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Die Krallen
des Drachen Trevor fuhr in seiner Rede fort, die er kurz unterbrochen hatte. „Jedenfalls müssen wir reagieren. Oder genauer gesagt Gabriel. Das kann so nicht weiter gehen. Außerdem solltet ihr euch über die Anreise Gedanken machen. Er weiß zwar noch nicht, wo wir sind, aber vermutlich kann er es rausfinden. Trotzdem muß das Treffen stattfinden und wir können es auch nicht verlegen. Wie gesagt, Gabriel muß schleunigst was unternehmen.“ Der nickte neben mir. Scheinbar gab es Probleme. Ich wollte nicht neugierig erscheinen, also war ich vorerst still und hörte zu. „Ich habe schon mit Kolya gesprochen. Aber ich will LaVerne weder hier zurück lassen noch kann ich sie mit zurück nehmen. Also habe ich beschlossen, mich mit Simeon in Verbindung zu setzen. Sein Zirkel steht unserem sehr nah, er wäre für Dezmont nicht die erste Wahl und er ist vertrauenswürdig. Außerdem kann er für eine sichere Hinreise sorgen. Kolya hat seine Zustimmung auch schon gegeben.“ Selbiger kam gerade um die Ecke und ergänzte: „aber ungern. Doch es hilft nichts, wir müssen wirklich dringend nach Hause. Ist ja nicht für lange und wir fahren erst, wenn der Kaj der Noctua hier eingetroffen ist. Das sollte Mitte der Woche sein.“ Ich fand es ganz und gar nicht schön, daß sie einfach wichtige Dinge beschlossen, ohne daß ich informiert wurde. Ich wollte ja nicht unbedingt Mitsprache – soweit war ich noch nicht – aber ich wollte wenigstens nicht alles so nebenbei erfahren. Aber das würde ich nicht hier mit allen anderen klären, sondern erst mit Gabriel besprechen. Vorerst fand ich es ebenfalls nicht in Ordnung, diesen Ort zu verlassen und zu Fremden zu gehen. Ganz davon abgesehen, daß ich lieber Gabriel und Kolya in meiner Nähe hatte, als Fremde. Und was war mit John? Hoffentlich blieb wenigstens er mir erhalten. Ich warf ihm einen kurzen Blick zu. Er antworte mit einem unauffälligen Schulterzucken. Es schien, als wäre diese Entscheidung ebenfalls an ihm vorbei gegangen. Ich wollte mich gerade in die Unterhaltung einmischen, da sprach Gabriel weiter: „Wir werden nicht lange bleiben, ich schätze gut 10 Tage. Das sollte reichen. Dann werde ich John und LaVerne abholen und wir werden den Rest der Zeit im Haus von Scuro Tejat verbringen. Er hatte uns schon vor einiger Zeit das Angebot gemacht. Nach dem Treffen werden wir weiter sehen. Dort werden wir Entscheidungen treffen.“ Damit war zumindest klar, daß John mir erhalten blieb. Ins Hause des blinden Alten aus dem Rat sollten wir gehen. Und ich wollte schon mehrfach nach Details über die Lage zuhause gestellt haben. Ich sollte mich vielleicht etwas beeilen, wenn die beiden schon in gut zwei bis drei Tagen abreisen wollten. Wieder kam ich nicht dazwischen, denn diesmal meinte Carré: „Das ist ungewöhnlich, der Scuro ist sehr menschenscheu. Aber Gabriel, du weißt, es gibt noch eine Möglichkeit, Dez von euch abzulenken….“ Noch bevor sie den Satz beenden konnte, donnerte Gabriels „Nein!“ durch die Dunkelheit. Sein Körper neben mir spannte sich etwas an und seine Stimme hatte eine gewisse Schärfe. Sie beugte den Kopf und sagte leise: „Entschuldige. Ich wollte mich nicht einmischen. Ich bin nur etwas traurig, daß ihr uns verlaßt.“ Gabriels Stimme hatte sich schon wieder verändert und er lächelte Carré an: „Das sind wir auch. Aber es ist fast schon zu schön hier und wir sehen uns ja bald wieder.“ Was immer auch der Inhalt dieser letzten Unterhaltung gewesen war, Gabriel reagierte empfindlich darauf. Jetzt endlich konnte ich meine Frage unterbringen. „Ihr redet von eurer Abreise. Würde mir irgend jemand mal erklären, was eigentlich in der Zwischenzeit zuhause los war? Ich habe seit Weihnachten nicht mehr gehört und ihr scheint immer informiert zu sein. Könntet ihr jetzt bitte mal ein bißchen präziser sein?“ Zuerst antwortete mir keiner. Sie warfen sich Blicke zu, bis Kolya seufzte und den Anfang machte: „Wo soll ich beginnen? Am Tag, als du aus deiner Wohnung gingest, war abends dort ein Einbruch. Nichts wurde gestohlen. So stand es im Polizeibericht. Aber natürlich gab es dort keinen Hinweis auf deinen Aufenthaltsort. Direkt nach Weihnachten gab es einen Einbruch in mein Haus. Auch hier sehr wenig Schaden, nichts gestohlen und kein Hinweis auf die Täter. In Gabriels Haus, weiter zwei oder drei Tage später, war die Sache dann etwas anders. Wir hatten unser Sicherheitskommando in Gabriels Haus stationiert. In der Nacht brachen zehn Männer dort ein – und wurden erwartet. Zwei der Einbrecher waren Mitglieder der Oscuro, was an sich schon schlimm genug ist. Blut sollte nicht gegen Blut kämpfen. Die beiden sind unverletzt entkommen. Aber drei von unseren Leuten, Mitglieder der Nadiesda Thurus, sind in jener Nacht gestorben. Und sechs der Einbrecher. Ein siebter wurde verletzt gefangen gesetzt. Der Rat der Alten wurde offiziell in Kenntnis gesetzt. Aber der verletzte Mann konnte vorerst nicht befragt werden. Dann gab es einige ‚Überraschungsbesuche‘ bei anderen Mitgliedern des Corvus-Zirkels. Oft nur einfache Besuche von Mitgliedern des Anguis-Zirkels. Der weiße Drache war also still und heimlich sehr aktiv. Niemand wurde bedroht aber es wurde immer nach Gabriel und mir gefragt. Auch bei Okcania war so ein Besuch. Sie hat unwissend getan. Dann wurde von einem unserer Vertrauten“, dabei warf er Gabriel einen Blick zu, der unlesbar war, „offiziell der Rat der Alten einberufen. Und dort wurde dann der Vorwurf geäußert, daß diese Überfälle mit dem Auftauchen einer speziellen Person zu tun haben, deren Blut anders ist, die aber trotzdem zum Corvus-Zirkel gehört. Und daß Informationen darüber vom Rat weitergegeben wurden. Dieser Vorwurf führte zu großer Aufregung in den anderen Zirkeln, wobei nur über das Weitergeben von Geheimnissen gesprochen wurde – dein besonderer Status wurde nicht offenbart.“ Dabei nickte er mir zu. Irgendwie hatte ich das Gefühl, daß es eh bald ziemlich egal war. Aber die Geschichte ging noch weiter. Und auf einmal sah ich den Vorschlag zu dem Kampftraining oder Gabriels Bitte, mich am Tage bei ihnen aufzuhalten, in einem ganz anderen Licht. Nun übernahm Gabriel das Erzählen: „Jedenfalls gab der Rat der Alten nach einer längeren ‚internen’ Untersuchung diesen Vorwurf zu. Der Schuldige – tatsächlich Scuro Paridus – trat von seinem Amt zurück. Momentan besteht der Rat also aus zwei Personen und ist handlungsunfähig. Am neunten des Monats wird ein neues Mitglied gewählt, auch deshalb müssen wir zurück. Es ist nun auch erwiesen, daß das gefangene Mitglied der Nadiesda Thurus dem Zirkel des Anguis nahe steht. Noch zwei Mal wurde versucht, in mein Haus einzudringen, beide Male gelang es nicht; zum Glück gab es keine weiteren Verletzten. Allerdings wurde der Versuch unternommen – gerade gestern – den Gefangenen zu töten. Deshalb werden wir zurück kehren. Ich will selber mit ihm reden, ich will mich zeigen, deutlich machen, daß wir uns nicht verstecken. Da aber unser Zirkel im Visier ist, werdet ihr zwei bei einem guten Freund untergebracht – außerhalb unserer Gruppe. Der Sicherheitschef, Kaj Arpad, wird selber anreisen. Kolya und ich werden euch in rund zehn Tagen dort abholen. Dann ist der Rat wieder vollständig und zusammen werden wir bis fast zum 12. März bei Scuro Tejat bleiben. Er steht außerhalb der Zirkel und niemand – nicht einmal Dez – würde seinen Weg kreuzen. Oder gerade Dez nicht. So. Das muß erst einmal reichen. LaVerne, wenn du Anweisungen für deine Angestellten, Verwalter oder was auch immer hast, schreib sie in den nächsten zwei Tagen auf, ich werde sie weiterleiten lassen. Das gilt auch für dich John.“ Gabriel war fertig. Und wir waren ziemlich platt. Es war viel los gewesen. Aber ich mußte erst einmal diese Informationen auf mich wirken lassen. Unglaublich, daß wir nichts davon erfahren hatte… John war nicht so rücksichtsvoll und sprach das aus, was ich dachte: „Ich finde es nicht gut, daß ihr uns so im Unwissenden gelassen habt und noch laßt. Ich – wir wollten ja gar nichts entscheiden aber immerhin gehören wir zu einer Gruppe, sollten doch Freunde sein. Aber obwohl die ganze Sache uns – oder doch zumindest LaVerne – betrifft, werden wir ausgeschlossen.“ Genau das, was ich auch dachte. Doch Kolya schüttelte den Kopf. „Wir wollen euch schützen, ihr seid noch neu in unserer Gemeinschaft. Es gibt schon so genug Veränderungen, die ihr verkraften müßt, da solltet ihr euch nicht noch über Dinge Gedanken machen, die sich eurem Einfluß entziehen.“ – „Ich stimme John zu, Kolya. Zum einen sind es eben Dinge, die uns betreffen und je weniger ihr erzählt, desto mehr müssen wir raten. Es fühlt sich wirklich für uns an, als ob wir nicht an Problemen teilhaben dürfen. Dabei gehört es doch auch zu einer Freundschaft. Und vielleicht brauchen wir irgendwann dieses Wissen. Grenzt uns bitte nicht aus. Ihr redet doch immer von Vertrauen.“ John nickte zu meinen Worten. Ein Weilchen sagte niemand etwas. Dann meinte Gabriel mit sehr leiser Stimme: „Vielleicht habt ihr recht. Wir haben uns so viele Jahre nur auf uns verlassen, wir verstehen uns blind – ohne Worte. Vermutlich müssen auch wir lernen, zu vertrauen, zu teilen und offener zu werden.“ Carré schaute ihn erstaunt an. Offensichtlich war Gabriel allgemein nicht für Offenheit bekannt. Als ob wir das noch nicht bemerkt hätten. Aber vorerst waren wir beide zufrieden, wir würden es ja sehen. Langsam machten wir uns alle in unsere Quartiere auf. Nach einiger Zeit klopfte ich bei Gabriel und er öffnete die Tür. Ich setze mich auf sein Bett, zog die Füße hoch und schaute ihm etwas beim Packen zu. Nach einer kleinen Weile hielt er inne, sah mich an und setzte sich dann rittlings auf einen Stuhl vor mich. „Was?“ fragte er nur. „Wie konntest du es wissen?“ Er wußte sofort, was ich meinte. „Auch du wirst das bald können.“ Schön und gut, aber das war nicht die Antwort. Ich wollte ihn nicht wieder mit kryptischen Bemerkungen davon kommen lassen. Also hielt ich mein Gesicht ausdruckslos, vermied einen Blick direkt in seine Augen – das wäre das Ende meiner Konzentration – und wartete. Er lächelte. „Du wirst immer besser…- du meinst es ernst, ich seh schon. Na gut. Mehrere Dinge. Zum Einen, ich kenne deinen Duft. Jetzt hat der sich ein wenig verändert. Und ich kenne Kolyas Geruch. Sie sind vermischt. Weiterhin ist das Echo deiner – und seiner – Erregung noch in deinem Köper. Dein Geist spricht zu mir – wie meiner auch zu deinem sprechen wird, wenn du diese Sprache gelernt hast – und erzählt davon. Dann noch ein paar Kleinigkeiten. Kolya wartete schon lange auf eine Gelegenheit aber er wollte nicht den ersten Schritt machen. Aber die Zeit bis zur Abreise ist schon sehr kurz. Und außerdem weiß ich nur zu gut, was ein harter Kampf für Emotionen weckt. Irgendwann müssen die raus. Und da ihr die Zähne nicht einsetzten durftet…“. Er zuckte die Schultern und grinste frech. „Wenn du meinen Geist hören kannst, bedeutet das, du kannst Gedanken lesen Gabriel?“ Ich hatte schon mehrfach so ein Gefühl gehabt aber nie so direkt darüber nachgedacht. Die Vorstellung bereitete mir Unbehagen. Doch er schüttelte den Kopf. „Nein, das wäre viel zu weit gegriffen. Ich empfange starke Gefühle – sogar über Entfernungen, obgleich das tiefer und langer Verbundenheit bedarf. Und manchmal spricht dein Herz sehr laut zu mir. An dem Abend, als du in Zürich fort warst, habe ich deinen Schmerz wie meinen gespürt, obwohl ich eine Zeit lang den Kontakt verloren hatte. Aber es braucht Jahre der Übung, um so vereint zu sein. Eigentlich sind es mehr so eine Art déjà-vu Blitze. Ich bin dafür empfänglich, weil ich von Meistern darin trainiert wurde. Normalerweise kommt diese Verbindung nach einigen Jahren von selber. Auch mit Kolya habe ich so ein Band. Immerhin sind wir schon Jahrhunderte zusammen. Also keine Sorgen, meine schwarze Rose. Ich lese nicht deine Gedanken und außerdem werte ich Informationen nicht.“ Doch sein Grinsen schien nicht so ganz zum letzen Teil des Satzes zu passen. Interessant war die Sache in Zürich. Ob meine Rast vor der Kirche die Verbindung unterbrochen hatte? Es schien zumindest so, daß ich auch irgendwann so etwas würde können. Prima. Ich krempelte im Geist die Ärmel hoch, um mich für alle kleinen Sticheleien und Überraschungen angemessen zu rächen. Ich stand auf. „Jetzt bin ich erst mal zufrieden. Und werde ein paar Briefe schreiben. Aber ich will lernen, deine Gedanken zu empfangen. Sei also schon mal bereit, mich zu unterrichten.“ Er erhob sich ebenfalls und zog mich an sich. „Ich weiß nicht, ob ich mich auf Unterricht konzentrieren kann, wenn ich so in deine grünen Augen starre. Wahrscheinlich würde ich andere Dinge im Kopf haben…“ Aber das ließ ich nicht durchgehen. „Ach nee, aber beim Schießen kannst du dich schon konzentrieren, was? Keine Ausflüchte. Ich bestehe darauf!“ Er schloß ergeben die Augen, küßte mich dann aber so, daß ich von Zustimmung ausging. Äußerst widerstrebend löste ich mich nach einiger Zeit von seinem Mund und dann von seinen wandernden Händen. „Ich muß noch ein paar Sachen erledigen. Sag mal, könntet ihr eventuell mein Notebook mitbringen?“ Er seufzte, ließ endgültig von mir ab. „Klar. Kein Problem. Ich muß auch noch einiges für die Fahrt vorbereiten.