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Jenseits der Träume

Buch 2 - Fortsetzung


Flucht

Look what you did to my heart
the pleasure of love tears me apart
your spirit has tamed my desire
but still you feel the same fire.


In vier Tagen war Weihnachten. Es schneite den ganzen Montag Vormittag und erst gegen Nachmittag waren die Strassen soweit geräumt, daß ich in die Stadt zurück kehren konnte. Als ich abends alleine in der Wohnung saß, fühlte ich mich leer und verlassen. Ich hatte mich mit Händen und Füßen gesträubt, eine tiefere Verbindung einzugehen. Und jetzt war ich diesen Männern im Blut verbunden, einem sogar noch mehr, wenn ich es einmal ehrlich betrachtete. Obwohl ich es nicht wollte. Hatte nicht Gabriel mit diesem verflixten Vergleich mit der Hölle angefangen: ich war in ihr und die Flammen waren über meinem Kopf zusammengeschlagen. Wieso hatte ich nur geglaubt, nicht zu verbrennen? Ich verbrachte eine unruhige Nacht. Dienstag faßte ich endlich einen Entschluß. Wenn schon Feuer, dann bitte auch lodernd. Also suchte ich meine Sachen zusammen, um Weihnachten bei meinen Freunden zu verbringen und nicht alleine und voller Selbstmitleid und Zweifel.

Ich war schon fast an der Tür, als das Telefon klingelte. Also gut, einmal noch. Aber es war Gabriel, was äußerst ungewöhnlich war. Doch seine Stimme erschreckte mich wirklich. Sie klang angespannt und dringend: „Rose, suche deine Papiere zusammen und nimm alle wichtigen Unterlagen und Ausweise für eine längere Reise mit. Du mußt in zehn Minuten die Wohnung verlassen. Wir können dich nicht holen. Bitte beeile dich und fahre direkt zu Kolyas Haus. Es ist wichtig, je schneller du weg bist, desto besser. Ich erkläre dir alles später. Hast du verstanden?“ Jetzt war ich ernsthaft besorgt. Aber ich hatte verstanden, daß ich los mußte und später fragen konnte. „Ja. Ich komme.“ – „Fahr vorsichtig aber beeile dich. Ich warte dort.“ Und damit war die Leitung tot.

Papiere? Ausweise? Karten? Na gut, ich griff mir alles, was ich nicht eh bei mir trug und war nach fünf Minuten in der Tiefgarage. Es hatte wieder angefangen zu Schneien und in der Dunkelheit war die Fahrt eine echte Strapaze. Ich brauchte über zwei Stunden für den Weg. Als ich endlich dort war, lag Kolyas Haus in Dunkelheit und ich war völlig fertig. Auf mein Klingeln öffnete einer der ‚Bodyguards’. „Sie werden im Salon erwartet. Ihre Autoschlüssel bitte.“ Wortlos gab ich sie ihm und er fuhr sofort mit meinem Wagen los. Mir blieb nur die Handtasche mit den Papieren. Verdutzt und irritiert ging ich in den Salon. Als ich die Tür öffnete, kam Gabriel sofort auf mich zu und nahm mich in den Arm. So hielt er mich eine ganze Weile und flüsterte dann: „Ich laß dich nie wieder so weit aus meinem Einflußgebiet. Und wenn du dich auf den Kopf stellst, meine schwarze Rose.“ Dann endlich ließ er mich frei. Auch John und Kolya drückten mich.

Der Raum war gänzlich unbeleuchtet und die drei hatten wohl vor dem fast erloschenen Kamin  gesessen. Kolya meinte: „Los weiter, jetzt zu Gabriel, reden können wir später.“ Ohne Aufenthalt stiegen wir in die Limousine, die statt meines Wagens vor der Tür stand. Nach kurzer Zeit waren wir bei Gabriel. Auch hier brannten keine Lichter. In der Empfangshalle schwärmten einige Angestellte und Bodyguards herum, es herrschte reger Betrieb, trotz der Dunkelheit im Haus, der aber keinen Sinn erkennen ließ.

Gabriel zog mich näher: „Wir müssen eine Reise machen. Jetzt sofort. Brauchst du noch irgendwelche Sachen aus deinen Räumen? Kleidung besorgen wir unterwegs.“ Ich schüttelte den Kopf, „Nein, Papiere, Ausweise und den ganzen Kram habe ich.“ Er nickte. „Gut. Abreise!“ Sofort nahm das Chaos um uns zu. Ich hörte ein Brummen und als wir wieder vor die Tür traten, stand dort ein großer Truck mit einem langen, container-förmigen Anhänger. An der Seite prangte ein Schild „Turnierpferde“. Wir stiegen hinten ein, einige Taschen wurden nachgereicht. Tatsächlich gingen wir über eine Rampe in einen Container, der sich als kleine Wohnung entpuppte. Sechs kleine, abgeteilte Schlafkabinen, eine Küche, Toilette und Aufenthaltsraum, verbunden durch einen so schmalen Gang, daß er zur Einbahnstraße deklariert werden mußte. Kaum war die Rampe geschlossen, setzte sich das riesige Fahrzeug in Bewegung. So reiste man also bei Tageslicht, wenn man die Sonne scheute. Ich fragte mich, wo der Wagen wohl her kam - genauer gesagt fragte ich mich einiges, aber das würde hoffentlich gleich kommen.

Wir ließen uns in die erstaunlich bequemen Sessel plumpsen, die in dem kleinen Raum dicht gedrängt standen. Als wir alle saßen und keiner etwas sagte, fragte ich: „Nun?“ Erstaunlicher weise antwortete dieses Mal John: „Die haben Mist gebaut.“ – „He!“ Kolya schaute ihn vorwurfsvoll an aber Gabriel nickte: „Stimmt wohl irgendwie. Also, was ist passiert: Vor knapp drei Stunden rief mich Scuro Tejat an. Er sagte, daß etwas nicht stimme. Dez Darian hätte sich gemeldet und nach seltsamen Gerüchten gefragt. Obgleich Tejat alles abgestritten hat, schien er bestens Bescheid zu wissen. Er kannte sogar deinen Namen und wußte, daß du in der Stadt bist. Irgendwer hat die Sache ausgeplaudert und vermutlich kommt nur Scuro Paridus in Frage. Dann, kurz darauf, meldete sich auch Seraphina – allerdings bei Kolya – mit dem dringenden Rat, dich schnellstens fort zu schaffen, bevor Dez seine Leute zu dir schicken kann. Woher er weiß, wo du wohnst, ist mir ein Rätsel, das wußte niemand außer uns dreien. Jedenfalls müssen wir jetzt erst mal Entfernung zwischen dich und Dezmont bringen. Dann werden wir überlegen, was zu tun ist, denn seine Absichten werden kaum freundlich sein.“

Das klang nicht so toll. Außerdem hatte ich den Verdacht, daß ich selber etwas dazu beigetragen hätte. „Äh, Gabriel?“ – „Ja?“ „Ist Sokrates vertrauenswürdig? Als ich die Führung gemacht habe, sind wir auch an meinem Haus vorbei gekommen und ich hab ihm gesagt, daß ich hier wohne…“ – „Da hast du die Antwort. Ein echter Opportunist. Vermutlich hat Dez ihn ausgequetscht, weil er wußte, daß Sokrates hier war. Verflixt. Na, wenigstens erklärt das seine Kenntnisse.“

Eine Zeit fuhren wir schweigend. Aber jetzt wollte ich doch ein bißchen mehr wissen… „Sagt mir jetzt irgendwer was über diesen Dezmont? Oder diesen Delphin?“ Einen Moment schaute Gabriel mich verständnislos an. Dann grinste er. „Didelphis! Das heißt ungefähr übersetzt ‚Ratte’, ist heute sein Titel und zeigt deutlich, was die Leute der Oscuro – oder einige zumindest – früher von ihm hielten. Er heißt Nathaniel. Er ist so geboren, wie du jetzt bist. Ihm schadet Tageslicht nicht, auch keine Silberkugeln, aber auch er kann seine Wunden heilen oder im Dunkel sehen. Er lebt in diesem Land obwohl er auch oft reist. Da die Oscuro ihn damals nicht grad mit offenen Armen empfangen hat, ist er nicht gut auf sie zu sprechen gewesen. Doch die Jahre ändern einiges. Eigentlich ist er friedlich, solange man ihn in Ruhe läßt. Das mußten einige schmerzhaft spüren. Hin und wieder erledigt er mittlerweile Aufträge für die Oscuro, vorwiegend, wenn es um das Aufspüren und äh - Zurechtweisen von Renegaten geht. Vermutlich wäre eine Unterhaltung mit ihm für dich interessant aber ich kann nicht mal erahnen, wie er deine Existenz aufnehmen würde. Daher werden wir ihn vorläufig nicht kontaktieren.“ Gabriel stand auf und holte alkoholfreie Getränke für uns – als ob es einen Unterschied gemacht hätte.

Kolya nahm den Faden auf, während Gabriel neben mir gedankenverloren seine Hand in meinen Haaren vergrub. So konnte ich dann Kolya nur einen Teil meiner Aufmerksamkeit widmen.

„Dezmont Darian – der weiße Drache – ist ein ganz anderer Fall. Er trat als junger Mann der Nadiesda Thurus bei. Dann hat er auf scheußliche Weise seinen Mentor gezwungen, ihn umzuwandeln. Später hat er diesen dann getötet, weil der zu laut Zweifel an der Eignung von Dez angemeldet hatte. Auch ein Versuch, ihn zu stoppen, schlug fehl. Über die Jahre eignete er sich immer mehr Macht an. Er hatte nie Skrupel, seine Ziele auf jedem erdenklichen Weg zu erreichen. Er nennt unseren Kodex, Unschuldige zu schützen, Animosität. Mittlerweile hat er eine größere Anhängerschar und einige mehr unterstützen ihn offen – oder heimlich. Cudro kam aus diesem Lager und die Begegnungen zwischen unserer und deren Seite verlaufen immer öfter blutig. Alles, was seine Macht stärken könnte, will er in die Finger bekommen; und seine endgültigen Pläne mögen richtig bedrohlich sein – und richten sich vermutlich auch gegen die Oscuro. Es ist heute schwer zu wissen, wer für oder gegen ihn ist, das beste Beispiel sind hier Sokrates und Scuro Paridus, wobei Sokrates vielleicht nur dazwischen geraten ist. Sei es wie es will, Dez ist der Meinung, daß du vielleicht bei seinem Streben hilfreich bist. Also hat er Leute losgeschickt, die dich holen sollten. Nun haben aber auch wir verdeckte – und offene Freunde, daher konnten wir dich rechtzeitig warnen. Und nun sind wir hier. Morgen Abend werden wir einen kleinen Flughafen erreichen. Lord Rodenby hat heute nach unserem Anruf sein Spezialflugzeug losgeschickt, das uns erst einmal außer Landes bringt. Das erste Ziel ist die Schweiz. Wir müssen Bargeld besorgen, damit unsere Spur nicht so leicht zu verfolgen ist. Auch dort – wie überall – haben wir Vertraute, die uns helfen werden.“

Kolya war fertig. Gabriels Hand wirkte beruhigend nach seiner Geschichte. Also gab es eine dunkle Seite bei diesen Wesen der Nacht. Ich fürchtete mich nicht wirklich, obwohl ich das vielleicht sollte. Aber solange wir beisammen waren, fühlte ich mich sicher. Die Idee, das Weihnachtsfest im Flugzeug zu verbringen, fand ich nicht unbedingt prickelnd aber immerhin besser als alleine. Wirklich erstaunlich – nein bewundernswert – fand ich die Schnelligkeit, mit der hier organisiert worden war.

Wir waren also auf der Flucht. Dieses war eine recht überraschende Entwicklung nach den vielen Vorteilen und Freundschaften, von denen sie bisher immer gesprochen hatten. Aber vielleicht hätte ich irgendwann im Zuge meiner ‚Aufklärung’ von diesen Graustufen erfahren – Immerhin war alles schnell und ungeplant abgelaufen.

„Wie ernst ist die Lage?“ fragte ich Kolya. Der hatte sein Grinsen schon wieder im Gesicht: „Wir sind unterwegs, wir haben Geld, Verpflegung und Helfer. Die, die uns suchen, wissen nicht, wo wir sind oder hingehen. Wir sind nicht in Gefahr.

Trotzdem müssen wir vorsichtig sein und wir müssen auf Dauer eine Lösung finden, denn wir können uns nicht jahrelang vor Dez verstecken. Das ist weder unser Stil noch lassen wir uns längere Zeit von irgend jemandem einschüchtern. Das ist schlichtweg inakzeptabel und verletzt meine Ehre.“ Da schaute wieder der andere Kolya durch das Lächeln, ein Kolya, den ich noch nicht sehr lange kannte und dessen Tiefe ich nicht erahnen konnte. Erst Bodyguard und Fahrer, dann Freund – und jetzt? Auch John, der bisher schweigend gelauscht hatte, schien nicht viel mehr zu wissen, als ich. Wir tauschten einen verwunderten Blick, der von einem leichten Anheben einer Schulter von ihm unterstützt wurde.

Wir reisten fast nur mit den Sachen, die wir am Leibe trugen. Obwohl, eigentlich nur ich, die Männer hatten Zeit gehabt, einige Dinge zusammen zu suchen. John winkte mich zu einer der kleinen Schlafkabinen. Auf der schmalen Liege lag ein kleiner Koffer: „Ich hatte nicht viel Zeit  und wußte nicht, was du brauchst. Also hab ich einfach ein paar Sachen reingeworfen. Hoffe, daß das reicht, bis wir uns neu eindecken können. Wir haben ja alle nur Reservehosen und Hemd dabei.“ – „Wie lieb John. Wer weiß, wie lange wir warten müssen, immerhin ist ja bald überall Feiertag.“ Ich griff nach dem Koffer. Eine Jeans, Pullover, zwei Shirts, Unterwäsche und Badutensilien. „Perfekt! Alles, was ich brauchen werde, habe ich. Danke dir.“ Ich machte eine Pause, setze mich auf das Bett und deutete auf den Platz daneben. Es gab eh keinen anderen Ort zum Sitzen. Ein kleiner Spind, das Bett und das Zimmer – nein, das Kämmerchen – war voll. Er setzte sich.

„John, was sagst du zu der ganzen Geschichte? Ich meine mit Dez und unserem überstürzten Aufbruch und – ach, alles irgendwie.“ John schaute auf den Boden vor sich. Er schien zu überlegen. „Als der erste Anruf heut Nachmittag kam, ist Gabriel fast ausgerastet vor Wut. Ich hatte ihn noch nie so gesehen. Selbst ich fand ihn bedrohlich, obwohl ich einiges kenne. Diese Wende hat beide unvorbereitet getroffen. Ich kann mir irgendwie nicht vorstellen, daß wir lange in der Defensive sein werden. Ich hatte schon gehört, daß es eine Gruppe von ‚Abtrünnigen’ gibt, aber erst heute habe ich die ganze Geschichte gehört. Natürlich war es richtig, sofort zu verschwinden und ich bin sicher, daß die zwei Mittel und Wege haben, eine solche Flucht spontan zu organisieren.

Also, an ihren Fähigkeiten und ihrem Willen, dich zu schützen, habe ich keinen Zweifel. Aber genau wie du“, er grinste wissend, „habe ich auch in der letzten Zeit öfter über Kolya gestaunt. Ich weiß nicht viel mehr als du, es scheint wesentlich mehr in ihm zu stecken, als wir geahnt haben. Gabriel vertraut ihm – jederzeit und uneingeschränkt. Ich bin sicher, daß wir mit unserer Menschenkenntnis richtig liegen – außerdem haben wir auch keine Wahl. Eigentlich ist es doch nicht, daß ich Zweifel an ihm habe, ich frage mich nur, wer oder was er nun wirklich ist – welche Bedeutung er hat.“ Ich nickte. Er hatte ausgesprochen, was ich dachte. Ich sorgte mich nicht, daß Kolya auf der anderen Seite stand. Ich wollte eigentlich nur die Zusammenhänge verstehen, ausloten, bis in welche Tiefen diese Männer reichten. Ich vertraute ihnen mein Leben – oder so etwas in der Art – an, da sollte ich mehr über ihre Motive oder Besonderheiten wissen. Nur, wen sollte ich fragen.

John war so ratlos wie ich, vorerst gab es keinerlei Kontakte mit vertrauenswürdigen Mitgliedern der Oscuro. Es blieben nur Gabriel oder Kolya selber. Wenn ich Gabriel fragte, gab es zwei Probleme. Zum einen sagte er mir wohl stets die Wahrheit, ließ aber gern manches interessante Detail weg, gerade, wenn man nicht nachfragte – zum Beispiel weil man nichts bemerkte oder es nicht wußte. Das zweite, gravierende Problem war, daß mein Gehirn in seiner Gegenwart nicht vollen Dienst tat und sich kampflos anderen Instinkten ergab. Solange ich diese Schwäche nicht in den Griff bekam – wenn ich es denn mal wollte – würde es schwer werden, wichtige Informationen  aus ihm herauszubekommen. Schlimm genug, daß ihm das vermutlich klar war. Andererseits war hier vielleicht eine Möglichkeit… John unterbrach meine gedankliche Wanderung: „Ich denke, wir sollten versuchen, die zwei ein wenig mehr auszuhorchen. Wir sollten das unauffällig und bei passender Gelegenheit machen. Wenn wir was erfahren, tauschen wir Informationen aus. Was hältst du von meinem hochprofessionellen Plan?“ Er grinste schelmisch. Ich lachte zurück: „Eines echten Polizisten würdig! So machen wir es.“ John stand auf und ging zur Tür, nur ein kleiner Schritt. Ich folgte ihm: „Schön, daß du hier bist. Danke!“ Ich meinte es so, irgendwie war er der Rest meines alten Lebens. Das klang fatalistischer, als ich mich tatsächlich fühlte. Aber er war trotzdem ein tröstliches Stück ‚alte’ Realität. Er drehte sich zu mir und zog mich an sich. So standen wir einen Moment in einer stillen Umarmung; dann sagte er leise: „Ich bin dein Freund. Ich werde immer für dich da sein, wann immer du mich brauchen solltest. Und was immer es ist.“ Dann küßte er mich leicht auf die Wange und zog die Tür hinter sich zu.

Einen Augenblick stand ich verloren da, nur die gedämpften Fahrtgeräusche waren zu hören. Ich fragte mich, was er dachte – oder fühlte – wenn ich Gabriel küßte. John und ich hatten Körper geteilt, aber nicht wirklich Gefühle. Selbst nach den ganzen Geschehnissen war sein Körper noch immer eine Verlockung – ich hatte es gerade wieder gespürt. Und auch seine Augen sagten mehr, als sein Mund. Aber ich war gewachsen: ich würde mit ihm reden. Und das würde ich bald tun, das schuldete ich ihm. Doch vorher mußte ich noch ein paar Sachen klären, mit meinem Herzen, meinem Verstand und mit den anderen Mitreisenden. Also, warum trödeln, ich konnte meine Untersuchungen gleich mit Kolya beginnen.

