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ZSCHOKKE- Ein sanfter Rebell. Maurice mit Huhn

Maurice mit Huhn


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Leseprobe:



Immer wieder ist es verblüffend, mit welchem Gleichmut der Mensch seit Tausenden von Jahren seine kurz bemessene Zeit verbringt, sitzend, liegend, belangloses Zeug redend, ohne Appetit Kleinigkeiten knabbernd, ohne Durst an Flüssigkeiten nippend, Dinge betrachtend, die ihm nichts sagen, sich auf Wege machend, die ihn an Orte führen, wo er nichts verloren hat, im festen Glauben verankert, er sei ein vernunftbegabtes Wesen und mache sich Gedanken über dies oder jenes, dabei aber in Wahrheit nichts denkend, nur so vor sich hin tuckernd, ewig die gleichen falschen Schlüsse ziehend, sich im Kreis drehend seit Tausenden von Jahren, von Nebentischen Gesprächsfetzen aufschnappend, Sonnenbrillen betreffend oder Tierfelle, rohes Fleisch, Regale, das Wetter, bis plötzlich einem von ihnen alles zu viel wird, einer Mutter beispielsweise, sie wandert spätabends durch ihre Wohnung, zieht Kleidungsstücke aus, begießt sie mit Brennsprit, zündet sie an, läßt sie hinter sich zu Boden fallen, dann kommt ihr der neunjährige schlafende Sohn in den Sinn, der nicht bei Bewußtsein verbrennen soll, sie holt aus der Küche einen Hammer, geht ins Kinderzimmer und schlägt dem schlafenden Jungen mit dem Hammer den Schädel ein, erschrickt beim Geräusch der splitternden Knochen, schlägt sich selbst auf den Kopf, aus Wut, bekommt Mitleid mit dem zuckenden Bündel vor sich, schleppt es an ein Fenster in der Stube, öffnet es, damit das Kind nicht im Rauch erstickt, weckt blutüberströmt den zweiten, ein Jahr älteren Sohn und schickt ihn zur Feuerwehr, der kriegt einen Schock, rennt los, die Feuerwehr kommt, löscht und bringt den jüngeren Knaben ins Krankenhaus, wo festgestellt wird, dass dessen Hirn eingedätscht und das Sprachzentrum zerstört ist, er wird nie mehr sprechen können, die Mutter wird interniert ... Der Mensch sitzt weiterhin da, auf Gartenstühlen, an Frühstückstischen, an Werkbänken, trinkt Bier, schimpft über das Wetter, redet von Autofelgen und Überschwemmungen, von Versicherungsbetrug und preisreduzierter Sommerware, die Sonne geht auf, die Sonne geht unter, der Mensch zwitschert, ein Spatz auf dem Dach, hüpft hierhin, dorthin, pickt Brosamen, stopft sich voll ohne leer gewesen zu sein, legt sich hin ohne müde zu sein, erhebt sich ohne ausgeruht zu sein, trottet über Plätze, bellt, springt in Gewässer, schwimmt eine Strecke, legt sich zum Trocknen an die Sonne, weiß ganz und gar nicht, was er tut, behauptet, sein Vater sei schuld an allem oder seine Mutter, schuld an was, er weiß es nicht, an sich, er glaubt nachzudenken, weiß aber nicht, wie das geht, das Nachdenken, setzt sich, legt sich hin, steht auf, läuft über Plätze, trabt an Häuserfronten entlang, klingelt, wiehert etwas, ißt tüchtig, läßt sich vor Karren spannen, zieht bis zum Umfallen, man kann ihm Fäßchen um den Hals binden, er scharrt in Lawinen, gräbt Artgenossen aus, und plötzlich vergißt sich wieder einer, zerfetzt im Büro ein paar seiner Arbeitskollegen, wird eingesperrt, um dann zu sterben, wieder andere stürzen sich in ganz und gar höllische Aktivitäten, um mit ihrer Plackerei das viel Bedrohlichere in ihrem Inneren zu übertönen, das Ungeklärte, um nicht endgültig den Verstand zu verlieren, was unweigerlich geschehen würde, wenn sie sich schutzlos der Wirklichkeit aussetzen würden, diese merkwürdigen Wesen, die Menschen, die sich auf einmal vergessen und andere zerhacken. (S.138ff.)

© Ammann Verlag & Co., Zürich. Alle Rechte vorbehalten.


Der mit dem Huhn flaniert (Zeichnung von Matthias Zschokke)


Wundertüte des Alltäglichen

Matthias Zschokkes Roman "Maurice mit Huhn"

Niels Höpfner

Alle drei, vier Jahre, immer im Frühjahr, legt der Schweizer Dichter Matthias Zschokke (mittlerweile 51) seine Tarnkappe ab und zeigt sich der lesenden Welt. Diesmal präsentiert er den Roman "Maurice mit Huhn", sein achtes Prosawerk. Alles fing an mit dem übermütigen Schlingel "Max" (Robert-Walser-Preis 1981), der nun nicht mehr von seinem Moritz, pardon, Maurice amputiert ist. Das heilige Paar: endlich komplett. Der Übermut: gedämpft.

Der Roman entlehnt seinen Titel einem Gemälde des Schweizer Malers Albert Anker (1831-1910), der in dem Drei-Buchstaben-Dorf Ins lebte, wo Zschokke als Kind aufwuchs. Ein kleines Museum erinnert noch heute dort an den Maler. Auf dem Bild ist sein kleiner Sohn zu sehen, der mit Kulleraugen erwartungsvoll-neugierig in die Welt blickt, in den Patschhänden eine fette Henne. Ein Bildausschnitt schmückt den Band als Cover.

Zschokkes "Maurice mit Huhn" ist als Roman vieles nicht: keine der beim Publikum so beliebten Familiensagas; kein Entwicklungs- oder Bildungsroman; kein psychologischer Reißer; kein Beziehungskrisenopus; kein Wende-Elaborat; kein Generationenreport; keine Vergangenheitsbewältigungsschnulze. Was denn? Allenfalls versucht Maurice die Gegenwart zu bewältigen, und das nicht ohne Ächzen.

Maurice betreibt ein "Kommunikationskontor" in einer schäbigen Gegend Berlins, im Wedding, wie durch den oft genannten Nettelbeckplatz kenntlich wird. Kleinen Leuten hilft er bei amtlichen Korrespondenzen. Reich ist er damit nicht geworden, im Gegensatz zu seinem persischen Internatsschulfreund Hamid, dem er in Briefen aus seinem Leben berichtet, was Zschokke als auktorialem Erzähler Verschnaufpausen bietet und den Roman kurzweiliger, bunter macht.

Nein, kein "klassischer" Roman, mit Klimax, Peripetien usw. Es rauscht kein mächtiger Erzählstrom, der ewige. Durch eine Reihung von Miniaturen wird die traditionelle Romanfabel gründlich ruiniert. Diese Dekonstruktion zeichnet Zschokkes Roman aus als ein Werk der Moderne.

Ein pointillistisches Pastell des Lebens, gemalt mit Wörtern. Wie schön sich Bild an Bildchen reiht (Trakl): das vom Schauspieler Flavian Karr, der sich beim Film als Nazi-Kleindarsteller verschlissen hat und nun in Stadtmagazinen "Einzelcoaching" und Kurse zur "Befreiung der eigenen Stimme" anbietet; das von Carola’s Schreib-Shop (mit Apostroph), der Pleite geht; das vom Niedergang der Druckerei des Ehepaars Doberan; das von einem grotesken Arztbesuch, bei dem Maurice sich eine Alterswarze entfernen lassen will; das vom piefeligen Café Solitaire, wo Maurice Zeitungen liest, das dichtmachen muss. Und außerberlinisch ein "Städtetrip" nach Turin und ein satirischer Kongressbericht… Zschokkes Wundertüte des Alltäglichen ist bodenlos.

Und Maurice taucht ein ins Mikrokosmische: "Spatzen fliegen heran und wälzen sich in der trockenen Erde unter einem der Sträucher, einem abgestorbenen. So ein Staubbad von Spatzen kennt er noch nicht. Neugierig schaut er zu und freut sich, etwas Neues geboten zu kriegen. Wie Pferde, Katzen oder Schweine, wälzen sich die Spatzen in der Topferde."

Aus der Beobachtung, die Maurice gemacht hat, entwickelt Zschokke seine Poetologie: "Das Lustige an den Spatzen ist nicht, was sie getan haben. Das Lustige an ihnen ist, daß Maurice die Zeit hatte, sie wahrzunehmen. In jedem Augenblick tun Spatzen, Menschen, Elefanten und Meere, was sie tun. In jeder Sekunde geschieht alles, doch wir sehen es nicht und empfinden Stillstand. Wir glauben, interessant sei das Außergewöhnliche, die Rhythmusstörung, der Aussetzer. Das Grandiose ist aber der Rhythmus, der Fluß, die Allgegenwart. Wenn wir jederzeit offen genug wären, zu sehen, was uns umgibt, dann hätten wir ein Leben voller Überraschungen, den Traum eines Lebens, einen Roman, ein ewiges Abenteuer. Man stelle sich bloß vor, wir würden, wo immer wir gehen und stehen, Spatzen sehen, Hunde, Winde, die sich merkwürdig verhalten, Mücken, Menschen – immer wieder natürlich und vor allem Menschen, von denen wir am allermeisten glauben, längst zu wissen, wie sie sind, die wir für unseresgleichen halten und demnach nicht für weiter beachtenswert; doch wie sie sich verhalten, ist immer neu ganz und gar unbegreiflich."

So geht es auch durchaus hart zur Sache. Leben und Sterben in Berlin: "Eine Greisin an einem Fenster erweckt den Anschein, in diesem Buch die Rolle von Maurice’ Mutter übernehmen zu wollen." Zschokke zeichnet ein gnadenloses Mutterporträt. Von Millionen Müttern. Wofür Peter Handke ein ganzes Buch ("Wunschloses Unglück") brauchte, reichen ihm wenige Seiten, die erzählerisch zweifellos der grandiose Höhepunkt sind. Und auch Hamid, der Freund, stirbt, krebszerfressen, da hilft ihm alles Geld nicht mehr.

Zschokke hat einen ureigenen Sprachsound. Er schreibt Sätze, deren ausgebuffte Unschuld umwerfend ist: "Irgendwann hat Maurice damit begonnen, sich seine eigenen Gedanken zu machen. Je länger er sich darin übte, desto schwerer tat er sich damit. Zu allem fiel ihm das eine oder andere ein, gleichzeitig aber auch immer dessen Gegenteil, weswegen er, weil er sich immerzu selbst ins Wort fiel, schließlich die Lust verlor, überhaupt noch etwas zu sagen. Andere, die mit ihm älter geworden waren, redeten im Unterschied zu ihm mehr und mehr."

Oder: "Immer wieder ist es verblüffend, mit welchem Gleichmut der Mensch seit Tausenden von Jahren seine kurz bemessene Zeit verbringt, sitzend, liegend, belangloses Zeug redend, ohne Appetit Kleinigkeiten knabbernd, ohne Durst an Flüssigkeiten nippend, Dinge betrachtend, die ihm nichts sagen, sich auf Wege machend, die ihn an Orte führen, wo er nichts verloren hat, im festen Glauben verankert, er sei ein vernunftbegabtes Wesen und mache sich Gedanken über dies oder jenes, dabei in Wahrheit nichts denkend, nur so vor sich hin tuckernd, ewig die gleichen falschen Schlüsse ziehend, sich im Kreis drehend seit Tausenden von Jahren, von Nebentischen Gesprächsfetzen aufschnappend, Sonnenbrillen betreffend oder Tierfelle…" - insgesamt fast zwei Seiten, diese Thomas-Bernhard-Tirade [siehe oben]. Wie jener ist Zschokke ein Moralist, was er jedoch, davon selbst erschrocken, mit Scherzen camoufliert.

Sein Roman "Maurice mit Huhn" hat eine Aura heiterer Grausamkeit, die den Leser rasch (und auf Dauer) in ihren Bann zieht. Bravourös gelingt dem Autor die Erfüllung seines selbst erklärten Vorsatzes: "Denen, die noch leben, erzählen, wie es war, als sie lebten."

Maurice lauscht immer wieder einem Cellospiel in der Nachbarschaft. Das zieht sich leitmotivisch durchs ganze Buch. Gern wüsste er, wer da spielt, an künstlerisch eigentlich unpassendem Ort, ist es ein Mann oder eine Frau: "Besuch beim Cellisten: Ein etwa fünfzig Jahre alter Mann öffnet die Tür. Er hat weiche, volle Lippen. Die Mundwinkel hängen leicht nach unten. Lefzen, denkt Maurice. … Besuch bei der Cellistin: Eine etwa fünfundzwanzigjährige Frau öffnet die Tür. Ihr Körper ist der eines Mädchens…" Unvermeidlich ein geiles Sexabenteuer, zur höhnischen Befriedigung der Lesererwartung. Natürlich hat Maurice die Besuche phantasiert. Kopfkino und kein Geheimnisverrat, der nur in profaner Banalität enden könnte. Das Cello bleibt Sehnsuchtsmetapher.

Am genüsslichsten wohl liest man Zschokkes wunderbaren Roman "Maurice mit Huhn", wenn man zur Lektüre Bachs Cellosuiten auflegt, vielleicht gespielt von Pablo Casals.

"Titel - Magazin für Literatur und mehr". Karlsruhe, 17.4.2oo6






Die neue Leichtigkeit des Seins


Matthias Zschokke schickt in seinem Berlin-Roman seinen Helden auf Reisen
NICOLE HENNEBERG

Im ruhigen Sog des Erzählens, mit spürbar schweizerischem Sprachklang, finden Engel und Spatzen, Mörder und Einsame, Schwätzer, Penner und Liebende zusammen. Mittendrin: Maurice, der Eigenbrötler. Maurice steht vor dem Spiegel und rasiert sich, er will mit einem Freund essen gehen. Viel lieber wäre er zu Hause geblieben, in seiner stillen Wohnung, ohne mit jemandem reden zu müssen, denn was soll man sich erzählen? Die Tage, Wochen, Jahre vergehen, doch sehen sie alle gleich aus, meint er, und sie werfen nichts ab, das zu einer Abendunterhaltung taugt. Soll er vielleicht erzählen, wie gern er die Abenddämmerung mag, wenn die Farben anfangen, dunkel ineinander zu verschwimmen und über den Dächern «Gebete, Seufzer und Flüche (…) aufsteigen wie Rauch im Winter»? Oder soll er vom Cellospiel erzählen, das er durch die Wand seines Büros hören kann? Er kennt den Musiker nicht, doch er hat ihn sich oft vorgestellt - es könnte ja auch eine junge, hübsche Frau sein, vielleicht sollte er ja doch versuchen, sie zu finden? Dass der Eigenbrötler Maurice ausgerechnet ein «Kommunikationskontor» betreibt, ist schon Ironie genug; aber Matthias Zschokke verlegt es auch noch in eine Gegend Berlins, die kurz vor dem Kollaps zu stehen scheint: «Die Schuhe in den Auslagen hier oben machen einen gesundheitspolizeilich fragwürdigen Eindruck, Tapetenläden dekorieren ihre Fenster aufs absurdeste, die Tiere in den Zoologischen Handlungen erregen Mitleid, (…) Drogeriemärkte erinnern an Gefängniskioske, wo es für Inhaftierte das Nötigste zu kaufen gibt, Supermärkte an Lebensmittelausgabehangars in Flüchtlingslagern.»