“ Ich blieb in der Tür stehen und schaute ihn an. Was für ein toller Anblick. Er sah noch einmal kurz auf, lächelte weich und packte dann weiter seine Sachen zusammen. Still ging ich in mein Zimmer zurück. Und so waren die nächsten zwei Tage mit Vorbereitungen ausgefüllt. Mehrfach kamen und gingen Angestellte, Transportmittel wurden organisiert und Telefonate geführt, ein Teil der Kleidung abgeholt. Ich stellte einige Schreiben aus, darunter auch eine Vollmacht für Gabriel – nur für Notfälle. Es gab fast einen Streit deshalb, weil er das kategorisch ablehnte. Erstaunlicherweise gewann ich diese Auseinandersetzung jedoch. Auch John und ich packten unsere Sachen. So langsam schlich sich eine ungewohnte Nervosität in meinen Kopf. Ich war seit Weihnachten mit Gabriel und Kolya zusammen, jetzt würde ich in Gesellschaft der Oscuro ohne sie bleiben. Die Trennung an sich war gar nicht so schlimm. Mein Herz wußte, daß wir uns bald sehen würden. Und mein Geist war bei ihm. Der Gedanke, bei Fremden untergebracht zu werden, deren Gesetzte ich noch nicht vollständig beherrschte, machte mir Sorgen. Nein, nicht wirklich Sorgen, es war mir unangenehm und machte mich unruhig. Aber ich sah die Notwendigkeit ein. Dann am Mittwoch Abend traf der Sicherheitschef der Noctua ein. Er entsprach dem Bild, das man sich von einem Bodyguard machte. Groß, durchtrainiert und wie Kolya mit kurzen Haaren. Er war mittelblond und trug einen passenden kleinen Oberlippenbart. Blaue stechende Augen, die wesentlich klüger blickten, als man das von Muskelpaketen oft vermutet. Aber ich hatte mich einmal täuschen lassen, nicht wieder. Während der Vorstellung stand ich still neben Gabriel. Als der Kaj mir die Hand reichte, lächelte er freundlich. „Gabriel hat uns ein wenig über dich erzählt. Ich freue mich jetzt, dich persönlich kennen zu lernen. Sei bei uns willkommen wie bei deinen Brüdern des Corvus. Ich werde persönlich dafür sorgen, daß du sicher bei uns bist und dich möglichst heimisch fühlst.“ Ich dankte mit einem zurückhaltenden Lächeln für die freundlichen Worte und die Aufnahme. Wir aßen alle zusammen zu Abend, dann machten Gabriel und Kolya sich bereit, abzureisen. Wir fuhren alle mit dem seltsamen Aufzug hinauf. Das Gepäck war schon in der Limousine verstaut. Kolya begann die Verabschiedung. Er nahm jeden in den Arm und drückte den Leuten die Luft ab. Als ich an der Reihe war, hob er mich einfach auf seine Höhe an, drückte mir einen Kuß auf die Wange und meinte: „Paß auf dich auf, kleine Rose. Mir ist wohler, wenn ich wieder auf dich aufpassen kann. Aber Arpad ist ein guter Mann. Bis bald.“ – „Ich werd brav sein, Großer! Bis bald.“ Auch Gabriel umarmte jeden, mich zuletzt. Er sagte nichts. Hielt mich nur einen Moment fest, küßte mich mit geschlossenen Augen. Sein Körper gab mir still ein Versprechen. Ich nahm es an und versuchte, ihm meine Gefühle zu vermitteln. Als er endlich los ließ, lächelte er, nickte und drehte sich dann wortlos zum Auto. Dann waren sie fort. Still kehrten wir vier wieder in die Höhlen zurück. Morgen würden John und ich mit Arpad ebenfalls abreisen. Der letzte Tag verging schnell. Angestellte schafften unsere Sachen zum Flugzeug, ich hatte ein letztes Plauderstündchen mit Carré und nach einem kurzen Abendessen fuhren wir zum letzten Mal hinauf. Carré überreichte mir ein kleines Päckchen: „Ein Andenken an diesen Ort, LaVerne. Wir sehen uns ja nächsten Monat schon wieder. Und wenn alles vorbei ist – die ganze Aufregung – kommst du auf einen längeren Besuch.“ Wir umarmten uns herzlich. Auch Trevor drückte uns und damit waren wir entlassen. Mit abgedunkelter Limousine ging es zu einem kleinen Privatflugplatz, wo wieder ein Learjet wartete. Arpad meinte: „wir müssen mehrfach landen und tanken, dafür reisen wir aber bequem. Auf jeden Fall eine gute Entschädigung dafür. Eure Sachen sind an Bord. Verabschiedet euch von Australien, es geht zurück nach Europa.“ Abgesehen von den dunklen Fenstern hatte der Jet alle Annehmlichkeiten. Es gab eine Minibar, Essen von Stewards serviert, Liegesitze und sogar Fernseher und Stereoanlage. Wir suchten uns gemütliche Plätze, ließen uns Getränke bringen und dann ging es los. Zuerst saßen wir schweigend auf unseren Plätzen. Eigentlich hätte ich ein paar Fragen an unsere neuen Gastgeber aber ich wollte doch nicht gerade mit der Tür ins Haus fallen. Also setzte ich mich nach einiger Zeit mit meinem Glas Arpad gegenüber an den kleinen Tisch und begann: „Gabriel hat uns nicht viel gesagt. Er hat erklärt, du wärest der Kaj des Noctua-Zirkels. Und ich meine, er hätte den Namen Simeon erwähnt. Würdest du uns ein wenig mehr erzählen, wo geht es hin, wieso nehmt ihr uns auf?“ Soviel zum Thema ‚nicht mit der Tür ins Haus fallen’! John stand auf und setzte sich gespannt zu uns. Aber Arpad zeigte nur ein feines Lächeln und nickte: „Das war schon klar, daß ihr nicht viel erfahren habt. Wir kennen doch Gabriel. Also: Noctua ist der Zirkel der Eule. Neben Corvus sind wir einer der größeren Zirkel. Unser Kader heißt Simeon. Simeon du Aut-Con. Damit habt ihr eine Idee für unser gegenwärtiges Reiseziel, es geht nach Frankreich. Beileibe aber nicht in eine der Großstädte, sondern ein schönes Chalais am Atlantik. Gabriel und Simeon kennen sich schon viele, viele Jahre. Sie sind – falls ihr das nicht wißt – als Reinblütige direkt in die Oscuro geboren. Um noch weiter auszuholen und euch ordentlich zu verwirren: es gibt drei Zirkel, in denen der Kader durch eine Umwandlung zu einem Blutsverwandten wurde, also ehemals ein normaler Sterbliche war. Das wäre vermutlich im Prinzip nicht logisch, weil eine Umwandlung eigentlich an einen bestimmten Zirkel bindet. Aber bei zwei Zirkeln wurde vom Kader ein Nachfolger bestimmt, der umgewandelt wurde. Obgleich auch gebürtige Mitglieder hätten bestimmt werden können. Aber es gibt kein Gesetzt, jeder entscheidet nach Weisheit. Und in einem Zirkel wurde die Macht mit Gewalt übernommen. Das ist der, mit dem Gabriel – und viele von uns – oft aneinander geraten. Dezmont, der weiße Drache, hat niemals offiziell den Anguis-Zirkel übernommen. Aber ich schweife ab. Jedenfalls verbindet Gabriel und Simeon eine sehr alte Freundschaft und ein gemeinsamer – äh – sagen wir, ein gemeinsames Ärgernis. Auch sind durch Verbindungen einiger Mitglieder unserer beiden Zirkel direkte Blutbande entstanden. So sind übrigens mehrere Zirkel miteinander verwoben. Gabriel hat uns nicht erzählt, was genau geschehen ist, aber die Angriffe auf sein Haus und die Indiskretionen des ‚Rates der Alten’ sind bis zu uns gedrungen. Und, daß du wesentlich mehr bist, als das Auge sieht.“ In seinem forschenden Blick lag keine Frage, nur Interesse. Ich nickte vorerst nur dazu, für Details würde es später noch genug Gelegenheit geben. Jetzt war ich eigentlich eher erfreut, daß er so abschweifte. Immerhin schien er die wichtigsten Dinge der letzten Zeit zu wissen. Und nun stellte John die erste Zwischenfrage: „Treffen sich eigentlich mal alle Zehn Teile der Oscuro? So, wie sich die Zirkel treffen?“ Der Kaj sah ihn einen Moment an und überlegte. Dann nickte er: „Ja, es gibt hin und wieder solche Treffen. Oft sind das dann nur die Kader, mit den Sicherheitsleuten und einigen anderen hochrangigen Mitgliedern. Und solche Treffen sind nicht häufig und können auch schon mal etwas ‚heftig’ werden. Aber die Oscuro besteht nicht aus zehn sondern aus zwölf Teilen! Und es gibt sogar eine Legende, die einen dreizehnten Teil betrifft.“ Ich schaute John an. Der schüttelte den Kopf: „Nein! Gabriel hat garantiert von zehn Zirkeln gesprochen.“ Arpad fing wieder an zu grinsen. Er war wirklich ein sympathischer Gesprächspartner. Und eine Wohltat nach dem ganzen ‚Rumschweigen’ unserer Freunde. Wären Trevor und Carré nicht gewesen, wir hätten vermutlich nicht einen deut mehr erfahren als vor Monaten. „Richtig und Falsch, John. Es gibt wirklich nur zehn Zirkel. Aber die Oscuro hat zwei weitere Bestandteile, Einen kennt ihr schon: den Rat der Alten, in früheren Zeiten Deliberatio Aetas genannt. Und den anderen möchtet ihr vermutlich nicht unbedingt kennen lernen, das ist der ‚Fluch des Blutes’, Imprecatio Curor. Das sind fünf Leute, die Urteile vollstrecken, Strafen ausführen, eben sozusagen unsere interne Polizei. Mit der niemand von uns gerne aneinander gerät. Eine gefährliche Gruppe außerhalb der Zirkel, aber leider immer wieder erforderlich. Denn manche Dinge kann man nicht untereinander regeln. Sie folgen den Befehlen des Rates der Alten oder dem Beschluß einer Mehrheit der Zirkel. Doch auch sie gehören zur Oscuro, sie sind nur zu anderen Aufgaben berufen. Also sind es zwölf Teile. Und dann gibt es auch noch Nathaniel; und du LaVerne, hast auch wohl noch keinen festen Platz wie mir scheint, obwohl du zum Corvus-Zirkel zählst.“ Wir ließen diese Informationen erst einmal auf uns wirken. Wieder etwas, von dem Gabriel nicht gesprochen hatte, obgleich er nicht gelogen hatte. Aber ich konnte den Gedankengang nicht weiter verfolgen, denn John, der scheinbar eine Idee gehabt hatte, fragte: „Wenn du ein fremdes Mitglied der Oscuro siehst, weißt du dann, welchem Zirkel es angehört?“ Arpad schüttelte sofort den Kopf. „Nein, das sieht man nicht sofort. Aber später, vielleicht nach einigen Stunden, würde ich es wissen, wenn er nicht auf Geheimhaltung trainiert ist. Zwischen den Mitgliedern eines Zirkels besteht eine Verbindung. Nach einiger Zeit kann man diese Verbindung erspüren und mit viel Übung zuordnen. Übrigens würde dieses Band mich informieren, wenn ein Mitglied meines Zirkels stirbt. Aber das macht jahrzehntelange Übung und bringt meine Aufgabe als Sicherheitschef einfach mit sich.“ Jede Antwort von ihm lockte einen Rattenschwanz von neuen Fragen in meinem Kopf hervor. Doch er unterbrach unsere bohrende Fragelust. „Ich sehe schon, ihr habt noch echten Informationsbedarf. Aber alles zu seiner Zeit. Simeon wird ebenso eure Fragen beantworten, viele zumindest. Ich würde euch raten, etwas auszuruhen und ordentlich zu schlafen. Ihr müßt später mit der Zeitumstellung kämpfen außerdem wird viel Neues auf euch einstürzen. Viele neue Fragen und selbstverständlich müßt ihr damit rechnen, daß wir euch auch ausfragen werden, denn wir sind natürlich ordentlich neugierig auf eure Erlebnisse. Geduldet euch also noch etwas und tankt Kraft.“ Lachend wehrte er danach alle weiteren Informationsgesuche ab. Symbolisch schmollend zogen wir uns in die Ruhekabinen zurück. Da lag das Päckchen von Carré. Als ich es auspackte, fiel mir ein wundervoll geschliffener faustgroßer Stein in die Hände, der in allen Regenbogenfarben leuchtete und blinkte. Ein kleiner Zettel lag dabei: „Liebe LaVerne, ein kleines Andenken. Ein angeschliffener Opal aus unserer Mine. Genauso bunt und abwechslungsreich und wertvoll soll dein Leben verlaufen. Auf daß wir uns bald wieder sehen. Alles Liebe.“ Unterschrieben war er von beiden. Es war ein wundervolles Andenken. In bester Stimmung ließ ich mich auf die Couch fallen. Meine Gedanken wanderten zu Gabriel. Im Halbschlaf meinte ich seine Stimme zu hören, wie er leise sagte: „Gute Reise, Schwarze Rose.“ Mit einem entspannten Lächeln schlief ich ein. Die Prophezeiung Der
Empfang in Simeons Chalais war einfach nur herzlich zu nennen. Wieso sahen so
viele Männer aus der Oscuro eigentlich nur so verflixt gut aus, von diesen
Lockstoffen wollte ich ja gar nicht sprechen. Nur alleine die äußere Erscheinung
war oft schon bemerkenswert. Unser Gastgeber hatte ein Faible für Rot. In
dunkelroter Seidenhose, passendem Hemd und schwarzen Stiefeln wartete er an
einem großen Kamin, als Arpad uns herein führte. Simeon trug mittelblonde
Haare, auch bis zur Schulter und offen. Er hatte Johns Größe, rund 185 cm, und
wirkte ein wenig kräftiger. Schlanke Hüften, breite Schultern und dazu eine sehr
helle Haut. Seine Augen hatten einen ungewöhnlichen Blauton, fast violett. Er
trug keinen Bart und hatte ein schmales Gesicht, hohe Wangenknochen und sein
Lächeln schien das Leuchten dieser auffälligen Augen zu reflektieren. Auf
typisch französische Art nahm er uns nacheinander in den Arm und küßte uns auf
beide Wangen. „Na endlich! Da seid ihr ja. Ich war schon so gespannt. Es gibt so
viel zu erzählen. Außerdem müßt ihr die französische Küche und vor allem unsere
Weine kennen lernen. Kommt mit, das Essen wartet nur auf euch.“ In den
nächsten Stunden arbeiteten wir uns durch ein komplettes Menü, immer nur kleine
Mengen aber locker zehn Gänge. Nebenher plauderten wir über die Reise, unsere
vorherigen Gastgeber und die allgemeine Welt- und Wirtschaftslage. Also ein
völlig normaler Abend. Wir hatten durch den Flug mal wieder einen Tag verloren
und hier war tatsächlich schon Samstag.
Irgendwann meldete dann mein Körper, daß Schlafenszeit war. Krampfhaft versuchte
ich das Gähnen zu unterdrücken. Aber Arpad war offensichtlich ein guter
Beobachter. Er unterbrach Simeons Redefluß: „Sim, unsere Gäste hatten eine lange
Reise und ihre Uhr ist durcheinander. Wir sollten Schluß für heute machen. Soll
ich ihnen die Zimmer zeigen?“ – „Ach jeh, du hast recht, wir rücksichtslos von
mir. Nein, brauchst du nicht, das mache ich schon.“ Wir standen auf. Diesmal
ging es wieder eine Treppe hinauf, einen Gang nach rechts. Vor einer Tür blieben
wir stehen: „John, du wohnst hier. Es gibt ein Bad und eine Verbindungstür zu
einem kleinen Aufenthaltsraum. LaVerne’s Zimmer grenzt von der anderen Seite
daran. So könnt ihr noch plaudern, wenn ihr wollt.“ John murmelte ein „Gute
Nacht“ und verschwand. Die nächste Tür ließen wir aus, dann kam mein Raum. Auch
hier, ein Bad und die Verbindung zum Zwischenraum. Das Zimmer war wie ein
Lustschloß von Ludwig dem Vierzehnten eingerichtet. Alt, verspielt und sehr
wertvoll. Es gab Schnitzereien an den Wänden und dem Bett, einen riesigen
Spiegel und hochwertige Wandbehänge. Simeon verabschiedete sich mit einer
angedeuteten Verbeugung und verschwand. Ich
öffnete die Tür zum Zwischenzimmer. John hatte das Gleiche getan wir trafen uns
noch kurz in der Mitte. Die übliche – nur etwas überladenere – Einrichtung:
Tisch, Stühle, Sofa und Schränke. Wir wünschten einander noch eine gute Nach. In
meinem Zimmer zog ich mich um, öffnete die Vorhänge und sah auf Dunkelheit, die
die Umrisse einer weitläufigen Parklandschaft und dahinter Bäume erahnen ließ.