Durch den schmalen Korridor kehrte ich in den Aufenthaltsraum zurück. John war nicht da, nur Gabriel und Kolya, die über eine Straßenkarte gebeugt waren. „In gut vier Stunden sind wir am Flugzeug. Es wartet in einem Privathangar, also können wir sofort – und dazu ungesehen – umsteigen,“ informierte mich Gabriel. „Am späten Mittwoch abend werden wir in Zürich landen. Ein Freund wird uns abholen und Donnerstag besorgen wir Geld und alles, was wir für eine längere Reise brauchen. Diese Kontaktperson hat einen umgebauten Reisebus. Damit werden wir uns bewegen können, falls nötig. Vielleicht bleiben wir einige Tage in Zürich, ich weiß noch nicht. Dann hätten wir Zeit, das weitere Vorgehen zu planen und uns über die genaue Situation zu informieren.“ Ich nickte nur. Wie schon vorhin mit John besprochen, die zwei schienen Herr der Lage zu sein. Wie konnte ich jetzt Kolya möglichst alleine befragen? Doch sie machten es mir einfach: „Ich werde mich ein wenig hinlegen, wenn wir erst da sind, haben wir vielleicht wenig Gelegenheit für Ruhe.“ Gabriel stand auf und versenkte seine Augen in meinen. Beinah wäre ich schwach geworden und hätte die Einladung in seinem Blick angenommen. Gewaltsam riß ich mich zusammen. „Gute Idee, das werde ich auch gleich machen. War ein langer Tag.“ Zu Kolya gewandt: „hast du wohl einen Augenblick Zeit für mich?“ Gabriel verstand und akzeptierte. Auf dem Weg in den Gang hauchte er mir einen Kuß auf die Lippen und streifte im Vorbeigehen ‚zufällig’ mit der Hand meine Hüfte. „Schlaf gut, schwarze Rose.“

Kolya nickte und zeigte auf den Sessel neben sich. Leicht benebelt von der zarten Berührung setzte ich mich und atmete tief durch. Wenn ich schon eine solche Einladung ausschlug, sollte es sich wenigstens lohnen. Also – von wegen vorsichtig aushorchen – fragte ich: „Wer bist du Kolya?“ Er schaute mich an, sagte aber nichts. Obwohl das gutmütige Lächeln dort war, wirkte er ernst. Die Uhr tickte langsam weiter und noch immer antwortete er nicht, aber ich würde nicht noch einmal fragen, er hatte mich verstanden. Dann stellte er sein Glas ab und nickte. „Es geht um Vertrauen. Einem Fremden bedingungslos zu folgen, ohne zu zögern.“ Vielleicht mußte ich da etwas klar stellen: „Nein Kolya! Ich vertraue dir. Das ist nicht das Problem. Ich will aber auch wissen und verstehen. Ich lege ohne Bedenken mein Leben in deine Hände, aber ich will wissen, in wessen Hände ich es gebe, und warum ich mir so sicher bin.“

Er grinste jetzt eindeutig wieder mehr. „Wenn du mir nicht trauen würdest, wärest du wohl nicht hier. Doch die Antwort bleibt die Gleiche. Ich bin ein Fremder für dich, Kleine, jetzt vielleicht noch mehr als vorher. Eine Tatsache! Doch auch eine Grundregel in unserer Gruppe, zu Vertrauen, ohne zu wissen, warum. Das tust du.

Ich bin Kolya Ovibas. Das Wort heißt in etwa ‚Büffel’. Gabriel ist der Rabe, das weißt du ja. Er ist allerdings auch einer der zehn Kader. Zur Erklärung: Es gibt zehn verschiedene Zirkel in der Oscuro. Dez führt einen Zirkel, Gabriel einen anderen. Der Rat der Alten stammt aus drei weiteren verschiedenen Zirkeln, keiner von ihnen gehört nebenbei bemerkt zur Gruppe von Dez oder Gabriel. Sie werden gewählt beziehungsweise per Los bestimmt und stehen außerhalb der Zehn. Das Oberhaupt eines jeden Zirkels ist der Kader.

Ich bin eine Art von Sicherheitsbeauftragter. Mir obliegt es, den Obersten des Corvus-Zirkels zu schützen und vor jeglichem Schaden zu bewahren. Übrigens gehören wir alle – du auch – durch den Blutsaustausch dieser Gruppe an. Sobald Gabriel ein Problem hat, bin ich dafür zuständig – auch wenn er das manchmal anders sieht. Vor langer Zeit habe ich diese Verantwortung übernommen und bei seinem und meinem Blut geschworen. Daher habe ich das Recht – und die Pflicht – ihn anzuweisen, wenn es zu Schwierigkeiten kommt. So würde ich das jetzt zum Beispiel nennen. Und da kommt das Vertrauen. Ohne gegenseitiges blindes Vertrauen, in jeder Situation, würde es nicht funktionieren. Jeder Zirkel hat einen solchen Berater – einen Kaj. Oder sollte er zumindest. Jedes Mitglied der Corvus-Gruppe wird dem Kaj ohne Rückfragen blind vertrauen, auch wenn es mich noch nie vorher gesehen hat. – Ach ja, und ich verdiene tatsächlich sehr gut mit meinem Fitneßstudio für Reiche. Und Gabriels Unternehmen werfen nicht nur gute Rendite ab, er war schon reich, als ich ihn kennen lernte. Das aber nur um zu sagen, daß Geld auf dieser Reise das geringste Problem sein wird.

Noch mal zu den Kaj. Ich bevorzuge es eigentlich, wenn nicht gleich jeder erkennt, wer ich bin, gerade im Umgang mit normalen Menschen und auch bei Leuten der Nadiesda Thurus. Aber du und John, ihr hättet es eh bald erfahren und ich habe auch die Aufgabe, euch zu schützen, – besonders dich. Ich weiß, daß du mir vertraust. Hoffentlich verstehst du mich jetzt auch besser.“

Ich hatte konzentriert zugehört. Wieder ein großes Stück im Puzzle und die Bestätigung, daß der direkte Weg oft der Beste war. „Danke Kolya! Jetzt fühle ich mich fast noch sicherer als vorher. Ich will versuchen, deine Arbeit leicht zu machen, aber manchmal ist es schwer, sich nicht zu wundern.“ – „Ach, ich weiß, es ist einfach  zu viel falsch gelaufen – und läuft noch immer falsch. Trotzdem, irgendwie habe ich auch das Gefühl, daß es gut ist, daß das Schicksal uns immer rechtzeitig einen deutlichen Wink gibt, dem wir folgen müssen, wie mit dem Zeremoniendolch und anderen Dingen. Es gibt hier einfach zu viele positive Effekte, um schlecht zu sein – um es so zu formulieren. Aber darüber werd ich nichts weiter sagen, ein paar Geheimnisse sollte es schon noch zu ergründen geben.“

Ich wußte nicht genau, was er meinte, aber das war nicht so wichtig im Moment. Ich verstand seine Bedeutung in der Gruppe besser, ich hatte Freunde hier – und Gabriel. Vielleicht wußte ich doch ungefähr, was er meinte. Doch das schelmische Grinsen ließ darauf schließen, daß da noch ein paar Geheimnisse auf Entdeckung warteten. Aber nicht mehr heute. Der Tag war wirklich lang gewesen, inklusive furchtbarer Fahrt durch Schnee. Ich stand auf, beugte mich zu Kolya und gab ihm einen Kuß – direkt auf den Mund. Als Lohn erntete ich einen verblüfften Ausdruck und dann ein Lächeln, daß kein Grinsen war.

„Noch mal danke. Ich werde jetzt schlafen, mein Bär. Ich bin ja in guten Händen. Bis morgen – oder nachher oder was auch immer.“

In meiner kleinen Koje ließ ich mich in Unterwäsche auf die Pritsche fallen. Nur einen halben Gedanken später schlief ich tief und fest.

Ich erwachte davon, daß eine Hand sanft über mein Gesicht strich. An meinem Bett saß Gabriel und schaute mich versunken an. Als ich ihn direkt ansah, leuchteten seine Augen wie Sterne in einer klaren Nacht.„ “Ich wollte dich nicht erschrecken, aber wir sind am Flugzeug und müssen umsteigen. Heute Abend sind wir dann in Zürich und werden dort auch ein paar Tage bleiben, um Ruhe zu finden und uns zu orientieren. Du mußt aufstehen.“

Ich nickte noch leicht verschlafen. „Ich komme Gabriel.“ Ich schob die Bettdecke weg und setzte mich hin. Gabriels Hand wanderte unschuldig vom Kopf am Hals abwärts und stoppte, wo das Unterhemd die Brust verdeckte. „Wenn du in weniger Kleidung geschlafen hättest, würden wir vermutlich jetzt das Flugzeug verpassen. Doch du solltest dich jetzt anziehen, bevor ich meine Meinung ändern muß“, sagte er leise. Abrupt stand er auf und verließ den Raum. Ich schwankte zwischen Verwunderung und leichter Erregung als ich mich anzog, den Koffer nahm und in den Aufenthaltsraum ging. Alle drei Männer warteten und die hintere Klappe des Containers war schon offen. Direkt dahinter stand das Flugzeug. Nach zehn Metern befanden wir uns wieder in dem klimatisierten Raum. Wir arrangierten uns in den Sitzen und schon waren wir auf dem Weg.

Mittlerweile hatte ich mein Zeitgefühl so gut wie verloren. Laut Kolya war es Mittwoch und ungefähr Mittag. Ich kuschelte mich in meinen Sitz und döste vor mich hin, bis ich davon aufwachte, daß John sich neben mich setzte.

„Die beiden planen unsere weitere Reise. Normalerweise stehen ihnen fast überall passende Transportmittel zur Verfügung aber das will alles vorbereitet sein. Und scheinbar haben sie auch vor, einige falsche Fährten zu legen.“

Mir fiel mein Gespräch mit Kolya ein. Also berichtete ich ihm ausführlich von unserer Unterhaltung. Danach stellte er noch einige Fragen und grinste dann. „Jetzt macht so einiges Sinn. Aber unser Instinkt war schon richtig, siehst du? Doch ich würde nicht sagen, daß deine Art subtil war. Trotzdem gute Methode.“ Wir plauderten noch ein wenig und hingen dann jeder unseren eigenen Gedanken nach. Irgendwann döste ich dann wieder ein. Und wachte mit meinem Kopf auf Johns Schulter auf, als wir aufsetzten. Gabriel kam zu uns nach vorne. „Ihr habt fast den ganzen Flug verschlafen. Jetzt ist es aber wirklich genug. Auf mit euch!“ Dabei versuchte er recht erfolglos böse zu schauen. Meine Knochen waren völlig steif und ich fühlte mich zerknittert und sehr hungrig. Immerhin hatten wir seit gestern nichts gegessen.

Wir schnappten unsere Sachen und traten hinaus in eine gleißend helle Nacht. Es war eiskalt und klar und überall lag hoch Schnee. Von den Flughafengebäuden glänzte gelbes Licht herüber, aber wir waren an einem zurückgelegenen Hangar. Ein kleiner Bus brachte uns zum Zoll und kurz danach standen wir vor dem Gebäude. Eine lange Limousine hielt neben uns und ein kleiner Mann sprang vorm Fahrersitz und uns entgegen. Ein Mitglied der Nadiesda Thurus, offensichtlich. „Sie werden erwartet, bitte steigen sie ein.“ Er verstaute die Koffer hinten und kehrte zum Fahrersitz zurück. Kolya wählte den Beifahrersitz, wir anderen setzen uns in den Fond. Zügig ging es durch die Stadt. Überall leuchteten Weihnachtsbäume, Menschen hasteten mit Paketen über die Straßen und der Verkehr war so dicht, wie an einem normalen Mittag. Ich hatte kurz vergessen, daß es noch eine normale Welt gab, die nicht stoppte sondern ignorant einfach weiter existierte. Fasziniert beobachtete ich das lebhafte Treiben. Einen Moment fühlte ich mich verloren, einen Tag vor Weihnachten in einer fremden Stadt.

Dann spürte ich Gabriels Hand auf meinem Arm. Wie machte er das nur immer, genau zur rechten Zeit da zu sein. Ich drehte mich vom Fenster weg und sah ihn an. Wärme und Zuneigung ließen sein Gesicht im flackernden Licht weich erscheinen, das Lächeln weckte den Teil von mir, der alle Sorgen für einen Moment mit ihm vergaß. Mein Herzschlag beschleunigte sich, als sein Blick in meine Augen tauchte und dort verweilte. Was tat er nur mit mir, wie war ich in diese Schwingen geraten? Was war, wenn ich irgendwann nicht mehr fort konnte – oder wollte. Zu der Wärme, die er erzeugte, gesellte sich eine andere Hitze – Angst vor dem Endgültigen, davor, daß ich die Kontrolle verlor, über mich, mein Leben und – am schlimmsten – meine Gefühle.

Gabriel hatte meine Gedankengänge nicht unterbrochen, nur mich weiter mit diesen dunklen Augen angesehen. Als er sah, daß ich zurückgekehrt war, sagte er: „Lächle, Schwarze Rose! Wir sind zusammen, wir werden später einen echten Einkaufsbummel machen und außerdem strahlst du Licht und Wärme aus, wenn du das tust. Oder ich muß nachhelfen.“ Alleine diese schreckliche Drohung vertrieb schon die dunklen Gedanken ein wenig: „Oh, wie soll denn das funktionieren? Aber weil du so nett ‚bitte’ gesagt hast, werde ich mich mal aufraffen…“ Mein – noch etwas zurückhaltendes - Lächeln schien zumindest ein Anfang. Er beugte sich zu mir: „Es gibt viele Arten des Lachens, ich werde dir ein paar davon zeigen, in einem Spiegel. Und jedes davon, das du mir schenkst, ist wie eine Droge für mich.“ Er war so dicht bei mir, ich konnte nicht verhindern, daß ich seine Wange küssen mußte, als ich zurück flüsterte: „Dann werde ich dich berauschen, mein großer, schwarzer Rabe.“ Damit zog ich mich zurück und badete zur Belohnung in einem Blick von ihm, der sogar einen Stein zum Erröten gebracht hätte.

Schlagartig war meine Stimmung wieder gut – und wie auf Kommando stoppte der Wagen in einem Vorort vor einer großen, alten Villa. Scheinbar wohnten alle Mitglieder der Oscuro recht komfortabel.

Neue Freunde

Look what you did to my heart
the pleasure of love tears me apart
your spirit has tamed my desire
but still you feel the same fire.

Man führte uns in ein Empfangszimmer, das vollständig im Jugendstil eingerichtet war – eindeutig anders als die anderen Residenzen bisher. Das erklärte sich einen Moment später, als unser Gastgeber eintrat. Genauer: unsere Gastgeberin. Eine umwerfende Frau, äußerlich vielleicht Anfang 40, mit langen, blonden Haaren. Sie war erkennbar ein Mitglied der Oscuro, das schwarze, hautenge Kleid schien mit der Aura zu verschmelzen. Sie hatte ein ebenmäßiges Gesicht mit hohen Wangenknochen und leuchtend blaue Augen, die uns nacheinander maßen. Sie verweilte etwas länger bei John und mir, Kolya bedachte sie mit einem feinen Lächeln. Dann trat sie auf Gabriel zu.

„Corvus, es ist mir eine Ehre, dich wieder in meinem Hause begrüßen zu dürfen, wenn auch die Umstände etwas unglücklich scheinen. Was immer ihr braucht, ich werde es besorgen. Jetzt müßt ihr euch von den Strapazen erholen. Mein Haus ist euer Haus.“ Damit umarmte sie ihn. Er drückte sie und während er mit ihr zu uns trat, sagte er „Danke, daß du uns sofort und ohne Fragen aufnimmst. Ich erkläre alles später.

Jetzt möchte ich dir John vorstellen. John, das ist Okcania.“ John streckte die Hand aus aber sie ignorierte die Geste und zog ihn ebenfalls in eine Umarmung. „Gabriels Freunde sind meine Freunde. Willkommen in Zürich und in meinem Haus.“ Als sie ihn losließ, hatte John eindeutig etwas Farbe angenommen. Aber schon deutete Gabriel auf mich: „Und das ist LaVerne. Obgleich es nicht so scheint, ist ihr Blut mit meinem verbunden. Und sie steht unter unserem besonderen Schutz.“ Sie lächelte mit schneeweißen, ebenmäßigen Zähnen zu mir rüber. „Ich sehe schon, das wird eine interessante Geschichte. Willkommen LaVerne – ich freue mich, dich kennen zu lernen.“ Auch ich wurde mit einer festen Umarmung begrüßt. Dafür erhielt Kolya nur ein freundliches Nicken.

„Aber jetzt erst die wichtigen Dinge. Es scheint mir, daß ihr mit wenig Gepäck reist. Ich kann für heute mit etwas Kleidung aushelfen, morgen werden wir dann neue Sachen organisieren. Ich habe den Gästeflügel im ersten Stock vorbereiten lassen. Jeder hat einen eigenen Schlafraum, aber es gibt nur ein Bad – dafür aber auch einen großen Gemeinschaftsraum. Außerdem steht dort ein Essen für euch bereit. Zieht euch um, macht euch frisch und eßt erst mal was. Ich muß noch einiges erledigen. Ich würde vorschlagen, wenn ihr soweit seid, sagt Bescheid, damit wir klären, was morgen alles besorgt und erledigt werden muß. Außerdem will ich ja auch die Geschichte noch hören. Einverstanden?“ Sie war recht resolut und schien an alles gedacht zu haben. „Okcania, du hast dich wieder mal selber übertroffen. Vielen Dank.“ Gabriel nickte Kolya zu, als er das sagte und zog mich und John zur Tür. „Ich kenne den Weg noch, wir gehen schon mal. Kolya möchte noch kurz mit dir reden. Bis nachher dann.“ Damit ließen wir die zwei alleine und stiegen eine große Treppe hinauf. Auf dem Weg erklärte Gabriel: „Kolya muß sie unbedingt instruieren, daß jeder Kontakt mit bestimmten Leuten vermieden werden soll. Außerdem hatte Kolya schon immer eine Schwäche für Okcania und ein bißchen ‚alleine sein’ weckt vielleicht alte Erinnerungen.“

Damit schob er uns durch eine Tür in einen großen Wohnraum. An der Kopfseite eine einzelne Tür, daneben hingen Gobelins an den Wänden. Rechts ging ebenfalls eine Tür ab, links genauso. Ein riesiges, mehrteiliges Sofa nahm einen großen Teil des Raumes ein, ein Tisch war mit unserem Abendessen gefüllt: Fleisch in Warmhalteschalen, Obst, Brot und Käse. Unsere kleinen Koffer standen im Raum. Die Tür rechts führte in einen Gang, der zu zwei Schlafräumen führte. Darin gab es einen Kleiderschrank, einen einzelnen Stuhl und ein Bett, die jeweils seitenverkehrt angeordnete waren. John reservierte sich gleich den ersten Raum. Links sah es genauso aus. Der Raum am Kopfende entpuppte sich als ein großes Badezimmer mit Dusche und Badewanne. Ich bezog den ersten Raum auf der linken Seite, Gabriel den Raum daneben. In dem Kleiderschrank fanden sich Shirts und Pullover in verschiedenen Größen. Die Hosen waren viel zu groß aber eines der Shirts machte sich hervorragend als Kleid. Solange wir hier im Raum blieben, konnte ich so rumlaufen. Sehr schnell fanden wir uns alle am Tisch ein. Unsere Gastgeberin hatte Thermoskannen mit Tee und Kaffee und einige Flaschen Wasser und Wein mitgeliefert und eine Weile genossen wir schweigend.

Dann gesellte sich Kolya zu uns. Sein Gesicht sprach Bände – offensichtlich hatte das Auffrischen alter Erinnerungen funktioniert. Ohne Murren akzeptierte er das verbliebene Zimmer, leistete uns aber vorerst mal beim Essen Gesellschaft. Mit den leckeren Sachen kehrten meine Lebensgeister endgültig zurück.

Danach ließen wir uns in die Sessel fallen. „Okcania hat eben den Bankdirektor – wohl ein guter Freund – angerufen und der wird morgen ein Kurierfahrzeug mit dem Geld schicken. Das ist also schon erledigt. Und dann hatte sie noch eine gute Idee. Als ich sagte, wir brauchten eine vollständige Garderobe für uns vier, hat sie eine Freundin angerufen, die ein Bekleidungsgeschäft im Zentrum hat. Die läßt morgen den Laden zu und rückt mit einer großen Auswahl und einer Schneiderin hier an. Wir werden also morgen eine richtige Modenschau hier haben. Und was wir aussuchen und nicht paßt, wird sofort geändert.“ Dabei warf er mir einen frechen Blick zu und ließ ihn über meine Beine abwärts gleiten. „Was ist, gefällt dir meine Abendgarderobe etwa nicht?“ – „Oh doch, sehr sogar, von mir aus brauchst du nichts anderes, aber das könnte einige Leute auf der weiten Reise etwas – äh – ablenken.“ Noch immer dieser freche Ausdruck und diese Mal gab ich zurück: „Ach, denkst du, daß ich das mit Kleidung nicht kann, Leute irritieren?“ Er schaute kurz verdutzt, er war unvorbereitet gewesen. Hilfesuchend sah er zu Gabriel der gerade schrecklich mit einem Apfel beschäftigt war… Als er dann sah, daß ich mir große Mühe gab, ein Grinsen zu unterdrücken, gab er zurück: „Ich verweigere die Antwort. Was ich auch immer sagen werde, wirst du gegen mich verwenden. Siehst du, jetzt bin ich auch verwirrt. Also nein!“  Er lachte und steckte sich noch ein Stück Käse in den Mund. „Äh, was wollte ich sagen, ach ja, ihr braucht nicht unbedingt mit runter zu kommen. Ich werde ihr alles Notwendige erklären. Macht euch einen gemütlichen Abend – und ihr braucht nicht zu warten.“

Damit stand er auf und ließ uns sitzen. John verkündete, daß er jetzt duschen wollte. Gabriel blieb auf dem Sofa und ich legte meinen Kopf in seinen Schoß, während wir leise redeten. Er erzählte, daß Okcania fast 300 Jahre alt sei und einem alten Adelsgeschlecht entstammte. Sie hatte hervorragende Verbindungen – wie sonst würde ein Bankdirektor am Heiligabend Geld ins Haus schicken – und war eindeutig vertrauenswürdig. Während der ganzen Unterhaltung strich er sanft über mein Gesicht, die Harre und Schultern. Eine einfach und verträumte Geste ohne Hintergedanken aber gerade deshalb besonders sinnlich – und ablenkend. Auf einmal schien mir, als wäre alles ein Traum und wir ein normales Paar auf einem normalen Sofa in einer normalen Wohnung.  So hätte ich stundenlang liegen bleiben können.

