. Er redete wohl gerne über dieses Thema. Wir hatten sogar den Gefrierpunkt überschritten, wenn das so weiter ging, würde ich ihn irgendwann glatt noch als freundlich bezeichnen.

Dagegen reichte ein Lächeln von Gabriel und mein Magen hüpfte. So, wie jetzt. Er nahm mich in den Arm und küßte mich. Die anderen standen um uns herum, während er mich kurzfristig in seine Welt entführte und das leise glimmende Feuerchen wieder anfachte. Sein dunkler Schatten zog mich in seinen Geist – und dann standen wir wieder voreinander. Die anderen waren – wider erwarten – nicht in diesem Feuer verbrannt. Mühsam suchte ich meine Gedanken aus verschiedenen Regionen meines Körpers wieder zusammen.

Carré lächelte still und sprach mich dann an: „Es grenzt an ein Wunder, daß Raphael bereit ist, uns zu helfen. Eigentlich selber auf das Grundgerüst dieser Idee gekommen ist. Aber ich bin so unendlich froh darüber, daß ich seine Motive – vorerst – nicht hinterfragen werde. – Jedenfalls: Mach dir keine Sorgen um mich LaVerne. Ich habe gute Beschützer, kann mich durchaus wehren und kenne diese Welt schon so viel länger als du. Außerdem mag ich die schlichte Eleganz der Täuschung – vielleicht Trevors Einfluß. Und ich freue mich zudem darauf, sowohl Berenice als auch Mikail zu sehen. Und ich habe John bei mir, bestimmt nicht der schlechteste Schutz. Und du hast mit Sicherheit die übleren Karten, glaube mir.“ Und sie grinste verschmitzt: „Ganz üble sogar. Als Ersatz für John mußt du Tres mitnehmen…“ ich schaute ‚fast’ entsetzt‚ „…und außerdem triffst du auf den humorlosen Gideon. Nein, ich vertrete dich wirklich gerne eine Zeit.“

Ich schwankte zwischen Lachen – ihr Gesichtsausdruck sprach jetzt Bände – und Erschrecken: mit diesem … diesem … Anwalt wollten wir reisen? Ob da noch eine Diskussion möglich war? Ich schaute Gabriel hilflos an und mein Rabe ‚entzückte’ mich wieder mit einem Anflug von Gedankenlesen: „Ach, wenn du ihn erst kennen lernst, ist Tres gar nicht soo schlimm. Fast erträglich, für einen Studiosi.“ Wenn er mich auf den Arm nahm, war ich im Moment nicht in der Lage, das zu erkennen. Und er hatte laut genug gesprochen, daß ihn auch Tres hören konnte. Aber weder lächelte er bei seinem Kommentar, noch gab es andere Anhaltspunkte. Natürlich kam nicht mal ein höfliches Grinsen oder gar ein irgendwie gearteter Kommentar von Tres. Kolya war hinten am Tisch dabei, Papiere zu ordnen, also auch keine Hilfe. Klasse. Aber Gabriel war noch gar nicht fertig: „Und Gideon, nun, ein brummiger 50er, der langsam alt wird, während seine Bekannten sich nicht verändern. Was kann man da groß an Humor erwarten?“ Das waren ja reizende Aussichten für die nächste Zeit. Zusammen mit Kolya kehrte ich etwas später in unsere Quartiere zurück, Gabriel, Tres und Carré blieben in Unterhaltung vertieft noch im Konferenzsaal zurück.

Eine Weile schlenderten wir schweigend nebeneinander her, jeder von uns hing seinen Gedanken nach. Da ich mit meinen kreisenden Betrachtungen eh nicht weiter kam, fragte ich: „Und? Was sagst du, Großer? Zu den Plänen, meine ich.“ Ich wollte noch mehr fragen, sparte es mir aber – vorerst. Doch mein Begleiter antworte nicht sofort. Versunken schritt er langsam aus. Ich hatte fast aufgegeben, wir waren schon vor der Tür, da antwortete er – Hand auf der Klinke, aber ohne einzutreten: „Ich habe dafür votiert. Raphael kam zu mir und schlug eine Ablenkung vor. Ich bin für die Sicherheit zuständig, aber ich habe eine weitere Meinung eingeholt. John war Polizist, ist also ein guter Taktiker. Er hat einiges an Details ausgearbeitet, inklusive seiner Beteiligung. Die Simplizität der ganzen Sache hat mich am Ende überzeugt. Und auch, was Gabriel vorhin gesagt hat: Sein Bruder begann uns zu entgleiten. Seit Gabriel dich ‚gefunden’ hat, ging es das erste Mal auch mit ihm wieder aufwärts und jetzt scheinen seine alten Geister vielleicht zurück zu kehren. Und wenn Raphael voll bei der Sache ist – was ebenfalls sehr lange her ist – ist es, vorsichtig gesagt, schwer, sich ihm zu widersetzen oder zu entziehen. Raphael hat seine eigene, ganz besondere Magie.“

Jetzt endlich trat er in den Salon und zog mich ohne groß anzuhalten direkt auf eines der Sofas. Fließend sprach er weiter: „Jetzt zu Tres. Er ist ein brillanter Redner, ein Meister der Rhetorik. Nicht umsonst verbindet man seinen Namen mit einem Anwalt. Er ist nie sprachlos, kann messerscharf taktieren und argumentieren und bleibt keine Antwort schuldig. Sein Verstand arbeitet manchmal auf einer mir fremden Ebene. Aber das erklärt auch gleichzeitig seine Art. Sein Körper ist unter Menschen, sein Gehirn woanders. So erscheint er bestenfalls abgelenkt, im ungünstigsten Fall unhöflich bis unfreundlich. Man muß ihn so nehmen, wie er ist. Er könnte zum Beispiel im Kopf ein komplettes Schachturnier ohne Brett und Figuren ablaufen lassen. Wenn man aber mal seine Aufmerksamkeit – vielleicht sogar seinen Respekt – erlangt hat, ist er ein Anderer. Er ist ein wertvoller Verbündeter unter normalen Umständen, aber hat man auch seine Wertschätzung gewonnen, dann sind seine Hingabe und seine Loyalität absolut. So etwas dauert, dennoch ist er es wert. Aber wir können seine Fähigkeiten beim Congregat sehr gut brauchen und ihr werdet euch schon vertragen. Du bist kein Mensch, der klein beigibt oder ihm oder sonst jemandem nach dem Mund redet. Das würde ihm mißfallen, wie uns allen ja auch. Im Endeffekt jedoch verehrt er Gabriel und glaubt daran, daß dieser seine Wahl mit Bedacht getroffen hat.“

Jetzt grinste er endlich wieder, aber eindeutig sehr frech: „Darüber ließe sich sicherlich streiten – nein, über das ‚mit Bedacht’ – guck nicht so vorwurfsvoll. Stimmt doch, da waren sicher andere Dinge im Spiel, als der Kopf. Aber Gabriels Wahl steht fest und somit akzeptiert dich Tres. Sei du selbst, dann hast du vermutlich bald einen weiteren großen Mann an deiner Seite. Er ist die Mühe wert, Kleine.“ Damit erhob er sich seufzend. „Die Tage sind einfach zu kurz! Noch so viel zu erledigen, so viele Freunde hier, die ich noch begrüßen will oder schon bald verabschieden muß und so wenig Zeit. Wir reden morgen weiter. Heute Abend – nee, nachher – wieder Treffen und Essen im großen Saal. Um 23 Uhr.“ Damit zerdrückte er mich kurz und lies mich mit gemischten Gefühlen und noch immer chaotischen Überlegungen alleine.

An diesem Abend waren in der großen Halle Tische aufgebaut. Es waren wohl schon einige Leute abgereist, denn wir waren ‚nur’ noch rund fünfzig Personen und von den ‚Neuen’ konnte ich erst nur John entdecken, doch im Laufe des Abends sah ich dann auch noch einige der anderen. Ich war dagegen sehr leicht auszumachen, ich saß neben Gabriel und heute war er gelöst, bester Laune und hatte wohl auch keinerlei sonstige Verpflichtungen in seiner Eigenschaft als Kader. Nachdem wir einige Zeit getanzt hatten – und ich dann meine Knie wieder unter Kontrolle gebracht hatte, und mein Herz wieder einigermaßen rhythmisch schlug, suchte ich John. Er saß mit einigen Fremden am Tisch und schien sich glänzend zu amüsieren. Na warte, Freundchen!

„John, komm, wir haben noch nie miteinander getanzt.“ Bereitwillig ließ er sich weg führen, doch dann schien er was zu ahnen, denn sein Lächeln begann, etwas gequält auszusehen. Gut so! „John, wenn du mich beim Tanzen nicht etwas dichter an dich ziehst, werden die Leute denken, einer von uns hat eine ansteckende Krankheit.“ So hatte ich ihn dann nah genug, um nicht schreien zu müssen und um ihn auch mal wieder ein klein wenig zu provozieren. So! Auf geht’s: „Sag mal, lieber Freund! Was höre ich da für Sachen? Du willst ohne mich weiterreisen? Mit Carré? Und warnst mich nicht mal vor, nein, sprichst auch noch heimlich mit unseren Freunden und schmiedest Pläne? Was soll ich davon halten?“ Er fühlte sich merklich unwohl, in mehr als einer Hinsicht. Seinen Versuch, etwas Abstand zu gewinnen, erstickte ich gleich mit einem festen Griff. „Also? Verteidige dich, du Verräter.“ Gut, daß er mein Gesicht nicht deutlich sehen konnte.