HÄSSLICH. Die Cafés in der Nachbarschaft sind grotesk hässlich, doch Maurice besucht sie trotzdem: Nirgends kann er, anhand deren beiläufigen Gesten, mehr über Menschen erfahren als hier. «Maurice mit Huhn» heisst der neue Roman von Matthias Zschokke, und es geht darin, wie der Autor anmerkt, um Gott und die Welt und den ganzen grossen Rest - was angesichts des entschlossenen Blickes des kleinen Maurice auf dem Buchumschlag unmittelbar einleuchtet: Das Huhn auf seinen Armen trägt er so sorgsam, als wäre es die Weltkugel selbst.

IDYLLISCH. Ausser Romanen und Erzählungen hat Matthias Zschokke, der 1954 in Bern geboren wurde und seit 1980 in Berlin lebt, Theaterstücke geschrieben und Filme gedreht, und oft lag seiner Prosa eine szenische oder eine Bild-Idee zugrunde wie dem kleinen Roman «Loses Glück» (1999), der auf einer Jacht auf dem idyllischen Bielersee spielt: Vier langjährige Freunde versuchen, einander ihr Leben zu erzählen; doch mit ihrem Sprechen erreichen sie einander nicht. Es sind nach-beckettsche Einsame, die monologisierend auf ihrem Unglück bestehen gegen den Rest der Welt, der sie um ihr luxuriöses Leben beneiden würde. In seinem neuen Roman öffnet Zschokke hingegen ein bewegtes Sprach- und Zeitpanorama, das eine Welt einfangen will, deren innerer Zusammenhang sich jeden Tag, unter Sturzbächen von Meinungen und Gefühlen, neu und anders aufzulösen scheint. Maurice lebt bescheiden, mit den Figuren aus dem 2001 erschienenen Erzählungsband «Der neue Nachbar» vergleichbar, die sich in schäbigen Zimmern verkriechen, um mit niemandem sprechen zu müssen. Doch die Welt lässt sich, trotz konzentrierter Bemühungen, nicht aussperren: Wie bei Maurice sind es die Töne eines Cellos, die den unfreiwillig Lauschenden zurück in die Welt locken.

NEUGIERIG. Diesmal ist der Held neugierig auf das Leben, ja er liebt sogar dessen Brüchigkeit: Zwischen Duden und Zeitung, zwischen Strassenbeobachtungen, Erinnerungen und Fantasien kann er sich frei bewegen. Und mit dieser neuen Leichtigkeit schickt der Autor ihn sogar auf die Reise in sein Heimatdorf, wo er die alte Sprachvertrautheit geniesst und trotzdem ein Aussenstehender bleibt, der sonderbare Fragen stellt. Von diesem archimedischen Punkt aus gelingt sogar die Liebe: «Und wir wachen auf und sagen das Gleiche, und wir schlafen ein, nachdem wir das Gleiche gesagt haben, und manchmal kommt ein neuer Gedanke hinzu, der uns überrascht, eine neue Redewendung, die uns gefällt …»

VERSTÖREND. Es ist die Sprache, die die Welt aus ihren zusammenhanglosen Bruchstücken immer wieder neu und anders zusammenfügt. Der Autor jongliert mit den verschiedenen Möglichkeiten, ist bestrebt, alle gleichzeitig in der Luft zu halten, und beschwert sich mitunter über larmoyante Entgleisungen seines Helden. Manchmal klagt er auch selbst über die Mühen, all die Details in eine angemessene Form zu bringen («Um den Abschnitt zu einem Rondo kurzzuschliessen …»). Man fühlt sich beim Lesen an eine Bach-Sonate erinnert, doch immer wieder blitzt die pure Gewalt auf, ohne dass der Erzähler merklich die Stimme höbe - was einen verstörenden Effekt ergibt, den wir schon von Zschokkes Geistesverwandtem Robert Walser her kennen. Anders als Wilhelm Genazino, der sarkastisch die kleinbürgerlichen Marotten kommentiert, und anders als Markus Werner, dessen Figuren von einem inneren Furor geschüttelt und getrieben werden, glaubt Matthias Zschokke an die tiefere Wahrheit des Beiläufigen, in deren ruhigem Sog sich, mit spürbar schweizerischem Sprachklang, Engel und Spatzen, Mörder und Einsame, Schwätzer, Penner und Liebende zusammenfinden.

"Basler Zeitung", 14.2.2006




Matthias Zschokke


Sensationen des Alltags

Es ist die «Rhythmusstörung», die den in Berlin lebenden Schweizer Schriftsteller interessiert - sein neuer Roman, «Maurice mit Huhn», ist ein Protokoll der Ereignislosigkeit

Von Ulrike Baureithel

Man müsse das Buch auf jeder Seite aufschlagen und lesen können, wünscht sich Matthias Zschokke. «Jeder Teil steht für sich, doch die Gesamtkomposition ergibt einen erkennbaren Rhythmus.» Ich mache also den Versuch und schlage Zschokke auf, Seite 73. «Dass sich gehenlässt, wer sich geliebt weiss», heisst es da. Der vierzehnzeilige Abschnitt handelt vom nachlässigen Aufzug angejahrter Liebender («zerbeulte Hosen», «zerdätschte Frisuren»), die wissen, dass sie nicht mehr gefallen müssen, weil sich der liebende Partner daran erinnert, dass man ihm einmal gefallen hat. Ein weiteres Mal zu gefallen, hiesse, «in die Abgründe einer neuen Leidenschaft gerissen zu werden». Von dieser Furcht zurückgehalten, «vergisst man oft, liebenswürdig zu sein». - Eine der vielen kleinen philosophischen Betrachtungen, die Zschokkes neues Buch, «Maurice mit Huhn», bereithält; und man sollte den Abschnitt nicht missverstehen: Der Autor dieser wohl gefeilten, wenn auch nicht wohlfeilen Stücke will gefallen, auch wenn er keine Lust hat, die obligatorischen Schubladen zu bedienen.

Sein «Roman» genanntes Buch hebt damit an, dass Maurice lieber in seinem Büro sitzen bliebe und vor sich hinstarrte, als das Hemd zu wechseln, sich zu rasieren, um seinen Schauspielerfreund Flavian zu treffen, mit dem er nichts auszutauschen hat. Denn was gäbe es schon zu erzählen von Maurices Existenz im Berliner Nordosten, wo die Blumen welk in den Läden hängen, die Ärzte und Apotheker blass aussehen und selbst das Café Solitaire um die Ecke, wo Maurice «seine Zeit absitzt» und tätige Müssiggänger beobachtet, in Agonie fällt. «Wer es nicht schafft, rechtzeitig wegzuziehen», so das vernichtende Urteil über die Gegend, «versickert und verendet hier.»

Welke Blumen, blasse Ärzte

Mit Maurice teilt Matthias Zschokke die Vorliebe für Café-Häuser, und als wir uns, nicht im Berliner Nordosten, sondern im alten Westen in einem traditionsreichen Literaturcafé treffen, kommt der winterblasse Mann gerade aus dem entgegengesetzten Ende der Republik zurück. Einfacher, erzählt er, sei dort das Leben gegenüber dem anstrengenden in Berlin, wo es im Winter besonders dunkel ist (was offenbar immer nur SchweizerInnen aufzufallen scheint, die Stadt nimmts gelassen). Seit 1980 sitzt der 1954 in Bern geborene und im Aargau aufgewachsene Autor und Filmemacher nun seine Zeit ab in dieser Stadt, in die es ihn verschlagen hat, weil es eben eine Grossstadt hatte sein sollen, Berlin damals billig war und Schweizer Markenware gefragt. Mittlerweile, findet er, sei die Schweizer Literatur hier allerdings wie überhaupt in Deutschland randständig geworden. Vielleicht ist auch das ein Grund dafür, dass die zschokkeschen Dichterexistenzen, von denen er erzählt, seit Jahren eher an der Peripherie als im Zentrum angesiedelt sind.

Billig ist Berlin inzwischen nämlich nur noch in den Randbezirken, in Wedding zum Beispiel, wo Maurice sein «Kommunikationsbüro» unterhält, weil er sich eine bessere Adresse nicht leisten kann und hier die legasthenische Kundschaft lebt, die seine Dienstleistungen nachfragt. Wenn er nicht gerade im «Solitaire» sitzt oder heimlich den baren Fussabdrücken einer jungen Frau folgt, die am Spreeufer spaziert, verschanzt sich Maurice in seinem heruntergekommenen Hinterhofbüro und lauscht den Tönen eines unsichtbaren Cellos, das auf den folgenden 250 Seiten das Leitmotiv liefert. In Zschokkes vor vier Jahren erschienenem Erzählband «Der neue Nachbar» hatte das Cello schon einmal für kurze Zeit die erzählerische Führung übernommen, war auf dem Höhepunkt allerdings einfach abgebrochen, mit der vom Publikum nicht sehr ernst genommenen Ankündigung: «Fortsetzung folgt.»

Rätselhaftes Cello

Nun hat Zschokke die Fortsetzung also tatsächlich nachgereicht, auch wenn dabei, wie er versichert, ein neuer Grundton das Motiv dominiert und eine neue Melodie entstanden ist. Um dieses Cello und ihre Töne erzeugende Urheberin kreisen Maurices Fantasien: Handelt es sich um einen Mann, eine Frau? Um ein unentdecktes Talent, ein Genie gar? Ist es, wenn es schweigt, endgültig verstummt, gestorben oder nur ins wohlhabende Zehlendorf gezogen? Warum ertönt plötzlich ein Klavier, dann wieder ein Fagott? Maurice führt lange Monologe mit dem Cellisten, treibts mit der Cellistin auf dem Balkon, unternimmt aber keinen wirklichen Versuch, dem geheimnisvollen Spiel auf die Spur zu kommen. «Maurice träumt von der Sensation», erklärt Zschokke, «und hat deshalb Angst, das Rätsel zu lösen.»

Dafür beobachtet Maurice seine Umgebung, registriert jedes kleinste Zeichen des Verfalls in der stehen gebliebenen Zeit, abseits des Metropolenaktionismus. Den Berliner Durchsteckschlössern wird dabei die gleiche erzählerische Aufmerksamkeit zuteil wie dem Abstieg des Buchdruckers Doberan, den Maurice in Briefen an den fernen Freund Hamid protokolliert, wobei er sich als Ich-Figur endlich ins Spiel bringen darf. Je weniger passiert, desto dringlicher fordert die Ereignislosigkeit, dieses «müde Trotten durch ödes Einerlei», Rechenschaft. Selbst wenn Maurice Reisen unternimmt, zum Beispiel an die Kindheitsstätten in der Schweiz, handeln sie vom Stillstand in der Zeit - der Titel des Romans, «Maurice mit Huhn», ist einem Genregemälde von Albert Anker entlehnt.

Am Genre kaut Zschokke denn auch heftig herum: Ihn langweilten die gut gebauten, fertigen Geschichten mit Anfang, Höhepunkt und Ende, diese Stückware, die in den Leipziger oder Oldenburger Schreibwerkstätten hergestellt wird. Nicht die Sensation «ist das Grandiose», sondern «die Rhythmusstörung, der Aussetzer» und das am Rande Aufgesammelte, Belanglose, in dem sich das Ganze verbirgt. Zschokke plädiert für eine «philosophische, essayistische» Romanform, die Einsprengsel, Abschweifung, Mehrstimmigkeit, Perspektiv- und Zeitenwechsel und das lange Verweilen im Augenblick erlaubt. Die barocke Erzähltradition wird dabei ebenso geplündert und in den Roman geschmuggelt wie das Theaterfach, aus dem der gelernte Schauspieler Zschokke ursprünglich stammt. Wenn er seitenweise von den schmerzenden Füssen der Besitzlosen berichtet, die die falschen Schuhe tragen, dann meint er das Leben in den falschen Schuhen ebenso wie die falsche «passende» literarische Form. Wie Hühner, die absichtslos picken, oder Töne, wenn sie ohne Zuhörer gespielt werden und nicht gefallen wollen, muss also Literatur im besten Sinne zweck- und absichtslos sein, nicht erziehen wollen oder nur unterhalten.

Dafür allerdings sind Zschokkes Sätze zu massgeschneidert und seine Beobachtungen viel zu wahrnehmungsbesoffen und hintersinnig. Absichtslos wird hier kein Wort gesetzt, «jeder Satz», beharrt der Autor, «gehört genau so, wie er da steht». Das macht das Lesen mitunter auch zur Anstrengung. Gerade weil der Text so unstrukturiert und absichtslos dahinzufliessen scheint, wird der Leser in ständige Alarmbereitschaft versetzt. Schwächer ist der Roman - wie schon die Erzählungen - dort, wo es um Politik geht. Vielleicht haben politische Ereignisse - der Krieg in Jugoslawien ebenso wie die Entschlüsselung des Genoms - eine kurze Halbwertszeit, und vielleicht sind ja wirklich alle Theater mittlerweile «von Händlern» besetzt: Doch dass deshalb Maurices Meinung über Fahrräder die Wichtigkeitsskala umkrempeln könnte, wäre noch zu beweisen.

Das allerdings sollte kein ernst gemeinter Einwand gegen die Lektüre sein. Wer sich auf Zschokke einlässt, sollte sich nicht auf eine «runde Geschichte» freuen, dafür auf eine melancholisch gestimmte, wahrnehmungsintensive Entdeckungsreise machen, auf der Unscheinbares attraktiv, Belangloses sensationell und Abseitiges bedeutungsvoll wird und die viel Lebensklugheit bereithält.

"WOZ - Die Wochenzeitung", Zürich, 23.2.2oo6




Liebenswerte Gleichförmigkeit

Matthias Zschokke präsentiert ein Buch über die kleinen Tragödien und Komödien, die sich nebenan abspielen

Der in Berlin lebende Berner Schriftsteller, Filmemacher und Theaterautor Matthias Zschokke setzt in «Maurice mit Huhn» seine Alltagsbeobachtungen mit heiter-ironischer Melancholie fort.

Gibt es einen Diminutiv für Leben? Das Lebenchen, das Lebenlein? Unsinn. Auf so abwegige Gedanken kann einen nur so einer wie Matthias Zschokke bringen, der sich auch im jüngsten Buch wieder als geistvoller Flaneur, unermüdlicher Kuriositätensammler, unerschöpflicher Ideenspinner und spöttisch distanzierter Beobachter des Alltags erweist, und zwar zumeist in Berlin, wo er seit nunmehr dreissig Jahren lebt, aber auch auf kleineren Reisen oder wenn er Kindheitserinnerungen wieder belebt, die ihn zurück ins Seeland und ins Anker-Dorf Ins führen. Weshalb denn auch sein Buch den Titel «Maurice mit Huhn» trägt, wie wiederum ein Gemälde von Albert Anker heisst.
 