Aber als John zurückkam, gönnte sich auch Gabriel eine Dusche. Ich berichtete John derweil von meinen neuesten Informationen. Nach einer Weile fand er in einem der Schränke eine Stereoanlage. Also machten wir Musik an und waren weiter einfach mal normal.

Wir unterhielten uns, als die Badezimmertür sich öffnete. Gabriel kam heraus und ging in Richtung seines Schlafraumes – nackt, wie Gott ihn einst geschaffen hatte. Ohne uns zu beachten, glitt er wie eine große dunkle Raubkatze an uns vorüber, die Haare noch naß und glänzend. Unsere Unterhaltung stockte und wir starrten ihm nach. Von meinen Augen wanderte das Bild in den Magen, zum Herzen und verteilte sich dort wie ein süßes Gift. Meine Hände wurden feucht und der Mund trocken. Er war schon lange in seinem Raum verschwunden, bevor ich ‚aufwachte’, mich umdrehte und John anstarrte. Er antwortete mit einem schiefen Lächeln: „entweder müssen wir noch viel lernen, oder ich bin völlig falsch erzogen worden…“ – „…oder wir haben grad geträumt. Nicht, daß das ein Alptraum war, aber…“ mir fiel nichts mehr dazu ein.

„Vermutlich sollten wir uns nicht wundern oder starren – diese Wesen haben einfach eine andere Sicht der Dinge. Manchmal fühle ich mich ihnen noch so fern.“ John seufzte leise. „Ich weiß, was du meinst“, bestätigte ich. „Wenn sie um uns sind, scheinen sie die Welt zu verändern, zu ihrem Vorteil. Als ob man in einem Kraftfeld steckt, das dämpft und filtert.“ John dachte einen Moment über meinen Vergleich nach: „Gar nicht schlecht, das trifft eigentlich recht gut. Und ich denke, daß es sogar stimmt, nicht nur eine Analogie. Da ist mehr an den Mitgliedern der Oscuro, als wir gesehen haben. Jeder strahlt Macht und Selbstbewußtsein aus, sie sind von einer Magie umgeben. – Ich denke, sie können viel mehr, als wir wissen. Soll nicht abwertend sein, aber nicht nur Blut verbindet sie, auch innere Stärke und … und …mir fällt eben nur das Wort Magie ein!“

„Sie haben eine starke Ausstrahlung – anziehend und faszinierend, das gilt sowohl für die Männer, als auch die Frauen, wenn Okcania ein typisches Exemplar ist. Und ich warte noch immer darauf, immun zu werden.“ ergänzte ich.

„Ihr werdet nie immun. Wir sind es auch nicht. Und ihr habt Recht, es gibt mehr, als das Auge sieht. Dafür gibt es einen guten Grund und der liegt in unserer Vergangenheit.“

Wir drehten uns erschrocken zur Tür der Schlafräume. Gabriel stand dort, in Jeans und Shirt. Wie lange er schon zugehört hatte, wußten wir nicht. Langsam kam er zu uns und setze sich, daß er uns anschauen konnte. Dann fuhr er fort:

 „Früher, als wir unseren Blutbedarf noch an lebenden Menschen stillen mußten, war es erforderlich, diese ‚anzulocken’. Sie mußten sich nach unserer Gesellschaft sehnen, sich bei uns sicher und begehrt fühlen. In der Natur findet man viele Beispiele, daß ein Tier ein anderes  mit einem Trick anlockt und dann verspeist. Immerhin überlebten unsere Opfer und waren dann auch noch glücklich und befriedigt. Diese Fähigkeit zu locken, ist uns erhalten geblieben. Es ist sicherlich Magie,“ er lächelte John an „schon alleine, weil wir uns diese dunklen Mächte zunutze machen können. Aber es umgibt uns wie eine zweite Haut, oder ein Duft – oder von mir aus auch Pheromone. Wir können es nicht abschalten. Aber das wollen wir auch gar nicht. Wir sind körperbetont und erfreuen uns und unseresgleichen damit. Es ist ja auch nicht so, daß ihr nicht wißt, was wir unter unserer Kleidung verbergen. Und der Ordnung halber sollte ich euch auf etwas aufmerksam machen: auch ihr beide habt diese Ausstrahlung. Sie ist nicht so intensiv, weil ihr sie noch unbewußt unterdrückt. Aber glaubt mir, sie wirkt – und wird stärker von Tag zu Tag. Ihr müßt es nur zulassen.“

John antwortete spontan: „Sollte das wirklich so sein, ist das nicht so einfach. Erstens, es widerspricht gravierend meiner ganzen Erziehung, zweitens, wie überwinde ich die innere Sperre?“

 „Sei offen. Grenzen wurden geschaffen, damit wir sie überwinden. Folge dem Gefühl und dem Herzen. Liebe!“

Ich schaute ihn zweifelnd an. Ich hatte meine eigenen Betrachtungen über Liebe schon früher mit dem Ergebnis abgeschlossen, daß das nur zu Schmerz und Problemen führte. Und alles loslassen und leben war genau das, was ich nicht konnte, wenn ich es überhaupt wollte. Aber ich sagte nichts. Und daß wir diese Wirkung hatten, war mir nicht aufgefallen. Doch bei dem Einwand kam mir John wieder zuvor. „Ich denke nicht, daß ich mich groß verändert habe, abgesehen von der Tatsache, daß ich zumindest einigen Dingen gegenüber aufgeschlossener bin.“ Er sah mich kurz an und lächelte. Ich wußte, daß er an unsere Unterhaltung in Gabriels Haus über jene Nacht dachte. Ich lächelte zurück.

 „Du hast dich verändert, sowohl äußerlich als auch innerlich. Warte ab, du wirst den Effekt früher merken, als du vielleicht denkst. – Doch genug von diesen Themen. Wir sollten Schluß machen. Morgen gibt es viel zu tun.“ Gabriel erhob sich. „Ich werde kurz das Haus verlassen. In ein bis zwei Stunden bin ich zurück. Keine schwarzen Gedanken mehr, ihr zwei. Wenn überhaupt, nur an schöne Dinge denken.“ Er grinste, stand auf und ging hinaus.

John schüttelte den Kopf. „So ein Unfug. Na, egal. Ich geh ins Bett, ich bin irgendwie völlig gerädert.“ Wir trennten uns und dann ließ ich mir noch ein Bad ein. Ungestört ließ ich die Wärme meinen Körper entspannen. Damit war ich gut für die Nacht gerüstet und genoß den Komfort eines weichen Bettes.

Irgendwann nachts wachte ich von einem Geräusch auf. In der Tür stand Gabriel in einem Morgenmantel. Ich hob den Kopf und leise trat er näher.

„Ich wollte dich nicht wecken. Bin grade zurück und wollte eigentlich nur sehen, ob alles ok bei dir ist, meine Rose“, flüsterte er. Ich hob leicht den Arm „Jetzt ja.“ Er griff nach meiner Hand und setze sich auf den Bettrand. „Twala dorna het elni charat.“ Ich war wohl noch halb am schlafen: „Was?“ – „Nichts“, murmelte er. „Du gewinnst jeden Tag mehr Macht über mich, Rose.“

Ich rückte etwas zur Seite, zog seinen Arm näher zu mir: „Komm, leg dich zu mir.“ Er schlüpfte ohne Widerrede unter die Decke. Gegen die Wärme in meinem Bett war er angenehm kühl. Vorsichtig hob er meinen Kopf und legte ihn sanft auf seine Schulter. Nun lag ich an ihn gekuschelt und ließ seine kühle Haut in mir zu Wärme werden. So schliefen wir gemeinsam ein.

Es war schön, am Heiligen Abend mit ihm aufzuwachen, denn er lag noch immer an meiner Seite, einen Arm über meine Hüfte gelegt. Eine ganze Weile starrte ich ihn an, die dunklen Locken, das ebenmäßige, im Schlaf entspannte Gesicht, den gut gebauten Körper. Ich bewegte mich nicht, um dieses Gefühl und den Anblick noch etwas wirken zu lassen. Aber irgendwann forderte die Natur ihren Tribut und ich machte mich ins Bad auf.

Wir frühstückten zu dritt im ersten Stock. Kolya war nicht zurück gekehrt, dafür brachte ein Angestellter Baguette und Marmelade und Kaffee.

Später wurde Gabriel nach unten gerufen, um die Geldtransaktion abzuwickeln. Am späten Vormittag kam dann Madame Bermaux – die Dame aus der Boutique. Sie hatte nicht nur eine Schneiderin dabei, sondern fünf riesige Kleiderkoffer voll mit Herrenausstattung – und einen extra Ständer für mich. Wir machten es uns bequem und spielten Modenschau. Gabriel und John konnten sich ohne Probleme einkleiden aber Kolya mußte wegen seiner Statur etwas leiden. Zuerst fand sich weniger Kleidung, als für die anderen zwei, dann mußte fast alles geändert werden. Aber dann waren alle drei in beste Stoffe gekleidete, ein größerer Vorrat wurde gleich in Koffer gepackt. Die Kleidung war sehr hochwertig und kam dem Geschmack meiner Mitreisenden entgegen: viel Seide und Leder, dunkel und edel. Dann war ich dran. Obwohl die Männer eher bei den Kleidern Begeisterung zeigten, nahm ich doch nur zwei. Was sollte ich denn damit im Flugzeug oder im Bus oder in was auch immer. Auch ich wurde dann passend in Leder und Seide gekleidet. Die extrem teuren Sachen waren mir schon fast peinlich, obwohl ich auch sonst gut gekleidet war. Aber gegen die drei Herren und eine resolute Hausherrin kam ich nicht an. Immerhin gab es auch ein paar praktische Sachen.

Zum Schluß warfen wir die Männer hinaus. Okcania meinte: „wir gehen jetzt zur Unterwäsche über, da habt ihr nix zu suchen. Raus!“ Murrend folgten sie. Dann lachte sie mir zu: „Komm LaVerne, wir suchen ein paar Teile aus, damit es eine Überraschung für sie gibt und sie mal so richtig staunen können – wenn sie denn wieder den Mund zubekommen haben.“ Und da fanden sich in der Tat einige nette Sachen. Wir probierten an und lachten und ich hatte das Gefühl, sie schon ewig zu kennen. Wir ließen uns Zeit und als wir endlich einen ansehnlichen Schwung zusammen hatten, war gerade der Kaffee für uns gebracht worden. Während die zufriedene Madame Bermaux sich verabschiedete, machten wir es uns ohne die Männer in einem der Salons gemütlich.

„Bist du traurig, weil du Weihnachten nicht zuhause bist, LaVerne?“ fragte sie mich. Ich war überrascht, daß ich so nicht mehr darüber dachte: „Weißt du Okcania, eigentlich bin ich irgendwie zuhause. Die drei Männer da oben sind so etwas wie meine Familie. Und wo meine Familie ist, bin ich zuhause.“ Sie lächelte. „Eine wunderbare Antwort. Dein Weg hierher war nicht leicht. Kolya hat es mir erzählt.“ Welches ‚hierher’ sie meinte, sagte sie nicht. Verträumt schaute sie auf ihre Tasse. „Und es wird erst einmal nicht leichter werden, wenn ihr auf der Flucht seid. Erst, wenn du Ruhe findest, kannst du anfangen, dein neues Leben wirklich zu genießen.“ Ich antwortete ihr ehrlich: „Bisher bin ich nicht sicher, ob ich es wirklich genieße. Ich fühle mich eher wie ein Blinder, der mit einem Stock tastet und an einem Band gezogen wird.“ Sie lachte hell auf. „Du weißt aber, die anderen Sinne sind bei Blinden ausgeprägter. Außerdem hast du wunderbare Blindenhunde. Du wirst feststellen, daß dein Leben reicher, heller und aufregender wird – ups – aufregend ist es wohl schon.“ – „Kann man wohl sagen,“ grinste ich zurück.

 „Aber du reist in allerbester Gesellschaft – ich beneide dich fast. Natürlich nur wegen Kolya…Ich wünschte, wir könnten uns öfter sehen. Gabriel kannst du gerne ganz für dich alleine haben, er ist einerseits nicht ganz mein Typ und außerdem unerreichbar. John würde ich vielleicht auch mal ganz gerne näher kennen lernen….“ Sie warf mir einen vielsagenden Blick zu. „Also, ich kann nur sagen, John ist wirklich – äh – lieb. Kolya ist dafür nicht ganz mein Typ. Dafür aber Gabriel um so mehr. Was meinst du mit unerreichbar?“ Die letzte Frage war eigentlich die interessantere für mich, aber ich wollte doch nicht zu neugierig erscheinen.

Es schien ihr aber nichts auszumachen, denn: „Oh, Gabriel. Er ist der Kader, der Führer unseres Zirkels. Er ist damit etwas Besonderes. Er hat in den letzten Jahrzehnten kaum neue Mitglieder umgewandelt, warum weiß ich nicht. Nur, daß er relativ wenige Partner für kurze Zeit nimmt, keine Gefährten wählt  und er – laut Gerücht – wählerisch ist. Wenn ich dich so sehe, stimmen die Gerüchte wohl. Er hat einfach zu viel Herz. Aber auch einen eisernen Willen, vertun wir uns nicht. Er ist zielstrebig, er weiß, was er will und läßt sich dann schwer umstimmen. Vielleicht haßt Dez ihn deshalb, weil er ehrlich ist und doch das bekommt, was er will. Und fast immer noch eine Überraschung in der Hinterhand hat. – Ach, und meinst du, ich könnte John mal ansprechen, er gefällt mir.“

„Nun, ich weiß, daß du ihm auch gefällst. Seine Reaktion war wohl deutlich. Ich kann aber nicht vorhersagen, wie er reagieren wird, denn wir – äh – kämpfen beide noch etwa mit den vielen – äh – Veränderungen.“ – „Das glaube ich gerne. Wahrscheinlich hätte er dann noch Angst vor Kolya – was übrigens Blödsinn wäre. Ich kenne keinen freundlicheren Menschen und wir sind kein Paar. Aber die Umstellung ist sicherlich schwer. Gerade unsere lockere Art, mit Sex umzugehen, kann zu Anfang zu ‚Irritationen’ führen. Es dauert, bis man das richtig zu würdigen weiß. Übrigens läßt das ‚Ausprobieren’ mit den Jahren einerseits etwas nach, wenn es nichts Besonderes mehr ist. Und andererseits scheint man sich irgendwie auf einen bestimmten Personenkreis festzulegen. Nach Jahren aber erst. Das als Info von Frau zu Frau.“

Diese Frau war wirklich klasse. Genau so eine Unterhaltung hatte mir gefehlt. Wir plauderten noch eine ganze Zeit munter vor uns hin. Endlich stand sie auf. „Ich muß mich noch etwas um die Vorbereitungen kümmern. Heute Nacht gibt es ein kleines Weihnachtsessen. Übrigens, hat man dich schon informiert, daß ihr Samstag abreisen werdet? Vermutlich nicht, ich kenn die Männer. Jedenfalls, sagst du ihnen Bescheid, daß sie sich vernünftig anziehen sollen und wir um 10 im Speisesaal essen werden?“

Genau das tat ich dann auch. Die Herren hatten es sich gemütlich gemacht. Trotz intensiven Bohrens von drei Seiten zeigte ich nicht meine Schätze der letzten Anprobe. „Ihr habt über meine zu-wenig-Kleidung gespottet. Strafe muß sein. Das ist privat und damit basta! Und hör auf zu grinsen, Gabriel, das gilt auch für dich!“

Kolya drehte sich in gespieltem Entsetzen zu John um und stöhnte: „Ich sag ja, die hat zu lange mit Okcania geredet. Die hat ’nen schlechten Einfluß….“ In bester Laune räumte ich die Sachen in die Koffer und gesellte mich dann bis zehn Uhr zur Runde.

Als wir in den Speisesaal traten, blieb ich begeistert stehen. Überall im Raum waren Kerzenleuchter verteilt und tauchten die Einrichtung in warmes Licht. An einer Seite des Raumes stand sogar ein kleiner Weihnachtsbaum, bunt geschmückt mit Kugeln, Süßigkeiten und weitere Kerzen. Der Eßtisch war für fünf Personen gedeckt. Gabriel legte den Arm im mich und zog mich weiter zu meinem Platz neben ihm. Als wir alle saßen, erhob Okcania sich. Sie hob ihr Weinglas und sagte: „Ein wenig wollen wir heute feiern. Laßt uns die Sorgen vergessen, und zusammen Essen und Trinken und Lachen. Frohe Weihnachten, meine Freunde.“ Noch immer war ich hingerissen. Ich hatte nicht damit gerechnet, daß Weihnachten überhaupt gefeiert wurde. Doch hier stand ein Festmahl, ein Weihnachtsbaum und ich war nicht alleine – erst nach einer ganzen Weile beteiligte ich mich an der munteren Unterhaltung.

Es wurde ein wundervoller Abend. Wir aßen lange und tranken dazu Unmengen von Rotwein. Nach einiger Zeit wurde abgeräumt und zusammen mit Okcania gingen wir hinauf in den Gemeinschaftsraum. Auch hier hatte man in der Zwischenzeit Kerzen entzündet. Es spielte leise Musik und wir verteilten uns auf dem Sofa. Gabriel blieb die ganze Zeit immer in meiner Nähe, ich lehnte in seinen Arm gekuschelt entspannt an seiner Seite. Kein Wort fiel über unsere Reise, unsere weiteren Pläne oder Absichten. Es war ein ruhiger Abend, friedlich, wie man ihn mit guten Freunden verbringt. Vielleicht einfach zu friedlich, um lange zu halten.

Viel später und nach einigen weiteren Flaschen Wein rüsteten wir langsam zum Aufbruch. Ich war angenehm müde und verabschiedete mich als erste: „Schlaft gut. Und danke für den wundervollen Abend – und frohe Weihnachten.“ Gabriel stand auf: „Ich bring dich ins Bett.“ Damit folgte er mir zu meinem Zimmer und schloß die Tür zu dem linken Durchgang. Auf meinem Bett lag ein kleines Päckchen in Geschenkpapier gewickelt. Ich setzte mich auf die Decke und sah Gabriel fragend an. Als er sich neben mich setzte, griff er danach und drückte es mir in die Hand: „Heute machen sich die Menschen Geschenke. Dieses ist für dich!“ – „Oh Gabriel, ich habe heute schon so viel bekommen und ich habe gar nichts für dich.“ Er lächelte nur und wartete. Also machte ich das Papier ab und stieß auf eine kleine Schachtel. Und darin auf ein dünnes Lederband mit einem Anhänger. Er war aus schwarzem Stein und zeigte einen Vogel im Flug. Er war so fein gearbeitet, man konnte sogar die Augen und Krallen erkennen. Er nahm das Schmuckstück, legte es in meine ausgestreckte Hand. „Damit du wenigstens einen Raben immer bei dir hast. Frohe Weihnachten.“ Es war ein wundervolles Geschenk und irgendwie hatte ich wirklich das Gefühl, Gabriel wäre ganz nah bei mir. Der Stein paßte sich sofort meiner Körperwärme an. „Oh Gabriel, er ist wundervoll. Ich danke dir.“

Ich legte meine Arme um seinen Hals und küßte ihn fest und leidenschaftlich. Einen Moment schloß er nur die Augen und bewegte sich nicht. Dann griff er nach mir und zog mich rückwärts fallend auf sich. Seine Hände gingen auf Wanderschaft und hinterließen auf den Stellen mit nackter Haut kleine brennende Spuren. Und die nackte Haut weitete sich unter seinen Fingern aus. Er rollte mich unter sich und er ließ seine Hände weiter forschen. Jetzt küßte er mich und sein Verlangen und meine Sehnsucht nach ihm ließen meinen Körper unter ihm zittern.