Ich warf mich auf das große Bett und mußte wohl erschöpfter gewesen sein, als
ich befürchtet hatte, denn ich fiel sofort in Schlaf.
Irgendwann Samstag Nachmittag kehrte ich von den Toten zurück. Draußen war es
noch etwas hell. Ich duschte und zog eines der langen Shirts über. In unserem
Verbindungsraum fand ich eine Thermoskanne mit Kaffee und ein Tablett mit
frischem Obst. Ich setzte mich und ließ bei Kaffee die unglaubliche Stille hier
auf mich wirken. Keine Klimaanlage, keine Straßengeräusche aber auch keine
Tierlaute. Einfach nichts. Ich begann, meine Gedanken wandern zu lassen.
Langsam
fing ich an, mich in der Blutsgemeinschaft heimisch zu fühlen. Ich kam mir nicht
mehr so fremd und unwissend vor. Es war sicher nicht alles so schön und
harmonisch, wie Gabriel und Kolya es zu Anfang dargestellt hatten, aber viele
Ereignisse schienen auch für die zwei unerwartet. Dennoch bereute ich keinen
einzigen Moment. Alles was passiert war, unsere erste Begegnung, die Umwandlung,
die Flucht, all das hatte mir am Ende etwas Wundervolles gegeben: Gabriel! Ab
jetzt würde ich mich mit Selbstbewußtsein der Oscuro stellen, in ihr leben, wenn
es möglich war. Schluß mit Angst, hadern mit einem Schicksal, das ich nicht
beeinflussen konnte. Denn wer hatte es gesagt: ob ich den Weg, den das Schicksal
vorschlägt gehe oder nicht, liegt immer noch nur bei mir selber. Und das
Schicksal hatte – alles in allem – gute Vorschläge unterbreitet. Also konnte ich
doch besser mit als gegen die Strömung schwimmen. Und wo
ich schon dabei war, konnte ich auch gleich testen, wie sicher ich mich in
meiner neuen Rolle fühlte. Entschlossen stand ich auf, stellte die Tasse zurück
und ging zu Johns Raum. Die Tür war einen Spalt offen und einen Moment zögerte
ich. Dann gab ich mir einen Ruck und trat leise ohne anzuklopfen ein.
Er war
noch im Bett und schlief. Leise ging ich durch die Dunkelheit zu ihm und setzte
mich auf die Bettkante. Durch die Bewegung wachte er auf. Vom Schlaf noch leicht
getrübte blaue Augen schauten mich an. Er trug kein Hemd und die Decke war genug
verrutscht, um den größten Teil seines Oberkörpers freizulegen. Ich lächelte ihn
an und wartete auf irgend eine Art von Reaktion. Die kam in der Form, daß er ein
wenig zur Seite rückte und die Decke ein wenig zurück schlug. Das war genug! Ich
ließ mein Shirt an, aber kletterte ins Bett und ließ mich neben ihm nieder. Ich
legte mich mit dem Kopf an seine Brust. Die Laken hielten noch seine Körperwärme
gespeichert und gaben sie nun an mich weiter. Einige Zeit lag ich so an ihn
gekuschelt. Wir bewegten uns nicht, nur seine Hand spielte abwesend mit einer
meiner Locken. Ich sprach leise, ohne meinen Blick dabei zu ihm zu drehen. „Bist
du noch immer mit deinem Weg zufrieden, John?“ Er antwortete nicht gleich, doch
er hatte die Frage verstanden. „Meinen
Weg habe ich hier gefunden. Ich fühle mich mittlerweile als Teil der
Gemeinschaft. Aber ich habe meinen Platz noch nicht gefunden, falls du
verstehst, was sich meine, den Unterschied erkennst. Es ist noch nicht soweit,
aber irgendwann muß ich eine sinnvolle Beschäftigung finden. Immer nur glücklich
zu sein oder nur zu lernen ist vermutlich auf Dauer nicht genug. Aber im Moment
genieße ich einfach nur.“ Er
machte eine Pause. Nach einiger Zeit fuhr er fort: „Weißt du, ich glaube, ich
bin ähnlich aufgewachsen, wie du. Bei uns wurde niemals über Gefühle gesprochen,
das hätte von Schwäche gezeugt. Mein Vater war auch ein Polizist, vielleicht bin
ich deshalb auch einer geworden. Jedenfalls habe ich früh gelernt, nichts zu
offenbaren. Eine extreme Form von ‚Jungen weinen nicht’. Das Meiste im Leben
findet unter der Oberfläche statt. Und ich weiß heute, daß es – aus anderen
Gründen – bei dir genauso ist, LaVerne, vermutlich durch den frühen Verlust
deiner Eltern. Vielleicht hat mich das von Anfang an an dir angezogen, diese
Schwäche, die wir miteinander teilen, die Schwäche, keine Schwäche zu zeigen.
Und ausgerechnet Typen wie wir müssen auf diese gefühlsbetonten Wesen treffen.
Es ist doch fast schon komisch, was?“ Ich
grinste still vor mich hin. Er hatte irgendwo den Nagel auf den Kopf getroffen.
Früher wäre mir selbst das Eingeständnis dieser Tatsache schwer gefallen. „Ach
John, wir scheinen aber doch lernfähig zu sein. Mit dem Reden klappte es
vielleicht noch nicht so ganz – liegt wohl an unseren Lehrern – aber das
Handeln, das kriegen wir wohl langsam in den Griff.“ John
setzte sich leicht auf und ich rückte nach, um in seiner Schulter liegen bleiben
zu können. „Ich weiß jetzt,“ meinte er leise, „daß das Handeln viel wichtiger
ist, als das darüber nachdenken. Und genau das teste ich jeden Tag etwas mehr
aus. Ich suche nach der Grenze. Die alten haben sie uns genommen und langsam
höre ich auf, sie zu vermissen. Und weißt du was, LaVerne, ich fange an, es zu
genießen, dieses Leben, die Freiheiten und sogar die Gefühle, die damit kommen.
Und an manchen Tagen habe ich Angst, aufzuwachen und festzustellen, daß alles
vielleicht doch nur ein Traum war. – Macht mich das jetzt zu einem schlechteren
Menschen?“ Was für eine Frage. Dann wären wir beide schlechter, aber so war es
nicht. „Im Gegenteil, John. Ich schätze, es macht uns erst zu vollständigen
Menschen, denn ich fürchte, wir hatten ‚vorher’ einige Defizite, beide von uns.
Ich für meinen Teil habe nur vor mich hin gedümpelt, jetzt auf einmal gibt es zu
viel Leben in mir. Das muß erst mal einsortiert werden. Und ich finde, wir
machen uns da ganz gut. Äh John, ich wollte dich eigentlich was fragen …“
„Eigentlich? Tu’s doch einfach.“ „Na ja,
vielleicht ’ne komische Frage: Wie ist das mit den Zähnen. Wie fühlt es sich an,
wenn du sie verwendest, oder sie …“ ich wußte nicht, wie ich es richtig sagen
sollte. Oder ob er überhaupt das Wissen hatte, meine Frage zu beantworten. Doch
er vervollständigte den Satz „… oder sie in meine Haut dringen! Oh, ich habe gar
nicht daran gedacht, daß du es ja gar nicht wissen kannst. Es ist
so unglaublich: wie ein Rausch! Man könnte es ein wenig damit vergleichen,
obwohl einige Dinge anders sind, man ist zum Beispiel nicht desorientiert, kein
hilfloses Suchen nach etwas Besonderem. Es ist nur dieser Moment absoluten ‚sich
selbst Verlierens’. Ohne Nebenwirkungen, sehr erotisch, erregend. Es gibt keinen
Schmerz, wenn sie die Haut durchbohren, eher wie ein fester aber zugleich
zärtlicher Biß. Und es steigert das körperliche Verlangen, es ergänzt die
körperliche Erregung, macht sie irgendwie erst richtig komplett, länger und viel
intensiver. Erstaunlicherweise ist dabei egal, ob ich beiße oder empfange. Und
das Blut, LaVerne, so schwarz, warm und lebendig. Es ist nicht süß, trotzdem
schmeckt es unglaublich gut, bei jedem Menschen etwas anders. Und man trinkt
nicht viel, aber es gibt Kraft! Danach fühlst du dich jünger, stärker, einfach
besser. Und ein klein wenig ist man dann Teil des anderen.
Allerdings habe ich fast nur Erfahrungen gesammelt, bei Mitgliedern der Oscuro,
bei den normalen Menschen noch nicht so sehr. Gabriel hat mir geraten, die Zähne
vorerst vorwiegend bei der Gemeinschaft des Blutes einzusetzen, bis ich mehr
Kontrolle habe, und niemanden versehentlich ernsthaft verletzte. Und daran halte
ich mich, sozusagen.“ Ich hatte ihm fasziniert gelauscht. Er klang verträumt,
fast abwesend und sprach mit leiser, ruhiger Stimme, aus der fast Ehrfurcht
klang. Irgendwann würde ich es auch wissen. Eine Weile schwiegen wir uns
gemütlich an. „Jetzt
hätte ich aber auch mal eine Frage,“ begann er nach einiger Zeit. „Kein Problem.
Raus damit.“ Ich konnte ihn förmlich grinsen hören: „Meine Güte, nach über sechs
Monaten führen wir ein normales Gespräch, und wo? Im Bett. Und im Haus eines
‚Bluttrinkers’, um nicht das Wort Vampir zu benutzen.“ Ja, das war wirklich hart
an der Grenze zur Komik. „Aber was ich fragen wollte: Carré hat mir die
Zusammenhänge mit den Gefährten erklärt. Sie war immer so offen – „ er ließ
seine Stimme fast verträumt ausklingen. Dann „ – jedenfalls, sie sagte, man
sucht keinen Gefährten, sondern sie finden einander, die Seelen erkenne sich und
es ist viel mehr als körperliche Zuneigung. Sie hat versucht, es mir zu
erklären. Aber irgendwie sind wir wohl vom Thema abgekommen. Kannst du mir
sagen, was der Unterschied ist. Woher weißt du, daß Gabriel dein Gefährte ist?“
Irgendwie klang das seltsam aus seinem Mund. Auf gar keinen Fall war dort ein
Vorwurf. Eher ein wenig von dem ‚Neid’, den ich gefühlt hatte, als er von den
Zähnen sprach. Aber es klang so selbstverständlich und tüchtig endgültig. Und
natürlich war die Antwort schwer, ich hatte es selber kaum verstanden. Ich
erzählte ihm also von dem Gefühl, komplett zu sein, zu versinken und sich
unendlich geborgen und verstanden und eingehüllt zu fühlen. Er hörte zu und
seufzte. „Und so haben wir beide dann noch etwas, was wir suchen. Wieder ein
Ziel, auf unserem – zugegeben – ungewöhnlichen Weg.“ So war es, er hatte Recht. Nach
einiger Zeit unterbrach er meine Gedanken: „Süße! Du magst ein echtes Mitglied
der Oscuro sein, so wie ich ja wohl auch, aber ich glaube nicht, daß meine
‚Freigabe’ für dich gilt. Wenn du nicht gleich aus meinem Bett verschwindest
und ich eine kalte Dusche nehme, könnten wir zwei uns echte Probleme einfangen.
Schwierigkeiten und Ärger, gegen die die vorhandenen klein aussehen könnten,
fürchte ich.“ Grinsend stand ich auf, drückte ihm provozierend noch einen Kuß
auf, daß er die blauen Augen weit aufriß und wich dann geschickt seiner
zugreifenden Hand aus, als ich immer noch lachend durch das Gästezimmer in mein
Zimmer floh. Sein „na warte, irgendwann erwische ich dich noch…“ ignorierte ich
geflissentlich. Irgendwo war das Leben doch herrlich, verrückt, gefährlich,
sogar ironisch und aufregend und immer wieder neu spannend… In
bester Laune speisten wir abends mit Simeon und Arpad. Abwechselnd erzählten wir
von unseren Erlebnissen, dabei ließen wir kaum Details aus, denn zum Einen
hatten Kolya und Gabriel uns keine entsprechende Anweisungen erteilt und zum
Anderen waren die beiden Zirkel ja offenbar tief verflochten und befreundet. Die
beiden Zuhörer hatten immer wieder zwischendurch viele Fragen und schimpften
tüchtig auf Scuro Paridus. Später wechselten wir in ein großes Billardzimmer.
Und mit genau dieser Beschäftigung verbrachten wir dann auch den Rest der Nacht. Am
nächsten Abend war Simeon alleine im Speisesaal, als ich ohne John dort
auftauchte. Nach einem ausgiebigen ‚Nacht-Frühstück’ lachte er mich an und
meinte: „was meinst du, nach der Zeit in den Höhlen wäre etwas frische Luft doch
bestimmt nicht schlecht. Ich lade dich ein, zu einem Spaziergang am Atlantik bei
Mondschein! Ein unvergeßliches Erlebnis. Hast du Lust?“ Warum nicht, ich konnte
die Zeit hier genauso gut genießen. Begeistert sagte ich zu. Ich zog mich dick
an – immerhin war hier wieder Winter – und suchte nach einem warmen Mantel. Ich
traf Simeon im Eingangsbereich, ohne John gesehen zu haben. Doch mittlerweile
hatte sich meine Scheu fast gelegt, mit Leuten der Oscuro alleine zu verkehren.
Zwei große, kräftig aussehende Mitglieder der Nadiesda Thurus waren bei Simeon.
„Ich habe versprochen, auf euch aufzupassen. Zwar ist die Gefahr hier gering,
aber ich riskiere nichts. Bereit?“ Sein
Haus war eine knappe Viertelsunde Fußweg vom Meer entfernt. Es ging durch eine
Wiese, eine wilde Mangrovenlandschaft und dann lag der Strand vor uns. Der
Atlantik donnerte kraftvoll mit hohen Wellen und ein Fast-Vollmond beleuchtete
die Szene nahezu taghell in einem silbernen Licht. Es war zu kalt, um die Schuhe
auszuziehen, aber wir gingen eine ganze Strecke direkt am Wasser entlang. Unsere
Aufpasser hielten Abstand und wir schienen fast alleine auf der Welt.
Einige
Zeit später kehrten wir um und als wir einige große Wurzeln in der Nähe des
Strandes passierten, setze ich mich zu Simeon, als er mich neben sich zog. Ich
kam mir vor wie in einem Märchen. Wir schauten aufs Wasser raus und gegen den
Lärm der Wellen fragte er: „Was werdet ihr tun? Du, Gabriel, der Corvus-Zirkel?
So kann es nicht weiter gehen.“ Ich schüttelte den Kopf. „Ich weiß es nicht.
Wenn Gabriel es weiß, hat er mir nichts gesagt. Ich weiß nur, daß er nicht für
länger weglaufen wird.“ Simeon nickte. „Das ist klar! Viele wundern sich jetzt
schon, daß er so lange still hält. Aber ich kenne dich jetzt und auch die
größeren Zusammenhänge. Jetzt sehe ich zumindest seine Prioritäten. Har er schon
mal mit dir über die alte Prophezeiung gesprochen?“ Ein
seltsam abrupter Themenwechsel. Ich überlegte. Irgendwo hatte ich so was schon
gehört. Nur wo? Sicherlich nicht von Gabriel. Aber mir fiel nichts dazu ein.