„Also…äh! Nein, ich … ich habe doch gesagt, ich will meinen Teil zu dieser Geschichte beitragen. Ich meine immer noch, daß ich vielleicht ein bißchen mit Schuld bin und ich kenne mich eben gut aus, was Taktik und falsche Fährten angeht. Ich will doch nur, daß die ganze Sache für uns alle gut ausgeht. Sei mir nicht böse. Immerhin war auch ich schwer überrascht, daß Gabriel mit uns reist und du nur Kolya als Schutz hast. Aber darüber wollte keiner mit mir diskutieren. Alle meinten, nur so würde die Ablenkung richtig funktionieren. Und ich wollte ja mit dir reden.“ Fast tat er mir leid, er klang wirklich bedrückt. Aber nur fast. Erst noch den letzten Stoß: „Ja, daß Gabriel mit zum Satyrus-Zirkel will, ist echt heftig. Jetzt ist mir keiner außer Kolya geblieben. Und du reist in bester Gesellschaft. Danke für die Hilfe.“ Jetzt mußte ich mir fast auf die Zunge beißen, um nicht zu lachen. Aber die Überraschung mit dem falschen Gabriel war eigentlich schon Trost genug für mich. Nur noch ein ganz klein wenig John ärgern … „Ach, LaVerne, sei doch nicht so ärgerlich. Es tut mir echt leid, wirklich. Ich hätte dich ja auch gerne dabei, aber es geht ja nicht. Diese Leute hier machen sich echt Sorgen und ich auch…“ Nun war es genug. Ich hatte meine Rache gehabt. Also zog ich den armen John ganz dicht an mich – das machte für ihn die Lage nicht wirklich besser – und flüsterte: „Danke, daß du dir solche Sorgen machst. Ohne dich als mein Freund wäre meine Welt viel ärmer. Ich bin nicht sauer, nie wirklich gewesen. Nur traurig, daß wir eine Zeit lang getrennte Wege gehen. Nun sei wieder gut mit mir. Ich habe dich doch nur aufgezogen. Aber eine ganz kleine Rache habe ich doch für dich. Du wirst es bemerken, wenn es soweit ist.“

Jetzt schob er mich doch ein Stückchen weg und schaute mich an. Und als er dann mein Lachen sah, atmete er tief durch und dann strahlten seine Augen wieder in diesem herrlich leuchtenden Blau, das ich schon so lange nicht mehr gesehen hatte. Unvermutet küßte er mich – fast wie vor vielen Monaten. Dann zog er mich wieder an sich und unser Tanz war danach alles andere als brav zu nennen. Aber das war hier OK und außerdem unsere persönliche Art, sich für einige Zeit zu verabschieden.

Später tanzte ich noch mit einigen anderen Leuten des Corvus-Zirkel. Die Stimmung war wirklich wie bei einer großen Familienfeier, nur freundschaftlicher. Erst früh am nächsten Morgen verließen wir alle nacheinander irgendwann die Feier. Ich fiel völlig geschafft aber gut gelaunt waagerecht in mein Bett und war wohl schon eingeschlafen, als ich noch nicht mal mit dem Kopf auf dem Kissen lag.

Montag Abend reisten die meisten übrig gebliebenen Gäste ab. Nur ein harter Kern um Gabriel und Kolya blieb. Die Leute aus dem Konzil, John und Trevor. Raphael hatte ich seit der Nacht des Blutschwurs nicht mehr gesehen und erwähnte ihn auch nicht. Doch auch bei uns übrigen herrschte Aufbruchstimmung. Kolya verteilte die ganze Nacht Anweisungen, wir alle packten unsere Sachen zusammen, Transportmittel wurden herbeigeschafft. Irgendwie waren alle in ‚Hektik’ und das steckte an. Als ich Dienstag sehr früh – eigentlich für mich späte Montag Abend – endlich erledigt in die Räume des Kader torkelte, war die Stille hier eine Wohltat. Ich blieb mitten im Raum stehen, bis ein wenig von dem Chaos von mir abfiel und ich die Ruhe wieder hören konnte. Dann ging ich langsam in das ‚Sternenzimmer’ Ich hatte richtig vermutet, hier fand ich Raphael. Vor dem geöffneten Flügel, aber er spielte nicht und drehte sich bei meinem Eintreten auch nicht um.

Also trat ich langsam hinter ihn und schlang meine Arme vorsichtig um seinen Hals, die Hände vor der Brust verschränkt. Langsam legte er seine Hände auf meine. „Ich verabschiede mich. Von einem Teil meines Lebens, vielleicht von einem Gefängnis und von einer Erinnerung.“ – „Nein, Phale, Erinnerungen sind in deinem Herzen. Ob gut oder schlecht, du trägst sie immer bei dir. Genauso, wie Nehenia immer bei dir sein wird. Nein, dies ist zwar ein wundervoller Ort aber eher eine Zuflucht, als die Realität. Du tauscht nur gerade einen Traum – manchmal sicher auch einen Alptraum – gegen das Leben. Das ist ein guter Tausch, das haben mich dein Freund und dein Bruder gelehrt.“ Einen Moment verharrten wir so, ich hinter ihm und starrten beide in eine unbekannte Ferne vor uns.

Dann schloß er den Deckel des Flügels, seufzte und stand auf. Er griff wieder nach meinen Händen und sah mich an. Mit Gabriels Augen, endlose Tiefen neben bodenlosen Abgründen, voll von Magie. Eine andere, seine ganz persönliche Magie. Er nickte leicht: „Du hast Recht, schwarze Rose. Sie ist bei mir. Aber mir wurde ein Leben geschenkt, daß ich fast vergeudet hätte. Jetzt ist die Zeit der Trauer fast vorbei. Ich werde Mikail und Berenice von dir erzählen. Und warten, daß ihr alle bald und sicher bei uns eintrefft. Und ich werde John und Carré beschützen. Das verspreche ich dir. Und ich danke dir. Für alles, was du mir gegeben hast. Und wie es der Kodex verlangt, werde ich meine Schuld zahlen. – Jetzt mache dich reisefertig und versuche, noch etwas zu ruhen. Die Tage beim Congregat werden anstrengend.“ Er küßte mich sanft auf die Stirn und komplimentierte mich dann in mein Quartier. Da stand ich nun.

Also gehorchte ich und versuchte, ein wenig Ruhe und Kraft für die nächsten Tage zu tanken. Schon fast am Schlafen, schlich sich ein Gedanke ein – eine Erinnerung an einen Ausspruch von Phale. Etwas, was er über eine Schuld gesagt hatte. Wie war das mit Rückzahlungen…

Congregat

Fear as companion will leave you blind
To friendship, to falsehood, to hope
True compassion now harder to find
Betrayal of trust too evil to cope

 Heute war es soweit. Erst würde unsere Ablenkung abreisen, etwas später wir. In angemessenen Transportmitteln, so daß wir am Abend passend eintreffen würden. Nur für John legten wir eine kleine Show hin, als ich mich von Raphael verabschiedete. Wir andren umarmten uns nur und tauschten einige ‚auf bald’. Ich war ein klein wenig traurig aber vorwiegend aufgeregt – es ging weiter. Gabriel ließ sich natürlich nicht blicken. Und so stiegen meine Freunde in einen dunklen Transporter, um an ihr nächstes Ziel zu fliegen. Unsere Route würde uns den ganzen Tag über Land führen, bis zu der Wüstenstadt.

Rund eine Stunde später brachen wir dann endgültig auf. Es gab vorher einige Diskussionen, aber Bequemlichkeit wurde zugunsten von Unauffälligkeit aufgegeben. Also griffen wir auf den Pferdetransporter zurück. Dieser war um einiges kleiner, als unser Gefährt Weihnachten. Es gab keine Schlafkabinen, nur einen Aufenthaltsraum mit Sesseln und eine Minibar. Zwischen uns und der Ausstiegsrampe befand sich ein kleinerer Raum, wo sich drei kräftige Männer der Nadiesda Thurus niederließen. Wir machten es uns bequem, die Sachen wurden verstaut und dann ging es los. Wir saßen zu viert in den Sesseln und keiner von uns sprach ein Wort. Tres hatte ein Buch vor sich, Kolya stöberte durch einige Dokumente und Gabriel hatte den Kopf zurück gelegt und die Augen geschlossen. In Ermangelung einer anderen Beschäftigung begann ich also, einige meiner Briefe zu beantworten, die bisher liegen geblieben waren. Dazu fiel mir dann was ein und ich fragte: „Sag mal Kolya, heutzutage gibt es so viele technische Möglichkeiten, wie Handy oder Mail. Warum haltet ihr so wenig Kontakt über solche Medien. Ich habe dich – glaube ich – noch nie mit einem Handy gesehen und Gabriel nur ganz selten.“ Der so angesprochene ließ seine Zettel sinken: „Nun, zum einen weißt du ja, wie ich zur Technik im allgemeinen stehe. Aber das hat damit nichts zu tun. Diese Geräte sind weder überzeugend abhör- noch ortungssicher. Unter normalen Umständen nutzen wir die durchaus hin und wieder, aber niemals für vertrauliche oder wichtige Sachen. Da braucht nur der Falsche reinzuhören, du weißt, wir leben im Verborgenen. Wenn man so zum Beispiel Gabriel aufspüren könnte, würde unser Trick nicht funktionieren. Nein, das ist einfach viel zu unsicher. Solche Geräte sollten für echte Notfälle reserviert bleiben oder als gelegentliche Hilfsmittel eingesetzte werden und nicht mehr.“