Doch es kam ganz anders, als es begonnen hatte. Er legte die Hand auf mein Gesicht und schloß meine Augen. „Bald werden wir abreisen. Aber wir werden zusammen bleiben – du und ich. Das schwöre ich dir. Ich werde dich mit all meiner Macht verteidigen und schützen. Und wenn es zum endgültigen Zerwürfnis mit Dez führt. Er bedeutet mir nichts. Du mir alles. Denn ich weiß, ich liebe dich, meine Rose.“ Er flüsterte es und meine Welt ging unter.

Mit Herz und Seele

 
Say a prayer for all the lost
In addiction to desire
Now it's time to pay the cost
They are drawn into the fire

 Ich sprang auf: „Nein!! Das kannst du nicht! … Ich will das nicht.“ Noch immer den kleinen Anhänger in der Hand zog ich den Pullover wieder über und floh ich in den Aufenthaltsraum, wo sich die anderen gerade zum Gehen bereit machten. Im Vorbeistürzen griff ich ohne nachzudenken nach meiner Jacke an der Tür. Die verwunderten Gesichter der Leute nahm ich gar nicht wahr. Ich lief aus dem Zimmer, im Sturm die Stufen runter. Oben hörte ich Stimmen, Rufe und laute Fragen – aber da fiel die Haustür schon hinter mir ins Schloß. Blind wand ich mich nach links und rannte die Straße runter. Ich sah mich nicht um.

Nach einiger Zeit wurde ich langsamer, erst fiel ich in einen Trott, irgendwann dann nur noch Schrittempo und dann blieb ich schwer atmend stehen. Ich hatte Tränen in den Augen und war halb blind – die beißende Kälte trug ihren Teil dazu bei. Die Straßen waren menschenleer, es war früh morgens am 1. Weihnachtstag, vielleicht fünf Uhr. Ich zog mich in einen Häusereingang zurück und versuchte, einen vernünftigen Gedanken zu fassen. Wenn ich zu dem Haus zurück wollte, mußte ich unbedingt zumindest den Straßennamen rausfinden. Ich konnte kaum zur Polizei gehen und nach Okcania fragen. Kein Nachname aber lichtscheu. Toll! Danach konnte ich weitere Entscheidungen treffen. Langsam beruhigten sich Herzschlag und Atmung. Ich war die erste Querstraße links eingebogen. Ich mußte nur zurück gehen und die richtige Straße finden.

Ich hielt mich dicht an den Häusern, immer bereit, in einem Eingang zu verschwinden. Noch war mein Kopf leer, ich konnte nicht nachdenken, aber ich wollte erst mal keinem der ‚Bande’ begegnen. Andererseits konnte auch nicht einfach so verschwinden. Als ich um eine Häuserecke spähte, herrschte vor einem der Häuser dort Betrieb. Zwei Autos standen vor der Tür und mehrere Menschen. Selbst aus 30 Meter Entfernung konnte ich dunkle und helle Auras unterscheiden. Gott sei Dank war ich nicht ganz in der fremden Stadt verloren. Ich angelte nach einem Stift in der Jackentasche und schrieb den Straßennamen auf einen alten Briefumschlag in meiner Brieftasche. Dann macht ich Inventur.

Ich hatte Glück gehabt, meine Papiere waren alle in der Jackentasche gewesen, also war ich nicht völlig hilflos. Ich ging die Straße wieder zurück, die ich runter gerannt war, weg von meinen Freunden. So konnte ich ihnen nicht unter die Augen treten. Erst mußte ich nachdenken, mich sammeln. Nur war es dazu fast zu kalt. Ich hatte kein Kleingeld, um eine Taxe zu rufen. Ich wußte nicht, wo das Zentrum war – und wenn ich es fand, was dann? Es war Weihnachten. Und Nacht. Ich hatte dumm – wie ein hysterisches Weib – reagiert, jetzt zahlte ich dafür. Aber als ich von ferne einen Automotor hörte, duckte ich mich doch in den nächsten Eingang. Es fuhr wohl eine Parallelstraße runter. Was sollte ich tun?

Ich brauchte Zeit zum nachdenken! Plötzlich hörten die Häuser auf und ich passierte einen kleinen Friedhof mit einer niedrigen Mauer davor. Etwas zurückgesetzt stand eine winzige kleine Kirche, vom Schnee bedeckt aber mit einem kleinen überdachten Vorbau der eisfrei war. Zufall? Ohne groß nachzudenken kletterte ich über die Mauer, ging an alten Gräbern mit kunstvollen Grabsteinen vorbei und setzte mich auf die Treppe. Ich konnte mir hier wohl kaum den Tod holen, obwohl ich mich miserabel fühlte. Ich war ein echtes Scheusal! Noch immer hielt ich in meiner linken Hand den steinernen Raben. Ich hatte ihn während meiner Flucht nicht losgelassen.

‚Oh Gabriel! Es tut mir so leid – das wollte ich alles nicht.’ Jetzt flossen meine Tränen wieder und diesmal nicht vor Kälte. Ich war wütend – auf mich, weil ich ein gemeiner Feigling war. Und weil dieser Mann ein bessere Behandlung verdient hatte. Ich war aber auch wütend auf Gabriel. Weil er mich zwang, ehrlich zu sein – zu mir und ihm. Ich hatte schreckliche Angst, denn die Wahrheit war, daß ich ihn auch liebte – nun war es wenigstens in meinem Kopf gesagt. Ich liebte ihn schon so lange. Ich hatte mich nur geweigert, es zuzugeben, es als Verlangen getarnt. Vielleicht aber auch das Gefühl nicht als solches erkannt. Nun hatte er mich dazu gebracht. Warum ihn? Warum so? Aber es war unwichtig geworden.

Ich hatte jetzt zwei Möglichkeiten. Ich konnte mich bis zum Morgen verstecken, versuchen, ein Ticket zu bekommen und irgendwie heim fahren. Und damit die ganze Geschichte der Oscuro verleugnen. Vielleicht umziehen und hoffen, daß Darian – oder Gabriel? – mich nicht suchen würden. Und damit mein Herz verleugnen – im Tausch gegen Unabhängigkeit, Eintönigkeit und – Leere. Wie realistisch die Hoffnung war, daß mich keiner von beiden suchen oder finden würde, war eine ganz andere Sache. Oder ich ergab mich, ließ mich vom Raben in noch dunklere Gefilde tragen. Dem Weg des Schicksals folgen, wie Lord Rodenby vor einer Ewigkeit gesagt hatte. Versuchen, Liebe zu nehmen und zu geben und damit dem Herzen folgen. Der Preis war für mich … ja was? Unabhängigkeit Was sollte ich damit, wenn ich ihn sah, in seinen Augen ertrank, seine Hände spürte. Eigentlich war es doch eine einfache Wahl, wenn nur die Angst nicht wäre. Die Angst, nicht mehr mein eigner Herr zu sein, die Angst, daß irgendwann das Herz für immer die Oberhand über den Verstand übernahm, und am Ende die Angst, was später kam, wenn er mich nicht mehr liebte. Denn es gab keine Rückkehr. Ich mußte mich jetzt entscheiden – falls er mir überhaupt  verzeihen konnte. Waren das jetzt Tränen des Selbstmitleides? Über den eisigen Wind hörte ich mich sagen: „Ich liebe dich auch, Gabriel.“ Es klang gut und war ehrlich. Ich hatte mich entschieden.

Wieder hörte ich in der Ferne ein Auto. Jetzt, nachdem mein Kopf klar und mein Herz frei waren, konnte ich genauso gut zurück gehen und mich sofort entschuldigen. Bevor ich noch mehr Schaden anrichtete. Langsam stand ich auf. Die Ruhe vor der Kirche hatte mir auch innere Ruhe gegeben, meine Gedanken schienen leichter zu kommen. Aber die Kälte war in alle Glieder gezogen, ich konnte mich kaum noch bewegen. An den Stellen in meinem Gesicht, wo die Tränen vermutlich Spuren gezogen hatten, brannte die Haut im eisigen Wind. Aber ich beachtete es gar nicht. Langsam ging ich über den kleinen Friedhof zur Straße zurück. Ich folgte zum zweiten Mal meinem Weg zurück zu Okcanias Haus. Die Autos waren verschwunden und die Menschen ebenfalls. Aber die Haustür war von außen zu öffnen und nicht abgeschlossen. Auch unten war niemand aber es war herrlich warm hier.

Bevor mich mein Mut schon wieder fast verließ ging ich leise die Stufen zu unseren Räumen hinauf. Ich hatte mich so kindisch benommen, und jetzt war ich auch noch feige… Die Tür zum Aufenthaltsraum war nicht geschlossen und ich hörte schon von weitem Kolyas Stimme. Er klang – gelinde gesagt – recht ungehalten. „…dir gesagt, du sollst warten. Sie ist stark aber sie weiß es nicht. Wie soll sie…“ die Stimme entfernte sich, er schien durch den Raum zu gehen. „…wenn du ihr keine freie Wahl läßt. Wenn ihr was passiert, Gabriel…“, er brach ab. Ich wollte nicht lauschen und schon gar nicht, daß er meinetwegen etwas Dummes zu seinem Freund sagte. Also schob ich mit einer entschlossenen Geste die Tür auf und ergänzte „… ist das ganz alleine ihre eigene Dummheit!“

Gabriel stand mitten im Raum, Kolya schräg hinter ihm mit Blick zur Tür. Beide starrten mich an. Gabriels Anblick versetzt mir einen Stich: er sah so traurig aus, so verletzlich, alleine – alles meine Schuld. Ich war ein solcher Esel. Kolya hingegen hatte ein rotes Gesicht und war eindeutig aufgebracht. Dieses eine mal ignorierte ich ihn. Ich schaute Gabriel an, er hatte bei meinem Eintritt den Kopf gehoben. Aber keine Erleichterung oder Freude hellten seine Züge auf. Mit unbeweglichem Ausdruck und reglos sah er mich an. Zum ersten Mal schwiegen seine Augen bei dem Blick in meine. Hatte ich ihn verloren, weil ich Angst hatte? Ich war willens, zu versuchen, es ungeschehen zu machen, nur, würde er es zulassen? Sofort spürte ich wieder diese Angst in mir. Ohne den Blick abzuwenden sagte ich mit fester und ruhiger Stimme, die mich selber erstaunte: „Bitte laß uns einen Moment alleine, ich muß mit Gabriel sprechen.“

Ohne ein Wort verließ Kolya den Raum und schloß die Tür hinter sich. Gabriel hatte sich noch immer nicht bewegt und schaute mich ohne Regung an. Ich konnte so verheult und verfroren kein guter Anblick sein aber es half nichts. Dieses war vielleicht meine letzte Chance, das Herz gewinnen zu lassen.

Vorsichtig und langsam ging ich auf ihn zu, bis ich noch einen Schritt entfernt stand. So konnte ich seine Augen sehen, ohne einen Krampf im Nacken zu bekommen. Ich wußte nicht, wie ich anfangen sollte, also öffnete ich den Mund und wartete, was mein Herz vorschlug. „Es tut mir unendlich leid, was ich getan habe. Wenn ich die Zeit zurück drehen könnte, würde ich es tun. Aber bis vorhin hatte ich Angst. Angst vor meinen Gefühlen und vor deinen. Was sie mit mir machen können.“ Ich senkte den Blick auf den Anhänger in meiner Hand. Gabriel sagte nichts, rührte sich nicht. Jeden Moment  fiel es mir schwerer, meine Seele bloß zu stellen. Doch wenn ich noch etwas retten wollte, mußte ich alles sagen. Ich schaute zurück in seine Augen – sie waren es wert. „Ich habe keine Angst vor der Liebe, ich habe Angst vor ihrer Auswirkung, Angst vor der Abwesenheit von Liebe! Was ich nie hatte, kann ich auch nicht vermissen. Doch wenn ich zulasse, daß mein Herz einmal  gewinnt, und wenn Liebe dann von mir geht, dann würde ich wohl verzweifeln. Am Ende habe ich aber keine Wahl, ich hatte es nur gedacht. Du hast mich dazu gebracht, das zu erkennen. Bitte verzeih mein Verhalten, meine Angst, aber sie hat mir auch die Augen für die Wahrheit geöffnet. Ich liebe dich schon lange, ich habe es nur nicht zugegeben.“

Es war geschafft. Was auch immer jetzt passieren würde, ich war ehrlich gewesen. Gabriel stand noch immer vor mir. Seine Augen dunkler als die Angst in meinem Magen. Dann schloß er die Augen, öffnete sie wieder und ein anderer Mann stand vor mir: Sein Lächeln brachte die Sonne mitten in der Nacht und der Blick wärmte das Innerste meiner Seele. Er überbrückte in einer leichten, fließenden Bewegung den letzten Schritt zu mir und zog mich an sich.

„Ich weiß, daß du mich liebst, meine Rose. Unsere Seelen sprechen miteinander. Und ich kenne deine Angst. Aber ich wollte – konnte – nicht länger warten. Scuro Tejat hat in dich hinein geschaut. Auch er konnte mir nicht sagen, wie ich diese Furcht besiegen könnte. Er sagte mir, daß nur Liebe Liebe erzeugen kann. Also habe ich es riskiert. Als du fort warst, habe ich es endlos bereut. Doch es war so wichtig, daß du lernst in dein eigenes Herz zu hören, in deine Seele, und den beiden folgst und vertraust. Ich wollte nicht mehr warten und deshalb hätte Kolya fast die Hand gegen mich erhoben. Und ich hatte wirklich Angst. Um dich und um uns beide. Doch es hat sich alles gelohnt.“

 „Ich weiß nicht, wo unser Weg uns hin führen wird. Du bist viel zu jung, um den Begriff Ewigkeit verstehen zu können. Also werde ich dein Lehrer sein und unsere Seelen werden jeden Tag leben, als wäre es der letzte. So, wie ich dir meinen Geist schenke, gehört mir der deine. Wir werden auch Schmerz oder Trauer erleben – das ist ein Teil von uns. Doch wo immer unsere Körper sind – was immer sie tun wollen oder müssen  unsere Seelen werden beisammen sein. Auch wenn du es nicht verstehst, meine Rose, wirst du lernen. Ich habe so viele Jahre auf dich gewartet. Und Zeit gehabt mich auf etwas vorzubereiten, was man nicht vorbereiten kann. Heute hast du mich in deinem Sog fast ertrinken lassen. Es gibt noch so viel, was ich dir sagen müßte. Doch nicht jetzt. Jetzt werden wir – dich erst einmal in die Badewanne packen und auftauen.“ Die letzten Worte waren von einem besorgten Blick begleitet.

Ohne große Gegenwehr zog er mich ins Bad. Während er mich von meinen klammen Sachen befreite lief das Wasser ein. Ich konnte die Finger kaum bewegen – es war mir gar nicht aufgefallen, wie durchfroren ich war. Mir wurde nur undeutlich bewußt, daß ich irgendwann völlig nackt vor ihm stand. Doch er hob mich nur hoch und ließ mich vorsichtig in die Wanne sinken. Die Wärme brannte auf der Haut. Er legte seine Hand zärtlich über meine Augen. „Entspann dich. Ich schaue nach den anderen und komme gleich zurück. Und lauf nicht weg.“ Ich ließ die Augen geschlossen, als er einen leichten Kuß auf meinen Mund plazierte und dann leise das Bad verließ. „Nie wieder“, flüsterte ich. Ich hatte tatsächlich nicht alles verstanden, was er gesagt hatte. Aber der Grundgedanke war wichtig. Wir waren verbunden – solange wir uns liebten. Seine Seele gehörte mir – was mehr konnte ich jemals wünschen. Und alles andere würde sich finden.

Gabriel informierte unsere kleine Gruppe und die Gastgeberin, daß es ein kleineres Mißverständnis gegeben hatte – was Kolya einen seltsamen Ausdruck entlockt haben sollte  – aber daß alles in Ordnung sei. Dann kehrte er ins Bad zurück, wo ich vor mich hin döste. Er brachte einen flauschigen Bademantel mit.

Ich ließ mich nur ungern aus der Badewanne holen, aber er lockte mit einem warmen Bett. Also ließ ich mich wie ein kleines Kind von ihm abtrocknen und dann in den Frotteemantel hüllen. Das gute Stück war garantiert für jemanden von Kolyas Statur gemacht. Als wir durch den Aufenthaltsraum gingen, war nur John da. Der Fernseher lief und er schaute nur kurz fragend auf. Als ich ihn anlächelte, nickte er zurück und wand sich dann wieder dem Fernsehprogramm zu.

Gabriel brachte mich brav in mein Bett. Fast gewaltsam nahm er mir den Anhänger aus der Hand. Dann legte er das Lederband um meinen Hals, küßte liebevoll meine Stirn und verstaute mich dann unter den kuscheligen Daunen. Noch immer fühlte ich mich wie betäubt von der Kälte, der folgenden Wärme und seinen Worten. Er hatte sich auf die Bettkante gesetzt und strich eine feuchte Haarsträhne aus meinem Gesicht.

„Heute Abend reisen wir ab. Wir sollten nicht so lange hier bleiben. Transportmittel sind organisiert und jetzt kann ich mich voll auf unsere nächsten Schritte konzentrieren, meine Rose, ohne Furcht, daß du fort gehst.“ Es war mir nicht bewußt gewesen, daß auch dieser starke Mann Angst haben konnte. Was für ein seltsamer Gedanke. Er war mir oft so gefestigt, entfernt und Herr aller Dinge vorgekommen. „Ich bin bei dir, das weißt du, mein geliebter Rabe.“ Er lächelte. „Ich weiß. Und bei passender Gelegenheit werden wir das auch angemessen feiern. Aber leider müssen wir das verschieben. Schlaf jetzt, schwarze Rose. Heute abend geht es nach Australien.“

Oh! Das war weit weg. Aber es war völlig unwichtig. Viel wichtiger war: „Bleibst du noch etwas hier? Ich möchte noch nicht alleine sein…“ Er stand auf und schaltete das Licht aus. Im Dunkel hörte ich ihn zurück kehren. Kleidung raschelte, dann schlüpfte er unter die Decke. Er war schon fast angenehm kühl gegen die Hitze des warmen Wassers, die noch in meiner Haut steckte. Es war, als würde ich von lebender Seide umhüllt. Schwarz wie die Sünde, weich wie ein Windhauch. Er lag auf der Seite neben mir, einen Arm über mich geschlungen. „Dann kann ich es mir auch gemütlich machen,“ flüsterte sein Mund an meinem Ohr. Und plazierte dann einen Kuß direkt am Hals unterhalb des Ohres. Wäre ich nicht so erschöpft gewesen, hätte alleine diese Berührung genügt, mich näher mit seinem Körper zu befassen, der so eng um mich lag. Doch so genoß ich einfach seine weiche Haut und döste leise vor mich hin. „Danke Gabriel. Danke für alles.“ Flüsterte ich ebenso leise. Er antwortete mit einem weiteren Kuß. „Schlaf – schwarzer Engel.“ Und das tat ich dann auch.

 Gefährten

You cling to the day, to avoid all those fears
That shake you at midnight and bring only tears
Embrace the wings of the dark raven
He‘ll lead you to fire and burning haven

Ich wachte alleine auf. Im Aufenthaltsraum war niemand also ging ich runter und fand die gesamte Gruppe im Speisesaal. Es gab weder seltsame Blicke noch Kommentare – alles war wie vorher.

„Euer Flugzeug ist schon angekommen. In gut einer Stunde fliegt ihr ab. Zwei meiner Angestellten werden auch begleiten, in Sydney werden dann ja die Leute unserer Freunde auf euch warten.“ Okcania sah Gabriel an, der nickte.

