Gestern noch saß er auf der Hotelterrasse, schaute der Sonne zu, wie sie im Meer versank, versuchte, etwas dabei zu empfinden, Poetisches, Melodiöses, doch er sah nur die Kugel wegtauchen und war gleichmütig; dann stand er auf, und sie gingen zusammen essen, einen gegrillten Fisch mit Knoblauch und Bratkartoffeln, Salat, dazu tranken sie Wein; dann verließen sie das Restaurant, er schaute in den schwarzen Himmel, sah zwei, drei Sternschnuppen fallen, dachte daran, daß er sich bei der nächsten etwas wünschen sollte, überlegte, was er sich denn wünschen könnte, betrachtete das Gefunkel, sah keine weitere Sternschnuppe fallen; sie schlenderten am Ufer entlang zurück, legten sich ins Bett, hörten dem Meer zu und freuten sich aufs Einschlafen. Am folgenden Morgen war er kalt. So schnell geht das.
Sie war immer ruhig, wenn er draußen auf der Terrasse saß und der Sonne zuschaute oder den Sternen. Er guckte übelgelaunt und langweilte sich; zu Himmelskörpern fiel ihm nichts ein. Eigentlich saß er nur da, weil er nichts anderes mit sich anzufangen wußte. Er wartete auf sie, auf ihre Vorschläge. Und wenn es ihm zu lange dauerte, wurde er plötzlich wütend, sprang auf und rief hinein, er warte nicht mehr länger, er wisse, wie eine Sonne untergehe, er kenne das Meer, sie solle endlich voranmachen. Er trat ungeduldig an die Brüstung, ging auf und ab, drängelte, und sie mußte sich schnell anziehen und mit ihm das Zimmer verlassen. Doch schon im Treppenhaus verlangsamte er seine Schritte und wußte nicht weiter. Dann schaute er sie mißmutig an und erwartete, daß sie die Richtung vorgebe; kaum waren sie draußen ein paar Meter weiter gegangen, verlangte er, daß sie ihm erzählte, was sie tagsüber gedacht hatte. Ihre Sätze kommentierte er kaum. Er ging bloß neben ihr her und starrte mürrisch übers Meer. Und wenn sich im Gebüsch etwas regte, blieb er stehen, beugte sich vor, hielt den Atem an und versuchte herauszufinden, was da raschelte. Egal, ob sie gerade mitten in einem Satz steckte, er hörte ihr nicht weiter zu, um – wie nicht anders zu erwarten – jeweils eine Eidechse zu entdecken oder einen kleinen, grauen Vogel, irgendein alltägliches Tier halt, das an Straßenrändern, unter Sträuchern seine Zeit verbringt.
Jetzt sitzt er nicht mehr draußen auf der Terrasse, um der Sonne zuzuschauen, wie sie im Meer versinkt; und sie weiß nicht mehr, was die Terrasse soll, was die Sonne soll, das Meer – das kommt ihr alles leer vor, ohne Sinn, denn es muß doch von einem gesehen werden, wenn es etwas sein will.
Sie hat in der Rezeption angerufen und gesagt, ein Toter liege da. Im Nu standen zwei Männer vor der Tür, ihr kam es vor wie in Sekunden, legten ihn auf eine Bahre, zogen das Bett ab, räumten seine Sachen beiseite; sie mußte ein, zwei Formulare unterschreiben, dann trugen die Männer den Leichnam weg, und alles war verschwunden; nicht einmal der helle Fleck blieb zurück, der auf einer Tapete sichtbar wird, wenn man ein Bild entfernt – es war, als sei er nie gewesen.
Seit einiger Zeit hatte sie ihm ihre Gedanken nur noch ungern mitgeteilt; dauernd wurde sie aufgeschreckt vom Empfinden, sich zu wiederholen – das war ihr entsetzlich. Sie wurde heiser beim Sprechen, weil sie sich ärgerte über ihr vermeintlich ewiggleiches Geschwätz. Sie ließ mitten im Satz ein Wort aus, von dem sie überzeugt war, es eben gerade benutzt zu haben; sie brach die Sätze ohne Erklärung ab, weil sie den Eindruck hatte, den gleichen Gedanken vor kurzem erst geäußert zu haben; was sie sagte wurde unverständlich, hingemaulte Brocken, schlecht artikuliert, weil ihr zunehmend auch einzelne Buchstaben und Laute verbraucht vorkamen und sie sie nicht mehr über die Lippen bringen mochte. Ihm war das egal. Er blieb gleichmütig und ging darauf nie ein. Ihm war es einerlei, ob sie dumm, klug oder zweimal dasselbe sprach. Nur schweigen durfte sie nicht.
Jetzt darf sie schweigen, endlich, wird nicht mehr genötigt, ihre Erkenntnisse daherzuleiern, die ihr abgenagt und dürftig vorkommen – aber das erleichtert sie nicht. Es war ein eintöniges Leben mit ihm. Er hockte herum und wartete darauf, daß sie ihn unterhielt, und sie redete notgedrungen. Jetzt ist er weg, und sie sitzt schweigend da. Die Terrasse ist häßlich, eine große Zahnlücke, das Meer stinkt zur geöffneten Tür herein, sie hat keine Gedanken, es wird dunkel, sie empfindet nichts, ein Vogelschwarm zieht durch den Himmel, die Bäuche glitzern silbern, ein Schwarm Fische, und sie weiß nicht, ob jetzt die Zeit gekommen ist, essen zu gehen; er hatte den Tagesablauf bestimmt; wenn er unruhig wurde, war die Zeit gekommen aufzubrechen. Jetzt ist schwarze Nacht, sie weiß nicht, ob sie Hunger hat. So schnell geht das.
Wahre Freunde hat man nicht viele, und die wenigen gleichen einem selbst in verräterischer Weise. Deshalb gilt es, sie mit Bedacht zu wählen und ebenso zu behandeln. Dies letztere kann manchmal auch bedeuten, einen lange vermissten Freund abzuwimmeln, bevor er besuchsweise Zeuge wird, wie die Zeit an einem Spuren hinterlassen hat.
Auch davon handeln die Texte von Matthias Zschokke. Es sind Geschichten, die das Leben schrieb, auch wenn dem Zschokke entgegen hält: «Das Leben kann nicht schreiben, es wetzt bloss ab». Doch schriebe es, wie es der Volksmund will, so täte es dies vielleicht wie er. Seine Geschichten nehmen abstruse Wendungen und verlieren sich gerne im alltäglichen Warten und Dasitzen. Anstatt ihnen ein falsches Ende zuzufügen, verlegt sich der Autor lieber darauf, wirkliche Beiläufigkeiten auszumalen. Dabei erweist er sich gerne als Wohltäter, auch wenn er nicht zu verhindern vermag, dass vom altersgeplagten Körper seiner Figuren ein feiner Moderduft der Vergeblichkeit ausströmt.
«Fortsetzung folgt» - nie
Das Leben zerrinnt und Zschokke hält es mit distanzierter, aber stets gelassener Freundlichkeit fest. Nie verrät er seine literarischen Freunde, höchstens deren Streben nach einer richtigen schönen Lebensgeschichte. Solche gibt es nicht, und wenn, dann zersprengt sie der Erzähler mit Unschuldsmiene ins Leere. Der Erzähler Zschokke ist ein hinterlistiger Verfremdungskünstler.
Die Geschichte «Das Cello» bricht er, wo es spannend wird, lakonisch mit «Fortsetzung folgt» ab (was natürlich nie geschieht). Und den Lebensplan von Balz akzeptiert er nur vordergründig. Mit 22 will der seine Existenz auf dreissig Jahre hinaus exakt planen, Frau und Kinder inklusive. Der Autor treibt ihm erst nach Ablauf dieser Frist jegliche Illusionen aus. So boshaft handelt er indes nur selten. Meist ist der Erzähler, der auch seinen gusseisernen Ofen zu den Freunden zählt, allen ein guter Freund. Er reibt ihnen Balsam auf die Wunde der Sinnlosigkeit und lehrt sie den Trost der heiteren Melancholie. «Aber wenn alles Sinn hat, wie fad.»
Matthias Zschokke gibt sich in seinen Geschichten als echter Flaneur in falscher Zeit zu erkennen, ein «wahrer Desillusionist», der sich an die Sprache hält. Robert Walser ist einer, den er gerne mag, weil Walser nie versucht, seinem Leser zu gefallen, «sondern einzig und allein darum ringt, vor sich selbst zu bestehen, sich selbst zu genügen».
Dies fordert Zschokke auch vom Dichter, vom Künstler. Dass sie in «sogenannt historischen Momenten» gerne angerufen werden, empfindet er als üble Mode. Sie erlaubt zwar einen wohlfeilen Verdienst - meist mehr als mit Literatur zu bekommen sei - doch bleibe es meist bei gefallsüchtiger Plapperei. Dem hält er lieber ein launiges Aperçu über die «Lederträne» entgegen oder die Striemen, die zum Beispiel der Fahrradreifen beim Wendemanöver an der Wand im Hausgang hinterlässt. Solch unbescholtene Hinterlassenschaft scheint ihm eher von Dauer als selbst die Totalsanierung Berlins zu einer Hauptstadt, die doch stets nur ewige Vorstadt bleibe.
Schwebendes Verfahren
Die Kolumnen und kurzen Essays teilen die ironische Launenhaftigkeit der schrulligen Erzählungen. Sie plädieren mit leiser Vehemenz für das Unscheinbare, die Miniatur am Rande. «Kunst ist das andere» lautet ihr Leitsatz. Besorgt fragt Zschokke, «ob Alltag nicht geschützt werden muss vor dem Zugriff der gleichmachenden Kultur-Inflation».
Der Dichter als neutraler Aussenseiter. Dies mag zuweilen etwas gar eskapistisch klingen, doch steckt gerade darin auch eine leise Provokation, ein Moment des Widerständigen. Zschokkes Prosa ist ein schwebendes Verfahren. Sie verrät eine sorgsam gesetzte Schreibweise, die bewusst mit dem naiven Blick des reinen Toren spielt. Seine Helden üben sich in Illusionslosigkeit und im Gespür für den seltenen Glücksmoment. Klischees sind darin Spielfiguren.