Also schüttelte ich stumm den Kopf. Obwohl er auf das Wasser schaute, schien er
es gesehen zu haben, denn er antwortete: „Eine alte Überlieferung, ein kleiner
Teil unserer Geschichte, oder vielleicht auch eine Erklärung über die Entstehung
der Oscuro. Sie spricht davon, daß irgendwann die Blutgemeinschaft gegeneinander
kämpfen wird. Der Inhalt ist nicht klar, wie sich das wohl für Prophezeiungen
oder alte Überlieferungen gehört. Es scheint, daß es ein Ende geben wird. Wie
das aussieht, oder wie es geschieht, ist kryptisch geschrieben. Wir sind zwölf
Teile, aber der dreizehnte Teil wird – laut Text – alles ändern. Es wird
vermutet, daß ein neuer Zirkel entsteht. Aber selbst der Rat der Alten weiß es
nicht. Vielleicht nähert sich ja dieser endgültige Kampf. Vielleicht ist die
Prophezeiung aber auch anders gemeint oder hat nichts damit zu tun. Doch Blut
wurde schon vergossen, einer der zwölf Kodex wurde gebrochen, vermutlich
mehrere. Mag es vielleicht nur ein Feuer sein, so könnte es aber auch eine
Katharsis ankündigen.“ Obgleich er nicht laut gesprochen hatte, waren seine
Worte doch klar zu mir durchgedrungen. Nur der Inhalt war mir stellenweise
rätselhaft. „Was sind das für Kodizes, von denen du sprichst? Und was ist das
ultimative Ergebnis laut dieser Prophezeiung?“ „Nun,
die zwölf Regeln sind einfach, jeder von uns kennt sie und sollte sie befolgen,
wenn er nicht Probleme haben will mit dem Fluch des Blutes. Davon hast du
gehört?“ Dieses mal konnte ich wenigstens nicken. „Ja, so was wie eure Polizei.“
„Genau, Imprecatio Curor! Sie führen die Strafen aus, die der Rat der Alten oder
eine Zirkel-Mehrheit sie beschließen. Du solltest eigentlich die Regeln kennen,
denn selbst die Nadiesda Thurus muß sich daran halten. Es sind ganz simple,
logische Anweisungen oder auch Leitsätze, nicht wirklich schwer zu befolgen –
zumindest von den meisten:
-
Ehre Dein Blut
- Du
bist Licht in der Dunkelheit
-
Gib Liebe mit Ehre, danke für Liebe mit Würde und folge dem Herzen
- Du
teilst Dein Blut mit Deinen Brüdern
-
Säe Vertrauen und ernte Respekt
- In
der Dunkelheit bleibt die Wahrheit verborgen
-
Nimm nur, was du auch geben willst
-
Macht ist kein Privileg, sondern eine Verpflichtung
-
Ein Leben für ein Leben
-
Wandle nicht Unschuld in Schuld
-
Zahle deine Schuld in Blut
-
Drei sind Wissen, Fünf sind Tod Das war
ein tiefsinniges Gebilde. Sicher nicht mit den Geboten zu verwechseln aber doch
spiegelten sie eine Moral und ein gutes Gefühl für Gerechtigkeit wider. Simeon
ergänzte noch: „Nicht alles ist wörtlich zu nehmen. Wenn wir Blut ehren sollen,
kann das viel bedeuten. Es ist unsere Nahrung, unser Lebenselixier, ohne das wir
sterben würden. Aber es ist auch das, was uns untereinander verbindet. Also
sollen wir einander ehren. Und so geht es weiter, durch alle 12 Passagen des
Kodex. Oft sind es mehrere Bedeutungen. Andere, wie der letzte Teil sind simpel.
Drei sind der Rat der Alten, die Fünf, die den Tod verkörpern sind der Fluch des
Blutes.
Schwerer ist die Sache mit der Prophezeiung. Zuhause habe ich die genauen Worte,
sogar in mehreren Sprachen. Ich werde sie dir später zeigen. Mehr aus
informativen Gründen und weil garantiert in der nächsten Zeit öfter darüber
gesprochen wird. Aber bedenke, es gibt bisher so gut wie keinen Anhaltspunkt,
daß sie sich auf unsere Situation bezieht. Aber es ist zumindest eine
interessante Lektüre, Gabriel hätte sie euch längst zeigen sollen. Aber dir ist
kalt, komm, gehen wir zurück.“ –
Wirklich, der Wind hatte begonnen, durch die Kleidung zu ziehen. Fürsorglich
legte Simeon seinen Arm um mich und sofort wurde es besser. Im Haus zog ich mich
um und kehrte dann schnurstracks zurück in die Bibliothek, wo Simeon schon
begonnen hatte, nach dem besagten Schriftstück zu suchen. Er hatte diverse alte
Bücher auf einem herrlichen alten barocken Sekretär ausgebreitet und war leise
auf französisch am Fluchen. Als ich zu ihm trat, grinste er etwas gequält: „Ich
wollte schon vor Jahrzehnten alles ordnen. Irgendwo hier ist das Pergament. Ich
finde es noch. Etwas Geduld. Besorgst du uns was zu trinken?“ Ich
ließ ihn wühlen, ging in den Speisesaal und kehrte mit Gläsern und Wein zurück.
Mittlerweile waren Arpad und John auf der Suche nach uns auch eingetroffen. Wir
drei gönnten uns einen Wein, während Simeon leicht entnervt weiter suchte.
Plötzlich dann: „Ha! Na also! Da ist es. Paßt auf, ich lese es vor. Ihr müßt
wissen, es war ursprünglich in einer mittlerweile toten Sprache geschrieben,
doch irgendwann hat sie jemand wohl in sehr viele verschiedene Sprachen
übersetzt, lange vor unserer Zeit aber doch überall rhythmisch und inhaltlich
fast gleichlautend“ Und er begann langsam und mit viel Betonung vorzulesen:
Wir
saßen und ließen die Worte schweigend ausklingen. Davon abgesehen, daß ich
beileibe nicht alles verstanden hatte, war die Prophezeiung zumindest sehr
beeindruckend. John sprach als Erster: „Wahnsinn. Unglaublich strukturiert, wenn
ich das richtig gehört habe, immer mit der Dreizehn beginnend, nur drei Mal
werden die zehn Zirkel vorweg gestellt. War das das Lamm aus der Offenbarung des
Johannes?“ Simeon
nickte, während er das Pergament zurück in eines der Bücher legte. „Genau,. Ihr
habt ja bemerkt, es gibt zwölf ‚Vierer-Strophen’ insgesamt. Im fünften Vers geht
es darum, daß das Lamm sich mit Blut das Recht erkauft hat, die berühmten sieben
Siegel zu öffnen. Im Vers darauf wird dann erklärt, daß wir in der Sonne sterben
und Silber unser Tod sei. Die ersten zwei Abschnitte erwähnen die Umwandlung,
genauer, die zwei Teile davon, die heute ja immer noch so genannt werden. Der
dritte Vers ist leider sehr klar: Die Zehn, das sind die Zirkel, vergießen Blut.
Das war es ja, wieso ich überhaupt auf die Prophezeiung zu sprechen kam, weil
bereits Blut vergossen wurde. Die Drei sind der Rat der Alten, die noch nicht
wieder vollständig sind. Die Fünf sind der ‚Fluch des Blutes’, aber wie sie dem
Licht verfallen? Tja. Was ist eine zweite Wandlung? Eigentlich ist der Text
trotz dieser Rätsel erstaunlich klar für sein Alter, trotzdem verstehen wir ihn
nicht. Wie mit Nostradamus vielleicht, erst hinterher kann man deutlich die
Vorhersagen erkennen und zuordnen. Andererseits hat sich unsere interne Struktur
mit den zwölf Teilen seit Jahrhunderten nicht verändert und
‚Meinungsverschiedenheiten’ gab es schon immer. Wie gesagt, sehr interessant
und würdig einer näheren Interpretation aber nicht wirklich informativ oder
gerade hilfreich.“ Wir
unterhielten uns danach noch eine lange Weile über den alten Text. Und als ich
schon lange im Bett lag, gingen mir einzelne Passagen noch immer durch den Kopf.
Es gab noch so viel zu erfahren, über diese Gemeinschaft. Kein Wunder, daß die
so lange lebten, in einer normalen Lebensspanne war das ja gar nicht zu
schaffen. Mir gingen noch alle möglichen Deutungen durch den Kopf – klar, ich
löste das Rätsel, das andere in Hunderten von Jahren nicht entschlüsselt hatten
– doch der Schlaf war irgendwann doch stärker. Doch
mitten in der Nacht – nein, am Tage – schreckte ich hoch. Es war kein Alptraum,
aber eine Erinnerung, ein Echo von Schmerz oder Wut oder … irgendwie ein fremdes
Gefühl, das mich schaudern ließ. Und nur sehr langsam wieder verklang, so daß
ich mich danach eine ganze Weile im Bett wälzte, bis ich endlich wieder
eindämmerte. Und als es dann Zeit zum Aufstehen war, fühlte ich mich müde und
sehr erschöpft. Und unser gemeinsames Essen verlief auch sehr schweigsam. Ich
stellte fest, daß mir die Trainingsabende mit Kolya fehlten. Als ich Simeon
fragte, bestätigte er, daß es auch hier Sporträume gäbe. So fand ich mich dort
alleine wieder, während die Männer zum Billard zurückkehrten, Schach
spielten oder sich anderweitig beschäftigten. Die
nächsten zwei Tage vergingen so. Ich schlief extrem schlecht, ohne einen
ersichtlichen Grund. Ohne einen Trainer oder Sparringspartner machte der Sport
nicht viel Spaß und meine Übungen waren dementsprechend auch etwas planlos. Aber
es lenkte ab. Wenn es gar nicht mehr klappte, leistete ich den Männern
Gesellschaft. Am
Freitag kam Arpad zu mir in den Trainingsraum. Ich unterbrach heil-froh einige
Dehnübungen und setzte mich neben ihn auf die Bank. Er begann: „Ich habe vorhin
mit Kolya gesprochen. Ich habe schon bemerkt, daß du irgendwie Gabriels Probleme
spürst und mit ihm teilst. Aber es sollte bald besser werden, sie kommen Sonntag
oder Montag und bis dahin wird alles schon wieder anders aussehen.“ Ich mußte
ihn angeschaut haben wie einen Marsmenschen. Denn er lachte wirklich hellauf. Es
dauerte einige Zeit, bis er wieder soweit war, vernünftige Sätze von sich zu
geben. „Du siehst aus, als hätte ich Griechisch mit dir gesprochen! Na komm,
LaVerne. Seit Dienstag bist du wie verwandelt, still und erschöpft. Du trägst
Gabriels Sorgen mit, du mußt erst noch lernen, sie zu blockieren. Wußtest du das
nicht. Oh, klar, ich sehe, dein Gesicht spricht Bände. Griechisch! Hast du dich
denn nicht über deine Stimmung gewundert? Montag Nacht war doch die Wahl zum Rat
der Alten.“ Ich
hatte nur gedacht, daß ich schlecht schlafe und den Termin hatte ich nicht
einmal gewußt. Aber wenn ich Gabriels Sorgen auffing in meinen Träumen…? „Was
ist bei der Wahl passiert?“ Schlagartig wurde der Kaj wieder ernst: „Eine echte
Katastrophe, wenn du mich – oder noch einige andere – fragst. Es ist ja nicht
wirklich eine Wahl, eher eine Art auslosen und dieses Mal fiel das Los –
erschreckender Weise – auf ein Mitglied des Anguis Zirkel. Zwar steht ein Scuro
über den Zirkeln, theoretisch, aber gerade bei dieser Gruppe glaubt das keiner
wirklich. Für fast alle anderen Zirkel hat der Rat dadurch stark an
Glaubwürdigkeit verloren. Einige haben versucht, die Wahl neu zu starten, aber
das geht erst wieder Ende des Jahres. Nun hat sich das Gleichgewicht noch weiter
verschoben und Freund und Feind sind noch weiter auseinander gedriftet. Aber
Gabriel … äh … ist ein starker Führer, das Treffen seines Zirkels ist nicht fern
und er wird von fast allen Kadern unterstützt. Sollte es also wirklich zu dem
endgültigen Zerwürfnis kommen, wäre er nicht alleine. Doch
unser Blut schreit, daß wir einander nicht verletzen sollen. Ich denke, in den
nächsten Monaten wird viel geschehen. Nur leider bedeutet das für dich, du mußt
deinen Weg schneller als andere gehen. Gabriel ist in dir, du mußt ihm helfen,
ihm Kraft geben aber auch deine eigene Kraft finden und bündeln. Wenn ihr zu
Scuro Tejat reist, laß dich von ihm in der alten Magie unterrichten. Er ist ein
Meister. Gabriel hat euch sicher erklärt, es hat nicht viel mit Zauberei zu tun,
aber es schlummern doch noch ungeahnte Fähigkeiten in dir – und John.
Es war
gut, daß ich zu dir gekommen bin, eigentlich, um dir zu berichten, was am
Wochenende passiert ist. Schade, daß du viele Dinge – wie die Verbindung – eher
zufällig oder auf unangenehme Weise lernen mußt. Zumindest weißt du jetzt, warum
du dich so fühlst – und dein Blick war es wirklich wert….“ Ich
mußte trotz des Inhalts der Unterhaltung mit lachen. Es war einfach ansteckend.
Und heute Nacht – Tag – würde ich bestimmt besser schlafen. „Danke Arpad. Das
war gut, daß du eine Ignorantin aufgeklärt hast. Ich fühle mich jedenfalls schon
besser, wenn auch die Neuigkeiten nicht gut sind.“ „Wer
weiß. Seit wir über diese Prophezeiung gesprochen haben, geht sie mir nicht mehr
aus dem Kopf. Niemand weiß so ganz genau, was das Ziel – nein, eher der Ausgang
– dieser Worte sind. Wird unsere Gemeinschaft – die Oscuro selber, aufhören zu
existieren, werden wir sterben? So klingt es nicht unbedingt. Aber es gibt
Veränderungen. Trotzdem! Gerade jetzt, wo der Rat der Alten nutzlos scheint,
läuft mir ein Schauer über den Rücken, wenn ich versuche, weiter zu denken.
Wogegen muß oder soll ich meinen Kader verteidigen? Aber genug davon. Komm, laß
uns ein Billardspiel wagen.“ Wie ich
es vermutet hatte, schlief ich nach dieser Unterhaltung ruhiger, besser. Und
nahm mir vor, sowohl die Prophezeiung nochmals sorgfältig zu lesen, als auch
möglichst viel von Scuro Tejat zu lernen. Die Macht des Blutes
Den
festgesetzten Einbrecher hatten sie befragt, es war einzig und alleine seine
Aufgabe gewesen, herauszufinden, wo ich mich aufhielt. Dazu sollte er jedes
Mittel aufwenden, das ihm nötig schien. Und er hatte seinen Auftrag von Dezmont
Darian erhalten, was eigentlich auch alle schon gewußt hatten. Man hatte ihn
nach der Befragung zu seinen Leuten zurück geschickt mit der Information, daß
Gabriel zurück war, ohne mich und ich mich an einem sicheren Ort befand. Warum
der Fremde mich finden sollte, war ihm wohl nicht gesagt worden. Kolya und
Gabriel hatten sich mehrfach in der Öffentlichkeit gezeigt, damit Dez Spione
überzeugt waren und sich dann unauffällig abgesetzt. Das war die ganze
Geschichte. Warum Dezmont Darian mich nun suchte, war ebenso unklar, wie seine
nächsten Schritte. Daß die Indiskretion von Scuro Paridus ihn erst auf mich
aufmerksam gemacht hatte, stand jedoch außer Frage. Aber was wollte er von mir?
Gabriel
verbrachte den nächsten Tag in meinen Räumen. Er erzählte einige weitere Details
und ich berichtete von meinen ‚Alpträumen’. Er nickte: „Das habe ich befürchtet,
meine Rose, hatte aber nicht die Zeit, dir das zu erklären. Ich hatte gehofft,
daß du noch nicht so empfänglich bist. Aber Arpad hat Recht, Tejat kann dir da
helfen, er beherrscht noch die dunklen Mächte. Solange du nicht abblocken
kannst, wirst du immer wieder solche ‚Blitze’ haben. Aber nicht nur schlechte!“ Wir
redeten noch lange und obgleich sich ein Teil von mir immer wieder von seiner
Gegenwart ablenken ließ, blieb es doch beim Reden. Heute wollte ich nur erst
einmal seine Gegenwart wieder genießen, seine Wärme und ihm zuhören. Für mehr
war später genug Zeit. Mit dieser Vorfreude tröstete ich den enttäuschten Teil
von mir, als der Geist das Austauschen von Gedanken genoß. Immerhin würden wir
jetzt einen Monat wieder zusammen verbringen. Da gab es genug Gelegenheiten und
ich mußte Gabriels Gesprächigkeit unbedingt ausnutzen. So redeten wir, eng
aneinander gekuschelt. Und am
nächsten Tag verabschiedeten wir uns herzlich von Simeon und Arpad. Dankten
ihnen für die Gastfreundschaft und versprachen, auch hier wieder einmal vorbei
zu schauen. Dann ging es ins Flugzeug und zurück in die Heimat. Scuro
Tejat wohnte eine knappe Tagesreise von meiner Stadt entfernt. Wir trafen an
einem Mittwoch Abend Mitte Februar dort ein. Eine abgedunkelte Limousine brachte
uns aufs Land, wieder zu einem einsamen Anwesen, das natürlich eher an ein
Schloß erinnerte. Eine Angestellte begrüßte uns in der Halle. Den größten Teil
dieses Raumes nahm eine riesige Treppe aus Mahagoni ein, mit Blick auf eine
Balustrade, die den ersten Stock umlief. Alte Teppiche dämpften unsere
Schritte, als man uns in ein gemütliches Jagdzimmer führte. Komplett mit
Kamin, Bärenfellen, ausgestopften Tieren und alten Waffen an den Wänden.