„Ich wünschte, ihr könntet länger bleiben. Aber es ist einfach zu offensichtlich, daß ihr hierher kommt. Immerhin sehen wir uns wohl bald zum Jahresfest wieder.“ Gabriel nickte erneut. „Mit Sicherheit. Nochmals danken wir für deine Hilfsbereitschaft und Gastfreundschaft. Aber jetzt müssen wir uns bereit machen.“ Wir beendeten das Essen, kehrten nach oben zurück und packten.

Innerhalb kurzer Zeit wurden die Koffer verladen und die Limousine brachte uns zum Flughafen. Wieder stand in einem entfernten Hangar ein Learjet, aber eindeutig ein anderer. Wohl gab es keine Fenster, aber die Ausstattung war fürstlich mit breiten Sesseln, Sitzgruppe, einigen Schlafkabinen und einer kleinen Bordküche.

Wir suchten uns gemütliche Plätze – vorerst im Sitzbereich – und ab ging es. John fragte zuerst: „Was meinte sie, was für ein Treffen?“ Kolya antwortete, während Gabriel neben mir die Beine ausstreckte und seinen Arm um mich legte.

 „Jeder Zirkel trifft sich einmal im Jahr. Normalerweise trifft der Corvus-Zirkel sich am 12. März. Es gibt neue Mitglieder, wie euch zum Beispiel, die dort vorgestellt und begrüßt werden müssen. Einige Mitglieder verabschieden sich bei solchen Treffen von der Gemeinschaft. Wichtige Dinge werden bei solchen Gelegenheiten besprochen und beschlossen, alte Freundschaften wieder aufgefrischt. Es ist eine große Feier, zu der alle kommen werden, die Corvus-Blut in sich tragen. Natürlich muß Gabriel dort sein und ich auch. Und ihr ebenfalls, aus mehreren Gründen. Außerdem ist eine Gruppe immer stärker. Manchmal werden die Orte der Treffen – jede Gruppe hat einen bestimmten Termin – bekannt gegeben, manchmal ist er geheim. Ihr könnt euch denken, daß dieses Mal die Geheimhaltung groß geschrieben wird. Allerdings mehr aus Vernunft – nicht aus Angst.“ Dabei grinste er fast herausfordernd. Und wir glaubten ihm. Aber ich wollte trotzdem noch etwas mehr dazu wissen:

„Vertraut ihr jedem aus diesem Zirkel und werden sie nicht mißtrauisch sein, wenn sie mich sehen, oder zumindest verwundert?“ Ich spürte, wie Gabriel seinen Griff auf meiner Schulter verstärkte. Und dieses Mal antwortete er: „Zum ersten Teil der Frage: aus meinem Zirkel vertraue ich jedem einzelnen. Wir haben ein besonderes Band, das nicht – wie bei Dezmont zum Beispiel – auf Furcht aufgebaut ist. Und zum zweiten Teil: ich bin der Kader. Obwohl wir es nicht ausdrücklich so formulieren, ist doch mein Wort Gesetz. Außerdem wirst du dort als meine Gefährtin vorgestellt. Und bist somit sowieso gleichgestellt. Selbst, wenn du ‚nur’ der Nadiesda Thurus angehören würdest. Nein, auf dem Treffen wirst du nur Freunde finden, meine Rose. Und vielleicht noch ein paar“, er lächelte ein verschmitztes Lächeln, das mein Herz zu dem schon bekannten Bocksprung veranlaßte, „garantiert positive Überraschungen erleben. Nicht wahr Kolya?“ Der zeigte seine Zähne in einem breiten Grinsen – ein eindeutig mißtrauen erweckender Anblick: “Ich denke schon, daß zumindest ein Teil davon positiv ist…“. John und ich warfen uns einen leicht alarmierten Blick zu. Er hob die Schultern und gab die Antwort, die mir schon auf der Zunge lag: „Eure Überraschungen kennen wir schon!“ – „Hu! Die sind aber argwöhnisch“, beschwerte Kolya sich prompt. „Weiß gar nicht warum…“ murmelte Gabriel auch noch unschuldig. John schüttelte nur noch den Kopf. Dem gab es nichts mehr hinzuzufügen.

Der Flug war endlos, langweilig, trotz mehrerer Zwischenlandungen, netter Begleitung und gutem Essen. Gabriel und ich schnitten keine ernsten Themen an und so verging die Nacht zum 2. Weihnachtstag und der Tag gleich dazu. Irgendwann Samstag Nacht trafen wir ein. Wieder wartete eine Limousine und brachte uns aus der Stadt - auf der falschen Straßenseite – zu einem niedrigen Bungalow der aus Lehm gebaut zu sein schien. Eindeutig ein riesiger Unterschied zu den früheren Unterbringungen. Das Gelände war weitläufig und im Hintergrund gab es ein umzäuntes Gebiet. Außerdem war es warm, fast stickig. Ein richtiger Schlag nach der Kälte in Zürich.

Der Bungalow bestand aus mehreren Räumen, die durch Durchgänge miteinander verbunden waren. Und es gab Fenster, durch das Grillen und andere Nachtgeräusche hinein drangen. Aber das war die oberflächliche Betrachtung. Kurioser Weise betraten wir zu viert eine kleine Abstellkammer und Gabriel schob von der Seite eine Tür zu. Ich wollte mich gerade zu dem seltsamen Verhalten äußern, als wir uns mit dem Boden geräuschlos nach unten bewegten. Die Abstellkammer war ein getarnter Aufzug!

Nach einiger Zeit stoppten wir sanft. Gabriel öffnete die Tür wieder und wir traten in eine große Höhle aus gelbem Stein, beleuchtet von raffiniert plazierten, verdeckten Lampen und Kerzen. Auf dem Boden lagen Teppiche und mehrere Türen gingen von dem Hauptgang in alle Himmelsrichtungen ab. Ein Mann trat auf uns zu. Seine Aura identifizierte ihn als Mitglied der Nadiesda Thurus. Er verbeugte sich leicht und forderte uns auf, ihm zu folgen.

Es ging durch mehrere hohe, grob behauene Höhlen und Tunnel bis wir vor einer Tür mit dem bekannten Kreis und dem Strich im unteren Drittel standen. Wortlos und mit einer weiteren leichten Verbeugung verabschiedete sich unser Führer von uns und Gabriel schob die Tür auf.

Ein großer runder Raum öffnete sich vor uns. Diesmal ausschließlich von Kerzen beleuchtet. Die Luft war trocken aber angenehm warm. Der Raum wurde von einem großen runden Tisch mit mindestens zehn Sitzplätzen dominiert. Wo die Wände nicht von apricotfarbigen Vorhängen verdeckt wurden, war der terrakottafarbene Stein von glitzernden Adern und Sternen durchzogen. Es gab keine Schränke. Kleine Nischen waren in den Stein getrieben, die mit Kerzen gefüllt waren und den Raum in warmes Licht tauchten. Eine fast unwirtliche Atmosphäre. Die Vorhänge trugen Symbole, alle ähnlich, doch verschieden, ein senkrechter Strich mit zwei Punkten, einer hatte zwei Striche, einer einen Strich, oben und unten einen Punkt und so ging es weiter, insgesamt sieben Zeichen, sieben Vorhänge.

Und offensichtlich verbargen sich Türen dahinter, denn hinter dem Vorhang mit dem Strich und dem Doppelpunkt trat ein Mann geräuschlos hervor. Er kam direkt auf Gabriel zu, der sich zu ihm umgedreht hatte. Dann umarmten sie sich und bleiben einen Moment bewegungslos und ohne Worte stehen. Der Fremde hatte ungefähr Gabriels Größe, doch war er erheblich schlanker. Braune Haare reichten bis fast zur Schulter und wurden in einem Band gehalten. Als er sich von Gabriel löste, zeigte er die gleichen grazilen Bewegungen wie dieser. „Trevor! Wie schön, dich endlich mal wieder zu sehen. Du wohnst einfach zu weit fort.“ – „Ja schon, aber manchmal ist Entfernung gar nicht so schlecht und seit wir keine Brieftauben mehr bemühen müssen, ist es doch besser geworden, was?“ Er hatte eine melodische Stimme und ein feiner Humor schien mitzuschwingen. Er wand sich zu Kolya und umarmte auch diesen lange und fest. Gegen diesen Bären wirkte er fast klein und zierlich. „Schön, daß ihr sicher angekommen seid, meine Freunde. Ihr habt bestimmt viel zu erzählen. Ich hoffe, ihr bleibt etwas länger. Und wenn du noch fester drückst, werde ich den Schlüssel zum Weindepot verschwinden lassen…“ Schlagartig ließ Kolya ab und blickte ihn amüsiert erschreckt an: „Das wäre für dich doch viel schlimmer. Aber ja, wir bleiben eine Weile.“

Dann trat Gabriel zu mir und John, die wir etwas verloren daneben standen. „Okcania hat dir sicher schon einiges erzählt. Dies ist John.“ Und er schob diesen auf Trevor zu. Selbiger führte wieder seine Umarmung aus. „Willkommen in meinem Haus John. Fühl dich wie zuhause – und das ist keine Redewendung. Und sollten die zwei irgendwas über mich erzählt haben: es ist nicht wahr, maßlos übertrieben und nur Gerüchte – nichts wurde jemals bewiesen. In Wahrheit bin ich schrecklich nett.“ Etwas gedämpft durch die anhaltende Umarmung antwortete John: „Leider haben die zwei gar nichts erzählt.“ Trevor löste sich, schaute Gabriel entrüstet an: „Also, das wird ja immer schlimmer. Jetzt verschweigst du mich schon…“. Gabriel grinste zurück: „ich wollte ihnen doch die Überraschung nicht verderben. Und da wir ja eh nur Unwahrheiten erzählen… und das ist LaVerne, meine schwarze Rose.“ In seiner Stimme lag eine Wärme, die mein Herz zum schmelzen gebracht hätte, wäre es nicht schon Butter gewesen. Dann steckte ich in Trevors Umarmung. Er mochte schlank sein, aber bestand scheinbar nur aus Muskeln, vermutlich konnte er sogar mit Kolya mithalten. Und auch er schien einen eigenen – durchaus angenehmen – Duft zu haben. Ich fühlte mich sofort wohl in seiner Gegenwart.

Im Gegensatz zu den Männern wurde ich mit einem sanften Kuß auf die Wange versehen. Er schob mich etwas zurück ohne mich dabei loszulassen. „Das ist jetzt mal eine schöne Erscheinung. Auch du sollst dich hier zuhause fühlen. Sollten dich die Langweiler mal ärgern, werde ich sie für dich gerne zur Rechenschaft ziehen. Wieso finde ich nie so was wie dich…?“ seufzte er. Gabriel beantwortete die Frage mit einem bösen Grinsen: „Weil du am Ende der Welt in einer Höhle wohnst und einen eigenen Engel hast?“ Trevor hielt mich noch immer fest. Seine Augen waren braun, wie die von Gabriel aber heller.  Er hatte ein sehr weiches Gesicht, fast zu ebenmäßig für einen Mann. Er starrte mir unverwandt in die Augen und begann so, mich zu irritieren. Sein fester Griff um meine Taille verstärkte den Effekt nur noch. Erschreckend. Er antwortete, ohne sich umzudrehen. „Und ihr wohnt jetzt auch in einer.“ Und zu mir gewandt: „muß ich jetzt loslassen?“ Bevor ich noch über eine vernünftige Erwiderung  nachdenken konnte, antwortete Kolya: „Wenn du uns a) erst unsere Zimmer zeigst und dann b) was zu essen und Wein beschaffst, kannst du das gerne später mit Gabriel und LaVerne klären. Nun reiß dich erst mal zusammen.“

Das tat er dann auch. Ich warf Gabriel einen Blick zu, aber der schien sich über die Episode eher zu amüsieren. Egal. Wir gingen durch eine der Vorhänge und die nachfolgende Tür in einen weiteren großen Raum. Die übliche Einrichtung: Sitzgruppe, Tische, Bücherregal, Stereoanlage und Fernseher. Wieder eine Höhle mit steindurchzogenen Wänden. Es gingen sechs Räume ab. Ein Trainingsraum und fünf Schlafzimmer. Unsere Sachen waren schon dort – wie machten die das nur. Jeder ging in sein Zimmer, zog sich um und machte sich etwas frisch, denn wir hatten dieses Mal sogar ein eigenes Bad. Dann trafen wir vier uns in dem privaten Aufenthaltsraum unseres neuen Domizils. Der Tisch war mit Leckereien voll gestapelt. Seltsames helles Fleisch, Brot, verschiedenste exotische Früchte und Wein. Also plünderten wir das Buffet und genossen ein gemütliches Abendessen ohne viele Worte.

Als sich auch der Letzte von uns satt zurück lehnte, stand Gabriel auf. „Ich werde Trevor und Carré Bescheid sagen – das ist seine Gefährtin – daß sie uns doch Gesellschaft leisten sollen.“ Er verschwand und Kolya brachte die Stereoanlage zum Laufen. Schnell war Gabriel wieder zurück. Neben Trevor trat eine zarte Frau ein – sie wirkte jung und zerbrechlich. Die Hausherrin war eine echte Schönheit, mit schulterlangen schwarzen Locken und einem scheuen Lächeln. Sie ließ sich neben Trevor in einem der Sessel nieder und nickte uns einzeln zu, als Gabriel uns vorstellte. „Hallo, es freut mich, euch kennen zu lernen. Und wenn ihr etwas braucht, sagt mir Bescheid. Trevor vergißt es eh oder redet euch so lange zu, bis ihr es nicht mehr benötigt.“ Sie lächelte wissend und erntete dafür einen sanften Klaps von dem genannten. „Ich sag ja, glaubt nicht alles, was man euch erzählt. Aber jetzt berichtet erst einmal.“

Die nächsten Stunden gingen mit Berichterstattung drauf. Gabriel ließ die Details der Umwandlung weg, nur, daß sie nicht vollständig gewesen war. Den Rest der Geschichte berichtete er recht detailliert. In Trevor und Carré hatte er aufmerksame Zuhörer, die Zwischenfragen stellten. Auch Kolya übernahm einen Teil der Erzählung.

Irgendwann konnte ich die Augen nicht mehr aufhalten. Hier unten verlor man schnell jegliches Zeitgefühl. Außerdem waren wir um die halbe Welt gereist und die Zeitzonen waren auch chaotisch. Also entschuldigte ich mich. Die andren blieben noch sitzen, während ich den Raum mit meinen Koffern suchte und auch schnell wieder fand. Nur eben ein Shirt über geworfen und schon lag ich in einem großen, gemütlichen Bett. Leise hörte ich die Stimmen der andren. Aber der Schlaf war stärker als das Interesse.

Als ich aufstand, mich geduscht und angezogen hatte, war niemand im Wohnraum. Ich ging in den großen Empfangssaal aber auch hier brannten nur einige einsame Kerzen. Also suchte ich den Aufzug, fand den Mechanismus und fuhr nach oben. Vor dem Haus saß ein einzelner alter Mann, der mich aber nicht weiter beachtete. Es war noch hell, also Montag Abend vermutlich, und die Sonne wollte gerade untergehen. Während ich noch stand und schaute, wurde es innerhalb weniger Minuten dunkel und sofort kühler. Die Grillen setzten ein und in der Ferne hörte man seltsame Tierlaute. Ich meinte, eine huschende Bewegung wahrzunehmen. Der alte Mann war plötzlich aufgestanden und deutete zum Haus: „Sie nicht gut hier, Miss. Nacht alleine gefährlich. Sie reingehen.“ Nun, es war tatsächlich etwas unheimlich aber der Blick in die Sonne und etwas frische Luft hatten mir gut getan. Ich kehrte mit dem Aufzug zurück.

Im Aufenthaltsraum fand ich Kolya. Jemand hatte Essen gebracht und während des Frühstücks fragte ich Kolya über unsere Gastgeber aus: „Wieso habt ihr nichts über die zwei erzählt. Und was ist so ungewöhnlich an Trevor, daß er ständig alles abstreitet, was ihr doch gar nicht gesagt habt“, fragte ich mit Kaffeetasse in der Hand.

Kolya grinste: „Es stimmt schon, wir wollten keine Vorurteile wecken. Eigentlich ist Trevor ein guter Mensch, ehrlich und verläßlich. Aber irgendwo ist er immer ein Kind geblieben. Er stellt die unglaublichsten Sachen an, antwortet selten ernsthaft und kann manchmal etwas nervig sein. Aber wie gesagt, er ist dennoch ein feiner Kerl. Und Carré ist einfach ein Goldstück. Manchmal sein Gewissen, sein Schutzengel aber sie stutzt ihn auch zurecht. Eigentlich sind sie komplett gegensätzlich, trotzdem sind sie schon sehr lange beisammen. Eine seltsame aber phantastische Verbindung. Du wirst noch sehen, die zwei sind niemals langweilig.“ – „Und manchmal auch recht anstrengend.“ Ergänzte Gabriel, der sich zu uns gesellte. Er kam auf mich zu, küßt mich sanft. „Hallo meine Rose. Ich hoffe, du bist erholt und hast die erste Nacht hier gut verbracht.“ Ich nickte und lächelte. „Ja. Ich befrage gerade Kolya. Und wo ich dabei bin. Werden wir hier tatsächlich länger bleiben. Ich würde gerne die Stadt besichtigen.“

Gabriel schaute mich einen Moment an. Der Blick brannte sofort durch die Kleidung. Was war los? „Wenn alles gut geht, bleiben wir bestimmt einen Monat. Ich werde sehen, daß ich für dich eine Stadtrundfahrt organisiere. Eine Tour allein ist viel zu gefährlich. Und vielleicht können wir ja alle zusammen mal das Nachtleben hier erforschen.“

In den nächsten Tagen stellte sich eine Art Routine ein. Wir schliefen – natürlich – am Tage. Oft verbrachte ich die Zeit bis zum Sonnenuntergang draußen. Die Männer trainierten dann einige Stunden, entweder im Fitneßraum oder in einem der eingezäunten Bereiche hinter dem Haus. Übrigens stellte ich erfreut fest, daß sich keine Mücke an mir zu schaffen machte – oder an irgendeinem Mitglied der Oscuro. Das war ein netter Effekt. Später aßen wir oft alle zusammen, plauderten, hörten Musik oder lasen und spielten Schach. Fernsehen stand eher selten auf unserem Programm. Manchmal waren einer oder auch beide unserer Gastgeber dabei, aber nicht immer. So verging die erste Woche fast im Fluge. Irgendwann fiel mir ein, daß Donnerstag Silvester gewesen war aber wir hatten weder gefeiert noch überhaupt darüber gesprochen. Es war einfach unwichtig. Doch es zeigte, wie sehr sich alles wirklich verändert hatte. Und ich schlief alleine in meinem Zimmer, die Männer blieben oft noch lange auf und redeten.

In der ersten Januarwoche begegnete ich auf dem Rückweg von einem meiner Sonnenuntergänge Carré in der großen Empfangshalle. „Hallo LaVerne. Die Männer sind noch am trainieren, magst du mit mir ein Gläschen trinken?“ Ich nahm die Einladung gerne an und folgte ihr durch einen der Vorhänge in einen Bereich der Höhlen, den ich noch nicht kannte.

Auch hier gab es einen Aufenthaltsraum aus behauenem Felsen und mehrere Türen, die aber nicht mit Vorhängen verdeckt waren. Die Möbel waren funktional und die Farbe blau dominierte in einem sanften Kontrast zu den Wänden. Carré verschwand kurz hinter einer der Türen: „Mach es dir bequem. Ich hole nur den Tee und etwas Portwein.“ Ich gehorchte und sie war schnell mit einem Tablett zurück. „Ich dachte du bist mal froh, von den Männern weg zu kommen. Manchmal finde ich die ganz schön anstrengend.“ Lächelnd verteilte sie Tassen und Gläser.