«Unfassbarste Tragödien»
 

Was dem Exilberner Paul Nizon, Jahrgang 1929, Paris bedeutet, das ist für den ein Vierteljahrhundert später ebenfalls in Bern geborenen Matthias Zschokke Berlin geworden: Ort des Lebens, der Erfahrungsfülle immer wieder, der Geistesabenteuer dann und wann und deren Vereinnahmung und Verwirklichung durch die Sprache. Für die Leser wiederum heisst das auch, bei Zschokke wie bei Nizon, Rückkehr zu Örtlichkeiten, Situationen und Beziehungen, die schon in früheren Werken aufgetaucht sind. Im Falle Zschokkes zum Beispiel ist das die Wohnung, in die immer wieder die schwer zu lokalisierenden Klänge eines Cellos dringen. Aber anders als bei Nizon, wo Erotik und Leidenschaften in der Sprachwerdung sich zum singulären Ereignis auftürmen, ists bei Zschokke in der Regel das Alltagsgleichmass, das ihn beschäftigt, das ihn unterhält, lächert und handkehrum abstösst. «Wer sich Rechenschaft über sein eigenes Leben ablegt», schreibt er, «kommt zum Schluss, es gleiche sich tagaus, tagein, es sei ein müdes Trotten durch ödes Einerlei aufs von jeglicher Überraschung bare Ende zu.» Und weiter: «Wer etwas genauer hinschaut, wird feststellen, dass sich in seiner unmittelbaren Umgebung die unfassbarsten Tragödien und Komödien ereignen und er gar nicht ins Phantasiereich der anderen auszuwandern bräuchte, um angeregt zu werden.»
Ja, solches Sinnieren über das «Leben» und ab und zu sonstwie ein nachdenkliches Traktätlein über das eine und andere Phänomen des Daseins kommen auch vor in Zschokkes Kollektion aus «Tagen süsser Trostlosigkeit» (wie er, bzw. der zuschauende, notierende und Briefe schreibende Maurice sie nennt); aber meistens handelt es sich doch eher um das distanziert teilnehmende Beobachten konkreter Individuen und realer Geschehnisse, von Beständigem und Veränderlichem in der Nachbarschaft, von Stimmungen des Lichts, Gerüchen, Geräuschen, Aromen der Stadt.
 

Das grosse Abenteuer
 

Sogar so etwas wie leibhaftige Brunst scheint Maurice einmal zu übermannen. Der Spieler des Cellos im verwinkelten Nachbarhaus, den Maurice endlich aufspürt, der erweist sich nämlich als eine Spielerin, und schon nach kurzem Geplauder gibt diese sich ihm, auf dem Balkon des Hauses, mit Wonne hin. Maurice erlebt endlich, endlich sein grosses Abenteuer, der banale Werktag explodiert mit Wucht – bloss, er gesteht es am Ende, ist der ganze Vorgang reine Phantasterei, blosses Wunschdenken, Traumbegehren, das den Klängen des verborgenen Cellos entsprungen ist. Maurice, der zwar bei Gelegenheit eine Freundin zur Seite hat und mit einem Freund zu korrespondieren pflegt, bleibt der ewige Einzelgänger, der abseits steht, dabei ein bisschen traurig ist, weil nichts sich als so tief und so vollkommen erweist, wie man sichs erträumt hat, und daneben ist er auch ein bisschen amüsiert, weil die Leute gerade in ihrer Unvollkommenheit so komisch sind. Wenn man beim Lesen sich Maurice so vorstellt, wie er in seiner kahlen Behausung aufschreibt, was ihm widerfahren oder eben auch nicht widerfahren ist, da kommt einem unwillkürlich ein kleines Gedicht von Robert Walser in den Sinn (wie ja überhaupt bei Zschokke manche Klänge an Walser erinnern): «Ich mache meinen Gang; / der führt ein Stückchen weit / und heim; dann ohne Klang / und Wort bin ich beiseit.»

Charles Cornu, "Der Bund", Bern, 23.2.2oo6  

 







Der Mann im Café Solitaire

«Maurice mit Huhn» - Matthias Zschokkes berückender Roman

Matthias Zschokke hat eine leichthändige Romankomödie geschrieben. Sie ist witzig, doch lauert am Rande die Finsternis. Nichts Menschliches fehlt. Göttliches scheint kaum auf - es sei denn als der reine Klang eines Cellos, das von irgendwoher durch die Wände dringt. Miniaturdramen folgen aufeinander, gelebt von anrührenden Leuten, vor allem von Maurice, der Hauptfigur. Einer liebenswürdigeren Gestalt begegnet man in der neueren Literatur nicht leicht. Nicht einmal bei Zschokke selber. Dabei gibt er sich Mühe, seinen Protagonisten auch ein bisschen lächerlich erscheinen zu lassen.
Hintersinnige Geschichten

Aber nur ein bisschen. Maurice hat den überlegenen Charme der Erfolglosen, die den Erfolg durchschauen und darum verweigern. Er ist ein trauriger Clown, über den man laut lachen kann, auch dann, wenn man mit ihm leidet. Manchmal lacht man qualvoll. Weil er so Recht hat mit seinen schwarzen Gedanken zum Leben, zum Heute, zum Ort, wo er wohnt, Berlin. Maurice stammt aus der Schweiz, aus dem gleichen Dorf wie der berühmte Maler, der in Paris einst Furore machte mit Bildern von Bauernkindern. Dieser malte auch Porträts seines Sohnes Maurice. Darum trage er diesen Namen wie viele andere in jenem Dorf im Grossen Moos beim Städtchen L., erklärt der Romanheld. «Maurice mit Huhn»: das Bild Albert Ankers ziert den Umschlag.

Der Autor - auf einer neuen Höhe seiner Kunst - lässt seinen Mann schreiben. Maurice fährt von der Wohnung beim Bahnhof Zoo täglich mit dem Fahrrad zum Büro im öden Nordosten Berlins. «Kommunikationskontor» heisst seine Firma. Er bestreitet sie allein, erhält hie und da Aufträge von Einwanderern, für die er amtliche Briefschaften erledigt. Daneben richtet er Briefe an Hamid, seinen ehemaligen Geschäftspartner, der in Genf längst einen besseren Job hat. Er schildert Hamid seinen Alltag in dem tristen Quartier, das dieser ja kennt. Er erzählt vom Café Solitaire, wo er trotz Sauerbratengerüchen täglich seinen Milchkaffee trinkt, von den Läden, die immer wieder aufgeben müssen, von den Bewohnern, für die es kein Entrinnen gibt aus dieser Randzone. Er berichtet von ihren Verlusten und Widersprüchen, auch von der Greisin, die, am Fenster ihres Hinterhofes kauernd, auf Maurice wartet. Sie bildet sich ein, er sei ihr Sohn.

Lauter verrückte und hintersinnig gewöhnliche Geschichten. Es sind diese tausendundein Geschichten, die bewirken, dass sich Maurice doch nicht unter die S-Bahn wirft. Denn er ist ein verkappter Schriftsteller. Wenn er schreibt, lebt er gern. Hierfür verbringt er seine Tage im Büro. Da gewinnt er seine eigene Sicht auf die Dinge, seine eigene Sprache. Ein Satz müsse stumm für sich allein stehen; sobald er vor Dritten geäussert werde, klinge er falsch. Darum schreibt er lieber, als er redet. Er ist ein zarter dichterischer Philosoph. Aber er wird nie abstrakt, sondern kleidet alles in grossartige Exempel.

Er erzeugt Spannung mit fast nichts. Zu einem Leitmotiv wird die Musik, die ihn manchmal mit Macht ergreift. Maurice phantasiert deren Urheber herbei, noch lieber deren Urheberin. Mit der «Cellistin» erträumt er eine Liebesstunde, deren üppige Schilderung jedem Erotikthriller wohl anstehen würde.

Dieser Roman ist dicht angefüllt mit Wirklichkeiten. Doch liegt auch ein Zwielicht darüber. Das kommt von Maurices fahler Seele. Er erfährt die Welt als «Zwischenreich», wie er einmal sagt, als eine Art Purgatorio. Überall nimmt er das Vergehen wahr. An den Uhren frisst der Rost, Autos schmelzen vor seinen Augen zu Klumpen zusammen. Dass nichts Bestand hat hienieden, ist an abgewetzten Orten augenfälliger. Weil er Oberflächen durchsichtig macht, liest man ihn gebannt, aber auch beklommen. Er erzählt auf so hartnäckig hinterhältige Weise, dass man bald an Beckett, bald an Robert Walser denkt. Das sind grosse Massstäbe, gewiss, aber Matthias Zschokke wird ihnen gerecht.
Kostbare Lektüre

Abgesehen von den eingeschobenen Briefen verzichtet der Autor diesmal auf jede aufwendige Erzählkonstruktion. Er erfindet kein Boot als Kleinstschauplatz wie im «Losen Glück», und er lässt auch keinen dicken Dichter sterben. Er beschränkt sich auf die Darstellung eines etwas kauzigen Daseins, das ab und zu unterweltlich fratzenhaft wird. Wenn er etwa erklärt, wieso in dem Quartier so viele Amputierte anzutreffen sind. Junge Ärzte brauchten für ihren Abschluss eine Brust, eine Niere, ein Raucherbein und bezögen ihre «Fälle» gern aus Randbezirken. Nicht dass die Leute bezahlt würden für ihre Körperteile. Doch die Aussicht auf ein warmes Essen und saubere Leintücher gewinne fast jeden für einen chirurgischen Eingriff. «Wer überlebt, flaniert hinterher durch die Quartierstrassen, die Versehrungen stolz zur Schau stellend wie solche aus einem grossen, ehrenvollen Krieg.»

Es gibt aber auch die «würgende Geborgenheit» des Schweizer Heimatidylls, in das Maurice hie und da zurückkehrt und wo er der merkwürdigsten Auftritte gewahr wird. Etwa in der Begegnung mit einer Schulklasse, die mit Koffern übers Feld zieht. Die Kinder müssten erfahren, was es heisse, vertrieben zu werden, erklärt der Lehrer dem verdutzten Auslandschweizer. Darum habe er sie nach Unterrichtsbeginn gleich wieder heimgeschickt und ihnen befohlen, innert kürzester Frist das Nötigste einzupacken.

Der pädagogische Einfall entspricht ungefähr der Forderung nach mehr «Erfahrenshintergrund», wie sie gelegentlich an verwöhnte Schriftsteller gestellt wird. Maurice liest darüber in der Zeitung im Café Solitaire. Etwas Krieg würde jeder Dichtung gut tun, so die Theorie eines «am deutschen Geisteshimmel neu aufsteigenden Denksterns».

Zschokkes Prosa ist auch diesmal nicht leicht zu fassen. Sie lässt die Welt fast banal erscheinen und rückt sie dabei unauffällig aus dem Lot. Der Menschenkosmos, den sie in Schieflage bringt, ist der unsere. Eine kostbare Lektüre.
Beatrice von Matt

"Neue Zürcher Zeitung", 25.2.2oo6






Vogelfrei vor Glück


Matthias Zschocke erzählt mit Schweizer Charme vom Berliner Stillstand
Von Ulrike Baureithel

Es ist natürlich eine Übertreibung, dass sich HartzIV-Geschädigte aus dem Berliner Wedding in der „Aussicht auf ein helles, warmes Zimmer, wochenlang frische Laken, regelmäßige Kost, menschliche Zuwendung drei mal am Tag und funktionierende Fernsehgeräte“ im nahe gelegen Universitätsklinikum ihre Glieder amputieren lassen. Auch die in den Schweizer Bergen handelnde Geschichte, in der inhaftierte Mörder und Betrüger Sänften aus Fahrradteilen zusammenschweißen, um auf karitativer Basis Gelähmte zu Bergtouren auszuführen, ist eine Mär und in diesem Fall, so ihr Erfinder, dem besonderen Schweizer Humor geschuldet.

Tatsächlich kann man Matthias Zschokkes neues Buch „Maurice mit Huhn“, mit dem sich der seit 1980 in Berlin lebende Autor nach vierjähriger Pause zurückmeldet, auf jeder beliebigen Seite aufschlagen und eine mehr oder minder skurrile Geschichte, eine lebenskluge Betrachtung oder einen entlegenen Wahrnehmungssplitter finden: blutvoll genug, um eigenständig bestehen zu können, zugleich „in schönster Rondomanier“ in die anderen Teile eingebunden.

Den erzählerischen Grundton übernimmt dabei ein Cello, das schon in Zschokkes 2002 veröffentlichtem Erzählband „Ein neuer Nachbar“ eingeführt und mit dem Versprechen „Fortsetzung folgt“ versehen wurde. Nun also erklingt dieses Cello erneut, versteckt in einem Hinterhaus im Berliner Nordosten, wo es Maurices Aufmerksamkeit erregt. Dieser Maurice, der sich selbst als „unscheinbar und uninteressant“ empfindet, unterhält dort ein „Kommunikationsbüro“, wo er, da er sich keine bessere Adresse leisten kann, seine Dienste anbietet. Meist allerdings sitzt er untätig am Schreibtisch, im Café „Solitaire“ am nah gelegenen Nettelbeckplatz oder flaniert durch den Kiez. Denn im Hauptberuf ist Maurice Wahrnehmungssensor, der den langsamen Niedergang seiner Umgebung – den Wechsel der Pächter, den Ausverkauf der Läden und die fehlgenährte Blässe der Bewohner - minuziös registriert: „Wer es nicht schafft, rechtzeitig wegzuziehen, versickert und verendet hier.“

Allerdings leidet Maurice auch an einer Sprechhemmung, die um so dramatischer wird, je mehr die Zeit um ihn herum stillzustehen scheint. Mit seinem Schauspieler-Freund Flavian mag er sich schon nicht mehr treffen, weil er das „dumme Zeug“, das dann aus ihren Mündern stürzt, nicht mehr ertragen kann. Die Frau, die ihm gegenüber sitzt und die „die Rolle seiner Geliebten übernommen hat“, liebt er schweigend; soziale Kontakte hält er für eine Zumutung. Nur in den Briefen an den fernen Freund Hamid, der seine Büromiete finanziert, spricht er von seiner Befindlichkeit und sagt „ich“.

Maurice erzählt in diesen Briefen auch vom Cello hinter der Wand, von seiner Freude am Spiel, von der Betrübnis, wenn es ausbleibt: In welchem Haus mag es sich verbergen, von wem wird es gespielt, ist ein Talent, gar ein Genie am Werk, und hat es in diesem dahindümpelnden Teil der Stadt überhaupt eine Chance? Maurice führt lange Monologe mit dem Cellisten und treibt’s mit der Cellistin auf dem Balkon. Verstummt das Cello einige Tage, fürchtet er, es sei ermordet worden oder ins angemessenere Zehlendorf verzogen. Seine Versuche, das Instrument aufzuspüren, bleiben halbherzig und im Ansatz stecken; lieber blättert er im Duden nach vergessenen Wörtern, widmet sich der akkuraten Beschreibung Berliner Durchsteckschlösser oder einer Kamelie, die, obwohl kleinwüchsig und verkrüppelt, „Winter für Winter die schönsten, sehnsuchtsvollsten Blüten aus sich heraus“ erzeugt.

Dieses süchtige Sehnen in der dahin- tröpfelnden Zeit, in der Sekunde für Sekunde „alles geschieht“ und die doch nur als Stillstand empfunden wird, ist Zschokkes Thema und Erzählprogramm. Gleichgültig, ob er von der siechen Greisin am Fenster berichtet (in der Rolle von Maurices Mutter), Maurice an die Stätten seiner Kindheit zurückreisen oder einfach nur das still gestellte Genregemälde „Maurice mit Huhn“ aufleben lässt, überall treibt ihn die Frage, „wofür wir leben, wenn wir bleiben, was wir waren“.