«Das Glück ist nicht leicht in Worte zu fassen, doch ich habe den Eindruck, es sei mir hiermit gelungen», steht am Ende. Dagegen ist hier nichts einzuwenden.
"Bieler Tagblatt", 12.2.2oo2
Die Freiheit seiner Feder hat etwas Grossartiges und etwas Hinreissendes. Wie weit entfernt ist das vom Murks, mit dem andere Schriftsteller ihren Plot zusammenzimmern! Wer Zschokke liest, begegnet jungen Hunden, die eben von der Leine gelassen worden sind und nun frei herumtollen dürfen. Wenige Autoren wagen es, ihre Texte so ungeniert, so unbekümmert um Kohärenz und logische Stimmigkeit laufen zu lassen. Mit unbändiger Lust an der eigenen Spontaneität spinnen sich diese Sätze fort; mit souveräner Gebärde verweigern sie sich Erzählzielen und Pointen jeder Art. Und doch wird der Anspruch, eine aussersprachliche Wirklichkeit abzubilden, nie aufgegeben.
«So schnell geht das»
Das Buch beugt geschickterweise von Anfang an einem Missverständnis vor, dem sich alle Schriftsteller ausgesetzt sehen, deren bevorzugte Stillage das Spöttisch-Leichte ist: dem Missverständnis nämlich, der Leserschaft bloss eine frivole und unverbindliche Plauderei vorsetzen zu wollen. Gleich die zwei ersten Geschichten rücken ein Thema ins Zentrum, das an Ernsthaftigkeit nicht zu überbieten ist.
Es geht darin um die gewiss nicht unbedenkliche Tatsache, dass wir alle diesen schrecklich-schönen Planeten irgendwann und mit unbekanntem Ziel wieder zu verlassen haben, die Jüngeren unter uns erst in sagen wir mal fünfzig Jahren, und alle anderen schon ein bisschen früher. «So schnell geht das», lautet der lakonische Satz, mit dem der Erzähler der Auftaktgeschichte den Umstand kommentiert, dass ein Mann eines Morgens tot im Bett gefunden wird.
Die ersten Seiten demonstrieren, dass es gerade das Luftige und Flockige ist, das diesem Schreiben erlaubt, sich den grossen Fragen zu nähern, ohne in existenzialistisches Pathos zu versinken. Es wäre allerdings falsch, anzunehmen, dass Zschokke sich auf das Eschatologische, auf die letzten Dinge spezialisiert hätte. Seine Erzähler zeichnen sich dadurch aus, dass sie schlechthin alles ihrer Aufmerksamkeit für würdig erachten.
Die Geschichten suggerieren, dass es genauso wichtig sein kann, über einen Grasbüschel im Asphalt von Neapel zu meditieren wie über ein weltpolitisches Ereignis oder ein bedeutendes philosophisches Problem. In dieser erstaunlichen Welt soll nichts übersehen und nichts verdrängt werden - das ist das heimliche Credo in einem Buch, das es selbstverständlich weit von sich weisen würde, ein Credo zu haben.
Walsers Geist
Wie man achtsam durch die Welt geht; wie man seine Liebe ausschliesslich jenen Dingen zuwendet, denen man sie zuwenden will; wie man dort, und nur dort in die soziale Wirklichkeit eintritt, wo sie einen interessiert; und wie man dabei völlig unbeeindruckt von gesellschaftlichen Konventionen bleibt - keine anderen Figuren der Weltliteratur haben das so überzeugend vorgelebt wie die weisen Komödianten und kauzigen Flaneure Robert Walsers. In der Tat geistert Walser von der ersten bis zur letzten Seite durch dieses Buch. Manche Erzählungen stehen ganz unverkennbar unter seinem Einfluss, manche gehen gar das Wagnis ein, seinen Ton zu imitieren. Deutlich etwa hört man den «Spaziergang» heraus, einmal auch den «Jakob von Gunten».
Dass sich Zschokke in einem kleinen Essay ausdrücklich mit Walser beschäftigt, verwundert also nicht. Dass der Aufsatz nicht sonderlich tief greift und auch nicht sonderlich originell ausfällt, erstaunt da schon mehr. Jedenfalls nimmt man ihn mit eher mildem Interesse zur Kenntnis. Überhaupt muss man sagen, dass sich nicht alle der neunundzwanzig Geschichten, von denen knapp die Hälfte im Erstdruck erscheint, auf gleichem Niveau bewegen. Sollte etwa ein Leser zeitlich nicht in der Lage sein, jenes Prosastück zu konsumieren, welches das Klischee vom weltfremden und spiessigen Universitätsprofessor um eine weitere überflüssige Variante bereichert, so muss er nicht befürchten, deswegen etwas Entscheidendes in seinem Leben zu verpassen.
Vom Blitz erschlagen
Dass der 47-jährige, in Berlin lebende Matthias Zschokke, der bei uns zuletzt mit dem Roman «Das lose Glück» (2000) auf sich aufmerksam gemacht hat, über einen grandios versponnenen Humor verfügt, belegt die Titelerzählung «Ein fröhlicher Nachbar». In ihr wird nachdrücklich davor gewarnt, sich bei einem Nachbarn vorzustellen, der frisch eingezogen ist. Auch eine Story wie «Die unergründbare Elektrik» wird kaum Gefahr laufen, für konventionell gehalten zu werden. Ein frecher, unheimlich souverän operierender Erzähler treibt darin ein munteres Spiel mit dem Leser. Er berichtet von einem mysteriösen «Freiburger», der gegen grossen inneren Widerstand in die Gesellschaft hineinwächst und dann vom Blitz erschlagen wird. Die krude Sozialisationsgeschichte zieht manches Merkwürdige, Geheimnisvolle und Sperrige an, bevor sie in ein dreistes Finale mündet. «Eine Feder redet lieber etwas Unstatthaftes, als dass sie auch nur einen Moment lang ausruht», heisst es im «Räuber»-Roman von Robert Walser. Das ist der Satz, der als Motto über dieser Geschichte wie über dem ganzen Erzählband stehen könnte.
"Tagesanzeiger", Zürich, 15.2.2oo2
[...]«Ein neuer Nachbar». Unmerklich wird der Leser von
der Stimme eines ungenannten Erzähler-Ichs an die Hand genommen und durch ein nach
rhythmischen und melodischen Gesichtspunkten zusammengestelltes Mosaik von Prosastücken
geführt. Lebenszeugnisse und Selbstparodien des Schreibenden sind eingewoben in
eine Folge von Alltagsbeobachtungen. Manchmal wirkt das wie ein literarisches Tagebuch,
zumeist handelt es sich um ein fortlaufendes Selbstgespräch, an dem der Leser vergnüglich
teilhaben kann.
Der Autor versteht es, das scheinbar Bedeutungslose in Worte zu binden
Wiederum ist Zschokkes Thema das Aushalten des Alltäglichen, der Wahrheit der grausigen,
weil inhaltsleeren Wirklichkeit. Aus ihr steigen verzerrte Blasen, Fantasien und
Fantasmagorien auf, aber ebenso ernüchternde Betrachtungen über das Älterwerden,
den Tod. «Ich gehe gern umher, zwischen Häusern, über Land, an Küsten entlang»,
so lautet das Motto. Doch schon auf der nächsten Seite stirbt einer und verschwindet
spurlos, als wäre er nie gewesen: «So schnell geht das.»
Werdegänge, Laufbahnen, Durch-schnittskarrieren werden entrollt. Die verkorkste
Lebens- und Familienplanung eines Beamten entfaltet sich. Skurrile Figuren erscheinen:
ein Schauspieler, ein Sänger, der Dichter selbst. Er sitzt in einem «Büro» genannten
Raum jahraus, jahrein an einem Tisch, beheizt ein Öfchen, trinkt «Schwarutee». Wir
schauen ihm über die Schulter, wie er an eine Freundin, an seinen Verleger, an die
Genfer Briefe schreibt und verwirft, stets angespannt. Mittags wird pausiert, man
geht erfolglos Geräuschen, Tönen, Erscheinung nach im Quartier. Der kleine Mensch
kehrt ewig wieder. Zum Beispiel der neue Nachbar, der zwischen Tür und Angel haltlos
seinen Aufstieg vom Klempnersohn zum Unfallchirurgen, Knochensäger und Herrscher
absterbender und zerstörter Gewebe schildert. Rührend-klägliche, erbärmliche Erkenntnisse
werden da gezogen, Metaphern schriftstellerischen Geschicks leuchten auf.
Das Feld, auf dem dies sich austrägt, ist die Stadt Berlin, die Zschokke voll gegenstandslosem
Begehren durchstreift. Seitenblicke werden ins Schweizer Seelenleben geworfen, das,
so steht da, sein Glück hinter einer servilen Neigung zum Unglück verbirgt.
Zschokke, im Kampf gegen verkehrte Sätze, Plappermäuler, die Gefallsucht und den
Lärm der Zeit, rät an entscheidender Stelle zur Kontemplation: «Schliesse das Fenster
beizeiten, lass Ruhe einkehren, leg dich hin.» Zu den Stärken des Autors gehört
es, das scheinbar Bedeutunglose und Vergängliche, wozu wir das Alltägliche einrechnen,
in Worte und Sätze zu binden, gleichsam als Impfstoff, Tablette, Finte gegen die
Unerträglichkeit und Unzulänglichkeit des Realen. Die letzte Zeile des Buches klingt
denn auch fast wie ein Sieg: «Das Glück ist nicht leicht in Worte zu fassen, doch
habe ich den Eindruck, es sei mir hiermit gelungen.»
"SonntagsZeitung", Zürich, 17.2.2oo2
Der Berner Autor Matthias Zschokke erzählt, polemisiert, reflektiert und sinniert: «Ein neuer Nachbar». Alte und neue Texte über Leben und Schreiben, Versanden und Auftauchen, über Hören und Sehen.