Eine Zeitlang tranken wir still dann fragte ich vorsichtig: „Was ist das hier überhaupt für ein Ort? Habt ihr die Höhlen selber bauen lassen?“ – „Gott behüte, nein! Früher war dies eine Opalmine. Trevor hat sie mal zufällig gewonnen. Wir haben sie nur erweitern und verschönern lassen. All die glänzenden Steine in den Wänden sind noch Reste der Opale aber der Abbau lohnt kaum noch. Wir haben dann Wasser, Elektrizität, Klimaanlage und ein bißchen Schnick-Schnack machen lassen. Und es ist schön praktisch, nicht weit in die Stadt aber unabhängig. Hier sind wir jetzt in meinem Teil des Hauses. Trevor hat ebenfalls einen eigenen Bereich – wir können ja nicht ständig zusammenhocken. Dann gibt es den Gemeinschaftsteil, die Gästeräume, speziell für Mitglieder der Oscuro. Ein Teil der Angestellten – alle von der Nadiesda Thurus – wohnen ebenfalls hier unten, der Rest oben oder in der Nachbarschaft. Es gefällt mir fast schon zu gut, um wahr zu sein. Jetzt im Sommer komme ich nicht so oft raus aber im Winter sind wir auch viel in der Stadt. Da haben wir dann auch ein kleines Domizil.“

Sie bot Plätzchen an. „Selbst gemacht! Manchmal erwischt es mich aber normalerweise bin ich eher keine Köchin. Was ist mit dir? Du bist doch hoffentlich kein braves Hausmädel.“ Sie grinste mich an, schien aber die Frage durchaus ernst zu meinen. „Keine Sorge, ich kann gut kochen aber normalerweise bestelle ich was oder meine Haushälterin bereitet was vor. Für eine Person lohnt einfach der Aufwand nicht.“ Ich schwieg. Wie lange war es her, daß es so gewesen war. Eigentlich hatte sich schon im Juli letzten Jahres die Situation gewandelt. Wo war mein normales Leben geblieben, wie verbrachte ich eigentlich meine Tage? Mit Nichtstun und Plaudern?

Carré unterbrach meine Gedanken. „Ich glaube, dein Leben hat sich schnell sehr verändert. Bisher hat es dich sozusagen durch die Ereignisse mitgeschleift. Aber das ändert sich jetzt. Hier hast du Ruhe, du kannst anfangen, nachzudenken. Außerdem hast du hier Trevor und mich. Wir können den Dingen noch eine andere Sicht geben. Normalerweise antworten Gabriel oder Kolya eher wenig direkt – manchmal kryptisch. Das müssen sie wohl, als Kaj und Kader. Und schon wegen ihres Alters sind sie anders. Ich bin da eher direkt und biete dir mein Wissen gerne an. Frag, was du willst, wenn ich kann, antworte ich. Und wenn du deprimiert bist oder eine positive Sicht der Dinge brauchst, frage Trevor. Er hat immer eine ausgefallene Antwort oder einen Scherz parat. Übrigens würde ich ihm das nie direkt sagen. Das könnte ja sein Ego glatt zum platzen bringen.“

Sie lachte. „Alle wundern sich über uns. Und doch ergänzen wir uns perfekt. Wir sind bald hundert Jahre zusammen und es ist kein Ende in Sicht. Immerhin haben wir ja beide noch ein eigenes Leben. Aber eigentlich wollte ich doch dich ausfragen. Erzähl mir von dir LaVerne.“ Also berichtete ich etwas über meine Jugend, den Tod meiner Eltern, meine Oberflächlichkeit mit Freunden – und auch mit Männern. Sie war eine gute Zuhörerin – wie schon vorher bemerkt – und obwohl wir uns kaum kannten, fiel es mir leicht, mit ihr zu reden. Ich erzählte auch, wie ich Gabriel zum ersten Mal gesehen hatte und wie ich ihn im Club auf mich aufmerksam gemacht hatte. Sie lachte hell auf. „Damit hattest du ihn so gut wie in der Tasche. So eine Methode ist perfekt für ihn. Das war richtig klasse!“ – „Eigentlich war es Zufall. Sowohl das Treffen als auch die Methode. Und ich war auch ganz schön nervös.“

Sie schüttelte vehement den Kopf. „Nein, mittlerweile solltest du anerkennen, daß manche Dinge geschehen müssen, und zu einer bestimmten Zeit auf eine bestimmte Art. Alles sollte so kommen – oh ich seh schon, du bist nicht begeistert. Aber es ist ja nichts Endgültiges. Jede Entscheidung, die wir treffen, ist schon frei. Du hattest auch eine Wahl. Nur bist du halt deiner Bestimmung gefolgt und nicht Konventionen oder Routine. Wenn das kein Gewinn ist.“ Sie hatte mir keine Zeit für meinen Einwand gegeben und jetzt hatte sie ihn in Nichts aufgelöst. So konnte ich schon fast die Vorstellung von Schicksal ertragen. Fast. Sie lächelte schelmisch. „Warte ein paar Jahre und dann sprechen wir uns wieder. Und wie kommst du jetzt so mit deinen drei Männern zurecht? Ist doch bestimmt anstrengend.“ Ich überlegte kurz. „Eigentlich gar nicht. Wir unterhalten uns über alle möglichen Dinge, spielen Schach oder sitzen einfach so zusammen. Ich habe nur manchmal das Gefühl, das alles zu ruhig ist.“ Sie schaute mich mit einem zweifelnden Blick an. „Na ja, eure Flucht nenne ich nicht gerade ruhig. Aber vermutlich hast du gar keine Vorstellung, was für eine Aufregung es gab. Gabriel und Kolya halten scheinbar viel fern von dir. Ich sag ja, die sind informativ wie Fische! Du solltest Gabriel etwas befragen, mehr darf ich dazu nicht sagen.

Aber ich meinte nicht nur das, auch die körperliche Anziehungskraft der drei. – Wieso schaust du so komisch, LaVerne. Du weißt doch, wie wir dazu stehen und daß wir offen über Beziehungen reden und unseren Körpern folgen. Nach zwei Monaten mit den dreien solltest du dich doch daran gewöhnt haben.“ Hatte ich nicht und schon gar nicht an direkte Fragen. Doch sie wirkte völlig verdutzt aber natürlich und nicht neugierig, nur interessiert. Nun ja, vorhin hatte sie mir ihr Ohr angeboten, da sollte ich doch über meinen Schatten springen können und offen über Gefühle reden können. Innerlich biß ich die Zähne zusammen. Ich brauchte nur einen Anfang.

 „Weißt du Carré, ich bin noch am lernen. Weil keiner genau weiß, was mit mir passiert ist, soll ich mich – in allen Dingen – zurückhalten. Und das tue ich auch. Ich äh…“, da verlor ich schon den Faden. Doch sie half mir gnädig aus der Klemme: „Klar, Gabriel und Kolya haben genug Kontrolle, daß es keine unerwünschten Nebenwirkungen gibt. John ist auch ein Neuling sollte aber auch schon etwas gelernt haben. Wie kommt er denn damit zurecht?“ Die stellte unglaubliche Fragen. Woher sollte ich das wissen – überhaupt, die Gelegenheiten waren für ihn ja nicht gerade übermäßig häufig, Oder? Oder nicht? „Ich weiß nicht. Ich habe ihn nicht gefragt. Das ist eigentlich kein Thema, über das wir sprechen…“ – „Sollte es aber sein. Ihr reist zusammen, verbringt viel Zeit miteinander. Die Kommunikation in eurer Gemeinschaft läßt etwas zu wünschen übrig, das sollte nicht so sein. Auch da solltest du anfangen, alle möglichen Fragen zu stellen. Jedenfalls werde ich John mal kräftig aushören. Ich versteh gar nicht, daß sogar Kolya dieses Stillschweigen mitmacht. Bei Gabriel kann ich es ja noch nachvollziehen, gerade, weil ihr noch nicht lange zusammen seid. Aber unter Freunden? Hm. Ich sehe schon, wir müssen öfter mal solche Frauentreffen veranstalten.“

Zumindest in der Hinsicht gab ich ihr Recht. Ich hatte ja schon vorher gewußt, daß körperliche und geistige Belange hier eine größere Rolle spielten. Aber weder waren mir die Regeln komplett klar, nach denen hier gehandelt wurde, noch kannte ich meine Position in dem Spiel. Und nicht zuletzt würde ich herausfinden müssen, wie ich damit zurecht kam, Gabriel zu teilen. Denn das war eindeutig der Kern. Aber er hatte doch mal – nein, Kolya hatte – von dem Unterschied zwischen ‚Bett teilen’ und ‚einander lieben’ gesprochen. Vielleicht war dort meine Lösung. Doch ich wollte erst einmal noch mehr lernen und verstehen. Es war wirklich gut, daß wir hier gelandet waren. Carré hatte eine wunderbar entspannende Art und ich hatte Gelegenheit, meine Gedanken zu ordnen.

Wir wechselten das Thema und schwatzten noch eine Weile. Irgendwann kam ein Angestellter und lud uns ein, uns mit den Männern im Gemeinschaftsraum zu treffen. Als wir eintraten, ernteten wir eine Menge fragender Blicke bezüglich unserer langen Abwesenheit. Carré lachte, hakte sich bei mir unter und meinte „Frauengespräche! Seid nicht so neugierig. Das machen wir jetzt öfter. Schön, wieder eine kluge und nette Frau hier zu haben.“ Den Rest der Nacht leisteten wir den Männern Gesellschaft.

Und so trafen wir uns danach fast jeden Abend auf ein Plauderstündchen bei Carré. Die Männer hatten dann keinen Zutritt und nach anfänglichen Versuchen gaben sie es auch auf, uns nach dem Inhalt der Unterhaltungen zu fragen – da sie eh keine Antwort bekamen. Das war auch gut so, denn sie waren schließlich auch ein Thema unserer Unterhaltungen. Carré war sehr offen, erzählte von sich und Trevor und von den Regeln und Sitten innerhalb der Blutsgemeinschaft.

Obgleich hier unten in den Höhlen Tag und Nacht verschmolzen, war es doch so, daß wir gegen Abend aufstanden, die Nacht zusammen verbrachten und tagsüber ruhten. Der Körper gewöhnte sich an diese Routine. Wenn mir die Sonne fehlte, konnte ich jederzeit hinauf fahren. Trotz der Dunkelheit verbrachten wir nur wenig Zeit des Nachts außerhalb der Höhlen. Gabriel, Kolya und Trevor führten ebenfalls lange Unterhaltungen – oft war natürlich auch John dabei. So kam es, daß Gabriel und ich uns eigentlich nur begrüßten, einige Küsse austauschten, uns aber ansonsten nicht wieder näher kamen.

Das neue Jahr war schon zehn Tage alt, als wir alle zusammen in einem großen Transporter in die Stadt fuhren. Mitten im Zentrum brachte man uns in eine alte Villa im neuenglischen Stil. Auch hier gab es natürlich verdunkelte Räume, allerdings mehr kleine Zimmerchen. Ein Bett und ein Schrank und Bad – ähnlich wie in Zürich. Das Haus war offensichtlich zur Durchreise oder kurzem Aufenthalt bestimmt. Und es gab solche Zufluchtstätten in jeder größeren Stadt, erklärte Kolya.

Am folgenden Tag machte ich einen ausgiebigen Stadtbummel. Eine junge Frau – Sammy – war meine Führerin. Weiterhin waren ständig zwei Männer in unserer Nähe, die mich stark an Gabriels Leibwächter erinnerten. Wir besichtigten einige Sehenswürdigkeiten, machten einen Einkaufsbummel und gingen hervorragend essen. Und ich setzte mich endlich mit meinem Vermögensverwalter in Verbindung. Ich sagte nicht, wo ich war, nur, daß ich Urlaub machte. Es dauerte etwas, bis er einigermaßen beruhigt und zufrieden war.

Als wir endlich in die Stadtvilla zurück kehrten, waren die anderen dabei, sich für einen weiteren Stadtbummel im Dunkeln bereit zu machen. Obwohl ich schon recht geschafft war, schloß ich mich trotzdem am. Wir besuchten einige Nachtclubs und endeten dann in einem edlen Laden mit eigenem Anlegesteg direkt am Meer. Es war kühl, aber nicht kalt. Drinnen tanzten die anderen, es herrschte eine ausgelassene Stimmung. Einige der Männer dort waren wirklich ein Augenschmaus aber trotz einiger Angebote wollte ich lieber ein wenig den Tanzenden zuschauen. Keiner der Gäste hatte eine Aura, alles schien so normal. Gabriel tanzte mit einer großen Brünetten und nach einer Nachfrage bei meinem Herzen konnte ich den Anblick gut ertragen. Zufrieden mit mir und der Welt organisierte ich mir einen scheußlich süßen Drink und ging hinaus an die hölzerne Reling. Das Meer rauschte und die Weite und die Lichter der Stadt waren ein herrlicher Anblick.

„Woran denkst du, schöne Frau?“ Trevor war mit einem Glas in der Hand zu mir getreten. „An gar nichts eigentlich. Ich genieße den Blick, die Düfte – die Stimmung hier.“

Ungezwungen legte er den Arm um mich. Seine Wärme drang durch meine dünne Kleidung und ich erinnerte mich an Gabriels Worte – Pheromone, Lockstoffe.

„Nicht wahr, es ist herrlich. Aber da drinnen sind mindestens zehn junge Männer, denen du das Herz gebrochen hast – und vermutlich auch einigen Frauen. Einfach alle Angebote ablehnen. Wir wollen doch Spaß heute haben. Oder bedrückt dich etwas?“

Ich schaute ihn etwas verwundert an. „Ich wußte nicht, daß ich mir hier jemanden aussuchen sollte – außerdem – äh, also, du weißt schon, wegen…“ ich wußte nicht, wie ich sagen sollte, daß ich mich von dieser Art  Vergnügen fern halten sollte. Und eigentlich auch wollte. Vorerst. Aber Trevor lachte und zog mich noch fester an sich. Langsam machte er mich nervös. Während er weiter aufs Meer schaute antwortete er: „Nein, so meinte ich das nicht. Du sollst tanzen und Spaß haben. Wenn dir dann jemand gefällt, könntest du ihn immer noch mitnehmen. Dies ist keine solche Party, wie du meinst. Aber vielleicht hast du Recht. Vorsicht ist bei dir bestimmt noch angebracht, Gabriel hat es ja erklärt. Aber vielleicht sollten wir auch von einer anderen Art von Vorsicht reden, jedenfalls bei uns Blutsverwandten. Du hast so eine Art – pures Gift für unsere armen, empfänglichen Körper.“ Er sagte es so, daß man einfach lachen mußte, mit einer Mischung aus Begeisterung und schierer Verzweiflung. „Ach, hör auf Trevor! Das ist jetzt übertrieben. Außerdem muß ich noch einiges lernen, über diese ‚zwischenmenschlichen’ Beziehungen in eurem Kreis.“ Für einen Spaßvogel antwortete er verflixt ernst: „Deine Ausstrahlung wird jeden Tag stärker. Wir alle spüren es. Und manche Dinge kann man in der Theorie nicht lernen. Die Praxis ist einfach anders und bis März mußt du noch einiges aufholen. Warum also nicht anfangen?“

Damit drehte er mich zu sich, legte den zweiten Arm um mich und küßte mich. Lange, fest und voller Leidenschaft – wie ich sie bisher nur von Gabriel kannte. Er schmeckte anders und doch so ähnlich. Anfänglich hielt ich mich steif und sehr still. Doch sein Kuß ließ nicht nach, seine Arme umfingen mich und endlich erwiderte ich vorsichtig die Berührung.

Mein Körper – dieser Verräter – reagierte mit Begeisterung auf die Zärtlichkeit. Als er endlich den Kuß löste, ließ er mich atemlos und verwirrt zurück. Diese besondere Geborgenheit bei Gabriel war nicht da, aber das Verlangen war erwacht und rief lauthals nach mehr. Mir wurde bewußt, er war der erste Mann der Oscuro, den ich nach Gabriel küßte, nachdem die Umwandlung geschehen war. Wenn alle so auf mich wirkten…

 „Einen Teil dieser Praxis kann ich dich lehren, LaVerne. Geh einfach vorwärts, nimm dein neues Leben einfach an, mit allen Konsequenzen.“ Was sollte ich sagen? In der Theorie – die ja scheinbar hier zur Diskussion stand – wußte ich, was ich tun sollte, oder durfte. Nur stand da noch mein bisheriges Leben im Wege, meine Vorstellung von  Beziehungen und der Gedanke an Gabriel. Obwohl ich mich da vielleicht irrte. Und ständig dieser Spruch von wegen ‚das Leben annehmen, vorwärts gehen’. „Ich… Also… wie kann ich…“ Während ich noch stotterte, trat genau der zu uns, an den ich gedacht hatte und der mich eigentlich nicht in Trevors Armen sehen sollte. Und scheinbar war Gabriels Instinkt nicht nur gut im Timing, er schien zu wissen, was wir gesagt und getan hatten.

Ein feines Lächeln lag in seinen Augen, als er vor uns stehen blieb. „Hier seid ihr. Ich habe euch schon gesucht. Ich wollte nur Bescheid sagen, daß Kolya und Carré schon nach Hause fahren. John und ich haben noch ein paar Tänze versprochen, es kann also später werden. Nur, daß ihr uns nicht sucht.“ Trevor nickte, ohne mich dabei loszulassen, es schien ihm nicht im Geringsten peinlich. Mir dafür um so mehr. Ich fühlte das Rot in meinem Gesicht, mochte Gabriel kaum ansehen. Ich wollte gar nicht daran denken, was grad in seinem Kopf vorging. Ich war schon ein Narr, ich sollte es sofort erfahren. „Trevor, holst du LaVerne mal was Vernünftiges zu trinken? Ich passe solange für dich auf sie auf.“ Da war kein Vorwurf in der Stimme und Trevor zuckte nicht sondern hauchte statt dessen einen weiteren Kuß auf meine Wange. „Ich bin sofort zurück, dann reden wir weiter.“

Ich stand wie ein Häufchen Elend an der Reling als Gabriel zu mir trat. Er legte eine Hand auf meine Schulter. Dann hob er mit der andren Hand meinen Kopf, bis ich ihm in die Augen sehen mußte. „Ach, meine Rose! Schau nicht so, das bricht mir ja fast das Herz. Du hast nichts verkehrt gemacht und Trevor auch nicht. Und im Gegensatz zu dir ist ihm das auch klar. Ich habe es schon gesagt, und andere auch: schenke deinem Körper das, was er haben will. Dein Geist gehört mir und das ändert sich nicht. Nimm sein Angebot an, wenn du ihn magst. Er ist nicht so freigiebig damit, wie es scheinen mag. Erfreue dich an deiner neuen Freiheit, vielleicht werde ich das heute Nacht auch mal tun. Und“ – sein Lächeln jetzt ließ meine Knie zu Gummi werden – „demnächst werden wir zwei dann mal unsere Erfahrungen zusammen vergleichen. Und du wirst den Unterschied sofort erkennen. Und jetzt amüsiere dich.“ Er streifte meinen Mund während er einen Schritt zurück trat. Warf mir einen weiteren Kuß zu, als Trevor mit zwei Whiskeygläsern zurück kam. „Viel Spaß euch beiden. Ich werd mal sehen, daß John sich nicht die besten Mädel unter den Nagel reißt.“ Damit ließ er uns stehen. Wortlos reichte Trevor mir das Glas. Ich nahm einen unangemessen großen Schluck.

 „Trevor, ich…“ Er nahm mir das Glas sofort wieder wortlos ab, zog mich wieder in seine Arme und nahm den Kuß von vorhin wieder auf. Dieses mal erwiderte ich ihn mit mehr Begeisterung. Seine Umarmung war fest und seine Hände wanderten langsam auseinander, eine in den Nacken, eine weiter nach unten zum Gesäß. „Sag nichts, Kleine. Laß uns einfach den Augenblick genießen und denke nicht.“ Und eine Weile tat ich das. Seine Hände forschten nicht weiter und endlich ließ er auch wieder zu, daß ich atmen konnte. Er nahm mich in den Arm und führte mich die Stufen an der Außenseite des Auslegers herunter. Wortlos zog er mich um das Gebäude bis zu einem wartenden Taxi. Hatte er nicht nur die Getränke organisiert? Und ahnte er, was Gabriel gesagt hatte? Vermutlich. Was spielte es für eine Rolle… Im Taxi wurde ich wieder mit Küssen versehen, auf den Mund, die Wange, Hände, Oberarme und den Hals. Wir kehrten in die Villa zurück.