Und damit war er wieder in seinen Papieren verschwunden. Na gut, wenn denn keiner von denen reden wollte, konnte ich mich auch wunderbar alleine beschäftigen. Und so verbrachten wir endlose Stunden in Stille. Bis die Straße merklich schlechter wurde, holprig, mit Schlaglöchern und an weiter dösen oder lesen nicht mehr zu denken war. Gabriel setzte sich mit einem Ruck auf: „Wir sind fast da, macht euch bereit.“

Und kurze Zeit später blieben wir dann stehen, es gab etwas Getöse hinten und dann traten wir vier in eine kalte, strahlende Wüstennacht. Ein halber Mond und unzählige Sterne – wie in Raphaels Raum – beleuchteten schwach eine Reihe von ein- bis maximal zweistöckigen Gebäuden. Sie paßten in die Steinlandschaft, wirkten wie aus Lehm geformt und unauffällig an die niedrigen Felsen gekuschelt. Die Häuser, nein, die fast hallenartigen Gebäude waren in drei Gruppen unterteilt, die durch grob befestigte Wege miteinander verbunden waren. Nur in einem der drei Komplexe schien Licht zu brennen, schmale, rechteckige Fenster ließen einen schwachen gelben Schein erkennen. Unser Transporter hatte vor einem der unbeleuchteten Eingänge gehalten. Davor standen drei Personen und erwarteten uns. Zwei von ihnen, ein Mann und eine Frau, hatten den weißen Schein der Nadiesda Thurus, doch der dritte strahlte Schwärze aus – und die Silhouette kam mir bekannt vor.

Der erste Mann trat nach vorne: „Willkommen beim Congregat. Ihr wurdet angekündigt und alles ist vorbereitet. Für die, die mich nicht kennen, ich bin Gideon. Kommt rein und erholt euch erst mal, die Reise muß anstrengend gewesen sein.“ Wir folgten ihm gehorsam. In den Wohnräumen gab es doch Licht – wenn auch nur in Form von Kerzen – es mangelte natürlich nur wieder an Fenstern. Als wir die Schwelle überschritten, drehte sich der vertraute Schatten der Begrüßungskommission kurz um. Daher also. Scuro Tejat! Eine wirklich schöne Überraschung. Aber wenn Gabriel verblüfft gewesen war, zeigte er es nicht. Wieder gelangten wir in einen Aufenthaltsraum mit Sofa, Sesseln und einem Tisch mit Brot und Käse. Der blinde Scuro steuerte zielsicher auf einen der Armsessel zu, während wir anderen im Raum wartend stehen blieben. „Bedient euch! Wir haben schon gegessen und dann macht es euch gemütlich. Myrdin, würdest du Kaffee verteilen?“ Als jeder von uns mit einer Tasse saß, sprach Gabriel: „Wir danken euch für die freundliche Aufnahme. Kolya kennt ihr ja. Der Herr dort ist Tres Carrt’Dheas und die entzückende Dame hier LaVerne.“ Wir nickten uns zu und ich hatte jetzt im helleren Licht Gelegenheit, meine Gegenüber zu studieren.

Gideon war bestimmt in den 50ern, ich hätte es auch ohne Gabriels Hinweis bemerkt, hatte sich aber recht gut gehalten. Er schien keine Fettpolster angesetzt zu haben, wenige Falten, das Haar war dunkel aber sehr kurz. Er war nicht groß, vielleicht nur eine Kopf größer als ich und hatte blaßblaue Augen. Irgendwie wirkte er wie jemand, den man sieht und sofort wieder vergißt. Aber vielleicht gab es einen simplen Grund für diese recht harte Einschätzung: In den letzten Monaten waren wir fast nur Männern – und Frauen – der Oscuro begegnet, mit ihrer intensiven Ausstrahlung, diesen Lockstoffen. Möglicherweise gewöhnte man sich daran und wenn sie dann mal fehlten, erschien einem der Mensch gleich ‚uninteressant’. Trotz dieser Einsicht machte auch die Frau auf mich keinen bleibenden Eindruck. Sie maß vielleicht 1,70, hatte ebenfalls blaue Augen und im hellbraunen Haar ein paar blonde Strähnen. Sie war auch schlank, aber nicht übertrieben, wirkte so aber etwas schlaksig auf mich. Na, ich sollte doch nicht vorschnell urteilen, außerdem war hier Wissen und Intelligenz gefragt, nicht das Äußerliche. Pfui, LaVerne!

Unsere gegenseitige Musterung war abgeschlossen. Gideon hatte seine Begleiterin nicht vorgestellt und wir fragten nicht. Obgleich Gabriel und Kolya diese Myrdin zu kennen schienen. Dann sprach Gideon wieder: „Morgen am späten Nachmittag wird es eine Versammlung geben. Die wichtigsten Leute von uns werden daran teilnehme, die Säle befinden sich unter diesem Gebäude. Da werden wir uns anhören, was ihr zu erzählen habt. Tejat hat die Wichtigkeit dieses Treffens betont und seine Anwesenheit hier ist eigentlich schon Hinweis genug. Jetzt ein paar ‚Regeln’ für die, die noch nie bei uns gewesen sind. Es gibt drei Aufenthaltseinheiten in unserer kleinen Stadt. Lebensbereich des Congregat, Arbeitsbereich und Gästequartiere. Ihr seid im letzteren, über Tag kann dieser Bereich nicht verlassen werde, es gibt keine unterirdischen Gänge oder dergleichen. Im Dunkel ist den Mitgliedern der Oscuro das Besuchen des Arbeitsbereiches jederzeit und uneingeschränkt gestattet.“ Er schaute zu Tres. Dann fuhr er fort: „Unser Lebensbereich ist für die Oscuro tabu. Es klingt vielleicht unhöflich, aber dort seid ihr weder willkommen noch könnt ihr sie betreten. Mitglieder der Nadiesda Thurus“ damit schaute er mich an „werden dort gerne gesehen. Du bist eingeladen, mit uns dort morgen zu Mittag zu essen.“

Ich überlegte gerade, ob ich mich zu dieser Differenzierung äußern wollte, als ich Gabriels Gesichtsausdruck bemerkte. Zwei Dinge vermischten sich dort: Eine Warnung und ein Grinsen. Recht hatte er. Also nickte ich: „Die Einladung nehme ich gerne an.“ Nach einigen Schlußworten zog Gideon sich mit der Frau zurück. Gabriel sprach sofort zu Tejat: „Ich hätte nicht erwartet, dich hier zu sehen. Du weißt wie ich, daß dieser Ort über Tage eine Falle sein könnte.“ Genau diese Feststellung hatte ich auch schon im Geiste getroffen, zumindest für meine Begleiter. Aber Tejat winkte ab. „Das ist nicht so wichtig. Außerdem vertraue ich den Leuten hier in dieser Beziehung. Aber Gideon hat jetzt die Bedeutung eures Besuches erkannt. Er wollte ständig wissen, wer so Wichtiges kommt, was los sei und was ich hier wolle. Übrigens werdet ihr morgen auch noch einige neue Details erfahren. Nein, Kolya, ich verrate nichts. Aber ich ziehe mich zurück, immerhin bin ich nicht mehr so jung wie ihr. Morgen bei der Versammlung werdet ihr alles erfahren. Also geht noch mal eure Vorgehensweisen durch. Gute Nacht.“ Er stand auf und verschwand zielsicher durch eine der Türen. Wie machte er das nur, ohne sehen zu können?

Gabriel sah zu mir rüber und meinte: „Gut, daß du meine Warnung verstanden hast. Gut aus mehreren Gründen. Vielleicht können wir so ein wenig mehr Nachdruck auf unsere Geschichte legen. Oder die Taktik anpassen, wie Tejat sagte. Außerdem wird es sicher interessant, schwarze Rose. Du solltest jetzt auch ruhen, immerhin hast du morgen eine Verabredung zum Mittagessen.“ Etwas widerstrebend zog ich mich dann doch in eines der Schlafzimmer zurück. Und hörte leise durch die Tür, wie meine drei Begleiter noch lange redeten.