Dieser zutiefst barocke Weltzweifel ruft ein Teatro mundi auf, auf dem die Spieler ihre Füße in „schmerzende Schuhe“ zwängen, weil es „Anstrengung und Kühnheit erfordert“, von Schuhen und vom Leben „zu verlangen, dass sie passen“. So„verkürzen sie sich ihre lange Weile“ mit erfundenen „Geschichten mit Hand und Fuß, Anfang und Ende, Aktionen und Reaktionen, Ursachen und Wirkungen“.

Solche „handwerklich gut durcherzählten, schnellen Geschichten“, in denen die „Rhythmusstörung“, der „Aussetzer“ die Form diktiert, interessieren den 1954 in Bern geborenen und im Aargau aufgewachsenen Matthias Zschokke erklärtermaßen nicht. Dabei haben das Theater- und Filmgewerbe, in dem er sich ebenfalls einen preiswürdigen Namen gemacht hat, sichtlich ihre komischen Spuren hinterlassen: Chirurgische Schnitte unterbrechen den Wahrnehmungsfluss, maßgeschneiderte Sentenzen stören das treibende Erzählgut, Distanzgesten die Illusion – und schwebende Motive geben Rätsel auf.

Hühner gehören übrigens seit seinem ersten [recte: letztem] Roman „Das lose Glück“ (1999) zu Zschokkes Lieblingsmotiven. „Gerupfte Hühner, die nicht wissen, dass sie sterben“, heißt es dort programmatisch, „die ganz und gar damit beschäftigt sind, Hühner zu sein, sich in den Sand zu hocken, wieder aufzustehen, das Gleichgewicht zu halten … vogelfrei, im losen Glück.“ Listig hat Zschokke das Huhn nun Maurice in den Arm gelegt, auch dieser nichts weiter als „ein Wissenskörner pickendes Huhn“. Vielleicht sollte man dieses Buch genauso lesen: pickend über die Seiten schreiten, sich hinhocken, wieder aufstehen und dabei nicht das Gleichgewicht verlieren.

"Der Tagesspiegel", Berlin, 26.2.2oo6






Das Leben ist ein Mysterium

Matthias Zschokke: "Maurice mit Huhn"

Rezensiert von Jörg Magenau

In dem neuem Buch des Berliner Autors Matthias Zschokke, "Maurice mit Huhn", geht der Leser zusammen mit dem Flaneur Maurice auf eine Entdeckungsreise in der Großstadt Berlin. Das Alter Ego des Autors Maurice erlebt nicht viel Spannendes, es ist vielmehr der Rhythmus und Fluss des Lebens, den er mit Präzision liebevoll dokumentiert. Als schweizerischer Erzähler in der Tradition Robert Walsers begegnet Zschokke dem Mysterium "Leben" staunend und erzählend.
 

In Matthias Zschokkes Erzählungsband "Ein neuer Nachbar" gab es eine Geschichte mit dem Titel "Das Cello". Sie handelte von einem Mann, der durch die Wand seines Büros immer wieder die Töne eines Cellos hört. Die Klänge faszinieren ihn, und er stellt sich vor, wer dort im Verborgenen übt.

Es gelingt ihm nicht zu lokalisieren, woher die Musik kommt: irgendwo aus dem Nachbarhaus in einem verwinkelten Berliner Hinterhofkomplex. Doch eigentlich will er es auch gar nicht wissen. Seine Suche bleibt halbherzig, und die Phantasien um eine schöne Cellistin sind zu kostbar, als dass sie durch eine Enttäuschung in der Wirklichkeit aufgewogen werden könnten.
Die Geschichte endete mit dem lakonischen Vermerk: "Fortsetzung folgt". Der Roman "Maurice mit Huhn" ist nun diese Fortsetzung, wenn man bei einem Buch, das allerlei Geschichten, Beobachtungen, Empfindungen, Reflexionen und Aphorismen versammelt, überhaupt von einer Fortsetzung reden kann. Eine nacherzählbare Handlung gibt es nicht. Vielmehr geht um das Leben selbst, um das Verstreichen der Zeit, den Alltag und das Altern und um die Wahrnehmung der Dinge.

"In jeder Sekunde geschieht alles", heißt es an einer Stelle, "doch wir sehen es nicht und empfinden Stillstand. Wir glauben, interessant sei das Außergewöhnliche, die Rhythmusstörung, der Aussetzer. Das Grandiose ist aber der Rhythmus, der Fluss, die Allgegenwart. Wenn wir jederzeit offen wären, zu sehen, was uns umgibt, dann hätten wir ein Leben voller Überraschungen."

Also kann in diesem außergewöhnlichen Buch alles interessant werden: die Spatzen, die im Sand baden, ein Besuch beim Arzt, die Veränderungen in der benachbarten Konditorei, der Wechsel der Jahreszeiten und die Läuse im Efeu, das notorische Fensterputzen und eben auch die Töne eines Cellos.

Matthias Zschokke wurde 1954 in Bern geboren und lebt seit 30 Jahren als Schriftsteller, Filmemacher und Theaterautor in Berlin. Mit Maurice hat er sich ein Alter Ego geschaffen, einen Flaneur in der Großstadt, der gerne mit dem Fahrrad unterwegs ist und der die abgelegenen Gebiete bevorzugt. Im Wedding hat er einen Büroraum gemietet, wie Zschokke selbst. Allerdings ist Maurice kein Schriftsteller, sondern betreibt ein "Kommunikationskontor".

Dort übernimmt er die Amtskorrespondenzen für "ausländische und orthographisch benachteiligte Mitbürger". Das heißt: Er hat so leidlich sein Auskommen, sitzt aber sehr oft einfach nur herum, denkt nach und schreibt ein paar Briefe an seinen Freund Hamid (der am Ende stirbt). Der erste Satz des Romans ist Programm: "Wieder nichts zu tun gehabt."

Zschokke ist ein sehr schweizerischer Erzähler in der Tradition Robert Walsers. Action- und spannungsorientierte Leser müssen vor ihm gewarnt werden. Alle anderen können in seinen Büchern auf Entdeckungsreisen gehen. Maurice preist die Stille und möchte am liebsten, wie alle echten Indianer, unhörbar sein, wenn er sich durch die Welt bewegt. Menschen zu begegnen und gar Gespräche führen zu müssen ist ihm zuwider. Reisen hält er eigentlich für überflüssig, unterzieht sich aber dennoch immer wieder dieser Anstrengung.

Mehrmals reist er in sein Schweizer Heimatdorf, wo er Seltsames erlebt: Eine Schulklasse mit Koffern in der Hand marschiert durch den Ort, weil die Kinder, wie der Lehrer erklärt, begreifen sollen, was es bedeutet, vertrieben zu werden. In diesem Ort bei Bern löst sich auch das Rätsel des Romantitels: "Maurice mit Huhn" ist ein Bild des hier geborenen Malers Albert Anker, eines Naturalisten aus dem 19. Jahrhundert. Ihm, der einst häufig nach Paris reiste, ist es zu verdanken, dass auch heute noch die Züge hier halten und dass die Jungen im Ort häufig "Maurice" heißen.

"Maurice mit Huhn" ist ein Roman, der wie eine Wundertüte funktioniert. Er enthält großartige Geschichten - ob vom sterbenden Präsidenten Mitterand oder von homoerotischen Kindheitserfahrungen. Die Töne des Cellos aus dem Nachbarhaus verbinden die disparaten Momente. Das Leben ist ein Mysterium, dem man nur staunend - und das heißt: erzählend - begegnen kann. Doch das Verstreichen der Zeit lässt sich nicht fassen.

"Nicht einmal das Leichteste, nicht einmal meinen Schatten und meinen eigenen Geruch kann ich halten, nichts, alles löst sich auf", notiert Maurice.

"Deutschlandradio Kultur", Berlin, 27.2.2oo6  







Das Aussergewöhnliche im Alltag

 
In allen Sparten und Tönen gewieft: Der in Berlin lebende Berner Matthias Zschokke hat einen wunderbaren Roman über die Frage nach der Identität geschrieben. Am 6. März stellt er seinen «Maurice mit Huhn» in Bern vor.

JOHANNES KÜNZLER

 

Maurice ist ein Prachtexemplar, ein wahrer Antiheld. Im trostlosen Nordosten Berlins betreibt er ein «Kommunikationskontor», eine Schreibstube für weniger Wortgewandte. Ab und zu fährt er ins Schweizer Seeland, wo er die Orte seiner Kindheit besucht. Maurice findet, er führe ein unspektakuläres Leben. Gerne schlendert er herum, beobachtet das nahe Liegende – und freut sich daran. Doch oft überkommt ihn das Gefühl, das richtige Leben ziehe an ihm vorbei.
 

Nach jedem Ausbruchversuch, die «Wirklichkeit» zu spüren, findet er sich schon in Kürze am Schreibtisch und in seine Gedanken versunken wieder. Von irgendwo drüben hinter den Wänden tönt sanft ein Cello herüber, Maurice möchte den Cellisten oder die Cellistin aufsuchen – er tut es nicht. Lieber denkt er sich Szenen einer solchen Begegnung aus. «Wissen ist grauenvoll, erholsam dagegen das Ahnen», meint er.
 

Blubbern im Kopf
 

So ist Maurice – dieser exemplarische Protagonist aus Matthias Zschokkes Figurenkabinett. «Irgendwann hat Maurice damit begonnen, sich seine eigenen Gedanken zu machen. Zu allem fiel ihm das eine oder andere ein, gleichzeitig aber auch immer dessen Gegenteil, weswegen er, weil er sich immerzu ins Wort fiel, schliesslich die Lust verlor, überhaupt noch etwas zu sagen.» Und Maurice’ Gedanken- und Redefluss mäandert immer fort.
 

Lässt er sich zuerst von einem Erzähler vorführen, nimmt er diesem unvermittelt das Wort, um selber weiterzusprechen. Das Spiel mit der Erzählperspektive – das Matthias Zschokke bereits in früheren Romanen getrieben hat – geht so weit, bis die Erzählfigur perplex bemerkt: «Was für ein Durcheinander. Wer hat dazwischen gesprochen? Maurice’ Freund? Ein Jugendfreund? Ein weiterer Maurice?»
Dem 52-jährigen Berner Seeländer Matthias Zschokke, der seit 1980 in Berlin lebt, geht es weniger um das Autobiografische, obwohl auch in diesem Roman einige Passagen auf seinen Lebenslauf verweisen. Im Mittelpunkt steht die Frage, wie Identität zu fassen ist: Nur punktuell, aus verschiedenen Blickwinkeln, muss die Antwort lauten. Ganz so, wie Zschokkes Roman kein klassisches Roman-Ganzes ergibt, sondern sein «Panorama» aus unzähligen Fragmenten zusammensetzt, wobei die Leser die Lücken und Sprünge selber ausmalen dürfen.
Ganz nach Zschokkes Manier gibt es in «Maurice mit Huhn» keine eigentliche Handlung, sondern vielmehr ein träumerisches Assoziieren und Collagieren zahlloser Szenen, Geschichtchen und Gedankenfetzen: Wie zäh sich in der Sommerglut die Spree durch Berlin schiebt, wie sich ein Arbeitsloser im Café «Solitaire» beschäftigt gibt, welchen Genuss ein Gnagi verspricht und dies nicht halten kann und so weiter.
 

Stöbern im Alltag
 

Somit sind Buch und Figuren fest in unserer Welt verankert: Wenn die Rede auf jenen unseligen 11. September, die Flexibilisierung der Arbeitswelt oder etwa auf die Frage kommt, warum Albert Ankers Bilder gerade in den Sammlungen «konservativer, politisch reaktionärer Kreise» wiederzufinden sind, manifestiert sich sogar ein Realismus, den heute so manche Schriftsteller geradezu demonstrativ aussparen, fürchtend, es würde ihre Kunst herunterziehen. Matthias Zschokke geht damit ohne Scheu um und lässt sein Sprachrohr Maurice festhalten, dass im Alltäglichen das Aussergewöhnliche stecke und dass es bei der Kunstproduktion ja um die Behandlung des Stoffes gehe und nicht um den Stoff an sich.
 

Verwandlung der Welt
 

Zschokke ist in allen Sparten und Tönen gewieft: Für seine Romane, Theaterstücke und Spielfilme ist der ausgebildete Schauspieler deshalb mit Preisen geradezu überschüttet worden. Nicht zuletzt wegen der brillanten Technik sprudelt auch das neue Werk trotz melancholischem Grundton schalkhaft und gewitzt. Die Beschreibungen sind meisterhaft. Nur ab und zu möchte man nörgeln, die Sprache sei etwas gar überkandidelt, doch vergisst man das Kriteln sofort wieder, da einen der Schreibe Fluss einfach weiterreisst.
 

Auch dass der Autor da und dort auf Motive und Szenen bereits erschienener Erzählungen zurückgreift, tut der Sache keinen Abbruch. In einen neuen Zusammenhang gestellt und/ oder neu formuliert, verwandelt sich Zschokkes Welt gerade selbst. Dieses Dichten funktioniert; es ist klug und gut gemacht und überaus anregend.

"Berner Zeitung", 27.2.2oo6

 

 



Der Genuss, loszulassen
MATTHIAS ZSCHOKKE: »Maurice mit Huhn« 
 
Von Heide Grasnick
 
 
Sie können ihn aufschlagen, wo Sie wollen, und werden erleichtert spüren, wie Sie beim Lesen loslassen, weil da endlich einer ... nicht um Ihre Gunst buhlt«. So Matthias Zschokke über Robert Walser, nachzulesen in seinem Band, »Der neue Nachbar«. In Bern geboren, wohnt und arbeitet der Autor seit fast 25 Jahren in Berlin. Für seine Theaterstücke, Filme, Erzählungen und Romane hat er renommierte Literatur- und Theaterpreise eingesammelt. Aufschlagen, wo man will und beim Lesen loslassen, in diesen Genuss kommt auch der Leser von »Maurice mit Huhn«.


Der Autor und ein Ich-Erzähler durchstreifen den Berliner Wedding, eine Welt, die sie dem Leser in alltäglichen Episoden, witzigen Beiläufigkeiten, ernüchternden Betrachtungen nahebringen. Den Wedding hat Zschokke sich regelrecht vorgenommen. Die Verkäuferinnen im Supermarkt sind samt und sonders krank, die Pächter des Cafés um die Ecke wechseln ständig. Wer hier wohnt, will nur weg. So brillant schwarz und vernichtend räsonierte, deklamierte und schwadronierte sonst nur der Übertreibungskünstler Thomas Bernhard. Die wichtigsten Personen: Maurice, Schweizer Schriftsteller. Sein Freund, der Schauspieler Flavian; der persische Geschäftsmann Hamid, den Maurice aus der gemeinsamen Schweizer Internatszeit kennt und der ihn finanziell unterstützt. Die Freundin von Maurice. Eine Greisin, die seine Mutter ist.


Maurice radelt jeden Morgen in den trostlosen Berliner Nordosten und entdeckt auf dem Weg in sein »Kommunikationskontor«, das im Hinterhof eines ehemaligen Fabrikgebäudes liegt, die unscheinbarsten Dinge. Er erledigt für ausländische und andere orthographisch unsichere Mitbürger die Korrespondenzen mit Behörden, Krankenkassen und Vermietern. Maurice kann davon leben, mehr schlecht als recht.