Es gab keine Fenster, nur eine Art von Schießscharten, die mit blauem Samt
verdunkelt waren. Eine riesige Standuhr schlug gerade elf, als unser Gastgeber
den Raum betrat. Er
hatte sich nicht verändert, noch immer dürr wie ein Skelett, groß und fast
haarlos. Auch dieses Mal kam er zielsicher auf uns zu obwohl er uns nicht sehen
konnte. Gabriel senkte den Kopf aber Tejat griff nach ihm und zog ihn in eine
leichte Umarmung: „Wir
sind nicht im Rat, mein Bruder! Hier sind wir Freunde und so müssen wir einander
behandeln. Schön, daß ihr einem alten Mann etwas Gesellschaft leisten wollt.“
Gabriel erwiderte die Umarmung eher vorsichtig. „Wir danken, daß du uns
aufnimmst.“ Der Scuro lächelte und schob Gabriel ein wenig von sich ab. Hätte er
Augen gehabt, hätte es so ausgesehen, als wolle er ihn ansehen. „Dann freuen wir
uns eben alle, ungeachtet der Umstände. Dies sind seltsame Zeiten aber genau
jetzt sollten wir Freunde von Feinden unterscheiden können, es ist Zeit, sich
offen zu bekenne.“ Dann
ging er zu Kolya. „Wenn du zu fest drückst, wirst du morgen eine riesige Warze
auf deiner Nase finden, du Ungetüm. Herzlich willkommen, mein Freund.“ Und Kolya
hielt sich derbe zurück, diese Drohung mußte ich mir unbedingt merken. Auch John
wurde mit einer Umarmung begrüßt. Dann trat er zu mir und strecke die Arme aus.
„LaVerne, du bist gewachsen, seit wir uns das letzte Mal getroffen haben. Ich
freue mich, daß wir uns nun besser kennen lernen können. Sei willkommen.“ Zu
mancher Zeit klangen die Worte innerhalb der Gemeinschaft sehr ‚förmlich’, als
ob es bestimmte Worte zu bestimmten Gelegenheiten zu sagen gab. Es klang
trotzdem nicht gekünstelt, nie bisher, und es spiegelte deutlich die Worte des
Kodex wider, wo von Vertrauen und Ehre gegenüber den Brüdern gesprochen wurde.
Ich wünschte, ich könnte angemessen antworten, aber ich war irgendwie sicher,
auch eine Antwort aus dem Herzen wurde akzeptiert. Also
umarmte ich ihn ebenfalls vorsichtig – wer will schon eine Warze auf der Nase.
Er fühlte sich noch immer an, wie sehr altes, zerbrechliches Pergament. „Danke
Scuro Tejat. Ja, ich habe einiges gelernt – oder verstanden. Aber es gibt noch
so viel mehr, was ich können oder wissen möchte.“ Als er los ließ, nickte er:
„Da bist du hier genau richtig.“ „Ihr
müßt erschöpft sein, von der langen Reise, besonders ihr, Gabriel, Kolya? Daher
werden wir jegliche Plauderstündchen auf morgen vertagen. Da ihr länger bleiben
werdet, habe ich einen Flügel des Hauses vorbereiten lassen. Gabriel, deine
Leute sind schon hier und haben sich auch schon einigermaßen eingerichtet. Für
euch steht ein Essen bereit, bewegt euch hier, als wäre es euer Zuhause. Ihr
kennt ja den Weg. Und morgen werden wir alle zusammen hier unten speisen. Doch
nun, ab mit euch!“ Und er begleitete seine Worte mit einer bestimmten aber
freundlichen Geste in Richtung Tür. Wir
stiegen die Stufen hinauf und im ersten Stock ging es nach links. Eine Tür
führte in einen langen Gang, von dem jede Menge Räume abzweigten. Einer von
Gabriels Leibwächtern begegnete uns im Gang und brachte uns in einen großen
Zimmer. Hier warteten Platten mit verschiedenen Fleisch- und Fischsorten,
Gemüse, Beilagen, eine vollständige Sammlung von Köstlichkeiten. Ich erkannte
drei der Bodyguards aus dem Satyr wieder, zwei kannte ich nicht. Wir beluden
unsere Teller und leisteten ihnen an dem großen Tisch Gesellschaft Die
Räume links waren für die Mitglieder der Nadiesda Thurus, rechts des Ganges –
ohne Fenster – waren für uns Oscuro reserviert. Das ganze Haus erschien dunkel
und sehr still, die Mahagoni-Möblierung trug ihren Teil dazu bei. Trotzdem
wirkte das Haus nicht bedrohlich oder ungemütlich. In meinem Zimmer fand ich
dann einen riesigen Berg Post, meinen Computer und einige meiner Lieblings-CD’s.
Da hatte sich jemand wirklich viel Mühe gegeben. So
verbrachte ich dann den Rest der Nacht und vermutlich einen großen Teil des
Tages mit Sortieren von Schriftstücken, aufsetzen von Antworten und ähnlichen
‚normalen’ Dingen. Mir war gar nicht aufgefallen, daß so viele Dinge nicht
erledigt waren; plötzlich kam mir mein altes Leben so unendlich weit weg vor.
Als ich endlich ins Bett fiel, war noch nicht mal die Hälfte des Schreibkrams
geschafft, von den unwichtigeren Dingen gar nicht zu reden. Und schon jetzt tat
mir der Rücken weh. – Ich
wurde von einem Klopfen geweckt. John steckte den Kopf durch die Tür und meinte:
„In einer halben Stunde essen wir mit dem Scuro. Und wir sollen ordentlich
angezogen und pünktlich sein. Also hoch mit dir du Langschläfer.“
Langschläfer! Grr… Trotzdem schaffte ich es so grade noch in der vorgegebenen
Zeit, inklusive Duschen. Als ich aus dem Zimmer kam, waren die anderen drei
bereits im Hauptraum und warteten. Zusammen gingen wir nach unten und wurden in
einen Speisesaal geführt. Tejat war schon auf seinem Platz und wir wurden um ihn
herum verteilt. Beim
Essen wurde nicht viel gesprochen, aber als der Portwein verteilt war, lehnte
sich Tejat zurück und meinte: „Es ist lange her, daß ich Besucher in meinem Haus
hatte. Vielleicht war das falsch, aber die Ereignisse der letzten Zeit waren
selbst für uns unerwartet. Gabriel, Kolya, ihr habt die Auswahl von Scuro Fenian
mitverfolgt und LaVerne und John sicher berichtet. Möglicherweise steckt ja ein
Sinn hinter seiner Berufung, aber wir erkennen ihn bisher nicht. Aber sehr
vielen ist klar, daß der Rat der Alten jetzt ein anderer ist. Nicht besser!
Ich
fürchte, daß sehr dunkle Zeiten auf uns zukommen. Es scheint vielleicht an der
Zeit, klar Stellung zu beziehen, wie ich ja schon gestern sagte. Ich fürchte
auch, daß wir eine Art von Inventur machen müssen. Euer Zirkel ist der nächste,
der sein Jahresfest abhält. Wer weiß, es könnte sein, daß der Blutschwur auf
einmal nicht nur ein einfaches Ritual ist, sondern viel mehr.
Jedenfalls werden wir vor dem Treffen einige Dinge besprechen. Mein Vorschlag
lautet, daß ihr danach vielleicht das Congregat besucht. Sie sollten von den
Veränderungen erfahren und außerdem sind Seraphina und ich der Meinung, daß ihr
mit Nathaniel in Kontakt treten solltet. Da könnte eventuell auch das Congregat
als Vermittler dienen. Und Gabriel, du weißt, daß Mikail die besten technischen
und psychologischen Voraussetzungen hat, um LaVerne genauer zu untersuchen, die
Konsequenzen zu ergründen. Denn auch das kann nicht ewig warten.“ Gebannt
schauten John und ich von einem zum anderen. Gabriels versteinertes Gesicht
sprach schon Bände. Kurz dachte ich an die Unterhaltung auf einer steinernen
Bank im Garten eines Lehmhauses in Australien: dort hatte man uns zugesagt, daß
die zwei offener sein wollten, uns einweihen in Vorgänge. Doch jetzt schon
wieder war die Hälfte der Worte des Scuro ein Buch mit den berühmten sieben
Siegeln. Und Gabriel gefiel die Sache offensichtlich überhaupt nicht. Welche
Sache? Und was bitte, war ein Congregat? Ich haßte so was. Nicht einmal John
stellte diese Frage, obwohl er sonst schnell einsprang. Kolya
antwortete mit ruhigem Tonfall: „Wir haben darüber gesprochen. Mikail werden wir
vermutlich besuchen, er kennt ja nur die Geschichte, die durchgesickert ist.
Allerdings sprechen mehrere Gründe dafür, ihn einzuweihen. Das Congregat ist
eine ganz andere Sache, ich bin nicht sicher, daß wir dort willkommen sind.
Gideon ist nicht einfach. Ich bin einfach nicht davon überzeugt, daß eine
Kontaktaufnahme etwas bringen würde. Es ist ja nicht nur die Sache mit LaVerne,
auch der Zustand der Oscuro steht irgendwie zur Debatte. Und ich denke nicht,
daß LaVerne wirklich dafür der Auslöser war, wenn, dann nur ein weiterer Stein,
der die Lawine zum einstürzen brachte.“ Tejat
legte den Kopf zur Seite. „Wer weiß. Aber trotz allem ist Gideon der Oscuro
verpflichtet, und irgendwann wird er sowieso über die Krise informiert werden.
Außerdem ist auch er gewachsen. Überlegt es euch, denn vielleicht denkt Dez auch
schon über weitere Schritte nach. Ich, an seiner Stelle täte es.“ Damit
wand sich der alte Mann an mich: „Du willst lernen, nicht wahr? Kaj Arpad hat
mit dir gesprochen. Kolya hat erzählt, daß du Kampftraining begonnen hast. Das
ist gut. Körper und Geist müssen gefordert werden. Wenn du magst – und das gilt
auch für dich John – so werde ich euch ein wenig in den mystischen Künsten
unterweisen. Ich habe lange nicht mehr unterrichtet, aber jetzt mache ich eine
Ausnahme.“ Und nach Gabriels Blick zu urteilen, war das etwas Besonderes. Dieses
Mal war John auch nicht so zurückhaltend. „Es wäre uns eine Ehre!“ Ich nickte
nur. Genau! So
wurde es beschlossen. Und dann auch gleich in Angriff genommen. Es gab im Keller
– nein den modernisierten Verliesen - einen altmodischen Sportraum, aber der
reichte Kolya, um ein leichtes Training wieder anzusetzen. Ausdauerübungen,
etwas Krafttraining und Kampfsport standen somit wieder auf dem Programm. Und
danach fanden John und ich uns in der Bibliothek des blinden Mannes ein. Sie
erstreckte sich über zwei Etagen, mit Balustraden, die um den ganzen Raum herum
führten. Eine öffentliche Bibliothek wäre neidisch auf diese Menge von Büchern
gewesen. Der Raum war rund, in der Mitte ein größerer Tisch, der an die
Tafelrunde erinnern mochte. In regelmäßigen Abständen führten Wendeltreppen in
den ersten und zweiten Stock. Ein unermeßlicher Schatz – und so gut wie nutzlos
für Tejat – meinten wir.
Erstaunlicherweise begann unser Unterricht damit, daß wir drei uns an den Tisch
setzten und uns anschwiegen. Der Scuro verbat sich jeglichen Kommentar und
befahl uns nur, die Augen zu schließen und zu lauschen. Wir hörten: nichts! Die
Stille wurde schon laut, da sagte Tejat: „Jede Handlung, die wir vornehmen, muß
von innen kommen, aus uns selber. Dafür muß unser Innerstes erst von Ballast
gereinigt werden, um die Konzentration aufzubauen. Durch zuhören kann man diese
Reinheit manchmal erreichen – wenn nichts zu hören ist. Wir können dann endlich
auf uns selber hören. Ich werde euch simple Zaubersprüche lehren, mehr Zeit ist
leider nicht. Und ich werde eure Verbindung zum Zirkle stärken und lenken. John,
du wirst mit Beschwörungen beginnen, LaVerne, du wirst das Blutband
beherrschen.“ In den
nächsten Stunden ‚durfte’ John dann Vokabeln lernen. Dabei gab es lateinische
und griechische Worte, aber auch fremde Begriffe. Jedes Wort stand für einen
Gegenstand und der Trick sollte sein, diese Gegenstände davon zu überzeugen, daß
sie etwas anderes waren. Einer Flasche sollte zum Beispiel eingeredet werden,
sie sei ein Buch. John hatte echte Schwierigkeiten zu Anfang, bei diesen
Überzeugungsversuchen einigermaßen ernst zu bleiben. Mir ging es kaum besser.
Doch ein vorwurfsvoller ‚Blick’ von Tejat half da Wunder. Meine
erste Aufgabe war es, herauszufinden, was Gabriel gerade tat. Scuro Tejat
schickte – bildlich – mein Gehirn los, durch die Tür, den Gang runter, die
Treppe hinauf, in unsere Räume. Ich sah den Ort schon fast wirklich vor mir. Nur
Gabriel nicht. In meinem Geist ging ich die Treppe wieder runter, weiter, bis in
die Kellerräume. Gabriel… kämpfte mit Kolya. In dem Moment, wo ich das Bild sah,
war es verschwunden. Immer wieder schickte mich Tejat die Stufen runter, durch
die dunklen Gänge, jedes Mal wurde das Bild etwas deutlicher, hielt aber kaum
länger. Und sobald ich Gabriel sah verschwand er und ich sah den Tisch der
Bibliothek vor mir. Dann versuchte ich das gleiche Spiel mit Kolya. Ich wußte,
wo ich suchen mußte. Im Trainingsraum fühlte ich die Erschöpfung, die Schwäche
nach einem langen Kampf, die Zufriedenheit – und war zurück in der Bibliothek. Später
erklärte mir Tejat, daß das vorwiegend an der Blockade lag, die die Männer
errichtet hatten. Ich war eigentlich sehr weit vorgedrungen, weil ich sowohl ein
Mitglied des Corvus-Zirkels war als auch eine starke Bindung zu den beiden
entwickelt hatte. Andere wären schon am Aufenthaltsort gescheitert. Dabei
handelte es sich um eine einfache Sicherheitsmaßnahme. Und eine solche sichere
Schranke sollte mein erstes Ziel sein. Tejat erklärte weiter, wie ich solch eine
Barriere zu errichten hatte und immer halten mußte. Das würde mich schützen, vor
suchenden Blicken und vor Alpträumen, wie ich sie schon erlebt hatte. Es
handelte sich dabei eigentlich nur um ein Bild, das mein Kopf auszusenden hatte.