Mein Schlaf war unruhig und so war es kein Problem, für meine Verhältnisse recht früh aufzustehen. Ohne Umschweife suchte ich den Ausgang und trat hinaus in die gleißend helle Wüstenlandschaft. Da wir erst März hatten, war es nicht heiß, trotzdem konnte man hier schon ins Schwitzen kommen. Geblendet blieb ich einige Zeit vor der Tür stehen, wie lange hatte ich die Sonne nicht mehr gesehen. Australien? Bis zu dieser Sekunde hatte ich sie nicht einmal vermißt aber jetzt war es wie ein sanftes Streicheln meiner Haut, eine Wärme, die bis ins Innerste vordrang. Wie unendlich traurig, daß Gabriel dieses Gefühl nie würde mit mir teilen können, was für ein Wunder blieb seinen Augen für immer verschlossen…

Seufzend setzte ich mich in Bewegung und folgte einem der Pfade zum nächsten Gebäudekomplex. Einige Leute gingen an mir vorbei in Zweier- und Dreiergruppen, ich wurde freundlich gegrüßt aber ansonsten ignoriert. Ich sah vorwiegend Leute mit einer weißen Aura aber einige erstaunlicher Weise auch ganz ohne. Dann stand ich vor einer Tür und zögerte. Doch fast im gleichen Augenblick wurde sie von innen aufgezogen und Gideon stand vor mir: „Oh, prima, sie sind schon da, ich wollte grad jemanden schicken, um sie holen zu lassen. Kommen sie rein, das Essen ist fast fertig vorbereitet.“

Hier fiel gedämpftes Sonnenlicht durch die schmalen Fenster, die Wände waren von innen genauso lehmfarben wie von außen. Ein großer Vorraum empfing mich, von dem Gänge abzweigten und eine Treppe nach oben führte. Gideon geleitete mich in einen großen Raum zur Linken, wo lange Tische mit einfachen Stühlen aufgebaut waren. Leute kamen und gingen, unterhielten sich oder waren mit Tisch decken beschäftigt. Man wies mir einen Platz zu und nach und nach füllte sich der Raum, bis fast dreißig Leute anwesend waren, darunter auch die Frau von gestern. Ich saß neben Gideon und während des Essens erzählte er: Daß hier nur ein Teil des Congregats wohnte, daß die Räumlichkeiten gegen die Oscuro geweiht waren, daß jeder hier seinen Teil beisteuerte zu einem gemeinsamen Leben und daß viele hier erst ihre wahre Bestimmung gefunden hatten. Irgendwie hatte ich das Gefühl, er würde einen Werbevortrag über die Vorzüge des Lebens hier halten, während in meinem Kopf irgendwann ein großes Neonschild mit der Aufschrift ‚Sekte’ blinkte. Je mehr er diesen Ort und diese Gemeinschaft anpries, desto unwohler begann ich mich zu fühlen. Gerade lobte er die vielen Möglichkeiten hier, die Chance, frei für sich selber zu entscheiden. Ich unterbrach ihn in seinem Redefluß: „Warum haben sie sich so entschieden, Gideon? Was ist so phantastisch an einer Gemeinschaft, die abgeschieden in der Wüste lebt, irgendwie in keine der beiden Welten gehört und dann noch immer wieder zu sehen bekommt, wie frühere Bekannte nicht altern, die untereinander eine teilweise tiefste Freundschaft über Jahrzehnte und länger verbindet? Man hat euch ein Geschenk angeboten, das ihr einfach weggeworfen habt. Ihr tut, als seiet ihr das Endprodukt, und nicht nur ein Zwischenstand. Was ist da ihr Gewinn, Gideon?“

Ich hatte nicht vorgehabt, ihn zu verprellen. Dennoch stoppte sein Monolog abrupt und er sah mich einen Moment konsterniert an. Dann erst schien er zu begreifen, daß ich diese Frage sehr ernst gemeint hatte. Einige der Leute schauten neugierig zu uns rüber. Gideon hob die Hände in einer umfassenden Geste: „Ich hätte mich nicht anders entscheiden können. Das lange Leben der Oscuro ist nicht natürlich, als Strafe folgt ihnen Dunkelheit. Sie sind gezwungen, sich mit Ihresgleichen zu umgeben, wir haben uns diese Gemeinschaft gewählt, wir sind hier Kameraden. Gabriel ist sicher einer der besten Kader, aber nimmt man ihm seine Besonderheiten, ist auch er nur ein Mann wie jeder andere. Wie könnte ich mir vorsätzlich und wissentlich so eine Strafe auferlegen? Uns hier verbindet Freundschaft und die Suche nach Wissen. Hier, in der Ruhe finden wir Muße zu forschen und zu denken. Ich will in Ehre altern und irgendwann Platz machen für unsere Nachkommen.“

Wie sollte dieser Mann uns einen vernünftigen Rat geben. Unabhängig davon, ob ich zur Oscuro gehören wollte oder mußte oder sollte, er hatte den ureigenen Grundgedanken nicht erfaßt. Keiner der Oscuro sah die Dunkelheit, die sie umgab, als Strafe an. Selbst mir war dieser Gedanke so noch nicht gekommen. Und selbst wenn man zugestand, daß die Oscuro auf die Nadiesda Thurus in einiger Hinsicht angewiesen war, hatte er den Zwang mißverstanden. Genau wie die anderen Mitglieder der Oscuro war es mein Wille, mein Wunsch, mit ihnen zusammen zu sein. Ihre Dunkelheit war zu meinem Licht geworden. Und – von mir mal ganz abgesehen – war dort viel mehr Freundschaft zu spüren, nicht umsonst sprachen sie von ‚Familie’! Diese Blutsverbindung war nicht unbedingt eine Verpflichtung, es war eine Entscheidung. So viele hatte ich schon kennen gelernt, die getrennt vom Zirkel lebten und doch mit ihm in Liebe verbunden waren, man denke nur an Trevor und Carré in Australien. Gerade nach der Zeremonie vor einigen Tagen schien dies das Stichwort zu sein. Gideon hielt Liebe und blindes Vertrauen für Zwang. Er tat mir fast leid, selbst in der kurzen Zeit, die ich bisher in der Oscuro verbracht hatte, hatte ich mehr Liebe, Vertrauen und Zufriedenheit kennen gelernt, als er jemals ermessen konnte. Aber ich glaubte nicht, daß ich seine Meinung auch nur ansatzweise nach so vielen Jahren zu verändern mochte. Trotzdem konnte ich eine letzte Antwort nicht sein lassen. „Auch eure Gemeinschaft basiert auf Blut. Auch ihr seid eine Art ‚Geheimbund’, der im Verborgenen handelt. Nur seht ihr das Tageslicht und altert. Nein, so sehr unterscheidet ihr euch gar nicht.“

Zu seinen Worten über Gabriel würde ich besser nichts sagen. Darüber stand ihm gar kein Urteil zu und ich würde in diesem Fall sicher keine angemessenen Worte wählen… Natürlich wurde meine Äußerung von allen Seiten vehement bestritten. Aber es konnte ja zu keiner Einigung kommen, wir alle waren festgefahren. Doch je länger wir redeten, desto mehr bezweifelte ich, ob es wirklich eine gute Idee war, Gideon und seinen Leuten die ganze Geschichte zu erzählen. Sie mochten ja klug sein, und von mir aus auch gute Forschungsquellen haben, aber ich bezweifelte, daß sie weise und ohne Vorurteile entscheiden konnten. Mit einem sehr unguten Gefühl kehrte ich später in die Gastquartiere zurück und machte mich auf die Suche nach Gabriel. Und natürlich traf ich nicht ihn sondern nur Tres. Gabriel und Kolya waren irgendwo im Forschungskomplex hängen geblieben. Ich zögerte, aber was half es, die Versammlung sollte bald beginnen, also mußte ich wohl ihm meine Empfindungen anvertrauen, irgend jemand mußte es hören, was mir aufgefallen war.

Ich erzählte möglichst ausführlich von der vorangegangenen Unterhaltung und von meinen Eindrücken, speziell auf Gideon’s Vorstellung der Oscuro. Er hörte ohne Regung zu, als ich fertig war, stand er auf, holte uns Kaffee und setze sich dann in einen der Sessel mir gegenüber. „Ich fürchte, deine Einschätzung der Akzeptanz der Oscuro durch Gideon ist durchaus passend. Da mir seine Bekanntschaft bisher verwehrt blieb, besteht für mich nur die Alternative auf Grund externer Informationen ein halbwegs treffendes Profil seiner Persönlichkeit zu erstellen.“ Aha! Da war der Anwalt, der brillante Redner, also in seinem Element. Noch konnte ich folgen. Was aber noch wichtiger war: „Ich kann mir nicht das Recht anmaßen, nach einigen Stunden ein Urteil über diesen Mann zu fällen.“ Was Tres konnte, konnte ich auch. Und so fuhr ich fort: „Aber, sollte diese – möglicherweise etwas geänderte – Sachlage nicht eventuell Konsequenzen nach sich ziehen?“ Ha! Er grinste! Und wir waren wieder im Plus-Bereich seiner Freundlichkeitsskala. „Durchaus! Wir haben durch die erfolgreiche Geheimhaltung einen gewissen Ermessensspielraum bei der Detailtiefe, sogar bei der Gesamtsituation, wie wir sie darstellen wollen. Demgemäß sollten wir eine Anpassung an die Gegebenheiten in Erwägung ziehen. Mit Sicherheit ist das Congregat ein Quell des Wissens, doch deine Einschätzung über einen Mangel an Weisheit scheint mir fundiert. Ob das immer so war, entzieht sich ebenso meiner Kenntnis, wie die Frage, warum er dir einreden will, daß unsere Gemeinschaft auf Zwang aufgebaut ist. Er sollte es besser wissen.“