Von Susanne Schanda
Provozierend langsam und ereignisarm, durchsetzt mit Sarkasmus, Verrücktheiten und Melancholie: so erzählt Matthias Zschokke in «Ein neuer Nachbar». Und so stellt er Leben, Schreiben und Sterben dar. «Heute kann sich keiner mehr daran erinnern, wie das Sterben vor sich geht. Alle haben längst erledigt, was sie im Leben erledigen wollten, und sitzen nur noch da. (...) Alle Augenblicke schauen sie zur Tür, ob der Tod gerade eintrete; doch das tut er nicht.»
Dieses Leben vor dem Tod, das Noch-nicht-tot-Sein leuchtet Zschokke aus wie in einer Vivisektion. Balz plant sein Leben minutiös durch und versucht das Glück in einem schriftlichen Masterplan des Lebens zu bannen: «Das Glück, mit dem ich rechne, ruht fest verankert in mir.» Doch dann wächst das Leben über den Plan hinaus. Und schon ist Balz verloren.
Nach Gold graben
In der Titelgeschichte «Ein neuer Nachbar» will der Erzähler dem neu eingezogenen Mieter nur eben zum Willkommen eine Flasche Wein bringen, und schon wird er hineingezogen in eine weitverzweigte Lebensgeschichte voller Intimitäten. Im Treppenhaus stehend, wo immer wieder das Licht ausgeht, erzählt der neue Nachbar unvermittelt und ungefragt sein Leben, als hätte er schon lange auf diese Gelegenheit gewartet. Wehrlos und schicksalsergeben nimmt ihm der andere die Beichte ab. Hätte er doch nur seine Neugier bezähmt und den Wein selbst getrunken. Und doch. Zschokke unterläuft raffiniert Lesererwartungen und selbst aufgestellte Hypothesen.
Der 1954 in Bern geborene und seit 1980 in Berlin lebende Autor verweigert sich dem schnelllebigen, lärmigen Literaturmarkt, gegen den er gerne polemisiert - auch in diesem Band. «Kriegskolumne», höhnt er: «eine dieser Kolumnen zu einem dieser schwelenden Konflikte in einer dieser Regionen eben.»
Nicht die öffentlich verhandelte Tagespolitik, nicht das Rampenlicht sei der Ort für Schreibende, die Zschokke mit Heinzelmännchen vergleicht, denen man nicht bei der Arbeit zuschauen darf, oder mit Goldwäschern, die mühselig im Dreck graben, in der Hoffnung, dabei etwas zu finden, - etwa eine «Lederträne, die die ganze Welt mit ihrem einzigartigen Glanz für kurze Zeit in ein besseres Licht zu rücken vermag».
Neben neuen Texten versammelt der Prosaband «Ein neuer Nachbar» auch Essays, Polemiken und Erzählungen der letzten Jahre. So das poetische Bekenntnis «Warum ich Robert Walser mag» oder die 1994 in der Berner Zeitung veröffentlichte Geschichte «Sommer» über eine von Abscheu, Sadismus und Unterwürfigkeit geprägte Bubenfreundschaft.
Der sehende Blinde
«Roman und Ramona, der unsichtbare Film» enthält Zschokkes Lebensphilosophie, die zugleich seine Schreibphilosophie oder Poetik ist. In dieser Erzählung zieht sich das Leben auf die schiere Existenz zurück, ist Warten und Sich-Treiben-Lassen: «Er hatte sich angewöhnt, halbversandet auf Grund zu liegen und nur noch selten, zum Luftschnappen, aufzutauchen.»
Schliesslich taub und halb blind geworden, traut Roman sich nicht, die Geliebte Ramona anzuschauen, aus Angst, sie mit seinem Blick zu verscheuchen. Deshalb ist dieser Film ein unsichtbarer: Weil die Figuren aus dem Fokus der Kamera weggelaufen sind, um leben zu können. Denn: «Im Leben muss, was einem wert und wichtig ist, weggepackt, verborgen, ausgespart werden, erst dann erglüht und lockt es in voller Pracht, und alle verzehren sich danach.» Eine gewagte und geradezu altmodisch anmutende Ansicht im Zeitalter des Exhibitionismus und des «Big-Brother»-Fernsehens.
Befreiend unzeitgemäss
Wie in seinem letzten Roman «Das lose Glück» kokettiert Matthias Zschokke auch hier selbstbewusst mit dem Unspektakulären, mit dem leisen Fliessen der Zeit und einer Heinzelmännchen-Philosophie, nach der die wunderbarsten Dinge still und heimlich geschehen. Das ist befreiend unzeitgemäss und beschert uns phantastische Geschichten, die wie Blumen aus dem Asphalt wachsen.
Zschokkes Texte brauchen keinen Kunstdünger, denn sie leben von ihrem eigenen Rhythmus aus Musse, Zufall, Glück und Arbeit: «Kunst ist es, das andere zu suchen, sich zu entziehen, das Machbare nicht zu machen, die übriggebliebenen Unmöglichkeiten herauszuschälen und anzugehen in dem allgemeinen Gejohle und Besäufnis, beim ausgebrochenen Kunst-zum-Anfassen-Trubel.»
"Berner Zeitung", 19.2.2oo2
Vom Glücklichsein erzählt Matthias Zschokke, nicht nur, aber dies auch. Und wieder finden wir im neuen Buch diese eigenartige Stimmung, wieder lässt uns der Autor an fremden Türen horchen. Der alte, der
bewährte Zschokke-Stil, wie wir ihn von seinen Theaterstücken oder früheren Prosawerken kennen. Nach dem Roman «Das lose Glück» jetzt im neuen Erzählband also wieder dieses Gefühl einer mönchischen Vertrautheit zu Zeit und Vergänglichkeit. So zeigt der
Autor seine kindlich-verspielte Freude, wenn im Frühling die neuen Bücher «zur Welt kommen», zeigt das keineswegs unangenehme Staunen über die Leere auf den Papieren.
Dasitzen, warten auf das, was geschieht oder nicht geschieht; feststellen, dass
die glücklichen Tage kommen und gehen und ein Ich-Erzähler die wunderbare Langeweile eines Sommerabends geniesst. «Das Glück», so sagt er es seinem Freund, dem gusseisernen Ofen, «ist nicht leicht in Worte zu fassen, doch habe ich den Eindruck, es sei
hiermit geschehen.» Dem ist nichts entgegenzuhalten, es sei denn, wir würden das Traurige oder Sarkastische nicht heraushören, das sich in Zschokkes Texten auch findet.
Das Hervorragende: Es geschieht wenig oder nichts, und dieses Nichts führt zu
einer beglückenden Erfahrung der Sinne. 29 kurze Geschichten sind es diesmal. Episoden, tagebuchartige Aufzeichnungen erschliessen eine enge Welt, wie wir sie aus dem Blickwinkel eines sauberen Mansardezimmers festzuhalten vermögen. Einzelne dieser
gesammelten Aufsätze sind bereits in verschiedenen Feuilletons erschienen. Das nachdenkenswert Besinnliche ist ebenso präsent wie das Humoristische. Blättern wir doch gleich zu jener Geschichte, die man nur dann ungeniert im Zugsabteil lesen kann, wenn
es uns gleichgültig ist, dass sich Mitreisende über unser lautes Lachen mokieren. Denn das lässt sich in der lustig-tragischen Erzählung vom «Professor» keineswegs vermeiden. Dieser Kauz mit dem Gebiss einer «albanischen Schindmähre», der es nicht lassen
kann, sich über andere lustig zu machen, der befürchtet, seine Frau würde «zusammenkrachen», weil sie weiter nichts im Leben erreicht hat als seine Frau zu sein. Dieser Professor ist das bildhafte Objekt einer dichterischen Begierde, wie Zschokke sie
glänzend auf uns Lesende überträgt.
Die Geschichten dieses Autors enden kaum je mit glücklichem oder tragischem Ausgang, sie enden überhaupt nicht. «Fortsetzung folgt» heisst es einmal zum Abschluss eines Aufsatzes. Man ist keineswegs erstaunt
darüber. Vieles bleibt Fragment. Schwarzweiss-bilder sind vorgegeben, das Kolorit haben wir mit unseren eigenen Erfahrungen hinzuzufügen. Kaum Anarchie, kaum Chaos - alles bewegt sich wie ein verlorenes Blatt auf den seichten Wellen eines Sees. Das
Verführerische daran: Wir möchten mitschaukeln auf den Wellen, den ruhigen, den gleichmässigen. Kaum je kommt Sturm auf. Wir möchten uns tragen lassen dorthin, wo es möglich ist, die eigenen Traumre-alitäten zu erkunden. Es sind Geschichten, die sich an
den Ordentlichkeiten des Lebens orientieren, Geschichten, als hätte sie Robert Walser diktiert. Jeder baut sich sein Nestchen, polstert es aus, «...und wer in seinem Leben nicht Professor oder sonst etwas Vernünftiges wird, aus dessen Tiefen weht einem
an Werktagen der eiskalte Hauch der Sinnlosigkeit entgegen».
Gewiss, Robert Walser, ihm gilt die grosse Verehrung des Autors Zschokke. Auch hier wiederum mit einer sehr schönen Erzählung. 1981 hat Matthias Zschokke den Robert-Walser-Preis der Stadt
Biel entgegennehmen dürfen. Auch in diesen neuen Erzählungen ist eine grosse Nähe zu Walser spürbar. Diese immergültigen Walserschen Worte wie «rechtschaffen», «gottgefällig», «Müssiggang», «Wohlergehen», «Fleiss», «Bescheidenheit» - man findet sie auch
bei Zschokke, ganz präzise in der Erzählung «Dienerwerbung», die an Walsers Roman «Geschwister Tanner» erinnern. Die Stimmung ist dieselbe. Beschrieben wird nicht diese Zeit, die Aktivitäten und Höchstleistungen fordert, nichts, was zum kalten Büffet der
Prominenz lockt, nichts, das zu Börsenlust oder Olympia-Gold drängen würde. Es ist der Erzählstil, ist die schlichte, die brillante Sprache, die den Autor nahe an Walser heranführt. Kein Plagiator, nein, gewiss nicht, aber einer, der mit Anmut in der
Beiz, auf der Parkbank, im Treppenhaus, auf dem Arbeitsweg oder in der 2-Zimmer-Wohnung die Dinge verfolgt, die das Leben als geistige Nahrung anbietet.