Aus einem der Zimmer waren leise Stimmen zu hören. Trevor zog mich an der Hand in einen der kleinen Räume. Er machte kein Licht, das war ja auch nicht nötig. Er schloß nicht ab sondern drehte sich zu mir und nahm mich wieder in die Arme. „Ich freue mich, daß du erlaubst, daß wir heute Nacht das Lager teilen.“ Eine Antwort war wegen der nachfolgenden Zunge in meinem Mund weder möglich noch notwendig. Aber man hatte mir erklärt, daß ein solcher Satz gesagt werden mußte. Mein Gehirn schaltete dann so langsam auf Sparflamme – und nahm Gabriel mit sich. Nicht vergessen, aber als etwas Besonderes gut verwahrt. Dann übernahm mein Körper die Aufgabe, die Zärtlichkeiten zu beantworten. Sanft erforschten meine Finger die Muskeln unter Trevors Hemd. Während seine Hände an dem Verschluß meines Kleides arbeiteten, nahm ich mir die Knöpfe vor. Darunter kam ein durchaus wohlgeformter Körper zum Vorschein, fein definierte Muskeln, wenn auch etwas weniger ausgeprägte als bei Gabriel. Ich sollte wirklich nicht vergleichen.

Langsam zog Trevor den Reißverschluß meines Kleides auf. Er hielt kurz inne, damit ich sein Hemd nach hinten wegziehen konnte. Er beobachtete meine Augen, als er mein Kleid sanft über die Schultern schob und es auf den Boden glitt. In seinen hellen braunen Augen  ertrank ich nicht, aber sie sprachen – von Zärtlichkeit und Zuneigung. Endgültig verbannte ich Gabriel – und auch Carré – aus meinem Kopf. Er lächelte, als hätte er gesehen, was geschehen war. Jetzt drang auch seine Wärme wieder zu mir durch. Vorsichtig angelte er nach dem Verschluß meines BHs. Sein Mund wanderte zart an meinem Hals abwärts, stoppte kurz am Ansatz des Kleidungsstückes und als er offen war und sich zu meinem Kleid gesellte, wanderten deine Lippen weiter abwärts. Auf dem direkten Weg zu meinem Bauchnabel ließ er sich auf die Knie sinken. Seine Zunge erforschte den Nabel und die Haut in der Nachbarschaft, die Hände strichen gänsehauterregend an meiner Seite aufwärts. Ich hatte nur noch seinen Kopf doch meine Finger fanden auch dort interessante Stellen – wie ein sanfter Biß in meinen Bauch bestätigte. Langsam knabberte sich Trevor von der Hüfte abwärts, arbeitete sich am Beckenknochen herunter, bis er von meinem Slip gestoppt wurde. Als er sich aufrichtete, hob er mich hoch, als wäre ich eine Feder.

Mühelos stellte er mich auf das Bett. Unwillig, mich weiterhin nur mit seinem Kopf zufrieden zu geben, ließ ich mich hier auf die Knie fallen, daß meine Hände seine Hose fassen konnten – und ihn von dem arg einengenden Kleidungsstück befreien konnten. Durch seine Unterhose war seine Erektion kaum noch zu bändigen. Als er seinen Körper gegen den meinen drückte, hatte ich endlich Gelegenheit, mit meinen Zähnen und der Zunge seine Brust zu erkunden. Eine kribbelnde Erregung breitete sich vom Magen – und weiter unten – in meinem Körper aus, als er den Kopf zurück legte und seine Fingernägel vorsichtig aber spürbar über meinen Nacken und den Rücken wandern ließ. Aber nach einer kleinen Weile stellte er mich wieder auf das Bett. Langsam zog er meinen Slip herunter, bis ich ihn ohne Probleme abstreifen konnte.

Wieder schlang er seine Arme um mich, die Wärme war zur Hitze geworden, erregend und ermutigend zugleich. Sanft zog er mich erst nach unten, bis ich auf dem Bett saß. Das war meine Gelegenheit! Ich griff nach seiner Unterhose und mit seiner Hilfe war sie aus dem Wege. Dann zog er mich mit sich, als er sich auf dem Bett ausstreckte. Jeder auf seinen Arm gestützt setzen wir unsere ‚Untersuchungen’ fort. Er hatte einen wunderbaren Körper, schlank und muskulös, wenig Haare auf der Brust aber sehr empfängliche Haut. Wo mein Nagel seinen Körper berührte, hinterließ er eine feine Gänsehaut. Sein Glied zuckte direkt auf meinem Bauch und schrie förmlich nach Berührung. Aber noch immer zog ich die Krallen nicht vollständig ein – scheinbar ganz in seinem Sinne. Genau wie ich, atmete Trevor ein wenig schneller. Mein Herz allerdings raste vor Erwartung und als seine Hand an meinem Oberschenkel entlang strich, reagierte mein Körper reflexartig. Er wollte mehr! Langsam bewegte sich Trevor auf mich zu, immer näher kam seine warme Haut, bis sie meinen Körper fast vollständig bedeckte. Sein Mund näherte sich dem meinen wieder. Mit einem tiefen Seufzer trafen sich unsere Lippen – starteten unsere Zungen erneut ihren liebevollen Zweikampf. Trevor stütze sich auf die Arme ohne dabei den Kontakt von Brust auf Brust zu brechen. Im nächsten Moment waren seine Beine zwischen meinen und ich spürte sein Glied auf der Suche nach dem Eingang. Aber er brauchte keine Hilfe, ich war mehr als bereit für ihn.

Mein Hände wanderten zu seinem Gesäß, um bei dem Kommenden mitspielen zu dürfen. Ich spürte, wie er die Luft einatmete, anhielt und dann mit seinem Glied vorsichtig nach vorne stieß. Er traf und mein Unterleib forderte begeistert mehr von ihm. Meine Luft wurde aus den Lungen gepreßt als meine Hände bei seinem nächsten Stoß nachhalfen. Der süße Schmerz als er voll eindrang entlockte mir ein Stöhnen, das in seinem Mund ein Echo fand. Ganz kurz bewegten wir uns beide nicht. Dann langsam nahm er in mir eine Bewegung auf und ich schloß mich seinem Rhythmus an. Als meine Nägel wieder über seinen Rücken fuhren, wurden seine Stöße sofort härter und er biß mir fast – aber nur fast – schmerzhaft in die Lippen. So wechselten sich zärtliche Küsse mit harten Stößen ab. Eine gefährliche Mischung, der wir nicht lange stand halten konnten. Schon nach viel zu kurzer Zeit spürte ich, daß das Ende des ersten Aktes –  ich ging davon aus, daß noch mehr kam – nicht lange auf sich warten lassen würde.

Trevor schien es ähnlich zu gehen, sein Rhythmus wurde schneller, seine Zähne wanderten langsam an meinem Hals abwärts zur Schulter. Auch hier wandelten seine Zähne an der Grenze zum Schmerz – überschritten sie aber nie. In meinem gesamten Körper baute sich die Spannung auf und ich spürte, wie meine Zähne wuchsen. Dieses Mal erschrak ich nicht sondern verstärkte Trevors Bewegung als Reaktion. Ich hörte ihn laut stöhnen, er richtete sich auf. Seine langen Reißzähne waren ebenfalls deutlich sichtbar. Ein Anblick, der an sich schon erregend war. Seine Augen suchten meine und fanden sie. Ein wundervolles Lächeln erschien in seinem Gesicht. Die Augen waren – wohl ähnlich wie meine – von Verlangen getrübt. Noch einmal und noch einmal stieß er zu. Dann schloß er die Augen und fast gleichzeitig kamen wir beide. Er hielt die Zähne fern von mir und ich hielt den Mund geschlossen, als mein Unterleib zuckte und er sich unkontrolliert in mir ergoß. Erst als das letzte Glühen fast verloschen war, senkte sein Oberkörper sich auf meinen und seine Lippen berührten sanft meinen Hals. Eine Weile bewegten wir uns nicht, genossen nur die Wärme und die Nähe des anderen.

Nach einiger Zeit hatten wir uns soweit erholt, daß wir unsere Aktivitäten dann erneut aufnahmen. Wir testeten einige Stellungen aus, erforschten den Körper des anderen weiter. Trevor konnte, sofern er wollte, sehr sanft sein aber auch fordernd und manchmal bis an die Schmerzgrenze gehend. Die Nacht war lang und voller Hitze. Er war stets vorsichtig mit seinen – und meinen – Zähnen. Wir genossen es, uns zu verwöhnen, unsere Körper zu erregen und bis zur Erschöpfung zu gehen. Und trotzdem war es anders als mit Gabriel. Diese besondere Geborgenheit, die Schwingen, die mich liebevoll umfingen, waren nicht dabei. Es war ‚nur’ Vergnügen. Jetzt endlich verstand ich den Unterschied, von dem Gabriel gesprochen hatte. Das machte aber die Verbindung mit Trevor nicht weniger reizvoll. Nur anders. Es war bestimmt schon morgen, als ich in den Armen des Mannes einschlief. Ohne schlechtes Gewissen, erschöpft und zufrieden.

Es war schön, daß Trevor noch da war, als ich aufstand. Wie oft war ich früher alleine aufgewacht. Ich weckte ihn nicht, wartete nur, ohne groß nachzudenken, einfach mit der Welt zufrieden. Einige Zeit später regte er sich und begrüßte mich mit einem verschlafenen Kuß. „Guten Morgen, Engelchen. Oder wohl guten Abend, schätze ich. Vermutlich sind die anderen schon lange auf. Aber denk dran: keine peinlichen Blicke, sei einfach du selber, ok?“ – „Ok, Trevor! Und danke.“ – „Ich habe zu danken – vor allem für dein Vertrauen in mich.“

Ich ließ ihn zuerst ins Bad. Als ich dann fertig war, war die ganze Gesellschaft schon versammelt. Und alle wirkten sehr gut gelaunt. Ein einfaches Frühstück war schon arg geplündert und ich gönnte mir meinen Teil davon. Wir waren gerade alle fertig, als der Transporter auch schon kam und uns in die Höhlen zurück brachte. Dort lud mich Carré in ihre Räume zum üblichen Teetrinken ein. Den Bruchteil einer Sekunde verkrampfte sich mein Herz aber ich ignorierte diesen dummen Anfall und folge ihr einigermaßen selbstbewußt.

Sie startete gleich durch mit einer begeisterten Beschreibung der Leute in der Tanzbar. „Alle sahen doch wirklich lecker aus, was? So eine Auswahl, ach eine richtige Wohltat diese Blicke, die einen schon fast ausziehen.“ Ich mußte lachen, sie wirkte um Jahre jünger, spritzig und so voller Überschwang. Obwohl ich diese Blicke selber nicht wirklich bemerkt hatte. Sie schüttelte bei dieser Bemerkung nur den Kopf: „Ach, das kann doch gar nicht. Aber vielleicht hast du deshalb so viel Erotik ausgestrahlt, weil es unbewußt war. Eigentlich waren wir doch dumm, so innerhalb der Gruppe zu bleiben. Wenigstens die meisten von uns. Das hätten wir doch auch zuhause haben können. Na ja, mußte wohl erst ne Ortsveränderung kommen.“

Also, ich wußte bestimmt nicht viel von den Vorgängen der letzten Nacht außerhalb des Schlafzimmers. Ich war auch nicht sicher, ob fragen angemessen war. Scheinbar war es aber ok, denn Carré machte prompt den Anfang. „Gabriel hat ja erklärt, daß deine Wahl auf einen innerhalb der Oscuro fallen mußte. Vorerst zumindest. Es freut mich wirklich, daß du dich diesmal für Trevor entschieden hast, er ist ein echtes Goldstück, besonders im Bett – obwohl ich vermute, daß er bei der Wahl tüchtig nachgeholfen hat. Wenn er sich was in den Kopf gesetzt hat, stellt er alles Mögliche an“ Sie lächelte dabei versonnen und sehr schön. Sie hatte offensichtlich keine Probleme, also schubste ich mich selber an und antwortete: „Ich denke schon, daß er etwas nachgeholfen hat – Gabriel aber auch. Mich würde allerdings interessieren, was mit den anderen war. Ich habe nicht wirklich mitbekommen, was um mich herum geschehen ist.“

Sie verteilte weiteren Tee während sie wissend grinste. „Oh, ich war ja mit Kolya zuerst weg. Das wollte ich schon lange mal, aber irgendwie haben wir es nie geschafft. Und er hatte immer Angst, weil ich so klein und zierlich bin, er meinte immer, er würde mir nur schaden. Unfug. Zuletzt sind wohl John und Gabriel mit zwei ‚normalen’ Frauen aufgetaucht. Gabriels Begleiterin war natürlich brünett. Die ist übrigens auch als erstes sehr früh am Morgen wieder gefahren. Etwas derangiert aber in bester Stimmung, wie man sich denken kann. John hatte eine hübsche Rothaarige dabei, ganz schlank und zierlich wie ich. Und die ist erst ganz kurz vor deinem Auftauchen gefahren. Sie hieß, glaube ich, Maxime und ich könnte mir vorstellen, daß wir sie noch mal sehen werden. Und jetzt sag, war diese Erfahrung so schlimm?“

Ehrlich mußte ich diese Frage verneinen. Aber ich wollte noch etwas dazu sagen: „Weißt du Carré, es war eine sehr schöne Erfahrung und bestimmt auch nicht die letzte diese Art. Aber irgend etwas ist anders mit Gabriel. Ein Gefühl von solcher Nähe, von Geborgenheit.“ Sie nickte und unterbrach mich. „Eben! Genau das ist der Grund, warum Trevor mein Gefährte ist und Gabriel deiner. Wir genießen auch das Vergnügen mit anderen, aber diese Männer vervollständigen das Bild. Sie berühren unsere Seelen, wie wir die ihren. Ein wertvolles Geschenk der Oscuro, eine Gabe, die wir genießen, auskosten sollen. Sie bringt uns immer wieder aufs Neue zusammen und wieder näher. Ich weiß, daß etwas in Trevor ist, das niemand außer mir bekommt. Anders herum erhält Gabriel von dir zum Beispiel etwas, daß er nirgendwo findet. Wir vier sind komplett. Und nicht jeder findet einen Gefährten oder eine Gefährtin. Das finde ich traurig. So. Und jetzt werden wir die Männer mal etwas aufmischen. Immerhin habe ich ja noch welche, denen ich auch noch mal etwas näher kommen will. Und was ist mit dir? Ich hoffe, die Erfahrung hat dich jetzt gelehrt, daß altmodische Zurückhaltung in unseren Kreisen eher unangebracht ist.“

Ich zögerte etwas. „Ja, ich habe schon verstanden. Aber…aber…“ Sie zog in gespielter Überraschung die Augenbrauen hoch. „Was – Aber? Damit sind wir doch durch. John hat süße Augen und einen reizvollen Körper. Kolyas Muskeln alleine sind eine genauere Untersuchung wert. Was hält dich auf??“ Irgendwie nahm das Gespräch grad eine falsche Wendung. Aber es half nicht. „Na ja, John und ich haben vor der Umwandlung schon mal miteinander geschlafen. Und durch die ganzen Ereignisse ist er jetzt eher ein Freund als ein Partner fürs Bett. Und Kolya – irgendwie kommt er mir wie ein großer Bruder vor und mit dem hat man ja auch keinen Sex!“ Ihre Antwort war überraschend: „Nicht? Wußte ich noch gar nicht. Solche Regeln kenne ich gar nicht, immerhin sind wir ja alle Brüder des Blutes. Überleg es dir. Vielleicht erstaunt es dich, aber Kolya sieht dich auch als kleine Schwester – und außerdem – das weiß ich aus allererster Hand – als sehr anziehend, reizvoll und hochgradig erregend. Das habe ich jetzt nicht gesagt. Und John? Tja, würde das eurer Freundschaft schaden, unter veränderten Umständen einen direkten Vergleich zu vorher anzustellen? Was wäre das dann für eine Freundschaft? LaVerne! Du mußt lernen, daß die Gesellschaft dir Grenzen gesetzt hatte, damit du sie jetzt überschreiten kannst. Aber jetzt reicht es wirklich. Wenn die Männer wüsten, wie viel wir so über sie reden, würden sie unangemessen groß werden. Inakzeptabel. Also, ran, laß uns einfach rüber gehen und in Testosteron baden. Das hält jung.“

Lachend gesellten wir uns zu den Männern in dem Aufenthaltsraum.

Als wir eintraten, stand Gabriel auf und hielt mir die Hand hin. Ich ergriff sie und er zog mich in seinen Raum. Auf seine typische Art blieb er direkt hinter der Tür stehen, schloß sie und legte seine Hände zu beiden Seiten meiner Schultern an die Wand. Ohne Erklärung küßte er mich. Und da war wieder das Gefühl da, den Verstand zu verlieren. Warm und dunkel und erregend. Ich ergab mich diesem Gefühl und nur mein Mund antwortete der Zärtlichkeit. Endlich ließ er ab und schaut mir in die Augen. Und ich konnte wieder in seiner Dunkelheit versinken. Er sprach leise und zärtlich. „Ich weiß, daß du den Unterschied jetzt verstehst. Erst jetzt gehörst du ganz mir, meine schwarze Rose.“ – „Ja, Gabriel. Es ist wie Kohle und Diamant. Das Gleiche und doch Welten dazwischen.“

Er lächelte. „Ein schöner Vergleich. Später will ich mal herausfinden, was der Diamant so alles mit der Rose anfangen kann. Nur, um die Erinnerung etwas aufzufrischen. Eine vielversprechende Vorstellung. Aber Gabriel wollte noch mehr: „Vorher will ich mit dir reden. Eine Sache bekümmert mich. Du bist anders als wir, das ist schon klar. Du kannst ins Licht. Ich bin ein Geschöpft der Finsternis. Es tut mir weh, wenn ich dich von Aktivitäten am Tage abhalten muß. Aber dann kann dich keiner von uns schützen. Leider ist das aber notwendig. Deswegen bitte ich dich – wirklich eine Bitte, kein Befehl – möglichst wenig alleine oder bei Tageslicht zu unternehmen. Ich tue das ungern aber ich sorge mich zu sehr um dich. Es ist schon schlimm genug, daß ich dir nicht diese normalen Aktivitäten bieten kann. Aber mein Herz schreit laut auf, wenn ich dich ohne passende Begleitung gehen lassen soll.“ Er wollte noch mehr sagen aber ich legte meinen Finger auf diese sinnlichen Lippen: „Ich will sowieso nicht lange ohne dich sein. Mach dir keine Gedanken. Ich werde mich euch ohne das Gefühl eines Verlustes anpassen. Ich wußte nur nicht, daß du so besorgt bist.“ Wieder küßte er mich, dann „jetzt nicht mehr. Ach Rose! Noch etwas. Es scheint so, als wären du und Carré richtige Freunde geworden. Halte dich an sie, sie ist unbezahlbar. Sie kann so viel leichter ihre Gedanken äußern, Dinge erklären und einfach nur da sein. Wie gesagt, Trevor hat viel Glück mit ihr.“ Ich ergänzte: „aber sie auch mit ihm. Ein wunderbares Paar die beiden. Ich freue mich, daß ich sie kennen gelernt habe. Ja, Carré ist wirklich prima.“

Gabriel löste sich von der Wand, schlang seine Arme um mich und sein ganzer Körper hüllte mich wieder in diese schwarzen, sicheren Flügel. Ich hielt ganz still, wollte diese Ewigkeit einer einfachen Berührung auskosten, daß sie niemals zu Ende gehen möge. Auch er bewegte sich nicht, nahm mich nur in sich auf.

Nach einiger Zeit kehrten wir zu den anderen zurück. Und beteiligten uns gutgelaunt an der Unterhaltung. Und viel später, als wir ins Bett gingen, löste Gabriel sein Versprechen ein. Wir verbrachten die nächsten Stunden in seinem Raum. Frischten gegenseitig die Erinnerungen an unsere Körper auf und stillten den Teil unseres Hungers aneinander, den niemand anders stillen konnte. Obgleich ich vor Sonnenuntergang in Gabriels Armen aufwachte, hätte nichts mich dazu gebracht, ihn jetzt zu verlassen um die Sonne verschwinden zu sehen. Statt dessen kuschelte ich mich näher an ihn und erhielt dafür ein schlaftrunkenes Brummen und eine Umarmung.

Wieder gingen einige Tage ins Land. Langsam wurde es eintönig. Es gab nicht besonders viel zu tun, die Arbeit erledigten die Angestellten. Sogar die Unterhaltungen wurden sparsamer, Bücher gab es hier nur wenige. Eines Abends jedoch sprach mich Kolya an, ob ich mit ihm einen Spaziergang im Garten machen würde. Also fuhren wir hoch und schlenderten über das eingezäunte Gelände. Nach einiger Zeit des Schweigens fragte er: „Wie gut kannst du dich verteidigen, Kleine?“ Ich grinste: „Mit der Zunge recht gut. Ansonsten kann ich nur Fingernägel und bei einem Mann vielleicht einen Tritt in die Weichteile anbieten.“ Er lachte nicht. Scheinbar war ihm die Frage wichtig.