Er schwieg eine Weile und seine Gedanken schienen zu wandern, denn er schaute in eine weite Ferne. Irgendwann wurde er sich meiner Anwesenheit wieder bewußt und schenkte mir ein Lächeln, das unzweifelhaft freundlich war. „Du hast sehr gut beobachtet und konsequente Schlüsse gezogen. Dein Besuch zum Essen hat sich in mehrfacher Hinsicht rentiert. Wir werden unsere Geschichte modifizieren, dich aus ihrem Mittelpunkt entfernen. Es bleibt kaum noch Zeit, komm, wir müssen die anderen instruieren.“ Und er sprang auf und zog mich mit. Sein ‚instruieren’ kam mir seltsam vor, denn er sagte zu jedem der drei, die wir nacheinander fanden nur: „Planänderung! Alternative ‚spezielle Sicherheit’.“

Damit war sogar für mich klar, daß mehrere Strategien vorbereitet worden waren und nun eine kurzfristige Änderung anstand. Wieso kannte ich diese Pläne eigentlich nicht? Immer das Gleiche…

Kurze Zeit später fanden wir uns in einem nüchternen Saal im Keller wieder, aufgebaut fast wie ein Hörsaal einer Universität. Vorne ein Pult, gegenüber Sitzreihen nach hinten ansteigend und an einer Seite ein Tisch mit sechs Stühlen. Wir Gäste saßen an diesem Tisch, ebenso wie Gideon und Myrdin. Gideon schien unsere Unterhaltung am Mittag als einen Erfolg für sich zu werten – ich hatte mich der meisten Kommentare irgendwann einfach enthalten – und nickte mir mit einem wissenden Lächeln zu. Dann stand er auf, ging an das Pult und sprach die mittlerweile eingetroffenen Teilnehmer an:

„Liebe Freunde! Wir haben heute Gäste, die uns von ungewöhnlichen Dingen berichten wollen. Genauso ungewöhnlich sind unsere Gäste selbst. Es ist lange her, daß uns ein Kaj und Kader zusammen aufgesucht haben. Darf ich vorstellen, für die, die es noch nicht wissen, Gabriel und Kolya vom Corvus-Zirkel. Die junge Dame haben ja schon viele heute Mittag in unserem Haus gesehen, LaVerne, die als Freundin und Vertraute mitreist. Weiterhin Tres Carrt’Dheas, ebenfalls aus dem Corvus-Zirkel. Und als besonderen Gast Scuro Tejat, der Älteste aus dem Rat der Alten und, soviel ich weiß, überhaupt der Erste aus dem Deliberatio Aetas, der jemals unter den Dächern des Congregat geweilt hat. Seid willkommen.“

Dezenter Applaus setzte ein und wir nickten zu den Versammelten. Doch das ungute Gefühl vom Mittag wollte mich einfach nicht mehr verlassen.

Dann dankte Gabriel für die freundliche Aufnahme. Dann nickte er Tres zu und meinte: „Es gibt einiges zu erzählen, das kannst du am besten. Bitte!“

Tres stand auf und stellte sich an das vordere Pult, setzte sich aber nicht. Still schaute er in die Runde, bis er sich aller Augen sicher sein konnte. „Viele Dinge sind in den letzten Monaten geschehen, einige davon sind bis zu euch vorgedrungen, andere fanden im Verborgenen statt oder erschienen zu dem Zeitpunkt ohne Bezug zu anderen Ereignissen.

Kleinere Dinge sind geschehen: Einbrüche in das Haus des Kader und des Kaj, Überfälle nicht nur auf den Führer unseres Zirkels. Auch furchtbare Dinge liegen hinter uns, es kamen Menschen zu Tode, Außenstehende, aber auch aus der Nadiesda Thurus. Dann geschahen größere Veränderungen: erst wurde der Rat der Alten von einer Person verraten, später wurde er boykottiert. Bis zum heutigen Tage ist der Rat nach einer seltsamen Neuwahl nicht mehr zusammen getreten. Und jetzt – er machte eine künstlerische Pause, obgleich eh alle lauschten: „Jetzt gibt es wieder jemanden, der dem Didelphis ähnlicher ist, als uns oder euch.“

Ein Raunen ging durch den Saal. Doch unser Redner hob die Hand. Sofort kehrte Ruhe ein. „Obgleich alle Vorgänge für sich betrachtet keine dramatischen Veränderungen beinhalten, so ist doch die Menge und zufällige Chronologie der Ereignisse einer genaueren Betrachtung würdig. Wir vier hier vor euch haben den, der nicht ist wie ihr und nicht ist wie wir, kennen gelernt. Seine Existenz wurde dem Rat der Alten kundgetan und gelangte so auch zu denen, die nur ihren persönlichen Vorteil suchen. Wir haben uns an befreundete Zirkel gewandt, sowohl um Wissen zu erlangen, als auch um die Gefahr, die diesem Menschen droht, zu reduzieren. Der Satyrus-Zirkel hat sich jetzt der Aufgabe gewidmet, das Geheimnis um das fremde Blut zu lösen, wir im Gegenzug ergründen die tieferen Implikationen, die damit einhergehen. Die da weitläufig sein können, so, wie wir ja auch zu Nathaniels Zeit vor Veränderungen standen. Und so spreche ich heute vor euch im Namen des Corvus-Zirkel. Es ist meine Aufgabe, euch zu warnen, daß Dinge sich verändern. Ich möchte euer Augenmerk darauf lenken, daß es vielleicht zu Auseinandersetzungen innerhalb der Zirkel kommen könnte. Der Rat der Alten hat sich verändert, die Zukunft liegt in eine fremde Dunkelheit gehüllt. Selbst wir vermögen diese Finsternis nicht zu durchdringen. Doch im Namen der alten Freundschaft: seid gewarnt. Und im Namen der alten Freundschaft: Macht euch bereit zu entscheiden, wo und ob ihr Stellung beziehen wollt. Und im Namen der alten Freundschaft: wenn ihr etwas beisteuern könnt, um die Dunkelheit abzuwehren, so tut es.“ Nach diesen letzten dramatischen Worten verbeugte er sich leicht, kehrte an seinen Platz an unserer Seite zurück und ließ eine verblüffte und schweigende Menge zurück.

Es war mir völlig klar, daß er eine andere, als die vorbereitete Rede gehalten hatte. Er war vorbereitet gewesen und ein Blick in die Gesichter meiner Freunde bestätigte, daß sie zumindest nicht überrascht waren, wenn sie auch den Grund für die Änderung nicht kannten. Ich sah Gabriel an. Ohne zu fragen griff er nach meiner Hand und küßte sie liebevoll. Auf einmal hatte ich Sehnsucht nach ihm, seiner Geborgenheit und unserer gemeinsamen Zeit ohne die ganze Aufregung. Ich dachte an Abende vor dem Kaminfeuer, ein Glas Wein in der Hand und versunken den Klängen von Gabriels Klavierspiel lauschend. Wie lange war es her… Er fing meine Gefühle auf, drückte meine Hand etwas fester und schaute mir in die Augen. Ich fand Frieden in seinen. Da waren die tiefen Abgründe, seine Wärme und die schwarzen Schwingen meines Rabens. Und das sehnsüchtige Gefühl verging in seinem Feuer – vorerst.

Um uns herum war ein mittleres Chaos entstanden. Leute sprachen und riefen durcheinander, einige waren aufgesprungen, es herrschte ein einziges Durcheinander. Gideon war an das Pult zurückgekehrt und winkte und versuchte, die Aufmerksamkeit der Leute auf sich zu ziehen. Endlich rief er: „Ruhe! Ruhe!“ und nach und nach folgten sie. Dann wand er sich an uns: „Im Namen der alten Freundschaft danken wir für eure Berichte und für die Warnung. Vieles von dem, was ihr erzählt habt, ist für uns neu, die wenigsten Dinge wußten wir schon, wie die Probleme im Rat der Alten. Über einen weiteren Menschen wie Nathaniel ist uns noch nicht berichtet worden. Doch haben wir von anderen Ereignissen erfahren, die eure Informationen an einigen Stellen vielleicht vervollständigen. Zuerst eine erschreckende Neuigkeit über den Rat. Ihr habt von Scuro Fenian gehört, der für Scuro Paridus eingesetzt wurde. Wir brauchen nicht darüber zu sprechen, wem er nahe steht. Ihr habt Recht, der Rat tritt nicht mehr zusammen. Dennoch! Scuro Fenian hat in den letzten Wochen mehrfach ‚im Namen des Rates’ Nachrichten an uns und auch an andere Zirkel gesandt. Scura Seraphina hat sich nicht angeschlossen, sie ist seit fast zwei Monaten verschwunden. Das heißt, alleine Scuro Fenian tritt zurzeit als Rat der Alten auf. Somit hat Fenians Kader ein ungeahntes Mittel zur Verfügung, das vielleicht viel Schaden anrichten kann.“

Gabriel und Kolya wechselten einen kurzen Blick. Bei meinem Raben spürte ich förmlich, wie sein Körper sich anspannte. Das waren – selbst für mein noch nicht voll entwickeltes Verständnis – schlechte Nachrichten. Was für Konsequenzen sich daraus ergeben konnten, war mir nicht mal ansatzweise klar. Es konnte bei dem Gesichtsausdruck nichts Gutes sein. Aber ich konnte kaum jetzt fragen. Mittlerweile hatte Gideon weiter gesprochen.