Dieses Staunen also über eine Welt voller Kontraste finden wir in diesen Zschokke-Geschichten,
die alles scheinbar Unwichtige für uns Leser zum Ereignis machen. Da läuft schlicht ein Film ab. Er führt uns mal zum klavierspielenden Nachbarn, dann in die Stadt Berlin, wo Kinder nach dem Fall der Mauer ihren Spielplatz vermissen, mal zum weinenden
Sänger, dann wiederum zum Meer, das einer Frau nach dem Tod ihres Mannes das Schweigen zurückgibt.
Wer das Bedächtige, das Stille mag, wer es auch in der Literatur sucht, der findet es in diesen Erzählungen von Matthias Zschokke in unaufdringlicher
Schlichtheit und Schönheit.
"Aargauer Zeitung", Aarau, 2o.2.2oo2
[...] Ich brauche im neuen Buch von Matthias Zschokke nur ein wenig zu blättern, und schon kommt mir vor, als hätte er auf mich gewartet, der "Schwierige" Hofmannsthals leibhaftig entgegen. Für diesen nämlich, eine immerhin berühmte Theaterfigur, sei es –schreibt Zschokke- immer noch unmöglich, "in dieser Viermillionenstadt irgendwo eine Bühne zu betreten, ohne sie nicht auch sofort wieder fluchtartig verlassen zu müssen, weil das Publikum ihn in missverstandenem Modernitäts- und Jetztzeitigkeitsgehabe vom ersten Wort an niedermacht und zerkichert".
Seitenlang erhält da eine Figur, die auf dem Theater nicht mehr genehm ist, ihren Auftritt in einem Prosatext. Und eigentlich wäre schon diese zufällig aufgeblätterte Stelle Grund genug, das Buch Zschokkes zu meinem persönlichen "Buch des Monats" –was sage ich: des Jahres!- zu machen!
"Ein neuer Nachbar" –so der Titel- ist eine Sammlung von kurzen, im Umfang zwischen zwei und achtzehn Seiten variierenden Texten (Geschichten, Essayistisches, spielerisch ernste Kolumnen), von denen viele mit Berlin zu tun haben, wo Zschokke seit langem lebt. Dennoch wird er wohl nie den grossen zukunftsweisenden Berlin-Roman verfassen, auf den die Medien (und vermutlich ausser ihnen niemand!) zu warten vorgeben. Um einen solchen zu schreiben, darf man nicht Robert Walser (ihm gilt ein besonders schöner Text) und William Carlos Williams als literarische Schutzgötter nennen, und nicht eine verlorene Komödiengestalt wie den "Schwierigen" lieben.
Dass dieser hier überhaupt auftritt, lässt sich leicht erklären. Denn wenn einer, gehört Zschokke zu den Autoren, die, dem Satz Hofmannsthals entsprechend, "die Tiefe an der Oberfläche verstecken". Das Komische und der Ernst, das Burleske und die Schwermut sind in seinen Büchern und gerade in den neuen Prosatexten so fein vermengt, dass es die wachste Aufmerksamkeit braucht, sie zu unterscheiden. Das Wort Tiefe gehört freilich nicht zum Vokabular dieses Autors, dennoch ist es brauchbar. Die "Tiefe" wird, beispielsweise, angedeutet durch einen Celloton, dem einer seitenlang nachrennt, bis er begreift, dass er den Spieler gar nicht finden will, um nicht enttäuscht zu werden. In der Tiefe, die sich mit der Oberfläche vermischt, ist aber auch das Gefühl der Leere enthalten, das, so gut wie die Sehnsucht, durch das Buch geht; und auch der Gedanke an den Tod, einschliesslich des Todes im Leben; die Schwermut, das schale Gefühl des Älterwerdens.
Es gibt, und in nicht geringer Zahl, wahre Trouvailles in diesem Buch. Im Prosastück "Der Reichstag" –entstanden im Jahr 1991, also lange bevor das Gebäude ("dieser Hans Albers der Architektur") wieder Staatssymbol wurde- beschreibt Zschokke das Gelände neben dem Reichstag: ein Stück Brachland, das nur von "überflüssigen Vögeln" benützt wird- und sommers von Menschen, die von "Kansas, Kurdistan, Kalabrien, Kloten" kamen, um hier "in Todesverachtung Würste zu braten, Fussbälle zu treten, Federbälle zu schlagen oder anderswie die Zeit zu verjagen und Sommerfrische zu erlangen". Lauter verlorene Gestalten, die den Zeitgeist, der gerade wieder "hühnchenhaft aufgeregt über dem Gelände flattert", nicht hören und von ihm nicht wahrgenommen werden. Ihnen, diesen Verlorenen, gehört die Sympathie des Autors; er zeichnet auf, was im grossen Berlin-Roman untergehen müsste: das Überflüssige, das Belanglose, das vielleicht das Wichtigste ist. So entsteht eine höchst eigenartige Poesie, die man als eine Poesie des Unaufwendigen, Beiläufigen, ja Schäbigen bezeichen möchte.
Ein Meistertext ist die Erzählung "Hinterlassenschaften"- auch wenn darin nichts beschrieben wird als die Velofahrt, die den Icherzähler sommers zu seinem Arbeitsplatz führt. Was bei anderen, auch bei Autoren, die nicht dem Spektakulären nachrennen, Begegnungen mit Menschen wären, mit Blumen, Gärten, Gebäuden, das führt bei Zschokke konsequent dem Boden entlang, auf dem das Rad rollt, buchstäblich über die Steine. Eine Kerbe im Randstein, ein Stein, der im Winter entfernt, eine Lücke, die ausgeglichen wurde, dazu die Erleichterung oder Störung, die der Fahrer bei solchen winzigen Veränderungen erlebt, das sind die "grossen" Ereignisse in diesem Text. Die Fahrt endet dort, wo der Icherzähler täglich sein Rad abstellt und wo ihm plötzlich graue Streifen auffallen: die Spuren, die sein Gefährt durch all die Jahre an der Mauer hinterliess. Sie sind seine "Hinterlassenschaft", sind das, was eine Zeitlang bleibt.
Es gibt aber noch eine andere "Hinterlassenschaft" in diesem Text, eine, die schwerer wiegt als die grauen Streifen. Jeden Tag fährt der Icherzähler an ein paar Baucontainern vorbei, die am Rand der Strasse stehen und in denen Hunderte von Arbeitern aus aller Herren Länder hausen, um "zu ausgesprochen burschikosen Bedingungen" an unserer Zukunft zu bauen. Deren Enkel aber werden in fünfzig Jahren von unseren Enkeln eine "entsprechende Lohnnachzahlung fordern". Da nimmt der Autor, sotto voce und beiläufig, unseren Diskurs der Vergangenheitsbewältigung auf, aber auf seine Art. Er denkt ihn resolut in die Zukunft hinein- vor deren Horizont die Gegenwart unversehens zur "Hinterlassenschaft" wird, die wir unseren Nachkommen zur Bewältigung überlassen. [...]
Elsbeth Pulver, Tagebuch mit Büchern. "ZeitSchrift für Kultur, Politik, Kirche (Reformatio)", Bern, 51. Jg., März 2oo2
Des «histoires superflues» selon leur narrateur, qui pourtant espère, en les contant au lecteur avec une souriante connivence, atteindre «peut-être un jour à une parcelle de sagesse»:voilà ce que propose le nouveau livre de Matthias Zschokke. Ce recueil de textes rédigés entre 1988 et 2001 présente une trentaine de récits, lettres, gloses et pièces de circonstance. Des proses inégales, inédites pour près de la moitié d'entre elles, qui invitent tels d'alléchants hors-d'œuvre à goûter aux pièces fines d'un talent dont l'attachante singularité peut séduire et à tout le moins surprendre.
Frappe dans cette gerbe la variété des tons. Ici, un insistant persiflage dit l'étroitesse et la petitesse du mode de vie helvétique, empreint malgré la beauté des lieux et l'opulence générale d'une contrition et d'une morosité empêchant toute joie de vivre. Là, une satire grinçante de Berlin se gausse de l'exaspérant spectacle d'une ville obnubilée, après la chute du Mur, par le rêve d'accéder enfin au rang de grande capitale, et qui dans une exubérance aveugle ignore son présent pour se projeter dans un mirobolant avenir. Ou encore, un prétendu essai disserte sur l'art et les artistes, les amateurs, charlatans, autodidactes et dilettantes, et sur les chances de tomber parmi eux sur un bon poète. Des propos que l'auteur ponctue avec une véhémence polémique en exprimant ses convictions personnelles: «L'art, c'est de rechercher ce qui est autre [...], de ne pas faire ce qui est faisable, de délimiter les possibilités qui subsistent et de les mettre en œuvre.»
Une telle ambition conduit à des proses aventureuses. Rien n'y est prévisible, un narrateur ludique peut s'immiscer à tout moment pour se désoler d'une expression malheureuse ou se réjouir d'une image, s'emporter et céder à ses humeurs, faire dériver le cours. Ou couper court: «Et alors?» Sans lésiner sur les péripéties, vives, colorées, sauvages et choquantes çà et là dans leur crudité et leur apparent cynisme, mais rehaussées de jolies touches d'exotisme et d'évocations intenses, il aime à flâner, à s'attarder à la forme changeante d'un nuage, à la moiteur d'une atmosphère d'orage, aux subtiles nuances d'un rapport à autrui. Aux vestiges d'un passé révolu, à une nostalgie, à une disposition intérieure.
Affleure pourtant, dans ces voltes enjouées, la conscience de leur dérision. Mais le pur élan qui, dans une intransigeance walsérienne, porte au-delà «des horreurs de la banalité», ne faiblit pas. Zschokke soutient le rythme et le ton. Et perce aussi, dans la surabondance du vécu, un sentiment inespéré de bonheur. Ephémère et surgi à l'improviste, il s'inscrit dans la plénitude d'une vie au présent, libre dans son bel étonnement et dégagée de toute finalité: «Si tout avait un sens, comme ce serait fade.»