„Nein LaVerne, ich meine richtig. Kannst du mit einer Waffe umgehen, einem Messer oder Degen oder hast du mal Kampfsport gemacht?“ Also beantwortete ich seine Frage auch ernsthaft. „Früher war ich ein paar  Mal im Schießstand. Ich kann eine Waffe – genauer gesagt eine Pistole – laden, abfeuern und treffe auch recht gut. Aber das ist lange her und ich habe nie auf etwas Lebendes geschossen. Zu allem andren: nein!“ Er nickte.

 „Gut. Das Schießen ist ausbaufähig. Degen sind in den letzen Jahren scheinbar etwas aus der Mode gekommen aber du solltest dich zumindest gegen ein Messer verteidigen können. Und ich möchte, daß du kämpfen lernst. Du mußt in der Lage sein, dich wenigstens kurzfristig wehren zu können. Außerdem ist es gut für den Körper und den Geist.“ Ich dachte einen Moment darüber nach. Die Idee, mal wieder zu schießen gefiel mir schon. Aber Kampfsport? Dafür war ich einfach zu ungelenkig, unbegabt und wohl auch nicht aggressiv genug. Und es reizte mich auch nicht so sehr. „Ach Kolya, schießen ist ok, aber der Rest? Das bringt eh nichts und ich bin doch immer bei euch.“ Aber er durchschaute mich ziemlich leicht. „Trotzdem brauchst du Grundkenntnisse. John war Polizist, er ist übrigens ziemlich wehrhaft. Und vielleicht rettet dich das irgendwann mal aus einer gefährlichen Situation. Und glaub mir, es macht Spaß, man baut Energie ab und außerdem, hast du was Besseres vor? Wird doch schon fast langweilig, so ohne Beschäftigung. Also bestehe ich darauf. Ab morgen treffen wir uns jeden Abend im Trainingsraum. Die anderen sperren wir aus, damit die gar nicht erst kommentieren und dann arbeiten wir an deiner Kondition und einigen hilfreichen Tricks. Irgendwo müssen wir ja starten. Schießunterricht zweimal pro Woche, entweder bei Gabriel oder bei mir.“

Das klang nicht so, als hätte ich irgendwie eine Wahl. Immerhin hatte er Recht, es unterbrach bestimmt die Monotonie. Und streiken konnte ich immer noch. Also gab ich nach. Vorerst. Sichtlich zufrieden plazierte er eine Pranke auf meiner Schulter und Arm in Arm gingen wir zum Haus zurück. Als wir so unten auftauchten, grinste Gabriel. „Ich sehe schon, er hat dich überredet. Verabschiede dich vom ruhigen Leben. Du hast den schlimmsten Lehrmeister überhaupt. Ich spreche aus Erfahrung.“ Kolya warf ihm einen gespielt bösen  Blick zu. „Na, bei so einem Schüler wie dir! Aber irgendwann in rund hundert Jahren wirst du’s auch gelernt haben.“ Gabriel zog die Augenbrauen hoch: „ach ja, was denn? Dich nicht in 10 sondern in 5 Minuten zu schlagen?“ – „Vielleicht im Traum. Ich wette, LaVerne hat dich in einem Jahr schon überholt.“ Gabriel schaute in mein zweifelndes Gesicht. „Die Wette halte ich. Wer verliert, muß LaVerne groß zum Essen ausführen!“ Kolya wollte etwas sagen, holte Luft – schwieg. „Wieso habe ich das Gefühl, ich hätte jetzt ein schlechtes Geschäft gemacht. Na warte. Das klären wir noch.“

Und somit startete mein Unterricht am nächsten Abend. In Sportkleidung schickte Kolya mich erst auf ein Laufband, dann gab es leichtes Gewichtheben. Er beteiligte sich an diesen Aufgaben, allerdings waren seine Gewichte schwerer als ich mit meinen Gewichten. Als ich dann schon völlig auf war – immerhin war ich ein Neuling – gab es noch Atemtraining, Konzentrations-, Stretch- und Dehnübungen. Wir waren wirklich alleine und nach mehr als zwei Stunden taten mir die unglaublichsten Stellen weh. In der ersten Nacht – na ja, dem ersten Tag – schlief ich wie tot. Trotz Muskelkater fühlte ich mich aber matt auf angenehme Art.

Die nächsten Tage liefen ähnlich ab. Manchmal konnte ich vorher eine Stunde mit Carré einschieben. Wir verbrachten mindestens zwei, oft auch mehr Stunden erst an den Geräten, dann mit Bewegungsübungen auf der Trainingsmatte. Wider Erwarten machte es mir nach anfänglicher Überwindung sogar Spaß, besonders, als der Muskelkater langsam nachließ. Kolya war ein Supertrainer, sehr ruhig, locker und mit viel Humor – wie es eben seine Art war. Stemmte ich ein kleines Gewichtchen, hob er gleich das Zehnfache. Aber er war stets aufmerksam, korrigierte Haltungsfehler und zeigte Tricks, wie man immer etwas mehr aus seinem Körper holen konnte.

Einmal, nach dem Training stellte er sich vor mich: „Greif mich an!“ Der war echt gut! Mindestens zwei Köpfe größer, ein einziger Muskelberg und ich geschafft. „Wie?“ – „Du mußt mein Gleichgewicht stören. Das ist eigentlich der ganze Trick.“ Wie ich das machen sollte, sagte er nicht dazu. Doch dann führte er es mir vor. Zeigte mir, wie ich seine Beine, seinen Unterkörper attackieren konnte. Wie ich meine geringere Größe zum Vorteil machen konnte. Und diese Tricks, Ducken, Ausweichen, Angreifen wie eine Schlange – völlig ohne Ansatz, überraschend und zurückschnellend – übten wir fortan nach dem normalen Training. Wobei eine gelungene Attacke gegen diesen Bären nicht wirklich zur Debatte stand. Wenn ich ihm ein paar Minuten entgehen konnte, war das schon ein riesiges Erfolgserlebnis. Fand ich wenigstens.

Und mein Schießtraining startete auch. Doch dieses Mal betätigte sich Gabriel als Lehrer. Im Hause gab es eine stattliche Anzahl von Waffen und mir wurde eine kleine Pistole mit Perlmuttgriff zugeteilt, sowie ein altmodischer, schwerer Revolver. Wir übten draußen, in der kühlen Nacht mit den seltsamen Geräuschen. Die Erinnerung kam recht schnell wieder, sogar das Reinigen, Demontieren oder Nachladen klappte. Der Rückschlag der großen Waffe war erschreckend und die Schüsse furchtbar laut. Aber nach kurzer Übung traf ich die einfachen Ziele schon wieder. Von oben den Arm führen,  mit dem Auge dem Lauf folgen, ausatmen, nicht atmen, in fließender Bewegung abdrücken. Zwei Dinge waren allerdings hinderlich. Oft war ich schon ziemlich geschafft von den körperlichen Anstrengungen des Trainings mit Kolya und Gabriels Anwesenheit hatte immer etwas Ablenkendes. Aber er zeigte sich überrascht und erfreut: „Du kannst noch sehr viel und hast eindeutig Talent. Das wird noch richtig interessant.“ Ich bestätigte ihm, daß ich diese Sportart früher gemocht hatte. „Das merkt man. Ab jetzt zwei Mal pro Woche und wir werden andere Waffen und schwerere Ziele nehmen. Ich bin sehr zufrieden für heute.“

Und so verging eine weitere Woche wie im Flug. Aufstehen am Abend, zusammen essen, mit Kolya trainieren. Pause. Duschen und Umziehen. Dann vielleicht etwas mit Carré plaudern oder Schießen mit Gabriel. Nach der zweiten Unterrichtsstunde war ich auch einverstanden, daß John uns begleitete. Auch er frischte seine Fähigkeiten erneut auf. Aber noch konnte ich mit ihm nicht mithalten.

Am letzten Januarwochenende fuhren wir wieder in die Stadt. In unserem Gästehaus kleideten wir uns für den Abend um. Wir fuhren unter anderem zu dem Nachtlokal, in dem wir schon gewesen waren. Und zu Johns Glück – oder hatte er nachgeholfen – war auch seine Begleitung von neulich da. Maxime. Unbeschwert gesellte sie sich zu uns. Sie war ein nettes und äußerst hübsches Mädchen. Wir anderen tanzten, lachten und hatten einfach einen schönen Abend. Aber wir fuhren, obgleich es tatsächlich an Angeboten nicht mangelte, ohne fremde Begleitung zurück, nur John und Maxime blieben noch. Gabriel legte auf der Rückfahrt in die kleine Villa seinen Arm um mich und ich döste fast ein. Das neue Training forderte doch wohl seinen Tribut. Er weckte mich nicht einmal richtig. Er transportierte mich in meinen Raum. Sanft und bestimmt zog er mich aus und schob mich unter die Decke. Aber er blieb bei mir, denn wieder einmal wachte ich an seine Brust gekuschelt auf. „Tut mir Leid wegen meinem Schwächeln gestern. Ist alles Kolyas Schuld.“ Er lächelte mich an und zog mich näher zu sich. „Ich fand dich wundervoll – so schlaftrunken. Auch das ist ein Teil unserer Zusammengehörigkeit, schwarze Rose.“ Zufrieden schloß ich die Augen und genoß die Stimmung noch etwas länger.

Erst weit nach Mitternacht fuhren wir aufs Land zurück. Zumindest blieb mir so einen weiteren Tag lang Kolyas Tyrannei erspart. Obwohl es mir fast fehlte, so hatte ich mich an die Bewegung gewöhnt.

Doch am nächsten Tag gestaltete sich unser Training etwas anders. Kolya wirkte ernster, viel nachdrücklicher. Nach dem üblichen Aufwärmen und ‚Geräteturnen’ startete er seine Verteidigungsübungen. Aber dieses Mal griff er wirklich an, setzte mehr Kraft ein. Ich hatte große Mühe, ihm nur auszuweichen. Zu seinen Tricks für einen Angriff kam ich gar nicht erst. Trotz seiner Kraft und Größe bewegte er sich mit der Grazie eines Tänzers. Er schien meine Fluchtversuche vorherzuahnen und die Geschwindigkeit und Nachdrücklichkeit seiner Aktionen erschreckten mich. Nach nicht einmal fünf Minuten hatte er mich – und ich war schweißgebadet.

Beide Hände in einer seiner Pranken über meinem Kopf nagelte er mich gegen eine der Wände des Trainingsraumes. Und das, obwohl ich wirklich alles versucht hatte. Ich hing bewegungsunfähig in seinem Griff und mühelos hob er mich mit der freien Hand unter dem Gesäß an, bis ich fast auf Höhe seiner blauen Augen war. Es war kaum zu glauben, seine Reißzähne waren gewachsen und gaben seinem lächelnden Gesicht etwas Fremdes, Besonderes. Und Anziehendes. Er öffnete den Mund weit, zielte auf meine freiliegende Schulter und beugte den Kopf vor. Ich konnte nicht einmal vernünftig strampeln, sein Gewicht verurteilte mich zu Unbeweglichkeit. Dann schlugen seine Zähne Millimeter vor meiner Haut aufeinander, ohne mich auch nur zu ritzen, nur ein Hauch seines Mundes streifte mich. Er hob den Kopf, sah kurz in meine überraschten Augen und küßte mich heftig. Noch überraschter war ich, daß ich den Kuß sofort erwiderte – mit wachsender Erregung. Als er endlich von mir abließ und mich vorsichtig auf den Boden stellte, waren die langen Eckzähne verschwunden – und ich diesmal nicht von dem Kampf atemlos.

Er setzte sich auf eine der Bänke und zog mich neben sich. Er reichte mir eines der Handtücher und während wir uns den Schweiß abtrockneten sprach er leise und ruhig: „Du hast heute zwei Dinge gelernt. Nummer eins: Wenn du mit vollem Einsatz dabei bist, kannst du erstaunlich viel ausrichten und dich lange wehren. Aber nur, wenn das Herz dabei ist. Nummer zwei: Bei unseren Übungskämpfen – die natürlich mit starken Emotionen verbunden sind – wachsen oft unsere Zähne. Und wir verwenden sie dann auch. Es ist wie eine Erleichterung, eine Belohnung, aber auch ein Freundschaftsbeweis. Manchmal gleicht so ein Kampf einer Art Liebesspiel.“ Ich nickte. Tatsächlich hatte seine ernste Art mich zu mehr Einsatz angestachelt und – ehrlich gesagt – hatten seine Zähne vor meinem Hals ein starkes Gefühl in mir ausgelöst. Ein brennendes, körperlich spürbares Verlangen nach ihrer Berührung. Oder seiner. Ich wußte nicht einmal, wie sie sich anfühlen würden, weder bei einem Biß noch beim gebissen werden. Und diese seltsame Erregung hatte mich noch immer etwas in ihrem Bann gefangen.

Vielleicht war ja jetzt die richtige Zeit für einen weiteren Schritt auf meinem Weg des Lernens. Carré hatte gesagt, daß Kolya an mir durchaus interessiert war – und momentan war ich auch interessiert. Und angeblich war eine Ablehnung kein Grund zur Verzweiflung oder Grund, sich zu schämen. Ich mußte nur den Mut aufbringen. Eine bessere Gelegenheit würde sich nicht finden. Ich wußte nur nicht, wie ich anfangen sollte. „Kolya?“ – „Ja, LaVerne.“ Er schaute erst nicht rüber, trocknete sich weiter ab. Als ich nichts sagte, legte er das Handtuch zur Seite und wand sich mir zu. „Kolya, ich …also…“ Er grinste. Wenn er wußte, was ich wollte – was zu vermuten stand – half er mir nicht. Danke! Aber die Wahrheit sollte doch wohl funktionieren. Ich war halt in allen Bereichen Anfänger. „Als deine Zähne so dicht vor mir waren, also…äh…ach scheiße, das hat mich angemacht!“ Er schaute mich weiter mit diesem Grinsen an. Nickte und wartete.

Jetzt haßte ich ihn fast dafür, mich zappeln zu lassen. Schon wollte ich innerlich absagen, da legte er mir die Hand warm auf die Schulter. Entgegen seinem Gesichtsausdruck sagte er mit ernster Stimme: „so muß es auch sein. Das ist ihr Zweck. Überwinde dich, red weiter.“ Ich kramte aus den letzen versteckten Ecken meinen Mut zusammen. „Ich würde diese Erfahrung gerne vertiefen… mit dir.“ Das reichte wohl nicht, denn er hob nur die Augenbraue und wartete weiter. „Würdest du…“ mein Gott, ich war noch nie schüchtern, wieso diese Probleme? Weil er mehr als ein Freund war, ich ihn schon zu gut kannte? Momentan kam er mir wie ein durchaus verlockender Liebhaber vor. Das war vorher eindeutig nicht so gewesen. Los! „…mit mir schlafen? Jetzt?“ Ich hatte es geschafft, wenn auch die Wortwahl wohl nicht ganz exakt den rituellen Konventionen der Oscuro entsprach. Ich schaute ihn nicht an, erst, als seine zweite Hand meinen Kopf hob. „War es so schlimm? Nur ein weiterer kleiner Schritt zu einem echten Oscuro-Mitglied. Natürlich will ich. Wie könnte ich nicht. Es war schon schwer genug, dich dort eben loszulassen, nicht zuzubeißen. Und dir dann noch die Wahl zu lassen damit du selber den ersten Schritt machen kannst, war fast noch schlimmer. Aber es war es wert. Komm zu mir, Kleines.“ Er zog mich auf der Bank an sich. Sein Kuß war salzig und verlangend und setzte dort an, wo er vorhin aufgehört hatte.

Wir trugen beide nur Shorts und Top und eine gekonnte Bewegung von ihm beim Zurückweichen entledigte mich meines Oberteiles. Seines folgte auf dem Fuße. Noch immer saßen wir nebeneinander. Mühelos hob er mich hoch, daß ich rittlings auf seinen Oberschenkeln saß, mit Blick zu ihm. Er war nicht so zärtlich, eher fordernd und seine Kraft war immer präsent, nur ganz leicht gezähmt. Doch es paßte zu unserer Stimmung. Die Erregung von dem vorherigen Kampf und seinem abrupten Ende schwamm noch immer in unserem Blut. Und verlangte nach angemessener Befriedigung. Kolya hob mich erneut hoch, stellte mich formlos vor sich ab, erhob sich und schob Hose und Unterhose erst von mir, dann von sich selber nach unten. Dann setzte er mich wieder auf den vorherigen Platz. Sein steifes Glied ragte einladend und mächtig groß direkt vor mir auf. Seine Hände wanderten über meinen Rücken, streichelten meinen verschwitzten Körper, mein Gesäß. Ich ließ meine Finger eher sanft über seinen Kopf und Nacken wandern.

Dann, in einer plötzlichen Eingebung, grub ich meine Fingernägel fest in die Muskeln seiner Schultern. Unverhofft stöhnte er auf, sein Unterleib zuckte, er legte den Kopf in den Nacken und ich mußte an den Ausspruch denken, ich könnte ihn jederzeit um den Finger wickeln. Treffer! Ich zog eine Spur über seine Schulterblätter und wurde mit einem Knurren belohnt. Dieses Mal hob er mich einfach hoch und plazierte mich schwebend über seiner Erektion. Als ich mich dann vorbeugte und ihn nicht zu vorsichtig in den Hals biß, preßte er fest sein Glied in meine Öffnung. Ein echter Schmerz durchzuckte meinen Körper, ich stöhnte auf. Einen Augenblick hielt er still, den Kopf noch immer zurück gelegt, den Hals entblößt. Doch bei seinem ersten Stoß verwandelte sich der Schmerz in Leidenschaft. Ich biß wieder zu und als Lohn gab es diesmal einen weiteren Stoß, der ihn vollständig in mich hinein trieb. Meine Fingernägel sammelten kleine Hautreste auf seinem Rücken aber seine Reaktion war zu schön, um aufhören zu können. Er beugte sich etwas nach hinten, bestimmte mit seinen Händen meinen Rhythmus.

Alles ging viel zu schnell, die Erregung durch die vorherige körperliche Anspannung war noch zu stark, unsere Wirkung aufeinander Momentan zu berauschend. Ich spannte alle Muskeln im Unterleib an, als könne ich ihn so festhalten in mir. Und schon sah ich seine Zähne erneut langsam wachsen. So, wie ich meine durch den geöffneten Mund nach außen dringen fühlte. Sein Anblick gab mir den Rest, der Höhepunkt kam zu schnell, zu früh, schrie alles in mir. Noch stärker verkrampfte ich mich und diese Spannung wirkte auf Kolya. Ein lautes Stöhnen, ein Beschleunigen der Stoßbewegung und dann kam er. Lange und fest und immer wieder und mit aller Kraft, von der er so viel besaß. Und davon gab er mir welche ab in diesem Moment. Seine Zähne schlugen aufeinander und er hielt die Augen geschlossen. Schon vorher ziemlich erschöpft sackte ich fast auf ihm zusammen. Er hielt mich an sich gedrückt, liebevoll über meinen Rücken streichend, bis mein Herzschlag sich wieder einigermaßen beruhigt hatte – und er wieder einigermaßen normal atmete. Nach einiger Zeit setzte ich mich auf und schaute in sein Gesicht.

Nur ein leichtes Lächeln und klare blaue Augen waren auf mich gerichtet. Die Plötzlichkeit der Ereignisse war mir etwas peinlich. Er strich meine Haare aus dem Gesicht. „Du weißt, auch dies ist ein Teil unserer Natur. Und bestimmt nicht der schlechteste. Und die Zähne machen dich noch begehrenswerter. Warte nur, bis wir die auch noch mal irgendwann einsetzen können. Aber beim nächsten Mal werden wir uns mehr Zeit lassen. Und einen gemütlicheren Ort wählen. Nicht wahr?“ Er hatte es auf genau die richte Art gesagt. Ich lächelte und nickte. „Ein guter Vorsatz, Kolya!“

Wir zogen unsere Sachen an und verließen gemeinsam den Trainingsraum. Auf dem Weg in mein Badezimmer begegnete ich niemandem und nach einer langen Dusche fühle ich mich fast wieder wie neu.

 
 

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