„Es gibt noch mehr zu berichten, doch nichts davon so dramatisch. Aber jetzt werden wir uns erst beraten. Wir müssen über die Neuigkeiten reden, über einen weiteren Menschen wie Nathaniel, über unser nächstes Vorgehen und über Fragen, die ihr an uns gerichtet habt. Ihr werdet verstehen, daß diese Beratung privat ist. Daher möchten wir euch bitten, in eure Räume zurück zu kehren. Wir werden uns morgen zur gleichen Zeit wieder hier treffen. Für jetzt: noch einmal Dank für eure Erklärungen.“ Wir erhoben uns und mit Tejat in der Mitte kehrten wir in unsere Räume zurück. Wortlos verteilte Kolya Gläser mit Wein und wir setzten uns. Gabriel sah Tres an: „Wieso wurde unser ursprünglicher Plan geändert? Was wissen wir nicht, das du weißt, Tres?“

Der sah kurz zu mir rüber, noch immer oberhalb der Frostgrenze. Dann erzählte er sehr präzise von meinen Beobachtungen und unseren Schlußfolgerungen. Und er schloß mit der Bemerkung: „Ich kenne weder Gideon noch LaVerne. Aber alleine Gabriels Vertrauen in sie spricht für sich. LaVerne hätte keinen Vorteil aus einer unwahren Behauptung, aber ein falsches Wort könnte hier im Congregat immensen Schaden anrichten. Daher war meine Entscheidung, den Plan zu verändern, in jedem Falle vernünftig. LaVernes Mißtrauen hat mich irgendwie angesteckt. Gideon darf nicht erfahren, wer die Person ist, über die wir sprechen. Vielleicht kann er es irgendwann erraten, doch bis dahin sollten wir abgereist sein. Ansonsten ist ein Informationsaustausch für beide Parteien von Vorteil. Darüber hinaus sollten wir unsere weitere Vorgehensweise überdenken.“

Scuro Tejat mischte sich ein: „Ich denke, LaVerne hatte Recht, ebenso Tres. Gideon scheint sich über die Jahre verändert zu haben. Je weiter die Aufnahme in die Nadiesda Thurus zurück reicht, desto mehr scheint sich sein Blick verklärt zu haben. Ich hatte gehofft, daß dies unsere Ziele nicht stört. Ich habe mich geirrt, doch dank euch beiden ist vielleicht etwas Schlimmeres verhindert worden. Ich fürchte, ich werde alt.“

„Nein!“ Gabriel widersprach ihm leise aber nachdrücklich. „Du hast nur gehofft, wie wir alle es tun. Und wir sind mit mehreren Leuten unterwegs, damit wir einander unterstützen und ergänzen können. So soll es sein und so ist es auch.“ Damit drehte er sich zu Tres um. Und ich sah, was Kolya gemeint hatte: die zwei wechselten einen Blick voller Freundschaft, es schien eine kurze Kommunikation ohne Worte stattzufinden. Und Tres lächelte, und auf einmal schien er ein vollkommen anderer Mensch zu sein. Keine Spur von Kälte oder Distanz. „Danke, daß du meiner schwarzen Rose so vertraust, wie ich es tue. Deine Entscheidung war hervorragend.“

Jetzt war ich an der Reihe, sein Blick wanderte von den Augen zielstrebig in mein Herz, das umgehend damit begann, meine Körpertemperatur aufzustocken… „Und dir, mein Engel, danke ich auch. Daß du nicht nur mit den Ohren zugehört hast, sondern auch mit dem Herzen. Und vor allem, daß du Tres vertraut hast, die richtigen Entscheidungen zu treffen. Daß du mit ihm gesprochen hast, obwohl ihr einander noch so fremd seid.“ Hoffentlich war die Wärme nicht in meinem Gesicht zu sehen. Was konnte ich groß antworten: „Ihr habt mich doch gelehrt, mit dem Herzen zu lauschen. Und Tres ist klug und dein Freund. Mehr Autorisation bedarf es nicht.“ Das waren zwei Fliegen mit einer Klappe: Gabe strahlte förmlich zurück und, erstaunlich: Tres schenkte mir ein echtes Lächeln, ohne Frost darin, fast erschien es mir freundlich. Rhetorik war doch was Feines.

Während die Männer noch das weitere Vorgehen besprachen, zog ich mich in meinen Raum zurück. Aber ich döste nur leicht, schreckte immer wieder auf. Viel später kam Gabriel in mein Zimmer und setzte sich geräuschlos auf die Bettkante.

„Ich schlafe nicht, mein Rabe!“ – „Und ich will nicht schlafen.“ Er hatte leise geantwortet während er vor sich hin starrte. „Dann leg dich ein wenig zu mir und erzähl mir, was dich bedrückt.“ Eine Weile reagierte er nicht, dann stand er auf, streifte Hemd und Hosen ab und schlüpfte unter die Decke. Sonst strahlte er oft Wärme aus, doch heute war seine Haut fast angenehm kühl auf meiner. Ohne an die Konsequenzen für meine Konzentrationsfähigkeit zu denken, rückte ich näher und deponierte meinen Kopf in seiner Armbeuge. Mehr unbewußt legte er den Arm um mich, während er gegen die Decke starrte. Eine Geste, die irgendwie in der Familie zu liegen schien. „Was ist los, mein Rabe?“

Wieder dauerte es einige Zeit, bis er antwortete: „Irgendwie wird alles nicht besser. Gideon ist sicher eine gute Informationsquelle, aber ansonsten bin ich enttäuscht. Früher war er nicht so … eingefahren. Die Neuigkeiten über die Aktivitäten von Fenian sind schlimm, vielleicht die Schlimmsten bisher. Das macht mir Sorgen. Ich denke jetzt, daß kein Weg an Nathaniel vorbei führt. Wir sind ständig unterwegs – wenn auch nicht grade auf der Flucht – anstatt daß ich dir meine Aufmerksamkeit schenken kann. Und damit natürlich auch der Lösung deines persönlichen Rätsels. Manchmal sehne ich mich danach, einfach mit dir wieder ins Feuer hinabzutauchen, alles zu vergessen und uns einzuhüllen in dunkle Schwingen des Vergessens und der Liebe.“

Das war es, was ich vorhin auch in mir gefühlt hatte. Diese Sehnsucht, einfach zu vergessen. Aber mein Rabe hatte eine Verpflichtung übernommen, um die er wußte und die ihn festhielt. Also mußte ich ihm Kraft geben, statt zu fordern: „Irgendwann, mein geliebter Gabe, werden wir alles nachholen, was wir jetzt versäumen. Etwas, worauf wir uns freuen sollten. Weißt du noch unsere erste Nacht? Je mehr man sich auf etwas freut, desto besonders das Ergebnis. Doch eines nach dem anderen. Wir nehmen von hier mit, was wir bekommen können. Es ist wie eine Schnitzeljagd. Danach zum nächsten Zielpunkt und so weiter. Und wir sind zusammen und haben Freunde um uns. Es könnte also auch schlimmer sein.“

Ich wollte eigentlich noch mehr sagen, aber das unterband er sehr geschickt. In Sekundenschnelle hatte er mich zu sich gezogen und seine Lippen verschlossen meinen Mund. Für eine lange Zeit. Er schmeckte nach Wein und nach Gabriel. Ohne auf meine Worte einzugehen, ließ er seine Hände auf meinem Körper kleine Flammen entfachen. Und sämtliche Gedanken waren fort, vergessen. Mit einem Hauch von Ungeduld entledigten wir uns der letzten störenden Kleidungsstücke. Fort war die Kühle, sein Körper setzte meine Haut unter Feuer. Noch immer an ihn gedrückt zog er mich auf sich. War es diese tiefe Sehnsucht, die wir beide gespürt hatten oder nur das Verlangen, alles für einige Zeit zu vergessen? Ohne zu zögern drang er sofort in mich ein. Und ich zog ihn noch näher, forderte mehr von ihm, verlangte nach seiner ganzen Kraft. Er stoppte gerade lange genug, um uns einmal zu drehen, damit er nach oben gelang, ohne aus meinem Körper zu gleiten. Und mit jedem Stoß von ihm preßte ich mich ihm entgegen, um ihn. Ich krallte meine Finger in die Muskeln seines Rückens, er senkte den Kopf über uns, seine schwarzen Locken ein Vorhang, der die Welt draußen aussperrte. Sein Mund schwebte über meinem, sein schneller werdender Atem ein Hauch auf meinen Lippen. Durch die Wimpern waren seine Augen leicht verschleiert zu sehen, wie unser Mond von dünnen Wolken verdeckt wird. Und beide konnten und wollten wir heute nicht lange warten, den ersehnten Höhepunkt weiter hinaus schieben. Die Erlösung kam wie eine Explosion, die uns beide verschlang, mich in seine Seele zog. Es war so unendlich schwer, rechtzeitig die Lippen voneinander zu lösen, aber so weckten wir die alten Erinnerungen und erlebten neues Verlangen und endlich waren die schwarzen Schwingen über uns gebreitet. Also ließ ich meinen Geist los und ergab mich unserem Verlangen.

Obgleich ich ohne Gabriel erwachte, fühlte ich mich nicht alleine. Ein Hauch von ihm schwebte noch im Raum, eine Erinnerung. Langsam machte ich mich fertig und trat dann in den Gemeinschaftsraum. Tres und Tejat waren da und unterhielten sich über einem Frühstück – oder was immer die Zeit gerade diktierte. Ich suchte mir einige Leckereien, setzte mich in einen Sessel und ließ die Unterhaltung an mir vorbeitröpfeln. Später kam eine Frau des Congregat und fragte, ob ich wieder mit den anderen speisen wollte. Dankend lehnte ich ab, ich hatte ja grade ausgiebig gefuttert. Außerdem wollte ich die Werberede nicht noch einmal hören.