Entweder eine Mauer, oder einen Zaun, ein Raum, eben irgend etwas neutrales, was
mir leicht im Gedächtnis bleiben konnte. So ein unbestimmter Ort sollte den
Suchenden in eine Sackgasse laufen lassen. Dieses Bild – ich hatte mir eine alte
Bunkeranlage ausgesucht – übte ich. Als
John und ich entlassen waren, fühlten wir uns beide völlig ausgelaugt und
geschafft. Ich wußte nicht, daß Gehirn-Arbeit so anstrengend sein konnte. Und so
fiel ich förmlich ins Bett. Und immer schön im Hinterkopf den Bunker – so, wie
Tejat es erklärt hatte. Als ich Gabriel am nächsten Abend im Wohnraum traf, zog
er mich an sich: „Gestern, beim Training, da warst du bei mir, richtig?“ Ich
nickte zögerlich: „Ich habe es versucht“ – „Und ich habe es bemerkt, du hast
mich abgelenkt, meine Rose! Wenn du es heute abend versuchst, werde ich dich
nicht blockieren. Aber nur ausnahmsweise. Ansonsten haben wir alle immer – so
gut wie immer zumindest – unsere Wände. Selbst deine Blockade ist seit gestern
schon viel besser geworden. Du bist eine gute Schülerin.“ Ein zarter Kuß enthob
mich einer Antwort. Kolya
äußerte sich nicht zu meinen Experimenten. Aber er entließ mich recht früh zum
‚geistigen Training’ und meinte nur: „Schön brav lernen, ja“ Ich nickte und
machte mich wieder auf in die Bibliothek. Die Konzentrationsübungen begannen
erneut. Diesmal fand mein Geist Gabriel im Wohnraum. Ich sah vor ihm das
Klavier, aber er spielte nicht. Er schaute nur auf die Tasten und ich hörte eine
Melodie von Chopin – in seinem Kopf…. ich sah einen dunklen See, darüber den
Mond … ich sah Kolya, dicht vor mir, mit langen spitzen Zähnen … ich sah eine
grauhaarige Frau, die mich anlächelte … ich sah ein Spiegelbild von mir – von
Gabriel … ich sah dunkle Straßen, eine fremde Frau vor mir … ich sah mich
selbst durch Gabriels Augen. Dann wurde alles dunkel und ich war zurück in der
Bibliothek. Ich
fühlte mich, als hätte ich einen Marathonlauf hinter mir. Der Scuro lächelte in
meine Richtung: „Gabriel hat seine Barriere für kurze Zeit gesenkt. Du hast sein
Leben – Teile seiner Existenz – durch seine Augen gesehen. Erinnerungen.
Schließe sie in dein Herz, sie sind nur für dich, niemanden sonst würde er so an
seiner Vergangenheit teilhaben lassen. – Und jetzt wird es etwas schwerer. Suche
jemanden aus dem Zirkel, den du kennst.“ Im
Laufe der nächsten Stunden fand ich Carré, Okcania und Trevor. Ich wußte in
etwa, wo sie waren, aber nicht, was sie taten oder gar dachten. Und so sollte es
auch wohl sein. Und zum Schluß erhielt ich die Aufgabe, John zu besuchen. Obwohl
er mir doch gegenüber saß und fremde Worte vor sich hin murmelte. Und dann war
ich in seinem Kopf. Wieder tauchten Bilder auf, ein Mann in Polizeiuniform, eine
schwarzhaarige Frau, ein toter Mann, der an den Füßen aufgehängt war. John
schaute nicht einmal auf. Leise sagte Tejat zu mir: „Sprich ihn an, nicht mit
Worten, in Gedanken.“ Obgleich ich mich dabei albern fühlte, rief ich – nein –
dachte ich seinen Namen. Plötzlich schaute er auf und mich direkt an. „Ja?“ Auch
ich schaute auf. „Ich hab nichts gesagt…“ – „Oh, ich dachte…und zurück zu seinen
Vokabeln. Als letztes sah ich das Bild von einer Flasche aufblitzen. Scuro Tejat
grinste: „Siehst du! Deshalb die Barriere, deshalb der Versuch, Kontakt
herzustellen.“ Damit kehrten wir wieder zu meinen Abwehrbemühungen zurück.
Als wir
nach einer langen Zeit in den Wohnbereich zurück kehrten, waren Kolya und
Gabriel schon dort. Ich setzte mich zu dem letzteren und sah ihn an: „Ich habe
Bilder gesehen, mein Rabe. Danke für die Hilfe.“ Er lächelte mich an: „Aber du
siehst, es sind nicht wirklich Gedanken. Eben Bilder. Später werde ich dir noch
mehr davon schenken. Und wie gefällt dir der Unterricht? Tejat war oder ist noch
ein Meister und es ist so schade, daß er schon lange eigentlich keine Schüler
mehr aufnimmt.“ Ich kuschelte mich an ihn: „Es ist spannend. Toll. Unglaublich.
Er tut eigentlich nicht viel, ist nur da, macht Mut und erklärt. Es ist nur
gut!“ Kolya grinste von der anderen Seite des Raumes: „Warte nur, bis er
anfängt, Unmögliches zu verlangen. – Aber stimmt schon, er ist einer der alten
Meister.“ Nach
einer Woche tauschten John und ich die Aufgaben. Mittlerweile sah die Flasche
auf dem Tisch so aus, als wäre sie schon hundert mal gelesen worden… So lernte
ich fremde Worte und John machte einen Spaziergang durch die Köpfe seiner
Freunde. Und eines Abends entdeckte ich ihn doch tatsächlich in meinem Kopf –
sozusagen. Und konnte ihn auch schon an meiner persönlichen Bunkeranlage vorbei
lotsen. Genau wie ich, war er von den Bildern und Eindrücken fasziniert. Nun
ging es für mich los, eine Flasche in ein Buch zu verändern. An grinsen war gar
nicht mehr zu denken, aber es wollte mir trotz aller Mühe einfach nicht
gelingen. Obwohl ich die Worte richtig wiederholte, weigerte sich diese Flasche
standhaft gegen meine dusseligen Vorschläge. Damals – bei dem Experiment bei dem
Rat der Alten – hatte eine Beschwörung doch geklappt. Wo war der Fehler? –
Selbst Tejat konnte nicht helfen. Er meinte nur, das Buch bei dem Rat der Alten
war ein spezielles Test-Buch der Oscuro. Völlig frustriert schimpfte ich dann
die Flasche aus: „Nun werd schon zu einem Buch du dösiges Ding!“ und – schwups –
lag ein feiner Einband vor mir. Und mir wurde schwindelig. Tejat starrte in
meine Richtung.
„Vielleicht gehen wir das bei dir falsch an. Du bist scheinbar in viel mehr
Dingen ein Sonderfall, als wir ahnten.“ Er nahm mir das Heft mit den Vokabeln
aus der Hand: „Denke nicht groß nach, konzentriere dich nur fest und lege dein
Gefühl hinein und sage dann dem Buch, daß es ein Dolch ist.“ In meiner
entnervten Stimmung warf ich dem armen Einband zu: „Los! Du bist ein Dolch.“
Genau! So war es auch, ein schöner goldener Dolch lag vor mir, so, wie ich ihn
mir vorgestellt hatte. Tejat schüttelte den Kopf: „Unglaublich!“ Ich starrte
nur fasziniert die Waffe an, während ich weiter versuchte, gegen das
Schwindelgefühl anzugehen. Nach einigen weiteren Stunden stellte sich heraus,
ich mußte nur den Vorsatz bewußt fassen, daß ich etwas verändern wollte. Aber
wenn ich nicht überzeugt war, klappte es garantiert nicht. Dann mußte ich mir
und dem Gegenstand einen nachdrücklichen Befehl geben und es war geschafft. Wohl
eine extrem unübliche Methode, denn Tejat ließ mich eine unendliche Anzahl von
Dingen verändern. Und bei weitem nicht alle Versuche waren von Erfolg gekrönt.
Doch nach jeder Aktion war ich ein wenig erschöpfter. Und irgendwann ging es
dann nicht mehr. An diesem Abend brachte John mich in mein Zimmer. „Ruh dich
aus! Morgen mehr. Ich werd noch Gabriel Bescheid sagen. Schlaf jetzt erst mal.“
Das tat ich auch – und lange und ausgiebig. Und niemand weckte mich. Am nächsten Abend trafen wir uns alle wieder im großen Speisesaal. Heute gab es weder Training noch Unterricht. Bei leichter Konversation genossen wir ein herrliches Essen. Wieder wurde Portwein gebracht und wieder eröffnete Scuro Tejat die Unterhaltung: „Ich denke, daß selbst ich in den letzten Tagen noch einiges gelernt habe und das will schon was heißen, nach fast 800 Jahren. LaVerne ist in vielerlei Hinsicht anders als jeder andere von uns. Ihre Fähigkeiten sind weitreichend,“ – ich haßte es, wenn man von mir in der dritten Person sprach – „und ich bin fast sicher, daß sie sie auch teilweise schon vor der Umwandlung besessen hat – nur nicht so ausgeprägt. Wenn man mich heute fragen würde, möchte ich behaupten, daß auch eine ‚normale Wandlung’ genau das gleiche Ergebnis bei ihr hervorgebracht hätte, das jetzt eingetreten ist. Sie ist genau so geworden, wie das Schicksal es bestimmt hat.“ Jetzt wandte er sich direkt an mich: „Ich kann tief in die Seelen der Menschen blicken. Ich habe damals Liebe gesehen und Angst und Unwillen. Die Angst ist verschwunden, die Liebe geblieben. Ich sehe heute Vertrauen, Selbstbewußtsein und Neugier. Aber auch noch Unwissenheit und etwas, das ich nicht begreifen kann. Etwas fremdes – aber positiv fremd. Du hattest schon immer die Magie in dir, die Oscuro hat sie nur frei gesetzt. Du bist weniger als wir und doch so viel mehr. Ich sehe Fragen, die eine Antwort verdienen. Aber ich spüre auch ein Vertrauen in dir, das aus dem Herzen kommt. Ich empfange Kraft und Leidenschaft, die weiter gereicht werden will. LaVerne! Wenn du gereift bist, wirst du mehr sein, als irgend einer von uns je sein könnte.“ Damit wand er sich an Gabriel: „Und du, mein Freund, mußt diese Kraft frei setzen. Du bist ein Teil davon. Du mußt das Congregat aufsuchen! Und Nathaniel kontaktieren. Du kannst den Lauf der Dinge nicht aufhalten, es wird sowieso alles geschehen, wie es bestimmt ist. Und ich bin sicher, daß wir schon lange in einer Strömung gefangen sind. Besser mit zu schwimmen und zu lenken als dagegen zu rudern und doch am Ende mitgerissen zu werden. Tue, was zu tun ist. Und bald.“ Ich hatte wieder nicht alles verstanden, vielleicht wollte ich auch gar nicht so recht, aber jetzt war endlich die Zeit, meine Fragen zu stellen. „Tejat. Du nennst immer das Congregat. Was ist das und warum soll ich dort hin?“ Aber nicht Tejat antwortete, sondern Gabriel. Mit ruhiger Stimme aber ohne Betonung erklärte er: „Einige Eingeweihte haben sich von der Nadiesda Thurus losgesagt. Nicht, daß sie sie verraten hätten, das nicht. Sie haben sich nur entschlossen, nicht zur Oscuro zu gehen, sondern eine eigene Gemeinschaft aufzubauen. Sie wollen nicht gewandelt werden, möchten nicht mit uns leben. Einige haben einfach ihr altes Leben nach dem Blutschwur fortgesetzt. Aber einige haben sich zu einer Gruppe, dem Congregat, zusammen geschlossen. Der Führer dieser Gruppe – ihr Sprecher – ist momentan Gideon. Sie stehen uns nicht feindlich gegenüber. Im Gegenteil, manchmal sind sie sehr hilfsbereit. Es sind viele Wissenschaftler unter ihnen, die unsere Besonderheiten erforschen. Sie sind an keinen Zirkel gebunden und wir haben nicht so viel Kontakt zu ihnen. Aber sie hatten immer und haben noch Kontakt zu Nathaniel und sie helfen uns, wenn es Schwierigkeiten gibt. Und hin und wieder sind sie unsere Augen, wenn es um einen Blick in die Welt des Lichtes geht. Der Rat der Alten hat viel Wissen, gerade auch aus der Vergangenheit. Aber das Congregat hat andere Quellen, ist vielleicht praxisorientierter. Und was wichtig für uns ist, sie haben Verbindungen zu so gut wie allen Zirkeln; sie setzen sich ja aus den Mitgliedern der Nadiesda Thurus zusammen, die nicht bei uns bleiben wollten. Oder alleine ihren Weg zu finden wünschten – oder zu vergessen. Und diese Leute kamen von allen Zirkeln.“ Es war gut zu hören, daß alle eine Wahl hatten, eine freie Entscheidung. Und diese Leute interessierten mich, die sich gegen die Blutsgemeinschaft entschieden hatten. Selbst wenn ich eine solche Wahl jemals gehabt hätte, wäre sie anders ausgefallen. Und jeden Tag schien die dunkle Welt dieser Wesen ein wenig größer zu werden, füllte sich mit Leben und Geschichte. Es gab so viel mehr als das, was Gabriel in jener Nacht in einem schottischen Schloß erzählt hatte. Mit meinem Glas in der Hand lehnte ich mich zurück. Gabriel erzählte vom Aufenthaltsort des Congregats. Sie lebten in einer Fels-Wüste, in einem alten Indianerdorf, das aus Lehmbauten und in den Fels gehauenen Höhlen bestand. Die Anlage mußte wohl riesig sein, teils auch unterirdisch und mit den modernsten technischen Errungenschaften ausgestattet. „Es gibt Gastquartiere für Mitglieder der Oscuro, aber auch Stellen, die wir nicht betreten können. Sie wurden von Priestern geweiht und sind für uns wie Kirchen. Wir werden unseren Besuch frühzeitig ankündigen, damit haben sie Zeit für ihre Vorbereitungen. Ihre Gastfreundschaft ist groß, aber sie werden nicht gerne überrascht. Trotzdem sollten wir ein Mindestmaß an Vorsicht walten lassen und nicht sagen, wer kommt, oder warum.“ Da hob Scuro Tejat die Hand: „Darum werde ich mich kümmern. Ich setze mich direkt mit Gideon in Verbindung. So wird er auch die Wichtigkeit erkennen. Ich sage nur, daß ihn vier Personen aufsuchen werden und daß diese Personen hochrangig sind, unerkannt reisen und um den Fünfzehnten herum bei ihm eintreffen werden.“ Gabriel überlegte kurz, sah zu Kolya und meinte dann: „Mach daraus den siebzehnten. Wir haben viel zu erledigen und wir wollen nicht hetzen. Ansonsten bin ich einverstanden.“ Auch am nächsten Tag ließen wir sowohl das Training als auch den Unterricht noch einmal ausfallen. Statt dessen fanden wir uns zu fünft in unserem Wohnraum ein. Auch Gabriels Bodyguards tauchten dann auf, verteilten sich im Raum und waren allgemein sehr beschäftigt. Tejat eröffnete die Unterhaltung: „Ich weiß, daß ihr in Frankreich von der Prophezeiung gehört habt. In letzter Zeit reden wieder viele davon.“ Ich hatte mich neben Gabriel nieder gelassen und spitzte die Ohren. Ja, das war etwas, was wir hören wollten. Von dem dunklen Schatten neben mir kam keine Reaktion, er strich nur weiter sanft meine Haare, während er den Blick auf Tejat hielt. Der alte Mann starrte blicklos in unsere Richtung. „Ich habe die Prophezeiung noch in ihrer ursprünglichen Form gelesen. Oft wurde sie in schweren Zeiten angerufen, doch sie erfüllte sich nie. Auch jetzt sind die Zeichen da, der Rat ist kompromittiert, Blut kämpft gegen Blut. Zum letzten Mal wurde aus den Worten zitiert, als Nathaniel auftauchte. Er ist ein Eingeweihter und wandelt doch im Licht. Es floß Blut doch am Ende geschah – nichts! Wobei noch nicht einmal sicher ist, ob die dreizehn nicht doch ein weiterer Zirkel ist, oder vielleicht das Congregat gemeint ist. Niemand weiß es. Doch unsere beiden neuen Brüder hier in der Gemeinschaft sind voller Neugier, sie wurden ohne Erklärung mit den Schriftstücken konfrontiert und versuchen nun, ihnen einen Sinn zu geben. Also werde ich einige Dinge erläutern, die der Rat der Alten als erwiesen ansieht. Gabriel, bitte die ersten vier Zeilen.“ Und dieser trug sie aus dem Gedächtnis vor, mit einer Stimme, die eine Gänsehaut an meinen Armen runter schickte – ohne daß ich auch nur die Worte hören mußte.
Die
Dreizehn ist des Kreises Ende,
„Die
zweiten vier Zeilen gehören mehr oder weniger zum ersten Abschnitt, Anfang und
Ende, beide Teile der Umwandlung. Hier wird ein ‚helles’ Mitglied der Nadiesda
Thurus zu einem ‚dunklen’ Teil der Oscuro. So haben wir zwei Teile, die den
Prozeß abschließen, Kuß des Lebens, Atem des Todes, Anfang und Ende – ein Kreis.