"Le Temps", Genève, 3o.3.2oo2
Himmeltraurig schöne Winzigkeiten
«Ein neuer Nachbar»: Ein prächtiger Sammelband mit Erzählungen, Satiren und Feuilletons von Matthias Zschokke
• CHARLES CORNU
Es gibt Leute, die wirken «wie eingeschneit von innen» (sagt Matthias
Zschokke), und wer diese Gattung Mensch betrachtet und zuschaut, mit was für
Lappalien sie sich tagaus, tagein beschäftigt, der gerät unwillkürlich in eine
Stimmung zwischen Spott und Melancholie, Lächeln und Depression. Und anderseits
gibt es Leute, denen gerät sogar der Alltag zum Abenteuer und zu
Ausschweifungen, die staunens- und erzählenswert sind. Wenn dann einer sich
anschickt, über diese und jene zu schreiben, so treiben seine Gedanken und
Vorstellungen bald einmal dahin wie Ballone, einmal frisch mit dem Wind
unbekümmerten Daseins, ein andermal träge dem Boden nah und schwer von Ballast.
So ein träumerischer und aufmerksamer Schöpfer von Ideen- und Bilderballonen aller Art und Färbung ist Matthias Zschokke, der 1954 in Bern geborene, seit langem in Berlin lebende Schriftsteller, Filmemacher und Schauspieler. (Man erinnert sich: Vor zwei Jahren ist er mit dem Literaturpreis der Stadt Bern ausgezeichnet worden.)
«Prosastückli»
Gut zwei Dutzend Texte dieses
dahinschwebenden Genres, die von Zschokke in den letzten Jahren geschrieben
worden sind, zum Teil noch unveröffentlichte, zum Teil verstreut in Zeitungen
und Zeitschriften erschienene, finden sich jetzt vereinigt in einem Sammelband
mit dem Titel «Ein neuer Nachbar». Texte?
Ein Verlegenheitswort, zugegeben, das man anwendet, wo der Charakter des
Geschriebenen schwierig zu fassen ist. Handelt es sich bei Zschokke um
Erzählungen? Ja, auch. Beispielsweise, wenn wir einem rätselhaften Cellospieler
begegnen («Das Cello»), diesen näher kennen lernen und dabei in eine aberwitzige
Gaunerstory hineingezogen werden. Sinds Satiren? In einzelnen Teilen und auf
diskrete Weise: sicher. Könnte man sie als «Feuilletons» bezeichnen in jener
fast verloren gegangenen kunstvollen und filigranen Qualität, wie sie von einem
Polgar, einem Auburtin gepflegt worden ist? Gewiss, jedoch in einem durchaus
persönlichen, keineswegs epigonalen Verständnis. Am nächsten kommt man Zschokkes
Kreationen vielleicht mit Robert Walsers Wort vom «Prosastückli».
Solche Prosastückchen weisen ja in der Tat ein Vielerlei an Inhalten und Formen auf, und der Begriff trifft für Zschokkes Schreiben zu, weil dieser Autor uns gleichfalls ein besonderes Vergnügen bereitet dank sprachlicher Erfindungsgabe und Spiellust, genauem Beobachtungsvermögen, auch dank der gewitzten Hingabe an die «himmeltraurig schönen Winzigkeiten» des Alltags und der ironischen Sympathie für Menschen, die ein eigenes skurriles oder ein ganz und gar banales Schicksal erfahren und verplempern.
Verspielte Schwermut
Apropos Walser. Mit diesem nicht
einzuordnenden, dem Anschein nach anmutigen und liebenswerten, tatsächlich aber
abgründigen Dichter ist Zschokke schon öfter und schon früh verglichen worden.
Einer der jetzt neu veröffentlichten Texte (um bei diesem Allerweltswort zu
bleiben) ist denn auch ausdrücklich Walser gewidmet. Und ein anderer, die
Schweiz und die Schweizer mit ihrem «Phantomkummer» kritisch beäugender,
umkreist eine Dienerbewerbung, was wiederum auf Walser verweisen dürfte.
Aber daneben erscheinen in Zschokkes Buch Erzählungen, die mit konkreter, anschaulicher und verhältnismässig dramatischer Deutlichkeit andere, «unwalsersche» Themen in Szene setzen. So etwa «Sommer», wo wir es mit einem Beispiel kindlicher Machterprobung und Grausamkeit zu tun bekommen, oder «Sol», wo das Kaputtmachen eines jungen Menschen vorgeführt wird.
Verbrauchtes wirkt neu
Die Mehrzahl der
Geschichten aber spürt mit spöttischer Gewissenhaftigkeit und verspielter
Schwermut den Leuten nach, die unser aller Nachbarn sind: jenen Glücklichen,
denen «krachende Harmlosigkeit» und «knusprige Einfalt» eigen sind, und jenen
Geplagten, die sich vom Alltag abwetzen lassen. In jedem Falle wirkt indessen
gerade das Verbrauchte, das schon oft Wiederholte des gewöhnlichen Existierens
im eigenwilligen Clair-obscur des zschokkeschen Humors wieder ganz neu und
erregend und manchmal geradezu beschwingt.
Matthias Zschokkes Texte sind durchdrungen von Ereignislosigkeit. Die erste Erzählung in seinem neuen Band handelt von einem Mann und einer Frau, die gemeinsam Ferien machen. Dann stirbt der Mann: «Gestern noch sass er auf der Hotelterrasse, schaute der Sonne zu, wie sie im Meer versank, versuchte, etwas dabei zu empfinden, Poetisches, Melodiöses, doch er sah nur die Kugel wegtauchen und war gleichmütig.» Am folgenden Morgen «war er kalt». Zschokke lakonisch: «So schnell geht das.» Er ist ein Epikureer der konsequenten Art: Der Tod geht uns nichts an, weil auch das Leben uns nichts angeht. «Am Meer» heisst die Erzählung, was bedeutet: irgendwo, irgendwann, irgendwer. Man wartet auf den Abend, man isst einen Fisch, man sieht eine Sternschnuppe und überlegt sich, was man sich wünschen könnte, man freut sich aufs Einschlafen beim Meeresrauschen. Glückliche Langeweile oder langweiliges Glück, es ist nicht zu entscheiden. Man braucht sich - da braucht man nach der Liebe nicht zu fragen. Die Frau holt zwei Männer, die Leiche wird weggebracht: «Nicht einmal der helle Fleck blieb zurück, der auf einer Tapete sichtbar wird, wenn man ein Bild entfernt - es war, als sei er nie gewesen.» Jetzt aber kommt ihr alles sinnlos vor: die Terrasse, die Sonne, das Meer. Zschokke lakonisch: «So schnell geht das.» Es ist nichts passiert, nur eine Waage ist auf die Gegenseite gekippt.
«Am Meer» ist eine traurige Geschichte, aber das Traurige ist darin nicht traurig, sondern himmeltraurig, das ist mehr und weniger zugleich. Das Traurige ist ins Unsentimentale gesteigert. Das beherrscht er wie kein anderer: Erhitzen durch Abkühlen. Matthias Zschokkes Geschichten sind kalt, aber in ihrem Eis glühen die Gefühle. Seine Lieblingsfiguren sehen aus, als hätten sie in Milch gebadet, blass und hinfällig. Im Herzen aber sind sie Goldwäscher und Bärenjäger. Doch wehe ihnen, wenn sie Gold finden und einen Bären töten. Sie wären dem nicht gewachsen. Ihr Glück ist ihre Erfolglosigkeit.
Eine irritierende Nähe von Armut und Reichtum, Unglück und Glück taucht Matthias Zschokkes Texte in ein unheimliches Licht: Sind es Märchen, sind es Utopien? Lehren sie einen das Gruseln oder das hoffnungsvolle Träumen? Es ist so oder so, nur fassbar ist es nicht. Zschokke mag keine gefälligen Eindeutigkeiten. Darin fühlt er sich Robert Walser nahe. Walser sei eine «Missverständnisfalle», sagt er in einem Aufsatz über ihn und meint dies durchaus als Liebeserklärung.
Der Band «Ein neuer Nachbar» versammelt Texte aus den letzten fünfzehn Jahren, gut die Hälfte davon waren bisher unveröffentlicht. Gerade in ihrer Vielfalt lässt sich beobachten, wie Matthias Zschokke literarische Produktion und Reflexion zur Deckung bringt. Jeder Ansatz zu einem Metatext wird ihm von selbst zum Text. Zum Beispiel die «Hinterlassenschaften»: Täglich fährt der Dichter mit dem Rad in die aufgelassene Fabrikhalle, die ihm als Arbeitsraum dient. Niemand grüsst ihn auf dem Weg - er ist derjenige, der wahrnimmt und begrüsst: eine Schwelle, die man mit etwas Beton über Nacht passierbar gemacht hat; einen Randstein, der zum Leidwesen des Radfahrers wieder eingesetzt wurde. An der Wand, wo er sein Rad abstellt, bemerkt er die feinen Spuren, die der Reifen über die Jahre hinterlassen hat. Wie den Häftling die Kreuze an der Zellenwand an die Freiheit, so erinnern sie ihn an den nahenden Tod. Dies sind die «Hinterlassenschaften» eines Dichters.
Das Dichterleben ist Matthias Zschokkes Thema. Das sollte man nicht mit seinem Leben verwechseln. Sich selbst hält er für kaum der Rede wert. Dass er auf dem Land aufgewachsen ist, vernehmen wir in der Titelgeschichte, aber nur gerade in einem Satz. Den ganzen langen Rest des Textes bestreitet der neue Nachbar mit seinem ausufernden Leben. Dazu steht in dem Satz erst noch, dass er wie sein Nachbar «auch» auf dem Land aufgewachsen sei, was ihm noch mehr Gewicht nimmt. Gerade in der Marginalisierung seiner Person erweist er sich aber als Dichter, zu dessen vornehmsten Aufgaben es bei Matthias Zschokke gehört, gegen sich selber, gegen den Versuch, eine Geschichte für eigene Zwecke zu instrumentalisieren, anzuschreiben.