Schlechter ergeht es dem Kleindarsteller Flavian, dessen Gesicht bei den Castingagenturen inzwischen als »verbraucht und nicht mehr vermittelbar« gilt. Im Gespräch mit Maurice führt er das große Wort. Doch beide verstecken sich voreinander, der eine hinter seinem Wortschwall, der andere, indem er schweigt. Dem Überlebenskünstler Hamid dagegen kann Maurice in langen persönlichen Briefen von sich erzählen. Reden kann Maurice mit der namenlos bleibenden Freundin, einer friedlich freundlich, blassen Figur, sein Halt. Die Mutter liebt ihren Sohn bedingungslos, doch er nicht sie: »Ihr Körper ist ausgeweidet von Dummheit.« Nüchtern, mit sich schützender Distanz, beobachtet er den körperlichen Verfall seiner Mutter, erinnert sich an ihr armseliges, angstbesetztes Leben. Lässt sie aber beim Sterben im trostlosen Altersheim nicht allein. Passagen, die für den Leser von verstörender Intensität sind.


Zschokkes Figuren sind müde. In ihrer Erfolglosigkeit glücklich eingerichtet, »trödeln« sie auf ihrem Lebensweg herum, »dem Start viel näher als dem Ziel«. Von Maurice heißt es, er sei bis heute dumm geblieben, lebe »in der beständigen Angst, enttarnt zu werden als das, was er ist und am Ende gewesen sein wird: ein Wissenskörner pickendes Huhn, das Huhn in seinen eigenen Armen«. Zu sehen als Bild auf dem Schutzumschlag. Der Autor hängt an seinem Stadtteil, an dessen Bewohnern, dem ganzen Ensemble. Doch drängt er sich dem Leser nicht auf, zwanglos darf dieser durch seine Welt flanieren. Festlegen will der Autor sich nicht, scheinbar wahllos lässt er die Figuren und Begebenheiten einander folgen. Fragmente sind ihm wichtig. Dem mit Zschokkes Werk vertrauten Leser kommt vieles bekannt vor. Er kennt den Berliner Nordosten, Hamid und den Cellospieler, der über sein Leben und die Suche nach dem Talent philosophiert: »Talent reift nicht. Es bleibt sein Leben lang eine Hoffnung«. »Warum ich das erzähle? Weil einen manchmal das Leben erwischt mit unfassbarer Schönheit und weil ich es wahrnehmen möchte, wenn es mir überraschend begegnet.«

"Neues Deutschland", Berlin, 15.3.2oo6

 



Dem Leben in die Augen schauen

Matthias Zschokke erzählt im Roman «Maurice mit Huhn» vom Glück des Faulen

«Maurice mit Huhn» ist ein Buch über das Naheliegende. Es lässt das Sichtbare und Fassbare, aus dem die Wirklichkeit wird, vorüberziehen. Matthias Zschokke holt daraus das Leseglück.

Eva Bachmann

Ist es ein Missgeschick oder vielleicht der brandaktuelle Kommentar zur Zeit, wenn in diesem Frühjahr der Vogelgrippe ein Buch erscheint, auf dessen Titelbild ein Kind zärtlich und vertrauensvoll ein Huhn an sich drückt? Die Koinzidenz ist zufällig – aber alles andere als unglücklich. Denn der Protagonist in diesem Roman verweigert grundsätzlich, sich auf eine medial gemachte Wirklichkeit einzulassen. Da werden sogar die einstürzenden Zwillingstürme zur Randbemerkung. Wichtig ist nicht, was grossgeredet wird. Sondern, was ihm tatsächlich zustösst. Und das ist nicht viel, aber eben real und darum wertvoll.

Die Gedanken ziehen vorbei

«Maurice mit Huhn» heisst das Bild von Albert Anker. Maurice, nach dem Sohn des Malers, heissen viele Seeländer Buben. Vielleicht auch Maurice, der Ich-Erzähler des Romans, der inzwischen in einem Aussenbezirk von Berlin gestrandet ist. Er mag dieses Bild, in dem das Leben erstarrt ist: Den Bauch des Huhns stellt er sich warm und prall vor, der Bub fühlt die weichen Flaumfedern an seinen Händen, er ist wach, stolz auf das Huhn – und weiss, dass er sich nicht rühren darf, damit das Bild etwas für die Ewigkeit wird. Ankers Kinderporträts werden heute hoch gehandelt, hängen in Museen; «die meisten Originale befinden sich jedoch in privatem Besitz. Wegen ihrer Motive und der naturalistischen Malweise sind es eher konservative, politisch reaktionäre Kreise, in denen sie gesammelt werden.»

So fliessen die Gedanken bei Maurice von einem zum anderen. «Maurice ist faul. Seinen Gedanken vermag er nicht zu folgen. Sie kommen vorbei, sehen ihn dösen, lassen ihn in Frieden und ziehen weiter.» Maurice hat nichts zu tun, er sitzt in seinem Kommunikationskontor und hört einer unbekannten Cellistin auf der anderen Seite der Wand beim Üben zu. Oder er fährt mit dem Velo durch Berlin, trinkt einen Milchkaffee in der Cafékonditorei, wo auch ein Arbeitsloser unauffällig Pause vom Nichtstun macht, zu Hause lebt er neben einer namenlosen Frau, die aus Gewohnheit seine Geliebte ist. Alles zieht an ihm vorbei. Unstrukturiert wächst sich das, was er sieht, in seinem Kopf aus und drängt in den Roman.

Eine Geschichte gibt es nicht. Matthias Zschokke schreibt eine Reihe kleiner Genrebilder mit einigen wiederkehrenden Motiven zu einem Buch zusammen. Als Stadtwanderer mit einem Blick für das Unauffällige gleicht er darin Robert Walser, nur seine Beobachtungen sind heutiger, es geht um Obdachlose, um billige Schuhe, das Gras im Asphalt, die Glaspaläste der Banken. Doch wie bei Walser sind Perlen in diese Prosa geknüpft, Sätze, die in aller Einfachheit von universell Gültigem handeln. «Man weiss selten, dass man glücklich ist, meistens nur, dass man glücklich war.»

Vom Wert des Erlebens

Maurices Lieblingsthema ist das Sein und Leben in der Wirklichkeit. In der Zeitung steht, «dass ein am deutschen Geisteshimmel neu aufsteigender Denkstern öffentlich die Meinung vertrete, ein Schriftsteller müsse erst etwas Herausragendes erlebt haben, etwa eine Prise KZ-Luft geschnuppert, bevor er anfangen dürfe zu schreiben.» Für Maurice ist der Duft von Lindenblüten im Juni herausragend genug. «Wenn wir jederzeit offen genug wären, zu sehen, was uns umgibt, dann hätten wir ein Leben voller Überraschungen, den Traum eines Lebens, einen Roman.»

Maurice verachtet jene, die sich in höllische Aktivitäten, gesellschaftliche Verpflichtungen, endloses Reden stürzen, um das Bedrohliche in ihrem Inneren zu übertönen, «um nicht endgültig den Verstand zu verlieren, was unweigerlich geschehen würde, wenn sie sich der Wirklichkeit aussetzen würden». Maurice überlässt sich der Wucht dessen, was von aussen auf ihn anstürmt, duldend, sich freuend, meistens still. «Stumme, antriebslose Menschen sind nicht unbedingt als solche geboren worden. Oft schaffen sie es bloss nicht länger, ihren von ihnen als solchen erkannten Blödsinn weiterhin zu äussern.»

Sensationslos

Bei so einem Satz müsste jeder verstummen – der Autor eingeschlossen. Matthias Zschokke, der seit vielen Jahren in Berlin lebende Berner Schriftsteller, Filmemacher und Theaterautor, schreibt zum Glück weiter. Den überragend konstruierten Plot hat er sich auch in diesem Buch leichthändig geschenkt, er vertraut auf das Glück des Flaneurs und seines Funds am Wegrand. Zum Glück für die Leser. Denn die Sensationslosigkeit gibt auch uns Gelegenheit, nicht der Story hinterher zu lesen, sondern auf den Rand zu achten. Auf die kleinen Kerben, die der Text dem Zeitgeist zufügt. Oder auf Zschokkes aussergewöhnliche Beschreibungen, etwa davon, wie sich die Farben der Dinge auf seinem Tisch verändern, wenn die Sonne hinter einer Wolke verschwindet. Wer das liest, denkt nicht so schnell daran, das Buch wegzulegen, um ein Tagwerk zu erledigen.

"St. Galler Tagblatt", 10.4.2oo6




Wo sich «nicht» auf «Licht» reimt
Peter Rüedi

Leben und leiden lernen beim Lesen: Matthias Zschokkes «Maurice mit Huhn» macht’s möglich.

Was sollen wir von so einem halten? Er sitzt im Nordosten der Stadt, wo Berlin am trostlosesten ist und sich längst aus dem Staub und Russ und Mief und Moder gemacht hat, wer noch einen Funken Hoffnung in sich trug; in diesem Niemandsland hockt der Mensch mit dem schönen Namen Maurice (einen Helden wollen wir ihn nicht einmal im negativen Sinn nennen) am Schreibtisch eines «Kommunikationskontors», den er vor undenkbaren Zeiten eingerichtet hat, um ausländischen oder sonst in deutscher Rechtschreibung behinderten Mitbürgern im Umgang mit der Welt, vor allem den Behörden, beizustehen. Er tut nichts.

«Wieder nichts zu tun gehabt»: So beginnt der «Roman». Die Leute können sich seine Dienste längst nicht mehr leisten, in diesem grauen, fahlen, petrolschwarzen, stumpfen, schlammfarbigen wüsten Land, wo «der Rost die Zeiger der Uhr annagt, die draussen an der Mauer hängt, rechts vor meinem Fenster, wenn die grünen Wiesen grau werden, die roten Dächer grau, wenn die Gebete, Seufzer und Flüche darüber zart aufsteigen wie Rauch im Winter, all dieses Material, aus dem das Bedürfnis nach Veränderung gekeltert wird». Alles fällt, an allem zieht mächtig die Schwerkraft. «Seit ich meine Zeit hier absitze», lesen wir, und: «Ich habe die letzten Monate wieder mit nichts als Aufstehen und Insbettgehen vertrödelt, ohne dass mir auch nur eine Minute daraus zur Erzählung geronnen wäre», und: «Maurice musste erkennen, dass auch er immer noch auf demselben Weg herumtrödelte, auf dem er schon immer herumgetrödelt hatte, auf dem Weg zu sich, und zwar wie alle: dem Start viel näher als dem Ziel.» Ein gnadenloser Langweiler, dieser Berliner Oblomow.

Der ihn erfunden und mit dem einen oder andern autobiografischen Detail ausgestattet hat (wie eine Voodoo-Puppe, deren Magie ohne ein paar Haare oder intime Accessoires nicht funktioniert ), muss nach einer Reihe von Prosaveröffentlichungen (u.a. «Max», 1982, «Der dicke Dichter», 1995), nach mehreren Theaterstücken und einigen Filmen – Matthias Zschokke muss, bei allem Lob, das ihm über die Jahre die Kritik zukommen liess, auch in seinem fünfzigsten Jahr damit rechnen, dass er vom sogenannten Normalleser selbst für einen Langweiler gehalten wird. Der ist zwar ein Phantom, der Normalleser, aber ein weitverbreitetes, aus allen zusammengesetzt, die, eben weil ihnen das «eigentliche» Leben von Alltag zu Alltag abhanden kommt, sich gern an Geschichten halten mit Hand und Fuss, Anfang und Ende, Aktionen und Reaktionen, Ursachen und Wirkungen, Leichen, Polizisten, Intrigen, Liebe, Leidenschaft, Schicksal, Tod. Das ist ein Zitat Zschokkes, und so geht es weiter: «Diese Geschichten schreiben sie nieder und verkürzen sich auf solche Weise immerhin ihre lange Weile.»

 

Langeweile verlängert den Tag


Zschokke dagegen ist ein «Langweiler» aus Vorsatz. Ein Metaphysiker der Langeweile und der Ereignislosigkeit. «In jeder Sekunde geschieht alles, doch wir sehen es nicht und empfinden Stillstand. Wir glauben, interessant sei das Aussergewöhnliche, die Rhythmusstörung, der Aussetzer. Das Grandiose ist aber der Rhythmus, der Fluss, die Allgegenwart. Wenn wir jederzeit offen genug wären, zu sehen, was uns umgibt, dann hätten wir ein Leben voller Überraschungen, den Traum eines Lebens, einen Roman, ein ewiges Abenteuer. Man stelle sich bloss vor, wir würden, wo immer wir gehen und stehen, Spatzen sehen, Hunde, Winde, die sich merkwürdig verhalten, Mücken, Menschen – immer wieder natürlich und vor allem Menschen, von denen wir am allermeisten glaubten, längst zu wissen, wie sie sind, die wir für unseresgleichen halten und demnach für nicht weiter beachtenswert; doch wie sie sich verhalten, ist immer neu ganz und gar unbegreiflich.»

Das liest sich wie eine in dieses Buch, «Maurice mit Huhn», eingeschriebene Gebrauchsanleitung und ist auch eine – nicht ohne Selbstbewusstsein, ja, bei aller Selbstverkleinerung, die Zschokke sonst in der unverkennbaren Nachfolge Robert Walsers betreibt, nicht ohne eine gewisse Arroganz vorgetragen. Allein, anders lässt sich diese Ästhetik der gleitenden Assoziationen und der Beiläufigkeit nicht verstehen denn als ein Versuch, die Zeit anzuhalten in einem Flirren von disparaten Partikeln, Erzählperspektiven und (relativen) Verweigerungen von Aussergewöhnlichem. Die Preisgabe dessen, was die Literaturwissenschaft «auktoriale Erzählinstanz» nennt, also der Verzicht des Autors auf die Herrschaft über seinen Stoff, ist ein Akt der poetischen Befreiung. Wie der bewusste Umgang mit der langen Weile.

Zschokkes Haltung ist mit der eines Kindes vergleichbar, das sich einen «ganz langweiligen Tag» wünscht, weil «der nicht so schnell vorbei ist». Die Langeweile, die Faulheit als Methode: Sie macht die Zeit bewusst (die andere in ihrer Gier nach Ereignis und Spannung und Handlung totschlagen). «Maurice ist faul. Seinen Gedanken vermag er nicht zu folgen. Sie kommen vorbei, sehen ihn dösen, lassen ihn in Frieden und ziehen weiter. Er ist nicht in der Lage, einen von ihnen festzuhalten. Sie sind zu schnell.» Und: «Was für ein befreiender Tag, all die unterdrückten Dummheiten, die zurückgehaltenen Wörter und Laute auf die offene Wiese hinauszutreiben, sie laufen zu lassen, sie galoppieren und Sprünge machen zu sehen.»

Das ist, versteht sich, ein erzählerischer Trick. Eine Quadratur des Kreises. Wie schön (und im Hinblick auf Zschokke bedenkenswert) der Satz von Racine ist, nach welchem Kunst «etwas aus nichts machen» sei («L’art c’est faire quelque chose de rien»), so gilt doch selbst in diesen flüchtigen Sphären zumindest im übertragenen Sinn der Energiesatz: «Von nichts kommt nichts.» Das Nichts ist nicht ein pathetisch beschworenes schwarzes Loch – lesen wir mal einen Satz wie «Aus den geöffneten Fenstern gähnte schwarz das Nichts», nimmt sich der aus wie ein Stilbruch, wie ein Rückwärtssalto in eine Art Expressionismus. Das Nichts ist das Auge, wenn nicht eines erzählerischen Taifuns, so doch einer frischen und unvorhersehbaren poetischen Brise. Bei allen Strategien der Verfinsterung (sie bewirken gelegentlich einen geradezu heiteren Grimm, wie die Suaden von Thomas Bernhard) hat Zschokke eine ungemein leichte Hand, die Gelassenheit, den Wörtern, Gedanken, Sätzen die Zügel schiessen zu lassen und ein Klima der Beiläufigkeit herzustellen. Einen Hang zur unvermittelten Idylle hat er auch.