Kurz bevor wir gehen mußten, trafen Kolya und Gabriel ein. Zusammen machten wir uns wieder in den Hörsaal auf. Doch dieses Mal war er nicht voller Menschen. Nur zwei Männer und zwei Frauen erwarteten uns, die Tische zu einem provisorischen Kreis zusammen gestellt. Wir setzten uns und warteten, bis Gideon anfing: „Wir haben viel geredet, diskutiert und sogar ein wenig gestritten. Zuerst eine Entscheidung: das Congregat wird sich nicht auf die Seite der Oscuro stellen, sich nicht in eure Dunkelheit hineinziehen lassen. Das soll aber nicht bedeuten, daß wir uns gegen euch stellen. Nur, daß wir nicht aktiv Partei ergreifen. Wir werden euch Zugriff auf unser Wissen gewähren und über alle Entwicklungen informieren, die uns zu Ohren kommen. Über diese Tatsache werden wir gewisse Elemente nicht informieren, unter anderem aus der Überlegung heraus, daß wir so an weitere Informationen gelangen könnten. Das als Darlegung unseres Standpunktes in diesem … äh … Disput.

Das nächste Thema betrifft den Mann, der ähnliche Merkmale wie Nathaniel aufweisen soll. Ein Tag ist bei weitem nicht genug, um darüber ein Urteil abgeben zu können. In dem Zusammenhang würden wir euch bitten, uns vielleicht Blutproben zukommen zu lassen, sowie eine exakte Beschreibung der ‚Symptome’. Unsere Empfehlung lautet nach einer hitzigen Diskussion, Nathaniel zu diesem Mann zu bringen, oder umgekehrt. Außerdem muß sichergestellt werden, daß er unter Kontrolle ist, sich nicht den falschen Leuten anschließt und keine Gefahr darstellt. In dem Punkt vertrauen wir vorerst auf deine Weisheit und Weitsicht, Gabriel. Je nachdem, wie sich die Dinge entwickeln, könnten wir diese Entscheidung später jedoch überdenken. Selbst Nathaniel wird noch immer von uns hin und wieder – sagen wir – überprüft. Unmerklich und dezent.“

Hier machte er kurz Pause, um etwas zu trinken. Und ich dankte im Geiste einem gütigen Schicksal, dem Zufall und sämtlichen anderen greifbaren Gottheiten, daß ich mit Tres gesprochen und er so prompt reagiert hatte. Nicht auszudenken, was er wohl alles unternommen hätte um mich hier zu behalten, wenn wir alles erzählt hätten. Unter Kontrolle? Überprüfung? In letzter Zeit hatte mich kaum etwas aufgeregt, aber jetzt war ich im Geiste schon am packen. Nur noch schnell weg von hier.

Gideon fuhr fort ohne den geringsten Verdacht. Hoffentlich! „Wir haben heute ein Dossier zusammengestellt. Es enthält interessante Informationen über den Anguis-Zirkel, dessen Kader und einige der wichtigsten Mitglieder. Ferner findet ihr darin eine chronologische Auflistung aller ungewöhnlichen Ereignisse, von denen wir erfahren haben, über einen Zeitraum von sechs Monaten. Dann finden sich darin Namen von Personen, von denen ihr vielleicht nicht wußtet, daß es eure Verbündeten sind. Und eine Gegenliste mit zweifelhaften Personen. Das ist unser Dank, daß ihr es persönlich auf euch genommen habt, uns zu unterrichten. Wir gehen davon aus, daß ihr uns auch über neue Entwicklungen informiert. Doch für jetzt ist da alles, was wir tun können.“

Gabriel nahm den dicken Aktenordner an sich. Er schaute zu Kolya und dann zu mir. „Und es ist mehr, als wir erhofft haben, Gideon. Es war selbstverständlich, daß wir euch persönlich diese Neuigkeiten überbringen mußten. Wir alle wünschen uns, daß diese unruhige Zeit bald vorüber ist. Natürlich werden wir euch ständig über Geschehnisse informieren. Im Namen des Corvus-Zirkel danke ich für Aufnahme und Unterstützung. Schade, daß uns auf Grund dieser Situation so viele Verpflichtungen zuhause erwarten. Wir hätten gerne länger mit euch Gedanken und Erfahrungen ausgetauscht. Doch auch dafür werden wir noch Zeit finden. Also verschieben wir es nur. Noch einmal Danke für alles. An alle aus dem Congregat.“ Und damit setzte er sich, ohne den Ordner zu öffnen. Gabe hatte offensichtlich die Lage richtig eingeschätzt, ich wollte hier weg und das am liebsten sofort.

Wenn Gideon überrascht oder verärgert war, so zeigte er es nicht. „Natürlich, die Zeiten sind ungewöhnlich und es liegen viele Aufgaben vor dir. Ich lasse gleich nach eurem Fahrzeug schicken. Erlaubt mir aber, während wir warten, ein paar Worte alleine mit LaVerne zu reden.“ Nein! Bitte nicht! Aber Gabriel hatte eigentlich keine Wahl. Er meinte nur trocken: „Ich muß das nicht erlauben, es ist an ihr, ob sie einverstanden ist.“ Ergeben nickte ich.

Während die andern den Raum verließen, machte ich mich innerlich auf das Schlimmste gefaßt. Gideon setzte sich neben mich und redete leise und langsam, wie mit einem Kind: „Du brauchst nicht mit ihnen abzureisen. Du bist nicht gezwungen, die Wandlung durchzuführen, auch wenn dein Freund Gabriel dir das vielleicht einreden will. Du könntest bei uns bleiben, wir würden dich sofort in unsere Gemeinschaft aufnehmen. Denke darüber nach, willst du wirklich in ewiger Dunkelheit vor dich hin leben, abhängig von künstlichem Blut? Hier hättest du Freunde, Licht und wir würden für dich eine sinnvolle Aufgabe finden. Du kannst in Ehren altern und müßtest dich nicht einem Kodex unterwerfen, dessen Grundlage Blut ist. Du wärest wieder frei.“

Tausende von Antworten lagen mir auf der Zunge. Aber die meisten davon konnte ich nicht geben. Außerdem würde er nicht verstehen. „Ich weiß, daß ich bleiben könnte. Aber, Gideon, ich werde das nicht tun. Ein Grund ist der, daß ich Gabriel liebe. Wie oder was er auch ist, das ist irrelevant. Ein weiterer Grund: wenn ich hier lebe, bin ich genauso wenig frei, nur daß es hier Sonne gibt. Ansonsten sind die Unterschiede gering. Der Kodex spricht von Ehre und Verantwortung. Wahrscheinlich lebst du nach den Zehn Geboten. Wo wird denn darin über Vertrauen, Verantwortung und Ehre gesprochen? Dort wird verboten und gedroht. Wenn die Gebote auch sinnvoll sein mögen, ich finde den Gedanken gut, daß hier die Ehre als eine Verantwortung gegenüber seinesgleichen und Schwächeren der Grundgedanke ist. Nicht eine unbekannte Macht im Himmel soll per Befehl und ohne entsprechende Gegenleistung bewundert werden, im Kodex gibt es weltlicheren Lohn, Respekt oder eben Zuneigung. Das ist weniger spirituell, mehr greifbar. Auf der anderen Seite sind sich beide Dogmen irgendwo auch ähnlich, im Bestreben, das Leben miteinander besser zu gestalten. Allerdings sind dies nur Überlegungen, sicher sind diese Regeln nicht der Hauptgrund, warum ich nicht bleibe. Gabriel ist es, meine Liebe zu ihm, mit allen Konsequenzen, eine tiefe Bewunderung für seine Art, das Leben zu sehen; und nicht zuletzt das Gefühl, daß ich hier weniger frei wäre, als ich jemals bei Gabriel bin. In seiner Welt habe ich ihn, in deiner nichts. Es tut mir leid, ich danke für das großzügige Angebot, aber ich lasse mein Herz entscheiden.“

Gideon hatte geschwiegen, während seine Augen immer größer geworden waren. Er hatte mich falsch eingeschätzt, vielleicht für ein dummes Ding gehalten, das sich bewundernd an Gabriels Seite klammerte und fraglos alles hinnahm, was der ‚große Mann der Oscuro’ mir vorbetete. Wortlos nickte er und ich verließ erleichtert aber auch selbstbewußt den Saal. Oben hatten die Männer alles für unsere sofortige Abreise vorbereitet. Ohne zu fragen nahm Gabriel mich in den Arm. Meine Spannung übertrug sich auf ihn. Er drückte mich fester, zog mich ganz nah an sich. Kolya und Tres griffen schweigend nach den Koffern. Tejat legte seine trockene Hand kurz auf meine Schulter, dann folgte er den beiden nach. Gabriel atmete durch, legte einen Arm um mich und wir steuerten auf den Ausgang zu. Unser Transporter war abfahrbereit. Die drei Aufpasser von der Hinfahrt standen unauffällig neben der Rampe, Gabriel hatte also zumindest unseren Beschützern gegenüber eine Andeutung über meine Besorgnis an diesem Ort gemacht. Dann war auf einmal Gideon direkt in unserem Weg. Einer unserer Aufpasser richtete sich etwas auf, Gabriels Griff wurde wieder fester.