So weben sich Zschokkes Texte, indem sie ihrem Autor entkommen, und quellen da am muntersten, wo sie sein Ziel verfehlen. Das gibt ihnen etwas zauberhaft Luftiges und Lustiges. Dahinter aber steckt Berührungsangst, eine fast religiöse Scheu. Die Kunst täuscht sich, sagt Zschokke, wenn sie meint, die Dinge durch Zeigen zu erhöhen. In Wirklichkeit profaniert sie sie. Deshalb ist «die Vorstellung von der Erhabenheit der Kunst eine verkehrte». Zschokkes Texte hingegen wollen letztlich verbergen, nicht enthüllen; erhöhen, nicht profanieren. Dass dieser Widerspruch ihn nicht verstummen lässt, sondern beflügelt, ist das Sublime seiner Kunst.
Samuel Moser, "Neue Zürcher Zeitung", 7.5.2oo2
Lauter Gelegenheitsarbeiten, bevölkert. Zum Beispiel von einem Sol. Eine andere Figur aus einer Novelle, deren Titel dem Verfasser entfallen sei, heisst Theodor Zertz, eine weitere trägt den «ominösen» Namen Balz, und der neue Nachbar aus der Titelgeschichte ist ein Prof. Dr. Kay Ser. Es gibt den herzwehen «Brief eines Katzenfreundes», den apostolischen «Brief an die Genfer» - und eine Dienerbewerbung. Ansonsten «selbstlebensbeschreibende» Texte, die dem Motto entsprechen: «Ich gehe umher, zwischen Häusern, über Land, an Küsten entlang.» Matthias Zschokke, 1954 in Bern geboren, lebt seit 1980 in einer Stadt, deren Name nichts anderes ist als das Deminutiv seiner Heimatstadt: Berlin. Und tatsächlich kann man «Ein neuer Nachbar» auch lesen als die Wunderkammer oder Wundenkammer oder Verwunderungskammer eines halb hingezogenen, halb hingesunkenen Stadtschreibers.
Matthias Zschokke lässt im seinem neuen
Erzählband das Alltägliche geheimnisvoll
und das Verstörende banal erscheinen.
Kein Zweifel: Das ist keiner der "strotzenden Herbstfrischlinge", die uns alljährlich in die Redaktion gelaufen kommen und selbstbewusst unsere Lieblinge vom Vorjahr verdrängen, jene "jungen, unterhaltsamen, entzückenden Kerlchen, die uns sogar auf den Teppich pinkeln dürfen". Eher schon ist es eines jener "märzmageren Teilchen", das irgendwo vergessen im hintersten Regal liegt, "ein schiefes, hinkendes Ding", das wir eines Tages aus dem abgelegenen Quartier erlösen, damit es "seinen Eigensinn und seine Kraft" für "ein paar Stunden Leseglück" entfalte.
Der Erzähler, Theaterautor und Filmemacher Matthias Zschokke stammt aus der Schweiz. Mit Vorbildern wie Friedrich Dürrenmatt, Max Frisch und Robert Walser im Rücken und Kollegen wie Urs Widmer und Thomas Hürlimann neben sich ist das nicht nur literarisch ein guter Ausgangspunkt, um sich in Berlin wohlzufühlen, wo Zschokke seit über 20 Jahren lebt. Denn: Die Vermessenheit zu glauben, wo sie herkommen, sei es besonders schön, macht sie so ängstlich und unglücklich erklärt der Erzähler in der Geschichte Dienerbewerbung seinem verzweifelten Gegenüber. Die verblüffende Dialektik dieses Arguments, setzt die Geschichten in Matthias Zschokkes Erzählungsband Der neue Nachbar unter Spannung. Düstere Erinnerungen an zu schöne Orte treiben seine Figuren: Schriftsteller, Spurenleser, Flaneure und berufliche Randgänger durch die Straßen der großen Städte, in die sie sich geflüchtet haben, um in wohltuender Anonymität endlich ruhig leben zu können.
ERZÄHLUNGEN / Matthias Zschokke haucht einen neuen Band mit
Geschichten und Episoden hin
Skurrile Dilettanten, Amateure und Chaoten bevölkern die Welt des
extravaganten Schweizer Schriftstellers.
Als Wahlberliner hat Zschokke auf die Frage antworten können. «Warum ich Robert Walser mag.» In der Schweiz schätze man «seine bis zur Selbstverleugnung durchgehaltene Demutsmimikry», und in Deutschland schmunzele man ihn wohlwollend beiseite, «weil man sich von der Putzigkeitsmaske, hinter der er sich versteckt, ablenken lässt». Matthias Zschokke liefert kaleidoskopartige Splitter zu einer Wunsch-Autobiografie, wenn er Walser - Aussensicht - mit einer Katze vergleicht, «die sich - wenn sie sich angestarrt fühlt - aus Verlegenheit zum hundertsten Mal hintereinander putzt». Oder - Innensicht - mit einem Kind, «das die Augen schliesst und glaubt, dann werde es nicht mehr gesehen». Die «Missverständnisfalle», als die er Walser versteht, wird vielleicht in dem anrührenden Talmiglanz eines Zweizeilers aufgehoben, den der Ich-Erzähler der «Ewigen Vorstadt» in einem verunglückten Film entdeckt haben will: «Rosen sind rot und Veilchen sind blau (blue) / ich bin schizophren und das bin ich auch (too).»
Der Taugenichts
Ebenfalls ein Riss zeigt sich zwischen Zschokkes romantischer Inbrunst und seiner romantischen Ironie. Mal ist er Eichendorff (und auch als Taugenichts wieder «geteilt»), besonders opak vielleicht in dem Text «Diese Momente». Es sind «zwei» Momente, beide im Sommer: tiefster Frieden, «wenn die Sonne auf den Tisch scheint und ich lausche, ob draussen vielleicht eine Tür geht», schwerste Bangnis, «wenn der Wind aufhört zu wehen (...), wenn sich die Sonne verhüllt - nicht in Wirklichkeit, da scheint sie hell und freundlich wie zuvor, doch um mich ist alles fahl, grau, finster.» Aber dann ist er wieder überdeutlich «beieinander», ein Heine, der seine «Kriegskolumne» liefert, diese mit den Zeilen von der alten und immer neuen Geschichte einleitet und das Zitat obendrein mit den Jahreszahlen 1991 und 2001 entprivatisiert.
Die Lederträne
Dabei hatte der Band begonnen mit einer Prosa-Miniatur «Am Meer», die den Geist des heraufbeschworenen Heine-Gedichts viel besser «verstanden» und sogar noch radikalisiert hat: «Er überlegte, was er sich denn wünschen könnte, betrachtete das Gefunkel, sah keine weitere Sternschnuppe fallen; sie schlenderten am Ufer entlang zurück, legten sich ins Bett, hörten dem Meer zu und freuten sich aufs Einschlafen. Am folgenden Morgen war er kalt. So schnell geht das.» - In «Lederträne» beschwert sich Zschokke über das «Themenunwesen», das etwa die Solothurner Literaturtage des Jahres 1995 auf die Idee gebracht habe, zu dem Thema «50 Jahre nach Kriegsende» Meinungen «abzuernten»; lieber setze er sich mit der Lederträne auseinander, die er in einem Buch von Friederike Mayröcker kennen gelernt habe.
Aber letztlich verfängt er sich - in (seltenen) Texten wie diesem - doch in dem Thema des Themenunwesens. Auch «Leg dich hin» - eine Empfehlung, die er seinen Kollegen gibt, sollten sie in historischen Augenblicken um Stellungnahmen gebeten werden - hält sich nicht heraus, sondern mischt sich ein, zugegeben (von) früh- bis spätromantisch.
Der Papierheld
Ein Dichter für - und wider - Berliner und Berner Republiken ist Matthias Zschokke weniger dort, wo er sich ostentativ gegen Vereinnahmungen wehrt, sondern wo er sie poetisch unterläuft, wo also seine Verweigerung ganz Gestalt - oder balzender «Papierheld» - geworden ist, ob er nun ein schizophrenes Gedicht zitiert oder im «Fall» der Mauer - eine zweigeteilte Stadt muss ihn fasziniert haben - eine anarchische Verlustbilanz aufmacht: «Die Mauersegler flohen nach China.» Oder ob er sich in einer «historischen Postkarte» darüber amüsiert, dass der Reichstag, «dieser Hans Albers der Architektur», wieder Regierungssitz wird...
Die Bäckerblume
Am schönsten ist die Geschichte «Da Sie gerade vom Sterben reden». Hier gibt es einen neuen Nachbarn im Text selbst, einen Textnachbarn. Ein Frühlingslied nämlich, das der Umhergeher ausgerechnet in dem Werbeperiodikum der Bäcker-Innung findet, in der «Bäckerblume». Geschrieben hat es - ein Name, wie mit dem Munde gemalt: - Robert Roberthin (1600-1648). Es besingt den holden Lenz und den Regenbogen, die Lerchen am Tag und die Nachtigallen in schauervollen (!) Nächten - und beklagt «der Schöpfung Haupt», den Menschen, der immer nur «für morgen» lebt:
Ihn weckt Auroras güldner Strahl,
Ihm lacht die Flur vergebens,
Er wird, nach selbstgemachter Qual,
Der Henker seines Lebens.
Die selbstgemachte Qual hört sich heute an wie eine Vorwegnahme der selbstverschuldeten Unmündigkeit. Mit anderen Worten, das «Tauge-nichts!» des Matthias Zschokke hat auch etwas mit Aufklärung - und Lebensrettung - zu tun.