 

Humor hat er auch


Wie alle seine Bücher ist «Maurice mit Huhn» – der Titel ist der des berührenden Porträts, das Albert Anker von seinem fünfjährigen Sohn gemalt hat, es ist auf dem Schutzumschlag zu sehen: Einen Teil seiner Jugend verbrachte Zschokke im Seeland, im Anker-Dorf Ins –; wie alle Bücher dieses Autors ist auch dieses eine ganz unvergleichliche Mischung aus mutwilliger Verspieltheit und Melancholie (mit zum Glück nur sehr gelegentlichen Ausrutschern ins Preziöse: «Er trank in kleinen Schlucken und hatte dabei das Gefühl, in sich einen starken Vogel mit schillerndem Gefieder zu tränken» – na ja). Die unzeitgemässe Verbindung von Taugenichts und Weltschmerz («Eine gewaltige Trostlosigkeit ergreift ihn und füllt ihn süss aus», heisst es einmal) macht diese Prosa nicht eben tauglich für Hardcore-Inhaltisten oder auf «Handlung» Versessene unter den Lesern. Aber die, die ein Ohr dafür haben (oder auch nur die Bereitschaft hinzuhören), beschenkt sie mit einem eigenen erzählerischen Sound. Und mit einer auffallend sprachgestischen Komik. Denn Humor hat Zschokke auch.

Ersparen wir uns die Sisyphusarbeit einer Nacherzählung. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit oder Systematik, mit der dieser fliessenden, spriessenden Prosa ohnehin nicht beizukommen ist: Die Rede ist in «Maurice mit Huhn» vom Mann Maurice und vom Bild dieses Namens; von einem in Genf weilenden reichen Geschäftsmann, an den gelegentlich Briefe geschrieben werden; von paradiesischen Ahnungen, die ein hinter einer Mauer erklingendes Cello auslöst (im Lauf des Texts, den wir nicht eine Geschichte nennen wollen, verwandelt es sich in ein Piano, zwischenzeitlich sogar in ein Fagott); von einer Begegnung mit dem verbitterten Cellisten und der zauberhaften Cellistin (beide fantasiert: Letztere in einer staunenswerten erotischen Slowmotion); von einer Frau, die die Rolle seiner Geliebten, einer Greisin, die die seiner Mutter übernimmt (Zschokke ist ausgebildeter Schauspieler mit einer Vergangenheit bei Zadek und anderswo); von Mitterrands letztem Silvester-Abendmahl, bei welchem der Todkranke gierig Ortolane verschlingt (geschützte Fettammern); von einem Städteflug nach Turin und Kongressen in Flughafengebäuden; von einer Rückkehr ins Dorf der Jugend; von einem fulminanten Lob der Trägheit und dem Porträt eines veritablen Heroen der Faulheit; vom wunschlosen Unglück des Betreibers einer bankrotten Druckpresse. Und immer wieder von bleichen, käsigen, verstummenden, zerfallenden Menschen in den Kaffees, Bäckereien, Metzgereien oder Papeterien des «verfluchten Orts» im Berliner Nordosten, von all seinen Grautönen und tiefen Himmeln und Trostlosigkeiten. Und ja, das auch: Vom bleichen und etwas faden unvergleichlichen Genuss eines original bernischen Gnagis erzählt es auch, dieses Buch.

Wer wie Zschokke von nichts erzählt, erzählt von Gott und der Welt. Also von allem.

"Die Weltwoche", Zürich, Nr.17/ 2oo6

 


 


Wonne der Langsamkeit
 
Hinreißend kritisch: Matthias Zschokkes "Maurice mit Huhn"
 
VON HANSJÖRG GRAF
 

Maurice mit Huhn heißt der neue Roman von Matthias Zschokke, dem in der Schweiz geborenen, aber seit Jahrzehnten in Berlin lebenden Autor und Filmemacher. Der Buchtitel ist ebenso erklärungsbedürftig wie das gleichnamige Bildmotiv auf dem Umschlag. Porträtiert ist der etwa fünfjährige Sohn des Malers Albert Anker (1831 - 1910), der im gleichen Dorf des Kantons Bern aufgewachsen ist, aus dem Zschokke stammt. Maurice, der mit seinem "blauen, rockartigen Bauernhemd" auch ein Mädchen sein könnte, presst ein weißes Huhn an seine Brust; "nein, er presst es nicht an sich, er trägt es vielmehr, liebevoll an sich geschmiegt auf seinen Armen."

Wer dieses Bild "übersetzt", entdeckt in ihm eine zeitlich begrenzte Rückkehr des Verlorenen Sohnes: Zschokkes Maurice, ein Oblomow des 21. Jahrhunderts, zieht es hin und wieder an die Stätten seiner Kindheit; er gestattet sich kleine Fluchten. Dennoch hält er am Provisorium Berlin fest, wo er im Nordosten der Stadt ein "Kommunikationskontor" betreibt, doch alle sozialen Kontakte meidet. Ist dieser Solitär ein Wanderer zwischen zwei Welten? Sind diese Welten nur im Traum Realität?

Maurice macht sich nichts aus Fakten; aber ein Tag ohne Events wird für ihn zum Ereignis. So erlebt er einen Sommertag in der Landschaft seiner Schweizer Anfänge. Es ist ein "schöner Tag" für ihn. Im Gastgarten eines Hotels riskiert er einen Smalltalk mit einer Dame vom Nebentisch. Der Gegenstand dieses nur aus wenigen Sätzen bestehenden Gesprächs ist unverfänglich, ja nebensächlich; bloß die Tatsache, dass es zustande kommt, zählt: "Er hätte ihr gern noch gesagt, sie habe ihm Mut gemacht weiterzuleben, er habe ihr gern beim Essen zugeschaut." Doch dazu kommt es nicht mehr.

"Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt", heißt es bei Ludwig Wittgenstein. Das gilt auch für Maurice: "Kaum öffnet er seinen Mund, macht er Fehler und verdirbt alles. Ein Fall für den Psychiater, sagen einige. Vielleicht mag er sich aber einfach nicht erklären, weil ihm das Ungeklärte lieber ist." Ohne Zweifel: Zschokkes Hauptdarsteller - die Kette reicht von Max (1982) und Prinz Hans (1984) über ErSieEs (1986) bis zum Dicken Dichter (1995) und dem Neuen Nachbarn (2002) - leben in einer "Saturn-Zeit", um mit Anselm Kiefer zu sprechen; sie hören den Hufschlag der apokalyptischen Reiter; ihre Schwermut ist von Weltverständnis und Zeitkritik geprägt. Doch von Augenblick zu Augenblick wird ihnen bewusst, dass es sich entgegen aller Erfahrung lohnt, da zu sein. Maurice erlebt diesen Moment im Gastgarten eines Schweizer Hotels. Er entdeckt die Poesie in der Prosa seines Lebens.

"Dem Ziellosen nachjagen, dem Unbrauchbaren, Überflüssigen. Sich noch einmal und noch einmal wiederholen. Darauf beharren. Lieber sich zerstören lassen, als eine bestimmte Richtung einzuschlagen. Lieber sich von ihm überrollen lassen, als auf den Wagen der Vernunft aufzuspringen." Was Matthias Zschokke auf den letzten Seiten seines Romans Maurice mit Huhn mit dem Nachdruck von Maximen formuliert, entzieht sich einer eingleisigen Erklärung: Es sind Leitsätze, die das Glück des Irregulären feiern; gleichzeitig erinnern sie aber auch an das "Programm" eines Romans, der diese Gattungsbezeichnung nach allen Regeln der Kunst ad absurdum führt. Was vorliegt, ist ein Pasticcio aus Geschichten, Skizzen, Lesestücken und Denkbildern - um nur die wichtigsten Varianten von Zschokkes Kleiner Prosa zu nennen. Von einem roten Faden kann nicht die Rede sein, wohl aber von der Klammer, die Maurice' "Suche nach Wirklichkeit" bildet. Was auf den ersten Blick plakativ wirken mag, präzisiert schon der nachfolgende Satz, wo vom "Verlangen nach Welt, Blut, Luft, Strafe, Schweiß" gesprochen wird.

Das Unscheinbare entpuppt sich als das Allumfassende. Zschokkes Minimalismus erschließt einen Makrokosmos: Maurice, der alles sieht, ohne selbst gesehen zu werden, beobachtet einen Rentner, der mit Hilfe eines Feldstechers einen Plattenbau im Visier hat. "Warum der Rentner die Rede wert ist? Als er auf die Straße trat, öffnete sich vor Maurice einen Moment lang der ganze kleine Tag, das ganze Leben."

Zschokke beschreibt Maurice als einen, "der keinen Tag vergehen lässt, ohne sich mit dem gewöhnlichen Leben zu beschäftigen". Das Leben als Lektion: Der enzyklopädische Ansatz in Maurice mit Huhn äußert sich auch in Gedankengängen, die von der Gentechnologie über Goethes Faust und den Jugoslawienkrieg bis zu den Obdachlosen auf dem Berliner Nettelbeckplatz reichen. Zschokke will denen, "die noch leben, erzählen, wie es war, als sie lebten". Er fühlt sich einer großen aufklärerischen Tradition verbunden, indem er rigoros zwischen Sein und Schein unterscheidet.

Die Polyphonie von Maurice mit Huhn - "Was für ein Durcheinander" - schließt nicht aus, dass gerade in den Randbemerkungen und Klammersätzen sich der Geist von Zschokkes Roman unmittelbar artikuliert. Im Beiseitesprechen verwandelt sich die Marginalie in einen Schlüsseltext: "Was für ein Vergnügen, in einer Stadt zu leben, die so gut duftet." So mutiert der Melancholiker zum Hedonisten; Widerspruchsgeist und Sanftmut präsentieren sich als Gegensatzpaar.

Wer sich auf Zschokkes siebenten Roman Maurice mit Huhn einlässt, darf nicht mit Action rechnen; dafür tauscht er die Wonnen der Langsamkeit ein. Es zahlt sich aus, mit Maurice auf die Suche nach einem Cello zu gehen, dessen Klänge die Fantasie des Hörers in Trab setzen; das Tempo des Erzählers verführt den Leser aber auch dazu, ganze Passagen und einzelne Sätze auf der Zunge zergehen zu lassen. Doch wer sich über die Angemessenheit solcher Vergleiche mokiert, lese den letzten Satz des Romans: Maurice und seine Freundin besuchen ein Restaurant. "Dann betrachten sie glücklich das Essen vor sich auf dem Tisch und schweifen in Gedanken ab."

"Frankfurter Rundschau", 3.5.2oo6




Der Mut des Hinschauens

Anna Stüssi

Maurice will schon auf der ersten Seite lieber zuhause bleiben, als sich mit einem Freund zum Nachtessen treffen - er habe ja nichts zu erzählen. «Wie angenehm, mit niemandem reden zu müssen». Der Einzelgänger findet sich selber nichtssagend und langweilig, auch dumm und faul, gemessen an denjenigen, die es zu etwas gebracht haben und sich darzustellen und zu verkaufen wissen, im boomenden Berlin und anderswo. Maurices Scham ist im Kern ein hoher Anspruch an Wahrhaftigkeit, eine kritische Verweigerung des Meinungs-Geschwätzes und der medialen Wirklichkeitsbehauptung. Maurice denkt anders, «zu allem fiel ihm das eine oder andere ein, gleichzeitig aber auch immer dessen Gegenteil», in seinem Kopf «blubbert» es. Für einen Autor wie Zschokke ist diese Schwäche ein Glücksfall. Er hält gleichsam sein Ohr an Maurices schweigenden Kopf, lauscht auf das darin eingeschlossene Rauschen, die hakenschlagenden Gedanken, das Gefühlsgemenge und befreit sie in angemessene Sprache. Wie Kälber im Frühling springen die «unterdrückten Dummheiten» auf die Wiese hinaus, heisst es einmal. Es zeigt sich, dass Maurices zielloses bescheidenes Dahinleben seine ganz eigene Erlebnisdichte hat, allerdings nicht das gewichtige Schicksal einer Romanfigur mit linearer Biographie. Maurice ist schweifendes Sinnieren, Beobachten, Phantasieren. Wenn er ein poetischer Mensch ist, dann vor allem, weil die Umstände ihm keine andere Möglichkeit lassen: der Unkommunikative hat in seinem «Kommunikationskontor» wenig Kun­den und viel arbeitslose, leere Zeit. Zeit, in Zeitungen absonderliche Nachrichten und im Duden Zufalls-Wörter aufzuschnappen, Briefe an Freunde zu schreiben, die er lieber nicht trifft, oder im Quartier (es handelt sich um den Randbezirk Wedding) den wirtschaftlichen Niedergang und die Zeichen der Verwahrlosung zu beobachten. Radikal, fast wie bei Beckett, ist der Blick auf Greisenköpfe in Altenheimen, auf grausigen Zerfall, auf Hässlichkeit und menschliche Bos- und Dummheit. Hilfloser Zorn und verletzte Menschenfreundlichkeit ist spürbar.

Gibt es einen Ausweg aus dem Labyrinth der Vergeblichkeit? Vielleicht ist es der geheimnisvolle Cello-Ton, der bisweilen im Hinterhaus an Maurices Ohr dringt. Zwar entzieht er sich der Nachforschung, lässt sich nicht orten, aber gerade deswegen beflügelt er Maurices Sehnsucht nach Glück, Schönheit, Liebe, die sich in der Vorstellung entfaltet - und an der Realität zerschellt.

Maurice kann sich zwar durchaus im Alltag an Kleinigkeiten freuen, am Fahrgefühl auf neuem Bodenbelag oder am Duft der Lindenblüten; die Fussspur ei­ner Frau im Sand möchte er küssen und ein Wollleibchen für seine treuen Dienste umarmen. Auch seiner Freundin ist er ohne viel Worte zugetan. Man ist versucht, in ihm den Lebenskünstler zu sehen. Dann wechselt der Ton, und Maurice beisst sich grimmig fest an einer Zeiterscheinung, die ihm zuwider ist. Seine nicht ganz freiwillige Musse erlaubt ihm, die beiläufige Grazie des Daseins ebenso wie die Symptome der gesellschaftlichen Krankheiten genau, bisweilen satirisch wahrzunehmen. Wenn er bemerkt, er habe zunehmend Freude an Tieren und Pflanzen, so tut man gut daran, den Nachbarsatz mitzuhören: «Er hat den Eindruck, seine Freude hänge damit zusammen, dass ihn solche Anblicke ermutigten, nicht zu verzagen.»

Ist Maurices zurückgezogenes Dasein verschwiegene Panik vor Niedergang und Tod oder ist es Gelassenheit eines Weisen, der sich von den Gesetzen der Tüchtigen nicht mehr drücken lässt? Klingt im Mut des Hinschauens und in der Lust des Abschweifens hintangehaltene Verzweiflung mit? Man mag Maurice gerade darum so gern, weil er sich und die Welt nicht erklären kann, aber hellwach träumend durch die verstörende Wirklichkeit geht, in schwankender Zuneigung, ohne es besser wissen zu wollen. Er hält sein Leben sozusagen im Arm wie das Kind auf dem titelgebenden Anker-Bild sein Huhn, das stillhält für den ewigen Moment der Kunst.