Jetzt
kommt der erste der drei Brüche, die auch zusammen gehören. Gabriel?“ Er folgte
wieder. Tejat
neigte den Kopf zur Seite: „dies scheint sich auf eine zukünftige Handlung zu
beziehen, während der zweite Bruch die Gegenwart beschreibt und der dritte Bruch
die Vergangenheit zitiert. Zeit rückwärts gerichtet, immer die Zehn als die
Oscuro. Die
Teile, aus denen sich unsere Gemeinschaft zusammensetzt, scheinen hier klar:
Zehn Zirkel, drei Mitglieder des Rates der Alten und fünf beim Fluch des Blutes.
Doch bisher hat sich der Fluch nicht widersetzt – und es wäre auch nicht zu
erwarten. Zunächst aber zurück zum Grundtext, wieder zwei Teile, die den Kreis
betreffen, das Zentrum und die Unterbrechung. Gabriel gab gehorsam den nächsten
Vers von sich:
Die
Dreizehn ist des Kreises Kern, Tejat
erläuterte wieder, aber nicht so überzeugend: „Da wird es schwer, der Rat der
Alten war sich bei der Interpretation hier nie sicher. Der Dreizehnte Zirkel
folgt nicht den Regeln, trotzdem ist nach diesen Worten Liebe ein Leitmotiv.
Also wird aus etwas Schlimmen etwas Gutes. Und es kommt aus uns heraus. Leider
können wir nicht einmal erahnen, was gemeint ist.“
Die
Dreizehn trennt den Weg des Kreises Den
nächsten Teil zitierte er selber und sprach gleich weiter: „Wie eben schon
gesagt, passiert etwas schlimmes, das sich aber zu etwas Gutem wandelt. Und
außerdem unser Symbol, der Kreis, im unteren Teil durch eine durchbrochene Linie
getrennt. Und dann natürlich hier die biblische Referenz zur Offenbarung, und
auch der Preis, den wir für unsere Privilegien zahlen. Vielleicht ein
Erklärungsversuch, vielleicht aber auch unser wahrer Ursprung. Der letzte Satz
läßt befürchten, daß das Geheimnis der Oscuro bekannt wird. Vielleicht genau das
schreckliche Ereignis. Jetzt folgt wieder der Bruch, in die Gegenwart.“
Die
Zehn und Zwei sie würden sterben,
Obgleich er nichts sagte, zitierte dieses Mal wieder Gabriel die Verse und
erklärte auch gleich dazu: „Die Sonne tötet uns. Gold steht für Licht und findet
sich auch so bei der Offenbarung als Äquivalent zur Sonne und zur Unschuld. Der
Mond stand seit jeher für Silber, das unser ärgster Feind ist. Doch können wir
ihn sehen.“ Als Tejat nichts weiter dazu sagte, fuhr Gabriel fort:
Die
Dreizehn löst den Bann endlich auf, „Hier
verläßt uns unser Wissen, fürchte ich,“ seufzte Tejat. Es klingt, als würde die
von Gabriel genannten Beschränkungen aufgehoben, wird es eine neue Art von
Umwandlung geben, die uns wieder ‚normal’ macht? Sterblich? Aber wie? Es gibt
eine zweite Auferstehung in der Offenbarung, falls das gemeint sein sollte? Aber
viele von uns fürchten heute ein normales Leben. Und die falschen Herren? Früher
wurde auf Götter getippt, doch das glaube ich nicht. Vielleicht sind es wir
alle, weil wir Macht besitzen. Gabriel, bitte weiter.“
Die
Dreizehn, sie vollendet den Kreis, „Hier
wird der Kreis wieder erwähnt. Es wird dunkel zu hell. Das scheint wichtig, es
wird an zwei verschiedenen Stellen gesagt, wenn auch sehr differenziert. Weiß
trifft auf die Dunkelheit und auf Schwarz. Darüber haben wir lange
philosophiert. Abstufungen innerhalb der Oscuro? Doch nur das Dunkel wird
verändert, das Schwarz nicht. Also ist es nicht für alle der Blutgemeinschaft
das Ende – würde man schließen können.“ Jetzt
gelangten wir wieder an ein Stück, das aus der Symmetrie fiel. Wieder zitierte
Gabriel und kommentierte auch gleich selber wieder:
Die
Zehn besiegten einst den Tod, „Das
ist auch wiederum recht klar. Wie Tejat sagte, ein Teil der Vergangenheit. Unser
Blut trotzt dem Tod, und so müssen wir leben. Auch zu finden in der Offenbarung
bei Vers 9.6. Also doch biblischen Ursprungs? Wir betreten keine Kirchen und das
sollte vielleicht eine Strafe sein, obgleich es in der Passage als Lohn
beschrieben wird. Vielleicht ist das ja sogar so.“ Zum ersten Mal hörte man
jetzt ein leichtes Lächeln in seiner Stimme. Nach kurzer Zeit fuhr er mit dem
nächsten Vers fort:
Die
Dreizehn, die den Kreis umgibt, Jetzt
sprach Tejat wieder: „Zum letzten Mal wird hier die Dreizehn mit dem Kreis
genannt. Das ‚umgeben’ könnte auf einen Zusammenschluß aller Teile der Oscuro zu
einem Teil, vielleicht genau diesem dreizehnten, hinweisen. Und wieder ein
Hinweis, daß die Veränderungen fort von der Gemeinschaft des Blutes führt,
diesmal deutlicher: das Band ist nötig, also die Gemeinschaft, aber es wird kein
Blut fließen, unser Verlangen danach wird gestillt sein. Jetzt eine sehr
kryptische Abfolge“ und er trug den Vers vor:
Die
Dreizehn ist doch auch die Dunkelheit, „Wir
alle haben das Mal, durch unsere Aura, aber auch noch anders; alle Mitglieder
der Nadiesda Thurus, als auch fast alle Mitglieder der Oscuro haben ein Mal in
der Hand. Durch die Zeremonienwaffe bei der Abnahme des Blutschwurs von einem
Mitglied der Oscuro zugefügt, entweder bei Aufnahme in die Nadiesda Thurus bei
den ‚eingeweihten.‘ oder beim Eintritt in das Erwachsenenalter bei den
‚geborenen’ sofern sie nicht den Blutstausch gewählt haben, dann befindet sich
das Mal an anderer Stelle, aber es ist dennoch vorhanden. Aber was sind die
beiden Seiten, was die genannten Gegensätze? Also ultimativ Gut und Böse? Wir
konnten niemals klären, was gemeint war. Und nun noch das Schlußwort, Gabriel,
das aus der Symmetrie der Abfolge und Inhalte völlig heraus fällt. Und leise
zitierte dieser die letzten vier Zeilen:
So
wird das Ende dann beginnen, „Haben
wir die Kraft verloren, daß wir uns auf sie besinnen müssen? Vielleicht, wir
sind möglicherweise zu gleichgültig geworden, oder zu selbstsicher. Doch
vielleicht geht es auch tiefer. Wir finden einen Widerspruch hier. Sind wir die
Dunkelheit und sehen zur Sonne, sterben wir. Aber es ist ein zukünftiges
Ereignis, also vielleicht diese zweite Wandlung – zurück zu normalen Sterblichen
Und wieder der Unterschied zwischen Dunkel und Schwarz. Und wie könnten wir in
der Dunkelheit sterben“ - Er
machte eine Pause, während wir ihn gespannt ansahen, John und ich noch mehr als
der Rest der Anwesenden. Denn auch die ‚Bodyguards’ waren in diese Unterhaltung
vertieft. Tejat griff erschreckend zielstrebig nach seinem Glas, trank einen
Schluck und begann wieder: „Viele
fürchten die Prophezeiung, sie spricht vom Ende unserer Zeit, unserer
Gemeinschaft. Doch der Rat sieht mehr die positiven Veränderungen, das Ende als
Beginn, Dunkel zu Licht. Ihr seht, es gibt keine Erklärungen, nur Vermutungen.
Und je nach Charakter fallen diese Mutmaßungen teilweise sehr unterschiedlich
aus. Doch die Vermutungen werden wieder aktueller. Aber ich meine, wir sollten
uns nicht sorgen. Es wird von Liebe gesprochen, vom Band des Blutes. Wie gesagt,
wir wissen nicht viel, aber wenn jetzt jemand von der Prophezeiung spricht,
könnt ihr verstehen und zumindest falsche Vermutungen als solche erkennen.“ „Und
wie schon mehrfach gesagt, gerade jetzt, durch die Differenzen, den geschwächten
Rat und auch durch LaVernes Existenz wird die Prophezeiung wieder öfter erwähnt.
Wer weiß, vielleicht zu Recht, aber ich sorge mich nicht.“ Gabriel
zog mich etwas fester an sich, sah mich an: „Nein, ich auch nicht. Ich war immer
der Meinung, daß am Ende etwas Gutes geschehen würde – jetzt noch mehr als
früher. Aber sollten wir alle wirklich ein Teil dieser Zukunft sein, werde ich
sie umarmen, sie annehmen.“ Der Scuro lächelte – ein sehr altes und wissendes
Lächeln. Aber er sagte nichts. Den
Rest der Nacht unterhielten wir uns über die Fortschritte, die John und ich
gemacht hatten. Und ich mußte meine seltsame Methode der Transformation
vorführen. Wieder spürte ich, wie die Konzentration an meinen Kräften zehrte.
Doch der Scuro schien sehr zufrieden – mit unser beiden Fähigkeiten. Er meinte:
„Wir werden das Band vertiefen und dann mit den schwereren Aufgaben weiter
machen. Eigentlich sollte so ein Unterricht über Jahre dauern, aber ich bin
sicher, daß ihr zum einen eure Fähigkeiten nur aus den richtigen Gründen
einsetzen werdet. Und zum anderen hatte ich selten so gelehrige und fähige
Schüler. Es macht mir richtig Spaß.“ John und ich schauten uns erfreut an. Solch
ein Lob hörten wir gerne. Am
nächsten Tag begann wieder die alte Routine. Zuerst in den Trainingsraum. Wir
ließen es locker angehen, keine ernsten Kämpfe, nur Ausdauer und etwas
Krafttraining. Danach Pause zum Sammeln, dann in die Bibliothek. Wieder
arbeitete wir getrennt. Ich schickte meine Gedanken auf die Reise, während mein
Verstand sich damit mühte, nicht die Bibliothek sondern einen alten Bunker zu
sehen. Ein verrücktes und anstrengendes Unterfangen. Johns Erfolge auf dem
Gebiet der Veränderung waren zumindest hin und wieder sichtbar. Er durfte auch
weiterhin Vokabeln lernen und übte nebenbei einen uralten Trick: er sollte
Wasser davon überzeugen, daß es nach Wein schmeckte. Nach dem vierten
vorsichtigen Nippen weigerte ich mich strikt, die Flüssigkeiten zu trinken – das
war nicht einmal Essig, wer weiß, was ich da am Ende probierte. Später
sollte ich dann in den Geist einer Person einfallen und dort eine kleine
Veränderung vornehmen. Scuro Tejat erklärte, so würden ‚gebissene’ Menschen ihre
Erinnerung an diese Vorgänge verlieren. Auch könnte ich so bei anderen eine
besonders große Begeisterung für - oder ein starkes Verlangen nach einer Nacht
mit mir entwickeln. So richtig angetan war ich von diesen Manipulationen zu
Anfang nicht, doch er überzeugte mich, daß die Geschichte der Oscuro die
Notwendigkeit lehrte. Zumindest das Vergessen ganz bestimmter Ereignisse war
sinnvoll und Tejat versicherte, daß das Verstärken des Verlangens nacheinander
ein durchaus üblicher Vorgang war. Dieses Mal brauchte ich wenigstens keine
Vokabeln zu lernen, es ging um eine geistige Verbindung. Tejat forderte mich
auf, ihm ein ganz bestimmtes Bild zu senden, als wäre es sein eigener Gedanke.
Ich wählte Royce, den wundervollen Raben von Gabriel. Der Scuro zeigte mir den
Weg, wie ich durch Konzentration und Eintauchen in seinen Geist das Bild
plazieren konnte. Er sprach mit leiser, gleichmäßiger Stimme, während ich mich
mit geschlossenen Augen nur auf ihn konzentrierte. Nach endlosen Stunden des
Fokussierens‚ Sendens und wieder Ausruhens lächelte er plötzlich. „Ich habe von
ihnen gehört. Einer von Gabriels besonderen Freunden. Und doch nie gesehen, wie
auch. Aber jetzt kenne ich sie – kenne ich Royce, als hätte ich mit echten Augen
auf ihn geblickt. Wunderbar, LaVerne, ein doppeltes Geschenk für mich. Ein Bild
und eine erfolgreiche Schülerin. Eine wundervolle Wahl.“ Dankbar
und erschlagen lächelte ich zurück. Irgendwie hatte ich bei den Übungen den
richtigen Weg in seinen Kopf gefunden – jetzt klappte es ein wenig leichter.
Wichtig war vor allem, das Ziel der Übung schon in meinem Kopf genau zu
definieren, nicht einfach ‚so’ drauflos zu stochern. Ein letztes Mal
konzentrierte ich mich und schickte eine ‚Aufforderung’ an John. Der schaute
hoch, grinste breit und reichte mir das Glas. „Letzter Versuch, ich glaube,
jetzt hab sogar ich es kapiert.“ Nun, es war sicher kein Wein, der Kolyas
Geschmack traf, aber es war durchaus trinkbar. Zufrieden trennten wir uns und
ich fiel wie nach dem üblichen 42 Kilometerlauf ins Bett. Eines
abends – nein, hier war ja alles anders – eines Morgens nach dem Unterricht ging
ich in Gabriels Zimmer. John und ich hatten stundenlang vorher trainiert, geübt,
uns konzentriert und eigentlich war ich müde. Aber in diesem Moment fehlte mir
einfach die Nähe des Raben, wir waren alle so beschäftigt, daß wir uns kaum
sahen. Also schlich ich mich leise ans Bett, zog mich aus und kuschelte mich in
die vorgewärmten Laken. Im Schlaf legte Gabriel seinen Arm um mich und ich genoß
nur seinen weichen warmen Körper, ohne ihn aufzuwecken. Und Augenblicke später
war ich tief und fest eingeschlafen. Und
erwachte durch einen Kuß. Noch war ich nicht richtig wach – keine Vorstellung
von der Uhrzeit, aber Gabriel hatte einen Arm und ein Bein über mich gelegt und
ließ seinen Mund nach diesem ersten Kuß langsam über das Kinn zum Hals hinunter
wandern. Da wurde ich dann doch wach. Ich versenkte meine Hand in den Locken,
die meine Haut wach kitzelten. Als unsere Lippen sich fanden, umschlossen seine
Haare meinen Kopf wie einen schwarzen Umhang. Langsam forschend gingen seine
Finger unter der Decke auf Wanderschaft. Ich dachte an die Sprüche, die ich
gelernt hatte. Zaghaft schickte ich eine kleine Botschaft in seine Richtung. Er
erstarrte einen Augenblick mitten in der Bewegung – irgend etwas mußte also
angekommen sein – und dann wurde der Kuß zu einem Feuer. Wo seine Hände auf
meinen Körper trafen, begann meine Haut zu glühen, Hitze sprang von ihm zu mir
über. Dann senkte sich eine Dunkelheit – die Schwärze seiner Aura – über uns.
Doch
dann hob er den Kopf ein wenig und zwang mich, in die Tiefen seiner Augen zu
tauchen. Ganz leise und mit rauher Stimme sagte er: „Und das ist unsere Magie,
meine, aber auch deine, die ich jetzt ganz stark in meiner Seele spüre. Und
willst du nicht, daß ich meiner Natur folge, mußt du damit aufhören, sofort. Laß
uns noch ein wenig Geduld haben, etwas mehr wissen, dann können wir uns so
lieben, wie wir sollten. Doch lange kann ich so nicht widerstehen; gib meinen
Geist frei, meine schwarze Rose. Dann kann ich dir Liebe geben, andernfalls habe
ich Angst um uns, um unser beider Seelen. Ich bin nicht stark genug gegen dich
und deine Magie lange zu trotzen. Dafür verlangt es mich viel zu sehr nach dir.“ Was
hatte ich da mit meinen Versuchen nur angestellt. Aber dieser Blitz, diese
Dunkelheit, die meinen ganzen Körper durchdrungen hatte und seinen vielleicht
auch, das war eine Versuchung, fast zu schön um ihr nicht zu erliegen. Trotzdem
hatte er Recht – natürlich. Wie schwer mußte das gewesen sein. Doch jetzt wußte
ich, was ich wollte. Später!