"Basler Zeitung", 17.5.2oo2; dass. unter dem Titel: Das Salz der Lederträne. "Süddeutsche Zeitung", München, 28.6.2oo2
Fliederduft über einer Frauenleiche
Von Sandro Benini
Matthias Zschokke liebt Robert Walser: In vielen der 29
Texte aus dem Erzähl- und Essayband «Ein
neuer Nachbar» scheinen Walsersche Motive
auf. Da sind diese versponnenen
Mansardenzimmer-Existenzen, die vor der
Unberechenbarkeit des Lebens in
langjährige Gewohnheiten und Vorlieben
flüchten und sich in der Hoffnung klein
machen, das Unglück werde sie übersehen -
wobei gerade dies die Haltung ist, die sie
mit einem dumpfen Gefühl der
Unzufriedenheit und der Trauer über
verpasste Möglichkeiten erfüllt. «Ob mein
Leben möglicherweise anders hätte
verlaufen können? Eigene Kinder und die
Universität verjagen Gedankenwolken, die
sich über diesem Was-wäre-wenn-Themenkreis
manchmal drohend zusammenbrauen wollen»,
heisst es in der Erzählung «Der
Professor». Da ist das Sensorium für
alltägliche Nichtigkeiten, das Auf und Ab
des Immergleichen, der mit einer Mischung
aus Melancholie und Spott unterlegte Sinn
für Vergänglichkeit. Und schliesslich die
mit wenigen Strichen geschaffene, zwischen
Langeweile und unbestimmter Erwartung
schwankende Atmosphäre eines Sommerabends,
die Beschreibung des Duftes von Holunder,
Flieder und Akazie.
Dennoch wäre es falsch, Zschokke als
schlichten Walser-Epigonen zu bezeichnen.
Dazu ist die Sprache der Prosastücke, die
in den letzten fünfzehn Jahren entstanden
und teilweise bereits in Zeitungen und
Zeitschriften erschienen sind, zu
eigenständig, die Bilder zu souverän und
das Aufblitzen von Ironie und Sarkasmus zu
radikal und unvermittelt.
Dem seit 1980 in Berlin lebenden
48-jährigen Berner Matthias Zschokke wird
immer wieder eine Poetik der
Ereignislosigkeit zugeschrieben. Die
Erzählungen in «Ein neuer Nachbar» sind
wohl unterkühlt und von einer
hochartistischen sprachlichen Knappheit,
in ihrer Mehrzahl aber alles andere als
ereignislos. Vielmehr verleihen sie
entweder alltäglichen Vorkommnissen den
Anflug rätselhafter Bedeutsamkeit oder
Aussergewöhnlichem den Anschein
vollkommener Normalität. In «Das Cello»
erhält der Ich-Erzähler einen Nachbarn,
der irgendwo in einem nahen Wohnblock
Cello spielt - dies so virtuos, dass die
Musik für den Zuhörenden zu einem Symbol
existenzieller Befreiung wird und er alles
daransetzt, den geheimnisvollen Nachbarn
ausfindig zu machen. «Sobald ich aber
zuhören wollte, verstummte es», wie bei
Zschokke alle Momente des Glücks genau
dann entschwinden, wenn man sie festhalten
will. Doch die Nachforschungen nach dem
Cellovirtuosen sind erfolglos, und
irgendwann gibt der Erzähler die Suche
auf. Die Geschichte endet mit der
irreführenden Anmerkung «Fortsetzung
folgt» - ob dies als Ausdruck von Hoffnung
auf künftiges Gelingen oder als die
resignierte Erwartung zu verstehen ist,
dass sich höchstens das Scheitern
wiederholen kann, bleibt offen. Zschokke
ist kein Freund von Eindeutigkeiten, die
«Missverständnisfalle», die er im Aufsatz
«Warum ich Robert Walser mag» hinter der
Literatur des Bieler Schriftstellers
ausmacht, stellt er selber häufig auf.
In der Erzählung «Sommer» hingegen
erscheint das Abnorme im Licht des
Alltäglichen: Es werden sadistische
Scheusslichkeiten in kalter
Distanziertheit aneinander gereiht,
beiläufig eine rätselhafte Frauenleiche
unter einem Busch erwähnt und der Sommer
verflucht. Überhaupt ist der Tod eines der
zentralen Motive des Bandes - verstanden
als banaler Schlusspunkt unter die
Banalität von Existenzen, die schon zu
Lebzeiten eher noch nicht tot als lebendig
waren: «Alle haben längst erledigt, was
sie im Leben erledigen wollten, und sitzen
nur noch da. (...) Alle Augenblicke
schauen sie zur Tür, ob der Tod gerade
eintrete», heisst es in der Erzählung
«Balz», in der die Lebensplanung des
Helden auf groteske Weise genau in dem
Moment scheitert, in dem sie geglückt
scheint.
Im Zentrum von Matthias Zschokkes
essayartigen Texten stehen zumeist
Reflexionen über die Rolle des
Schriftstellers in der Öffentlichkeit und
über die Aufgabe von Kunst und Literatur.
Mit polemischer Schärfe kritisiert
Zschokke in «Leg dich hin» die Neigung
vieler Autoren, sich auf die Schnelle zu
politischen Themen zu äussern. Mit
irritierender Selbstverständlichkeit
vertritt er eine Literatur, die sich der
Legitimation durch unmittelbare
gesellschaftliche und historische Bezüge
entzieht und ihren Sinn in sich selber
sucht. «Wie ich das Überflüssige liebe»,
heisst es an einer Stelle. Abstrakt
formuliert, mag diese Poetik einen
preziösen Beigeschmack haben - in
Zschokkes Umsetzung ist davon nichts zu
spüren.
"Weltwoche", Zürich, 22/2oo2
Frischlinge, Frühlinge und ich
Ein neuer Nachbar
Von Ulrike Baureithel
Kein Zweifel, dies Buch ist im Frühjahr erschienen, und sein Urheber hat ihm die bescheidene Laudatio gleich mitgegeben. Matthias Zschokkes Erzählungen und Miniaturen haben etwas vom verschämt Betörenden jener Frühjahrspreziosen, die im Herbst vergessen sind, weil zwischen den Saisons ein langer Sommer liegt, während dessen die "Herbstfrischlinge" schon vorwitzig ihre Schnauzen lüften, um ja nicht zu spät zum Trog zu kommen.
Wie auch könnten es die alltäglichen, doch besonderen Beobachtungen - wie eine Tochter ihre Mutter besucht, von der Liebe eines Mannes zu seinem gusseisernen Ofen und was ein beschädigter Bordstein über das Leben verrät - mit sinnwuchtigen Traktaten aufnehmen; wie eine dahinschmelzende Erzählung, die von nichts handelt, als dass im Nachbarhaus ein Cello erklingt, konkurrieren mit der breitbrüstigen Präsenz selbsternannter Epochendichtung?
"Der neue Nachbar" steht an der poetischen Schwelle zwischen hingeworfener Skizze und kunstvoll gebauter, absurder Abschweifung, die um so irritierender ist, als einzig dies Zufällige die Erzählung vorantreibt. Wo Zschokke weniger spielerisch, disziplinierter ist, gelingen ihm - wie in der kurzen Erzählung "Sommer" - Stücke von ungewöhnlicher Dichte und Aussagekraft.
"An der Schwelle" steht der gebürtige Berner auch zwischen seiner Herkunft und seiner Wahlheimat Berlin, insbesondere in seinen politischen Essays. Schwerelos schwebt der Schriftsteller durch den urbanen Raum des alten und neuen Berlin, schreibt eine historische Postkarte vom Reichstag, diesem "Hans Albers der Architektur", flaniert mit den russischen Krähen durch die Parks im Osten der Stadt oder schreibt, in umgekehrte Richtung, einen "Brief an die Genfer", der sich darüber Rechenschaft ablegt, was einer überhaupt wissen kann.
Mithin für den "Phantomkummer" seiner Landsleute hat Zschokke Bissiges übrig; doch das schönste Porträt widmet er dem "auf Zukunft spezialisierten" Berlin: "Man steht kurz davor, eine echte Stadt zu sein; man ist die ewige Vorstadt, ein bisschen öd, eine bisschen zu laut, gebläht vom Stolz auf etwas, das zwar nicht genau hier, aber doch immerhin in der Nähe stattfindet."
Am schwächsten wirken die Miniaturen dort, wo sie entweder dem schnellen Tagesgeschäft entsprungen sind oder Programmatisches zu Protokoll geben, wie in den etwas humorlosen Betrachtungen über "Amateure, Autodidakten, Dilettanten, Ich". Doch es gibt genügend andere "schiefe, hinkende Dinger", für die es sich lohnt, den Band auch nächstes Jahr noch aus dem Regal hervor zu kramen. Und gewiss wird uns Zschokke auch irgenwann wieder einen "Herbstfrischling" vor die Türe legen.
"Die Welt", Berlin, 6.7.2oo2
Die Neugier der Einsamen
Ein sarkastischer Romantiker: Matthias Zschokke macht ängstlichen Stubenhockern Beine
Von Nicole Henneberg
Als skeptischen Romantiker könnte man den 1954 in Bern geborenen Matthias Zschokke bezeichnen, dessen letzter Roman Das lose Glück (1999) drei erfolgreiche Freunde vorführt, die sich in einer lauen Sommernacht auf einer Jacht inmitten des idyllischen Bieler Sees eingestehen müssen, mit ihrem Leben vollständig gescheitert zu sein. Die Welt erscheint in ihren Augen desto düsterer, je heller die Natur strahlt, je geordneter der Tag abläuft. In den Geschichten des neuen Buches nun gehen Zschokkes Figuren defensiv in die Offensive: Sie verkriechen sich in düsteren, vernachlässigten Zimmern und hüten sich davor, in geregelte Tagesabläufe eingespannt zu werden, die sich doch nur als Falltüren in die Verzweiflung erweisen würden. Auch ihren Nachbarn, ja jeder Art von Gespräch gehen sie aus dem Weg.
Doch manchmal geschieht es, dass Cello- oder Klavierspiel durch die Wände klingt und die Ruhe stört. Und schon ist es passiert: Die Neugier der Einsamen erwacht, ihre mühsam niedergehaltene Entdeckerlust springt an. Manchmal geht so eine Suche glimpflich aus, wie in der Erzählung Das Cello, wo der Protagonist nach einigem Warten doch nicht mehr wissen will, wer da spielt, weil er in dem Café, in dem er seit Tagen auf der Lauer liegt, schon mehr Menschen mit ihren Schicksalen gesehen hat, als ihm im Moment gut tun; die obszön geschminkte Wirtin inbegriffen. In der Titelgeschichte greift diese Notbremse nicht mehr, und das erzählende Ich wird in eine gnadenlos komische Gesprächsszene verwickelt: An der nachbarlichen Wohnungstür, unter der an- und ausgehenden Treppenbeleuchtung, bricht, unaufhaltsam wie ein Sturzbach, binnen Minuten aus dem Hausherrn seine ganze Lebensgeschichte hervor und überschwemmt den hilflos Zuhörenden mit Katastrophen, lange verheimlichten Leidenschaften und tragischen Zufällen.