Unser Gastgeber bemerkte nichts von alledem. Er wünschte uns nur eine gute Heimreise, viel Erfolg und dankte noch einmal. Ich nickte nur, Gabriel beherrschte zumindest noch die Sprache. Und als die Tür hinter uns geschlossen wurde, konnte ich endlich wieder atmen. Ich hatte nicht einmal bemerkt, daß ich die Luft angehalten hatte. Völlig erschöpft und leicht zitternd ließ ich mich in einen der Sessel ziehen. Jedes Schlagloch, das uns hier weg trug, war mir willkommen. Endlich kehrten die Lebensgeister zurück, mit Hilfe eines Glases Wein, das Kolya mir in die Hand drückte. Und ich fand in mir nicht mal eine vernünftige Erklärung für diese plötzliche Panikattacke. Weder hatte Gideon mich irgendwie bedroht, noch schien er auch nur zu ahnen, wer ich war. Warum dann diese Angst? Etwas hilflos schaute ich Gabriel an, aber auch der trug einen verkniffenen Ausdruck zur Schau. Endlich fragte Kolya: „Was war los da unten? Einiges, was er gesagt hat, hat mir fast Sorge gemacht, es war ein guter Gedanke, schnell zu verschwinden. Irgendwie hat sich das Congregat verändert – und nicht zum Besten. Es schien, als würde Gideon Rechte beanspruchen, die er sich nicht verdient hat. Hey, Kleine, hat er dich bedroht? Du siehst noch immer schlimm aus.“

Wesentlich ruhiger schüttelte ich den Kopf, konnte schon fast wieder etwas lächeln. „Nein, mein Bär, nicht wirklich. Aber diese Worte von Überwachung und Kontrolle waren ein großes rotes Warnsignal in meinem Kopf. Und fast hätte ich ihm noch was gesagt.“ Ich rekapitulierte die Unterhaltung, so gut ich es noch vermochte und hatte dabei drei faszinierte Zuhörer. Tres antwortete: „Du hast ja nichts verraten, im Gegenteil! Er wird dich – übrigens genau wie ich – nicht mehr unterschätzen. Klasse, ihn mit seinen eigenen Argumenten zu konfrontieren. Ob Gideon aber mit deinen Antworten glücklich wird, ist zweifelhaft. Und wenn er erfährt, wer du bist, wird sich seine Stimmung schwerlich besser. Trotzdem. Gut geantwortet, eine wahre Oscuro, ich hätte es kaum besser gekonnt. Aber, was machen wir jetzt??“

Er hatte die Frage allgemein in den Raum geworfen und wir schwiegen und zumindest ich hing eine Weile meinen chaotischen Gedanken nach. Dann räusperte sich Scuro Tejat. „Wir sollten in eine unserer sicheren Dependancen gehen. Nur für ein, zwei Tage. Von dort aus könnte ich ein Transportmittel zu meinem Haus bestellen. Ich bin erschöpft, brauche einige Zeit Ruhe, auch, um über das Gehörte nachzudenken. Ihr könntet vielleicht von dort aus Nathaniel kontaktieren. Ich denke noch immer, daß das eine gute Idee wäre. Außerdem müssen die Unterlagen von Gideon schnellstens an einen sicheren Ort gebracht und ausgewertet werden.“

„Natürlich Tejat, manchmal vergesse ich einfach, daß du nicht mehr so jung bist, wie wir,“ lächelte Gabriel. Dann wand er sich an uns. „Die Idee ist gut. Ich könnte nach Leuten schicken, die die Daten aus dem Ordner überprüfen. Und wir können einen Schlachtplan entwerfen, statt ziellos in der Gegend rum zu fahren. Wir werden soviel Entfernung wie möglich zwischen das Congregat und uns bringen, und dann eine sichere Stätte aufsuchen.“

Und so wurde es beschlossen. Tejat zog sich in eine Ecke zurück, wir anderen machten uns über das Dossier her. Mir sagten die meisten Daten nichts, aber die anderen drei schienen schwer beeindruckt. Immer wieder wechselten erstaunte oder erschrockene Blicke zwischen ihnen. Auf einem der Zettel fand sich eine Notiz, daß Charon zu Scuro Fenian bestellt worden war. Also fragte ich laut: „Wer ist Charon?“ Alle drei ließen erstaunlich synchron ihre Papiere sinken. „Wo! Zeig her!“ Statt einer Antwort zupfte Kolya mir den Zettel aus der Hand und alles beugte sich unisono darüber. „Es ist vom 15. Dieses Monats datiert“, murmelte Tres. „Hallo? Ihr da! Wer ist dieser Typ und wieso macht ihr so ein Aufhebens davon…?“ Endlich ließ sich Gabriel dazu herab, mir eine Antwort zu geben. „Nun, Charon ist der Führer des Fluchs des Blutes. Von diesem Teil der Oscuro hast du ja schon gehört. An sich ist es nicht ungewöhnlich, daß ein Scuro mit einem der Leute spricht…“ und dann ergänzte Tejat, der wohl doch nicht zu schlafen schien „… aber im Moment ist das etwas anderes.“ Er setzte sich auf, als wir ihn anschauten. „Wir haben gehört, daß Fenian alleine als Rat der Alten auftritt. Und nur der Rat kann den Imprecatio Curor ausschicken. Es ist ganz einfach: Charon muß im Prinzip tun, was Fenian ihm aufträgt. Der Anführer ist trotz – oder gerade wegen – seiner Aufgaben ein kluger Mann, aber er hat keine Möglichkeit, sich Fenians Zugriff zu entziehen. Und natürlich weiß ich auch nicht, ob er das überhaupt will. Ein Grund mehr für mich, schnellstens in mein Haus zurück zu kehren. Ich bin noch immer eines der Mitglieder im Deliberatio Aetas. Wenn ich seinen Befehlen widerspreche, haben wir zumindest einen Gleichstand, solange Seraphina verschwunden bleibt. Ich hoffe, daß ihr nichts zugestoßen ist. Ich habe nicht erwartet, daß Fenian so schnell und zielstrebig vorgeht. Gabriel, bitte schicke umgehend eine Nachricht, daß ich abreisen muß. Ich werde versuchen, zu retten, was zu retten ist. Und ja, bevor du fragst, ich bin sicher in meinem Haus und das nicht nur wegen der vielen menschlichen Bewacher.“

Den letzten Satz hatte er an Gabriel gerichtet und abwehrend eine Hand gehoben. Ergeben nickte dieser und führte Scuro Tejats Bitte aus.

Danach mochte ich dann nicht weiter stöbern. Überhaupt war es kein so guter Tag gewesen. Also rollte ich mich auf einem der Sessel ein und versuche, ein wenig zu dösen. Schwer!

Irgendwann gegen fünf Uhr morgens trafen wir in einem ruhigen kleinen Vorort ein. Dort wartete ein geschlossener Lieferwagen mit einigen gefährlich aussehenden Leuten der Nadiesda Thurus davor. Tejat nickte ihnen zu, griff seine Sachen und drehte sich nur noch einmal kurz an der geöffneten Tür zu uns um. „Ich reise sofort weiter. Viel Glück auf eurer weiteren Fahrt. Sobald ich etwas erreiche, werde ich mich melden. Auf bald, meine Freunde.“ Der Transporter schloß sich hinter ihm und dann war er fort. Unsere Leute und wir räumten noch die Sachen in die Räume – für jeden zumindest ein separates Schlafzimmer und der übliche Gemeinschaftsraum – dann war auch unser Fahrzeug weg.

Bevor wir uns trennten, sprach Gabriel mich noch einmal an: „Ich habe noch eine nette Nachricht für dich, schwarze Rose: Ein schrecklicher Racheschwur wurde über dich ausgesprochen!“ Ich sah ihn verblüfft an, sein Gesichtsausdruck und die Körpersprache paßten nicht zu dem Inhalt der Worte. Er schien ein Grinsen zu unterdrücken. Auch die andern beiden sahen ihn verwundert an. Gabriel lachte – ein echtes, helles Lachen – und das war nicht nur ungewöhnlich – leider – sondern wohl äußerst unpassend. Aber dann schien auch Kolya ein Licht aufzugehen, denn er hatte sein schönstes Grinsen aufgelegt. Gabriel schüttelte sich, versuchte mühsam sich wieder soweit zu beruhigen, bis er wieder sprechen konnte. Dann: „Dein Blick grade hat meinen Tag gerettet. Und die Erklärung? John hat die Sache mit Raphael erfahren. Und natürlich messerscharf geschlossen, daß du es wußtest und ihn nicht gewarnt hast. Darauf hat er fürchterliche Rache geschworen, er soll was von ‚Hals umdrehen’ und ‚verfluchen’ gemurmelt haben.“ Wieder mußte er lachen und ich konnte einstimmen. Oh ja, das konnte ich mir gut vorstellen, immerhin erinnerte ich mich noch sehr gut an meine Verblüffung. Und natürlich zitterte ich vor Angst ob dieser so schrecklichen Drohung.

Das Lachen war ansteckend und wirkte wahre Wunder. Bei uns allen. Wir alle gingen heute mit einem Lächeln auf den Lippen schlafen.

 

Zurück nach obennach oben

Weiter in der Geschichte zum Inhaltsverzeichnis