"Reformatio", Zürich,  Nr.2/ 2oo6

 


 

Prototyp Tunichtgut
Erotik des Zufälligen: Matthias Zschokke flaniert durch Berlin

Pia Reinacher  

Dieser Roman des Schweizer Schriftstellers Matthias Zschokke übt einen subtilen Zwang zur Langsamkeit aus. Wer seine poetischen Räume in Windeseile durchschreiten will, wird bereits auf den ersten Seiten gebremst. Eine Schule der Verzögerung, des Verweilens, des Sinnierens. Sein Held, "Maurice mit Huhn", ist ein moderner Taugenichts, der in seinem Büro in einem armseligen Berliner Stadtteil sitzt und meistens nichts zu tun hat. Mit dem Fahrrad fährt er jeden Tag von der Wohnung am Bahnhof Zoo in sein Kommunikationskontor, das er im Alleingang führt. Er erledigt Schreibarbeiten für Einwanderer, die Hilfe brauchen. Allerdings immer weniger. Ob sie sich seine Unterstützung nicht mehr leisten können, ob sie ihm die Arbeit nicht mehr zutrauen - es kümmert ihn nicht.



Was er wirklich mit Ausdauer verfolgt, ist die Anstrengung, keine Panik aufkommen zu lassen über das nutzlose Dahinkriechen der Tage. Ab und zu schreibt er Briefe an Hamid, den ehemaligen Geschäftspartner. Dessen Kaviarfirma hat sich zu einem Imperium entwickelt und ihn so reich gemacht, daß er seine Frau, eine Berliner Schauspielerin, verlassen und den Sohn in einem teuren Schweizer Internat unterbringen konnte.

Schließlich hat er sich nach Genf abgesetzt. Von da aus betreibt er lukrative Geschäfte und jongliert gelenkig mit Gesetz und Übertretung. Mit Maurice unterhält er eine Art Freundschaft, wenn auch eher einseitig. Maurice schreibt, Hamid telefoniert oder taucht unvermittelt in Berlin auf, um ihm einen Handel vorzuschlagen, bei dem sich steuerliche Vorteile ergaunern lassen. Maurice nimmt solche Angebote dankend entgegen. Moral ist nicht die Sache des kleinen Schwindlers und Phantasten, der die Welt mit dem ihm eigenen Blick abmißt. "Debauche", das französische Wort für "Ausschweifung", heißt sein wahres Lebensmotto. Es führt das liederliche Leben eines charmanten Flaneurs, der die Welt besichtigt, ohne sich an ihr zu beteiligen. Nützlichkeiten erscheinen ihm fremd. Auf Superlative reagiert er erschreckt, pathetische Gesten findet er fragwürdig, Leistungen verdächtig. Jede Art von Abschweifung dagegen begrüßt er mit hinreißender Begeisterung.

Der in Bern aufgewachsene Matthias Zschokke, der zuerst Schauspieler wurde und seit 1980 als Schriftsteller, Theaterautor und Filmregisseur in Berlin lebt, spielte von den literarischen Anfängen an mit diesem leisen Verweigerungston. Seine Helden waren schon immer Tunichtgute, die sich - abgestoßen von geschäftigem Treiben und überbordender Lebensgier - in ein poetisches Niemandsland absetzten. Mit dem neuen Roman "Maurice mit Huhn" hat der Schriftsteller den Prototyp seiner eigentümlichen Erzählmelodie geschaffen. Dabei orientiert er sich an zwei Schweizer Vorbildern, die in der Berner Heimat eine wichtige Rolle spielten: dem Maler Albert Anker und dem Schriftsteller Robert Walser. Beide verbanden das Provinzielle mit dem Weltstädtischen, beide camouflierten das Abgründige mit dem Naiven.

Maurice, die Figur im Zentrum, stammt aus dem gleichen Berner Dorf wie der Maler. Ankers Bild "Maurice mit Huhn" lieh dem Helden den Namen und ist die Quelle, aus der alle poetischen Beobachtungen sprudeln. Einmal beschreibt der Schriftsteller den Knaben mit dem ruhigen, leicht hypnotisierten Huhn auf dem Arm, die Beine hängend, den Kopf abwartend geneigt - wobei es jeden Augenblick zum Leben erwachen und dem Knaben mit den spitzen, starken Schnabel blutende Wunden zufügen könnte.

Was ihm mit dem Motiv des Malers gelingt, nämlich die poetische Aufladung des eigenen Textes mit versteckten Bedeutungen, mißrät ihm allerdings mit dem literarischen Vorbild. Diesem kommt er so nahe, daß er sich daran verbrennt. Anstatt eine produktive Spannung zwischen Fremdem und Eigenem zu erzeugen, entsteht ein leicht epigonaler Eindruck. In Passagen, in denen sich Maurices Onkel bei seiner Gönnerin für handgestrickte Socken bedankt oder der Held in heftige Zuneigung zu engen, beigefarbenen, über den Boden tänzelnden Stöckelschuhen entflammt, erdrückt das Original die Kopie.

Trotzdem übt Matthias Zschokkes Romankonstruktion mit ihrer manchmal verbundenen, manchmal lose assoziierten Reihung von Mikrogeschichten eine seltsame Magie aus. Gewiß, das Buch hat einen Stich ins Altmodische, nimmt aber bei genauerem Besehen durch seine unverdrossene Konsequenz und seine fröhliche Zähigkeit doch wieder für sich ein. Die Nebensächlichkeiten, Belanglosigkeiten und Beobachtungsfundstücke, die vor den Augen des Lesers mit provozierender Nachlässigkeit ausgebreitet werden, haben eine leicht anästhesierende Wirkung. Zunehmend schwindet das Gefühl für die täglichen Aufgeregtheiten und macht einer Empfänglichkeit für die schillernden Nichtigkeiten und die Erotik des Zufälligen Platz.

Hinter dem freundlichen Plauderton verstecken sich das Aufbegehren gegen den mechanisch ratternden Alltag, die Auflehnung gegen das unverbindliche Surfen durchs Leben. Damit gelingt es Matthias Zschokke für einen kurzen Augenblick, die Welt aus den Angeln zu heben und die freie Sicht auf das Poetische zu eröffnen.

"Frankfurter Allgemeine Zeitung", 8.6.2oo6


 



 

Pandämonium von Zeitgenossen

Die Geldgierigen, die Rhetorik-Meister, die Sentimentalen, die Liebesschwärmer, die Faulen... Matthias Zschokke beschreibt sie mit der Sachlichkeit des Illusionslosen

Sylvia M. Patsch

Ich liebe Menschen, die alles um sich herum vergessen und nur an die eine Sache denken, die sie gerade tun." Ein weiser Grundsatz. Auch fürs Lesen. Bei der Lektüre des neuen Buches von Matthias Zschokke sollte die vollkommene Konzentration nicht schwer fallen, besitzt es doch die verführerische Qualität, vom Leser unaufdringlich Stellungnahme einzufordern.

Beobachten und Denken

Der Ich-Erzähler des Romans "Maurice mit Huhn" ist ein Mann mit Zeit. Als Verfasser von Behörden-Schriftverkehr für des Deutschen nicht mächtige Ausländer in Berlin, einem selbst kreierten Beruf, hat er nicht übermäßig viel zu  tun. So gibt er sich dem Beobachten und Denken hin.

Ein Roman im klassischen Sinn mit einer Handlung, die auf einen Höhepunkt zuläuft, und mit Charakteren in Konflikten ist „Maurice mit Huhn" nicht. Eher ein Gedanken-Gemälde, entsprechend dem Umschlag des Buches, das den Ich-Erzähler als kleines Kind mit einem Huhn in den Händen zeigt, ein Bild, das der Vater des Ich-Erzählers gemalt hat. Maurice malt mit Worten, aus denen ein tristes äußeres Panorama Berlins entsteht und ein subtil getöntes vom Innenleben eines Unbestechlichen.

Was fesselt die Leserin, wenn es keine Handlung, keine Konflikte, ja nicht einmal das übliche Erzähltempus, die Mitvergangenheit, gibt, sondern nur das Präsens? Ein feines Gewebe unerhörter, erschreckender, erheiternder, frecher, trauriger, ironischer Gedanken. Von Anfang an spürt der Leser: Hier schreibt einer ohne Schere im Kopf. Er räsoniert ohne Schaum vor dem Mund, mit der Sachlichkeit des Illusionslosen: „An sich geht es mir gut, wenn da nur nicht Tag für Tag dieses Leben wäre."

Illusionslos

Man kann nicht aufhören mit dem Lesen, denn dieses Buch weckt von Thema zu Thema mehr die Neugier: Was hat dieser 1954 in Bern geborene Schriftsteller, Theaterautor und Filmemacher, der seit 30 Jahren in Berlin lebt, über den Zeitgeist zu sagen, über das Alter, die Liebe, das Geld, die Freundschaft? Also eine Sammlung von Aphorismen, eingekleidet in ein bisschen Ort und Zeit? Nein, dieses Buch drückt die Sehnsucht nach einem Zustand aus, in dem das Innere mit dem Äußeren in Einklang ruht.

Das Äußere

Das Äußere, das sind Freunde, deren hohles Geschwätz der Erzähler schon auswendig kennt. Aber wer hat den Mut, mit alten Freunden zu brechen? Maurice. Das Äußere ist die Greisin, die Mutter des Ich-Erzählers, deren Ende der Sohn beiwohnt, um zu erkennen, dass von Sterbenden keine „erhellenden Mitteilungen" erwartet werden dürfen. Das Äußere, das sind die Macher, denen Zögern und Zweifeln fremd ist und die aus dem Leben hinausstolpern, noch immer durchdrungen von der eigenen Wichtigkeit. Die Geldgierigen, die Rhetorik-Meister, welche mit ihrer Beredtheit ihre Gedankenknappheit vertuschen, die Sentimentalen, die Liebesschwärmer, die Künstler, die Faulen, die Politiker und ihre Redenschreiber, die politisch korrekten Pädagogen - was für ein Pandämonium von Zeitgenossen: „Die Strahlungen, die heutzutage auf den Menschen einwirken, sind vielfältig und stark, dass man in Bleianzügen herumlaufen müsste, um vor ihnen gefeit zu sein. Ganz besonders von oben dringen sie, durch die Schädeldecke, in uns hinein und bringen den Organismus durcheinander. Man muss sich das vorstellen wie Mikrowellen aus dem All. Sie bringen unser Hirn in Schwingungen und wärmen es, wodurch es zu Mus verkocht."

Kein Nörgler-Buch

Ein Nörgler-Buch? Mitnichten der Ich-Erzähler erhebt sich nie über die anderen, er schaut nur, hört, notiert, denkt z. B. warum es heute so wenige Genies gibt. Und antwortet,  indem er Schiller zitiert: „Gelegenheitlich muss ich anmerken, dass ich nunmehr der Meinung bin, dass Genie, wo nicht unterdrückt, doch entsetzlich zurückwachsen,  zusammenschrumpfen kann, wenn ihm der Stoß von außen fehlt."

Dieses Buch ist ein Stoß von außen. Es wird keine Genies aus den Lesern machen, aber ihnen helfen, ihr tägliches Leben mit dem nötigen inneren Abstand zu betrachten. Soeben hat Zschokke für dieses leise Buch mir viel Sprengkraft den Solothurner Literaturpreis 2006 erhalten.

"Die Furche", Wien, Nr.23/ 8. Juni 2oo6


 

 

Wissen ist grauenvoll

 

UNTERWEGS. Matthias Zschokke spaziert an den Rändern des Alltags.

 

Karin Grossmann

 

Am Ende sitzt Maurice mit seiner Freundin in einem Restaurant. "Dann betrachten beide glücklich das Essen vor sich auf dem Tisch und schweifen in Gedanken ab." Das Buch ist ein einziges Abschweifen. Gentechnik und Goethes "Faust", die Faulheit und das Fensterputzen, der Jugoslawienkrieg und die Schuhmode, alles muss langsam bedacht werden. Jede Zeitungsnotiz löst einen sanften Assoziationsschub aus, jeder Spatz im Park. "Das Kriechen einer Schnecke, das Glitzern frühmorgendlicher Sonnenstrahlen auf deren Schleimspur, das, sagt Maurice, ist der Stoff, aus dem Kunst besteht.

In diesem Sinne ist der neue Roman von Matthias Zschokke ganz zauberhafte Kunst. Er ist das achte Prosawerk des Schweizer Schriftstellers, Theaterautors und Filmregisseurs. Ein stilles Stück Widerstand gegen die Eilfertigkeit der Zeit. Zschokke, 52, verweigert seiner Hauptfigur ein aufs Praktische, Prosaische und Effiziente gerichtetes Dasein. Dieser Maurice geht als schwermütiger Flaneur an den Rändern des Alltags entlang. Es sind profane Begebenheiten, denen sein aufmerksamer, leicht kritischer Blick gilt. Er beobachtet unscheinbare Figuren: den Nachbarn und eine Ladeninhaberin, einen Radfahrer und den Zeitungsleser im Café. "Wenn wir jederzeit offen genug wären, zu sehen, was uns umgibt, dann hätten wir ein Leben voller Überraschungen."

Sentenzen streut Zschokke gern in seinen Text ein. Beiläufig wechselt er die Perspektiven, erzählt über Maurice und lässt ihn selber in Briefen sprechen. Wie der Autor ist dieser Mann aus der Schweiz nach Berlin gezogen. In einem heruntergekommenen Viertel betreibt Maurice ein Büro, das er Kommunikationskontor nennt. Dort erledigt er für andere die Korrespondenz mit Ämtern, Krankenkassen, Vermietern. Zumindest behauptet er das. Mehr als ein möglicher Auftraggeber interessiert ihn jedoch das Cello auf der anderen Seite der Bürowand. Für den Autor war es schon einmal Thema einer Erzählung. Es könnte sein, dass dieses Cello ein griesgrämiger Mann spielt. Oder eine erregende junge Frau. Matthias Zschokke erzählt mögliche Begegnungen in wundersam bizarren Szenen. Alles kann auch ganz anders sein: das Cello ein Klavier, die Freundin von Maurice ein Geliebter. "Wissen ist grauenvoll, erholsam dagegen das Ahnen", heißt es im Buch. Der Autor gibt der Fantasie ein Fest.

Den schwebenden Tonfall des Wirklich-Unwirklichen hält Zschokke selbst dann durch, wenn er vom Sterben schreibt. Dabei liefert er ein gnadenloses Mutterporträt. Maurice kehrt mehrfach in die Kindheit zurück, nach Ins, wo um 1900 jener Maler lebte, von dem das Bild "Maurice mit Huhn" stammt, Albert Anker. Er hatte in dem Bild seinen fünfjährigen Sohn gemalt. Später nannten viele dort ihre Söhne Maurice. Dass einer da seiner Identität nicht sicher ist, verwundert das?

 

"Sächsische Zeitung", Dresden, 24./25.6.2oo6

 

 

 



 

Vogelfrei,  im losen Glück

Matthias Zschokke feiert mit seinem neuen Roman Erfolge. Dabei umkreist er in «Maurice mit Huhn» liebenswert und zugleich bitterböse das Thema der Erfolglosigkeit.