Alltagsgefühle und Epochenwetter
Wie eine Bühnenszene ist diese Sequenz gebaut: mit Auf- und Abgängen und ausgeklügelten Beleuchtungseffekten, die den absurden Charakter des Dialogs verstärken. Denn der Nachbar gerät in einen Begeisterungstaumel ohnegleichen; Kleines und Großes, Alltagsgefühle und Epochenwetter setzt er umstandslos gleich eine für Matthias Zschokke typische, ironische Sprachbewegung. So gut wie alle Probleme des menschlichen Lebens ließen sich vermeiden, wenn man nur ruhig zu Hause bliebe, wusste schon Franz Kafka (Einmal dem Läuten der Nachtglocke gefolgt..."). Und Robert Walser, mit dem Matthias Zschokke als Träger des gleichnamigen Preises oft verglichen worden ist, wusste das natürlich auch. So ist das eigene Zimmer, in dem man sich, auch um der schöpferischen Arbeit willen, verbarrikadiert, ein heimeliger, ein freier und selbstbestimmter Ort; aber auch ein unheimlicher: ein idealer Nährboden für die eigenen Ängste genauso wie für das Leiden an sich selbst und die Angst vor dem Tod.
Die Schriftsteller unter Zschokkes Erzählern spielen mit dieser Spannung und testen an ihr die Sujets, die sie finden oder, genauer, diejenigen, von denen sie gefunden werden. Vielleicht haftet deshalb den Figuren Zschokkes, seien sie nun Schriftsteller oder Freiberufler der abenteuerlichen Sorte, etwas Paradigmatisches oder Prototypisches an, das ihrem Versuch entspringt, ein Leben ohne äußere Reibungen zu leben, weil die Turbulenzen ihrer Fantasie schon genug Aufregung bieten. Besonders anrührend werden sie dabei, wenn sie sich und ihre Umgebung über ihre empfindsame Natur zu täuschen versuchen ein ironischer Erzählansatz par excellence.
Balz zum Beispiel, in der gleichnamigen Erzählung, ist so ein Fall: ein mittlerer Beamter und scheinbar eiskalter Klotz, der seine Lebensstrategie aber so feinsinnig und anrührend weise plant und auszuführen versucht, dass dem Leser um ihn ganz bang wird. Natürlich ist die Katastrophe absehbar, sie schwingt von der ersten Zeile der Novelle an mit. Der Ehevertrag, den der zartbesaitete Hüne Balz demütig den heiratsfähigen Damen seiner Umgebung vorlegt, wird die Grundlage eines glücklich kalkulierten Lebens, das aber so abrupt scheitert, dass es wenigstens als schockgefrorene Erinnerung überdauert.
Matthias Zschokke spannt seinen oberflächlich ruhig und behaglich wirkenden, an der Novellistik des neunzehnten Jahrhunderts geschulten Erzählton über die Abgründe von Sarkasmus und Verzweiflung und lässt manchmal die Szenarien des absurden Theaters dazwischen aufblitzen. Die melancholische Selbst- und Weltverweigerung seiner Figuren kippt dann so unversehens in existenzialistisches Aufbegehren, dass der Leser, verblüfft und begeistert, zum Spielball dieser hochkonzentrierten Erzählkraft wird.
Auf die Kolumnen und tagespolitischen Texte hätte der Band allerdings besser verzichtet sie sprengen den prägnanten, kunstvollen Rahmen, den die Erzählungen bilden und verstellen den Blick auf solche Kleinodien wie das fünf Seiten kurze, erzählerisch raffiniert tiefstapelnde Cappriccio Leg dich hin, das allen Schriftstellern und Lesern eindringlich die Gefahr der falschen, sich zäh behauptenden Sätze vor Augen führt: Im medialen Tagesgeschäft einmal in die Welt gesetzt, krallen sie sich so hartnäckig in den Köpfen fest wie eklige, graue Grasbüschel in Betonritzen.
Dass für den Autor Matthias Zschokke Wörter und Metaphern genauso konsistente Körper wie Bahnsteiggeländer und gusseiserne Öfen (Mein Freund, mein gusseiserner Ofen) sind, drückt jeder seiner Sätze aus. Und diese sorgfältig und gekonnt hergestellte Körperlichkeit der Sprache bringt seine Geschichten zum Leuchten.
"Der Tagesspiegel", Berlin, 21.7.2oo2
Außenseiters Innenleben
Autor: CORNELIA STAUDACHER
War da was? Könnte man nach manchen der 29 kleinen, leicht
hingehauchten und ebenso schnell wieder zerronnenen Geschichten und
Apercus fragen. Aber man täusche sich nicht. Denn Matthias Zschokke
versteht, Alltägliches und Banales so zum Changieren zu bringen, dass
hinter der vermeintlichen Ereignislosigkeit eine tiefe Einsicht in die
Natur menschlichen Lebens aufscheint.
Die literarische Szene betrat der in Bern geborene Zschokke während
der Solothurner Literaturtage 1981. Inzwischen ist er mit etlichen
Preisen geehrt worden und gehört mit seinen melancholischen
Ausschweifungen über des Lebens Unerträglichkeit und des Menschen
Unzulänglichkeiten zu den exponierten deutschsprachigen Autoren der
achtziger und neunziger Jahre. Selbstverloren dümpeln sie dahin, die
Piraten, Chaoten und Outcasts, die freischaffenden Schreiberlinge oder
"dicken Dichter", die das Personal seiner Erzählungen und Romane
ausmachen. Ihre laszive Schwermut und genüsslich ausgekostete
Lethargie macht es ihnen möglich, sich in den prosaischen Niederungen
des realen Lebens einzurichten.
"So sitzt er da, der unförmige Dichter, im Käfig des Überdrusses
schwitzend, und kümmert sich weder um sein Leben noch um seine Form,
da sie beide im Vergleich zu denen seiner papierenen Helden immer
makelhaft bleiben", heißt es in "Amateure, Autodidakten, Dilettanten,
ich", einer raffiniert verschlungenen Paraphrase über Kunst und
Künstler, die, wie fast die Hälfte der hier zusammengestellten Texte,
schon einmal in einem zweckmäßigeren Rahmen veröffentlicht wurde, in
diesem Fall zur Eröffnung einer Ausstellung im Kunstgewerbemuseum
Zürich. Was das Vergnügen, Zschokke auf seinen verschlungenen Pfaden
durch die Labyrinthe der Phantomschmerzen und imaginierten
Seelenkümmernisse seiner Protagonisten zu folgen, um nichts schmälert.
Mit jedem seiner knappen Sätze streift Zschokke die Zerbrechlichkeit
und Verwundbarkeit seiner Personen und der Leser aufs Trefflichste.
Ohne Schadenfreude, aber mit umso mehr Empathie. Ob es sich dabei um
den Pflichtbesuch bei der Mutter handelt oder um einen ebenso lauen
wie matten Sommerabend an der Panke. Um Balz, einen Beamten der
mittleren Laufbahn, der von solch "krachender Harmlosigkeit", solch
"knuspriger Einfalt" geschlagen zu sein scheint, dass er gar nicht
merkt, wie auch schon vor seinem 53. Lebensjahr, als das Schicksal mit
Macht zupackt, zwar alles nach Plan, nicht aber zum Wohle seiner Seele
verlief: "Ihr gefällt es nicht mehr in mir. Zu viel ist schief
gelaufen."
Oder um den Professor, dessen Aufgabe darin besteht, seinen
Studenten zu erklären, "wie das Leben funktioniert", während er sich
täglich vom "eiskalten Hauch der Sinnlosigkeit" umweht fühlt. Wie ein
Ertrinkender den Strohhalm ergreift der "neue Nachbar" der
Titelerzählung die Gelegenheit, endlich einen zu treffen, der ihm
zuhört, und berichtet einem Unbekannten, dem Ich-Erzähler, haarklein
aus seinem Leben, worin die tiefe Verzweiflung eines vereinsamten
Menschen zum Ausdruck kommt. Ein anderes Mal sind es mehr oder weniger
alltägliche Gegenstände, die Zschokke als Auslöser für seine
poetisch-philosophischen Ausschweifungen dienen: ein Cello, ein
Panettone oder der geliebte gusseiserne Ofen in der Berliner
Fabriketage, in der Zschokke seit Jahren seine Schreibetage
eingerichtet hat.
Der Erklärung, "Warum ich Robert Walser mag", bedarf es da gar
nicht: Die Seelen- und Sprachverwandtschaft Zschokkes zu Robert Walser
wird mit jeder neuen Veröffentlichung deutlicher. Wie er die kleinen
Dinge des Alltags hochhält als Schutzpolster gegen die Trivialität der
Wirklichkeit. Wie er die Sätze und Gedanken sich gegenseitig ins Wort
fallen lässt und so der phantasmagorischen Rolle des Schreibers und
der Schrift huldigt. Wie er den Leser an der Verfertigung seiner Texte
teilhaben lässt, beim Durchmessen jener geheimnisvollen Räume zwischen
Innen- und Außenwelt, dem "Bleistiftgebiet", wie Robert Walser es
nannte.
Zschokkes "Hinterlassenschaften", so der Titel einer Episode, in der
er über die Spuren sinniert, die sein Fahrrad auf dem täglichen Weg
von seiner Wohn- zur Schreibstätte auf dem sandigen Berliner
Untergrund hinterlässt, sind schwerelose, zufällige Botschaften, "in
sich so zwingend, so absichtslos wahr wie nichts anderes in unserem
ganzen Leben".
"Rheinischer Merkur", Bonn, 5.9.2oo2/ "Frankfurter Rundschau", 17.1o.2oo2 [Fantasten, Piraten, Poeten]