Vorsichtig und sehr bewußt befreite ich meinen Kopf von allen Gedanken. Aber
seine Präsens wurde nicht schwächer, noch immer war ich in seinen Schatten
gehüllt. Das Nachglühen einer zukünftigen Versprechung. Als er
mich das nächste Mal küßte, waren seine Zähne gewachsen und wo unsere Haut sich
berührte, tobten sinnliche Feuer wie ein Flächenbrand. Und als meine Zähne auch
länger wurden, hob er nur eine Rabenfeder weit den Kopf und schaute in meine
Seele. Wieso eigentlich Hölle? Nur weil er ein Wesen der Nacht war und wir
vielleicht mal ein klein wenig eine der sieben Todsünden genossen? Nun, wenn es
denn so war, war es mir recht. Sollten wir eben brennen. Aber nur zusammen. Einige
Zeit lang sagte keiner von uns etwas. Er schaute mich eine Weile an und dann
schien er mich in seine Seele zu führen – und küßte mich dort. Eine Ewigkeit kam
und verging und ich lag in schwarze Liebe gehüllt. Wir riefen die Magie nicht
mehr an, trotzdem war sie auf eine unschuldige, unbeabsichtigte Weise noch immer
gegenwärtig. Die Magie, die wir von Geburt an in unseren Körpern tragen und nur
selten freisetzen. Die
folgende Woche – die erste Märzwoche – verbrachten wir, John und ich,
größtenteils in der Bibliothek bei Tejat. Gabriel und Kolya organisierten von
hier das Treffen am 12. und trafen Vorbereitungen für unsere Reise zum Congregat.
Hin und wieder führten sie auch ihre Übungskämpfe im Trainingsraum im Keller
durch – nur um im Training zu bleiben. Tejat
vermittelte uns Verständnis für die Moral der Magie, wann man sie wie einsetzen
durfte. Er lehrte uns die Basis, viel davon war Konzentration und die genaue
Formulierung und Vorbereitung um ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Die
Nebenwirkungen der Erschöpfung bei mir konnte er nicht lindern, nur raten, sich
durch die Kraft eines anderen Mitgliedes der Oscuro stärken zu lassen. Und die
zwei Ansätze unserer Übungen, Magie und das Band des Zirkels, verschwammen zu
einer Einheit. Denn das Band war eine besondere Art von Magie. Eines Abends
erklärte Tejat: „Jeder Mensch hat eine eigene mystische Fähigkeit. Normalerweise
schläft sie, kommt selten an die Oberfläche. Die Nadiesda Thurus verstärkt diese
Magie durch den Dolch, der den Blutschwur aufnimmt ein wenig. Nicht sehr. Erst
in der Oscuro werden die Kräfte aktiv. Viele nutzen sie auch dort nur instinktiv
oder unterbewußt. Wenige haben Lust oder Geduld, die Beherrschung dieser alten
Kunst zu lernen. Und selbst nach vielen Jahren der Übung beugt sich die Magie
nicht unbedingt immer unserem Willen. Daher unterrichte ich auch nicht mehr.
Aber ihr seid beide die besten und fähigsten Schüler, die ich je hatte – und
ich hatte einige über die Jahrhunderte. Ich bin mehr als vorher überzeugt, daß
alles so gekommen ist, wie es sollte. Das würde auch erklären, warum John den
Skorpion erwecken konnte. Eine latente Magie war bei ihm vorhanden und es sollte
so geschehen. Über deine Sonderstellung, LaVerne, brauchen wir kaum zu sprechen,
entweder wir wissen nicht viel darüber oder wir können nur spekulieren. Aber
auch deine Magie war schon immer stark und Gabriel hat Recht, wenn er sagt, ihr
beide habt ihn gefunden. Nun müßt ihr eure Möglichkeiten erkennen, beherrschen
und ausbauen.“ Wo war
bei dieser langen Rede von Tejat der Zufall, oder das Schicksal, das uns eine
Wahl ließ? Im Gegensatz zu John war ich mit seiner Erklärung nicht voll
zufrieden. Aber sich dagegen wehren würde jetzt eh nichts mehr bringen, dann
lieber mit der Flut schwimmen und lenken, wie er vor einigen Tagen zu Gabriel
gesagt hatte. Und
dann, wenige Tage vor unserer Abreise saß ich eines Nachts wieder in der
Bibliothek. Unter voller Konzentration folgte ich Gabriels Spur bis in den
Trainingsraum. Er stand mit bloßem Oberkörper dem größeren Kolya gegenüber,
Körper fast aneinander gepreßt, Arme in einem stillen Zweikampf verschränkt,
pure Kraft gegen Kraft. Ich konnte fast den feinen Schweißfilm spüren, der sich
auf ihren Körpern gebildet hatte. Daher war ich so weit vorgedrungen, er war
körperlich erschöpft und sein Geist kämpfte noch gegen den von Kolya. –
Dann
hatte ich den seltsamen Eindruck, daß Kolya mich durch Gabriels Augen ansah,
mich dort entdeckte. Im nächsten Moment spürte ich ein unglaublich intensives
Gefühl von Verlangen – ziellos – einen Schmerz und dann war es, als würde ich in
einem Strudel aus Leidenschaft untertauchen. Der Atem blieb mir weg, Adrenalin
schoß durch meinen Körper, Hitze und intensivste Erregung. Und dann ein
ähnliches Gefühl wie nach einem berauschenden Liebesspiel, und doch so ganz
anders und es schien als hätte ich flüssige Liebe in meinem Mund – ich erlebte,
wie Kolya und Gabriel sich am Ende eines Zweikampfes bissen. Dann
wurde alles schwarz um mich. Als ich
die Augen öffnete, schaute ich in Tejat’s leere Augenhöhlen. John stand hinter
mir und hielt meine Schultern. Die Hand aus Pergament des Scuro lag auf meiner.
Die Schwäche war fast fort aber das letzte Gefühl, eine komplette Vollendung
eines ‚mehr-als-Rituals’, war mir geblieben. Ich fühlte mich leicht und
zufrieden. Tejat fragte nicht, wie konnte er
nicht
wissen, was ich gesehen hatte. Doch er sagte kein Wort, wartete nur, daß ich
nickte, dann ließ er meine Hand los. „Das konntest du nur, weil du einerseits
mit ihm, mit beiden, eng verbunden bist und weil er seine Barriere hat fallen
lassen, und Kolya es bemerkt hat. Sein Fehler, schlechter Schüler. Aber jetzt
weißt du, was wir einander geben. Nimm es als Lehre und als Geschenk.“ Ich
nickte. Für heute machte ich Schluß und ließ John und Tejat alleine. Ich wollte
ein wenig alleine sein – nicht grübeln, nur ein schönes Gefühl langsam
ausklingen lassen… An
unserem letzten Abend fanden wir uns noch einmal im Speisezimmer ein, zu einem
herrlichen Essen, gutem Portwein und einer gemütlichen Unterhaltung. Am nächsten
Abend würden wir um sieben Uhr abreisen, mit den Bodyguards und einen Tag vor
dem offiziellen Termin des Corvus-Treffens. Tejat hielt eine kleine Rede, in der
er für unseren Besuch dankte, er nannte es ‚Leben und Blut’ in seinen Alltag
bringen. Noch einmal lobte er unsere Fortschritte. Und wir dankten in wärmsten
Worten für Aufnahme, Verpflegung, Unterbringung, Unterricht – einfach alles. –
Es tat uns allen Leid, dieses stille und doch so gastfreundliche Haus zu
verlassen. Doch Tejat winkte ab. „Ich denke, wir werden uns eher wieder sehen,
als vielleicht zu vermuten ist. Lassen wir es auf uns zukommen.“ Mehr
wollte er nicht sagen und wir wechselten das Thema. Es ging um Vorbereitungen
für das Treffen übermorgen, unsere Reise zum Congregat und einige banale Dinge.
Alles in allem war es ein rundum gelungener Abend in freundschaftlicher
Atmosphäre – einfach normal. Gabriel
und ich gingen zusammen hinauf und bevor er mich in mein Zimmer entließ, hielt
er mich kurz zurück. „Ich freue mich auf das Treffen meines Zirkels. Es ist wie
eine große Familienfeier – aber mit Leuten, die man mag. Manchmal werde ich
dabei vielleicht etwas kurz angebunden erscheinen aber vergiß nicht, daß du
jederzeit meine Priorität bist. Jeder dort wird dich wie einen Freund begrüßen.
Und genau das bist du auch. Mehr noch. Du kannst dort nichts falsch machen,
außerdem kommen ja auch einige Bekannte. – Und – ich habe dort eine
Überraschung!“ Seine Freude war deutlich zu spüren und übertrug sich auf mich.
Lächelnd nickte ich: „Ich freue mich drauf.“ Und das stimmte sogar. Natürlich
war ich nervös, aber zum einen steckte Gabriels Begeisterung mich an und ich
freute mich auf Menschen und Veränderungen. Vielleicht war einfach die Zeit der
Ruhe vorbei.
Langsam kroch dann doch die Spannung meinen Magen hinauf. Donnerstag wurden unsere Sachen schon nachmittags fortgeschafft. Wir machten uns reisefertig, aßen ein Häppchen und sobald es dunkel wurde, geleitete uns Tejat zu den wartenden Fahrzeugen. Wir reisten getrennt, John und ich in einer und Gabriel und Kolya in einer zweiten Limousine. Das sollte zu unserer Sicherheit geschehen, aber auch für die allgemeine Bequemlichkeit. Gabriel und Kolya verabschiedeten sich beide mit einer wortlosen Verbeugung, die der Scuro erwiderte. Während sie schon los fuhren, standen wir noch in der Halle. Noch einmal bedankten wir uns für alles, was er uns geben hatte. Tejat wollte nichts davon wissen: „Wer weiß, vielleicht erlebe ich ja hier das Ende oder den Beginn einer neuen Zeit mit. Zumindest habe ich Teil an der Entstehung zweier großer Mitglieder unserer Gemeinschaft. Wenn ihr es schafft, kommt wieder, zu lernen gibt es immer etwas. – Und viel Spaß in den nächsten Tagen, so ein Treffen ist eine tolle Sache, gerade für die neuen. Übrigens werdet ihr sicher nicht die einzigen Neuzugänge sein. Oft sind es in einem Jahr so gut zehn bis fünfzehn Leute, die aufgenommen werden, dafür gehen auch ungefähr fünf Mitglieder.“ Da sprang ich ein, denn das war noch eine Sache, die ich nicht verstanden hatte: „Entschuldige Tejat, was hat das mit dem ‚verlassen’ der Gemeinschaft auf sich? Wieso sollte jemand das tun oder sollen und wie würde das von statten gehen?“ Der Scuro blickte in meine Richtung und lächelte wissend: „Es gibt verschiedenste Gründe und auch Methoden. Ein Grund ist unser hohes Alter. Mit über 800 Jahren hat man vielleicht genug vom Leben. Sowohl gesehen als auch erlebt. Es gibt einige Möglichkeiten, die Gemeinschaft zu verlassen, was sowohl ‚Tod’ als auch ‚austreten’ bedeuten kann. Natürlich können wir einfach sterben, indem wir uns mit Silber verletzen, ins Sonnenlicht treten oder spezielle Gifte zu uns nehmen. Aber es gibt auch die Möglichkeit, daß wir uns entschließen, einfach normal zu altern. Auch dafür gibt es Mittel. Manchmal verlassen auch jüngere Mitglieder die Gemeinschaft. Sehr selten gibt es einen Ausschluß wegen schwerer Vergehen. Manche wechseln zu ihren Gefährten in einen anderen Zirkel, die häufigste Ursache, warum jemand uns verläßt. Doch auch jüngere – oder jung scheinende – Mitglieder der Oscuro suchen manchmal Erlösung von der ewigen Dunkelheit. Und alle wählen ihren persönlichen Weg. Gabriel wird sie anhören, verabschieden und ihnen – wenn sie das wünschen – auch bei ihren nächsten Schritten beistehen. Das wird manchmal gerade von denen gewünscht, die den Tod suchen. So manches Mal war das schon eine harte und schmerzvolle Aufgabe für Gabriel. Und wenn du offiziell seine Gefährtin sein wirst, kann es sein, daß auch du diese schwere Aufgabe wahrnehmen mußt. Das ist deine Pflicht – Und John, sei gewiß, jedes Mitglied der Oscuro, speziell aus deinem eigenen Zirkel, darf diesen Gefallen von jedem einfordern, und er muß gewährt werden, wenn Gabriel zugestimmt hat. Solange es nicht gegen den Kodex verstößt, wird er wahrscheinlich sein Einverständnis geben. Also seid gewappnet. Es ist eine Sache von Vertrauen und Zuneigung – unsere Grundfesten – und auch eine Bitte um Beistand.. Doch sollte es dazu kommen, sind Gabriel und Kolya immer bei euch. Macht euch nur das Herz nicht schwer. Die Aufnahmefeiern überwiegen, sind ein wahres Erlebnis und ihr werdet sehen, auf einmal findet ihr euch in einer großen Familie. Und wenn das kein Gewinn ist…“ Er lächelte verträumt und schickte uns dann ohne viele weitere Worte zum wartenden Wagen. Still gehorchten wir und fuhren schweigend durch die Nacht. Gabriel und Kolya hatten einen großen Vorsprung, den wir auch nicht mehr einholen konnten. Während der Fahrt begann es schwer zu Regnen, ein Unwetter ergoß sich auf uns und der Fahrer drosselte die Geschwindigkeit. Ich sah zu John hinüber. Auch ohne jegliche Form von ‚Gedankenlesen’ wußte ich, daß auch in seinem Kopf jene Nacht in Schottland lebendig wurde. Er erwiderte den Blick und zeigte ein gepreßtes Lächeln, sagte aber nichts. Doch wir gelangten ohne Zwischenfälle an unser nächstes Ziel. Wieder begann die Annäherung mit dem durchqueren einer weitläufigen Parklandschaft. Allerdings umschlossen von einer hohen Mauer und einem elektrischen Tor. Dann fuhren wir über eine alte Holzbrücke und fanden uns plötzlich in einem mittelalterlichen Burghof wieder – unser Ziel war ein großes Wasserschloß. Mittlerweile hielt sich meine Überraschung in Grenzen, ich hatte schon genug seltsame und erstaunliche Orte gesehen, wenn es um die Oscuro ging. Wie die nur diese Schätze alle fanden. Ein Butler nahm uns am Eingang in Empfang, verbeugte sich leicht und bat uns, ihm zu folgen. Durch die große Eingangshalle ging es nach links, einen Gang mit Türen entlang, durch einen weiteren Saal und eine Treppe hinauf. Hier fand sich ein großzügiger Raum mit angrenzendem Bad für John. Auffällig war hier, daß es keine Fenster gab, sonst waren sie stets verhängt oder abgedunkelt, aber hier war davon nichts zu sehen. Dann bat mich der Butler ihm zu folgen. Dieses Mal war ich nicht in der Nähe von John untergebracht. Es ging einen weiteren Gang entlang, noch eine Treppe rauf. Vor einer doppelflügeligen Tür blieb er endlich stehen. „Die Quartiere des Kader und seiner engsten Vertrauten.“ Damit öffnete er und führte mich in einen Raum, der wiederum als kleiner Saal durchgehen konnte. Erneut zweigten verschiedenste Türen ab. Eine davon führte links in einen Wohn-Schlafraum, mit schwarzen Seidentüchern optisch voneinander abgetrennt. Dunkles Holz dominierte, aber der Raum wirkte gemütlich. Ein begehbarer Kleiderschrank – gefüllt mit meinen Sachen – war ebenso vorhanden, wie ein luxuriöses Badezimmer. „Die Herren sind mit Vorbereitungen beschäftigt. Sie werden sie später im Salon finden, das ist der große Saal, der an ihre Zimmer grenzt. Sollten sie etwas benötigen, gibt es hier eine Klingel. Eine Bedienstete wird ihnen noch einen Imbiß bringen.“ Damit verbeugte er sich ein weiteres Mal und verschwand geräuschlos.
Nun war ich im Zentrum des Corvus-Zirkel, Gabriels Heimat.
Ende Teil 2
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