Thomas Feitknecht

Es kommt nicht jedes Jahr vor, dass ein Schweizer Autor für ein Buch nacheinander gleich drei Preise einheimst. Bei Matthias Zschokke ist das mit dem neusten Roman «Maurice mit Huhn» der Fall: Der 1954 in Bern geborene Wahlberliner Zschokke wird morgen Montag mit dem prestigeträchtigen, mit 20 000 Franken dotierten Solothurner Literaturpreis ausgezeichnet, den vor ihm u. a. Wilhelm Genazino (1995), Christoph Ransmayr (1997) und Christoph Hein (2000) erhalten haben. Mitte Juni hat Zschokke bereits einen Buchpreis des Kantons Bern abgeholt, und im  September kann er in Zürich einen Preis der Schweizerischen Schillerstiftung entgegennehmen. «Zschokke im Glück», verkündet deshalb der Ammann-Verlag stolz auf seiner Internetseite. Doch kein Autor weiss so gut wie Matthias Zschokke, dass das ein «loses Glück» ist (wie der Titel seines vorletzten Buches lautet). Er hat das Thema des von der Kritik gelobten und vom Publikum verschmähten Schriftstellers immer wieder behandelt. Und «Maurice mit Huhn» ist nicht zuletzt auch die Selbstdarstellung und -bezichtigung eines im landläufigen Sinne Erfolglosen.

Immerhin: Diesmal ist mit dem«fulminanten Presse-Echo» (so der Ammann-Verlag, der Zschokkes Werk seit 1999 betreut) auch ein kommerzieller Erfolg verbunden. Der im Frühjahr erschienene Roman «Maurice mit Huhn» ist in den vergangenen Wochen unter die zehn meistverkauften Bücher der Schweiz  vorgestossen  und liegt mittlerweile in  dritter Auflage vor.

Zerfallende Wörter

An den diesjährigen Solothurner Literaturtagen hatte einzig der südafrikanische Literatur-Nobelpreisträger John M. Coetzee einen grösseren Zulauf als Zschokke, dessen Lesung mehr als doppelt so viele Eintritte zählte wie erwartet und eilends in  den grossen Konzertsaal umdisponiert werden musste. Das dürfte nicht anders sein, wenn Zschokke Anfang August im Albert-Anker-Haus im Seeländer Dorf Ins aus «Maurice mit Huhn» vorliest. Denn von dort kommt «der Stoff, aus dem Kunst besteht», wie der Autor in seinem Roman bemerkt: «Kunst will nicht das Dramatische, Grandiose, von allen Erkannte», meint er, sondern will dem Unauffälligen, Unscheinbaren, Alltäglichen nachspüren. Darum hat Zschokke als Titel und Leitmotiv auch das 1877 entstandene Gemälde des Seeländer Malers Albert Anker gewählt.

Ankers Maurice ist ein zarter Knabe mit feinen Lippen und verwundert-wissend dreinblickenden Augen, der ein weisses Huhn fest, aber liebevoll in den Händen hält und dem Maler präsentiert. Und diese gegensätzlichen Züge prägen auch den Protagonisten des Buchs. Dieser «Maurice» ist der Konterpart, das andere Ich von «Max», der Titelgestalt von Zschokkes erstem Buch. Aber er ist eben kein böser Bube Moritz, sondern ein gealterter und geläuterter Maurice, der weicher und weiser, verletzlicher und nachdenklicher geworden ist. Er lebt in Berlin und betreibt ein wenig lukratives «Kommunikationskontor», er korrespondiert mit seinem viel erfolgreicheren Schulfreund Hamid in Genf, er beobachtet den Niedergang der Geschäfte in seinem Stadtteil, er sitzt sinnierend im Café «Solitaire», er besucht die greise Mutter, er reist an ein Klassentreffen in die Schweiz, er unternimmt mit der Freundin eine Städtereise nach Turin und stellt sich vor, wer wohl in der Nachbarschaft so eifrig Cello (ein Motiv aus dem Erzählband «Der neue Nachbar») und später Klavier spielt

Die Schilderungen sind Momentaufnahmen, festgehaltene Augenblicke wie das Bild des Malers. Das wirkliche Leben, vorher und nachher, ist anders, und als Maurice am Ende erfährt, wer Cello geübt hat und wer jetzt am Klavier sitzt, ist er desillusioniert: «Das Geklimper von nebenan stört ihn, seit er weiss, von wem es kommt.»

Verglichen mit dem manchmal geradezu eruptiven «Max» ist die Sprache in «Maurice mit Huhn» glatter und geschmeidiger geworden, aber sie ist ebenso hintergründig und skeptisch geblieben. Im Roman «Der dicke Dichten» (1995) schreibt der Autor, dass ihm «die Wörter zerfallen zwischen den Zähnen» - ein indirektes Zitat von Hugo von Hofmannsthals berühmtem «Brief des Lord Chandos» (1902), der klagt, die Worte «zerfielen ihm im Munde wie modrige Pilze». «Maurice mit Huhn» hat als grosses Thema ebenfalls die Frage, wie mit der Sprache der Wirklichkeit beizukommen sei. Erkenntnis ist stets nur im Rückblick, nicht im Augenblick möglich: «Man weiss selten, dass man glücklich ist, meistens nur, dass man glücklich war.» Wichtig wird das scheinbar Unwichtige, das Schöne ist bloss Schein, der Mutlose ist der wahrhaft Mutige, der trotz allem weiterlebt. «Maurice hat nie richtig denken gelernt. Er ist bis heute dumm geblieben und lebt in der beständigen Angst, enttarnt zu werden als das, was er ist und am Ende gewesen sein wird: ein Wissenskörner pickendes Huhn, das Huhn in seinen eigenen Armen.» Damit nimmt der Autor ein Bild aus seinem vorletzten Buch, «Das lose Glück», auf, wo er «zerrupfte Hühner» beschreibt, die über den Hof schreiten, «vogelfrei, im losen Glück».

Sozialkritik

Dem Huhn, das Körner pickt, entspricht das Erzählprinzip. Geschichten. Erinnerungen, Anekdoten und Ereignisse sind scheinbar so lose and unerklärbar aneinander gereiht wie im «wirklichen» Leben. Was zunächst als Faktum geschildert wird, nämlich eine Sexszene auf dem Balkon zwischen Maurice und der Cellistin, wird wenig später als Phantasie entlarvt. Die Greisin spielt bloss die Rolle der Grossmutter, und die Frau, mit der Maurice zusammenlebt, jene der Geliebten. Und zwischendurch hinterfragt der Erzähler seine eigene Rolle und durchbricht so die Illusion der Geschichte.

Immer wieder fragt Zschokke nach dem, was in unserer Leistungsgesellschaft als Erfolg gilt. Wenn er von der Selbsteinschätzung und der Selbstüberschätzung spricht und sich über künstlerisches Talent äussert, dann hat das sehr wohl autobiografischen Charakter. Denn als Schreibender zweifelt er immer wieder an sich selber und misstraut den grossen Worten anderer. Aber er ist gleichzeitig auch ein politischer und sozialkritischer Schriftsteller, der mitunter mit sanften Worten harte Wahrheiten über die Gesellschaft sagt, etwa bei der Schilderung der regen Bautätigkeit im wiedervereinigten Berlin, die er mit der «Kunst des Strassenbaus» im  Dritten Reich in Verbindung bringt, mit dem Fazit: «Strassen sind in Deutschland dank der langjährigen Erfahrung etwas geradezu Gefedertes, Gedämpftes, Samtenes.» Das Dilemma der menschlichen Existenz schliesslich ist in einer geradezu Dürrenmattschen Dialektik zusammengefasst: «Wer soll einen mögen, der sich selbst nicht mag. Wie aber soll sich einer mögen, der erkannt hat, dass er nur dann gemocht wird, wenn er die ändern dazu nötigt, ihn zu mögen.»

Gerade dieses Vieldeutige und Subtile in Zschokkes Prosatexten und Dramen findet in der Romandie offene Ohren. Drei Romane sind bei den Editions Zoe erschienen, und die Stücke werden in Genf und Lausanne gespielt. Am 26.9. wird «L'lnvitation» («Die Einladung») am Théâtre de Carouge (GE) von Michel Kullmann uraufgeführt. Schon vorher, am 5.8., hat im Théâtre de l'Orangerie in Genf «Bonheur flottant» (eine Theaterfassung von «Das lose Glück») Premiere.

"Neue Zürcher Zeitung am Sonntag",  2.7.2oo6

 

 



«Es  hat  alles  meinen  starken  Akzent»

Matthias Zschokke richtet in seinen Filmen und Büchern die Aufmerksamkeit auf das Unbeachtete. Er schafft eine eigene Welt der Poesie, voller Abschweifungen.

Urs Bugmann

«Was Maurice noch sagen wollte: Wissen ist grauenvoll, erholsam dagegen das Ahnen.» Maurice, Erzähler und Hauptdarsteller in Matthias Zschokkes neuem Roman «Maurice mit Huhn» ist ein durch und durch Untüchtiger. Er flaniert durch sein Leben, ein Aufmerksamkeitsflaneur, dem das Nebensächliche auffällt und dem das von allen für wichtig Gehaltene entgeht. Das Ahnen, der Blick auf das Scheinbare ist seine bevorzugte Erkenntnisform. «Eine Greisin an einem Fenster erweckt den Anschein, in diesem Buch die Rolle von Maurice' Mutter übernehmen zu wollen.» Was sich zur Gewissheit verfestigen könnte, rückt dieser Erzähler sofort wieder weg ins Ungefähre, «weil ihm das Ungeklärte lieber ist».

Ein Ort zum Stranden

Maurice lebt im Norden Berlins, am Rande, wo nur bleibt, wer nicht weiter­kommt. «Das ganze Leben besteht daraus, seinen Ort zum Stranden zu finden.» Den hat Maurice gefunden. Er sitzt in seinem «Kommunikationskontor», schreibt Briefe «für ausländische und orthografisch benachteiligte Mitbürger» an Behörden und Amtsstellen.

Maurice ist hängen geblieben. Seine Briefe bringen ihm genug ein, um zu überleben, und mehr braucht der Untüchtige nicht. Von Nebensache zu Nebensache geht er durchs Leben, schreibt in Briefen an Hamid auf, was er sieht und denkt, erzählt von Maurice mit dem Huhn auf den Armen, den der erfolgreiche Maler von Bauernszenen 1877 in seinem Dorf gemalt hat. nahe der Provinzstadt L., aus der Maurice kommt.

Leben im Erzählen

Seinen Namen hat dieser Erzähler und Nicht-Held aus der Kunst, und sein Le­ben ist ein Kunstleben: Er lebt nur im Erzählen, seine Wirklichkeit ist die des Buchs. Und doch hat sein Leben Teil an der Welt ausserhalb - nur liegt das Gewicht nicht dort, wo die Wichtigkeiten sind, sondern im Innern, wo dieses Äussere aus Ahnung und Anschein sich verdichtet. «Er sehnt sich wie wir alle nach einem Zustand, in dem sein Inne­res mit seinem Äusseren im Einklang ruht», sagt Maurice über seinen Freund Flavian.

Flanieren im Grenzland

«Maurice mit Huhn» ist ein Buch der Abschweifungen. Sein Erzählen wächst aus dem Warten, sein Flanieren vertreibt im Grenzland zwischen Wissen und Ahnen, vertreibt die Zeit und schafft Leben. Es ist Poesie, was so ent­steht und sich im Entstehen feiert. In einem Zeitungsartikel findet Maurice dazu eine Parallele, wenn er über ein Bild von Max Liebermann       liest: «Nicht das Motiv, sondern die Schwierigkeit, es abzubilden, reizte, Kunst will nicht das Dramatische, Grandiose, von allen Erkannte. Woraus man einen Film drehen sollte, worüber man einen Roman schreiben sollte, das ist nicht das, woraus gute Filme, gute Romane gemacht sind. Wovon man die Finger lassen sollte, woraus man nichts machen solle, das ist offenbar der Stoff, aus dem Kunst besteht.»

Das ist das künstlerische Credo von Matthias Zschokke, der seit 1980 als Autor und Filmemacher in Berlin lebt. Vier Jahre hatte er zuvor ein Engagement als Schauspieler in Bochum. Nach Deutschland ging er damals, «um mir meinen starken Schweizer Akzent abzugewöhnen». Mit der Schauspielerei wurde es nichts, Zschokke blieb trotzdem in Deutschland. «Das Leben in Berlin war damals sehr günstig, das gab den eigentlichen Ausschlag.»

Ein Knick in der Optik

Und der Akzent ist ihm geblieben. Sein Berlin ist ein anderes als jenes, «das man heutzutage in Deutschland meint zu kennen und zu wollen». Sein Berlin nimmt er als ein ländliches wahr. «Wo man lebt, ist weniger entscheidend. als wie man lebt.» Dieses Wie schlägt sich nieder in den Filmen von Matthias Zschokke, in seinen Büchern - es ist sein Akzent: «.Alles, was ich mache, erhält, ohne dass ich es will, weiterhin meinen starken Akzent, den ich mir nicht abgewöhnen konnte. Mein Freund sagt, ich hätte einen Knick in der Optik. Einem selbst fallt das natürlich nicht auf.»

Bildmächtige Traumwelt

Dieser «Knick in der Optik» lässt den Filmer Matthias Zschokke rätselvoll schwebende Filme aus einer Welt zwischen einer erlebten und erinnerten Wirklichkeit und einer bildmächtigen Traumwelt drehen und Bücher und Stücke schreiben, die wie die Filme nach so etwas wie dem «reinen Stil» suchen, nach einer Integrität, die frei ist von Selbstbetrug, diesem Selbst aber immer nah auf den Fersen bleibt. Deshalb ist es das Nebensächliche und Unscheinbare, das sich darin zu Poesie formt, denn das Selbst lebt nicht spektakulär Und doch findet die schweifende und ahnende Aufmerksamkeit des Flaneurs bei sich die grossen und bedeutenden Stoffe: «Wer etwas genauer hinschaut», heisst es in «Maurice mit Huhn», «wird feststellen, dass sich in seiner unmittelbaren Umgebung die unfassbarsten Tragödien und Komödien ereignen und er gar nicht ins Fantasiereich der anderen auszuwandern bräuchte, um angeregt zu werden.»

"Neue Luzerner Zeitung", 4.7.2oo6





[…] Der in Berlin lebende Schweizer Matthias Zschokke hat mit "Maurice mit Huhn" einen grandiosen Roman vorgelegt und flaniert mit seiner Geschichte, die kleine Beobachtungen und Träumereien zur Hauptsache machen, auf Robert Walsers Spuren. Auf jeder Seite gibt es Kostbarkeiten zu entdecken und kleine Wahrheitsschätze in die Arme zu schließen.

[…] Durch Berlin radeln, Briefe schreiben, Celloklängen lauschen und die Geliebte treffen – wer nicht mit Maurice tauschen kann und dennoch etwas vom Leben haben möchte, muss diesen Roman lesen. Nie war das kalte Berlin gemütlicher, selten ein trauriger Held liebenswerter und seit Langem kein Schweizer Autor mehr so grenzenlos gut.

Sonja Osterwalder, "Basler Zeitung", 1.7.2oo6





Belletristik: Kurz und knapp

Bedienungsanleitung: Nehmen Sie dieses Buch, wenn die Welt still geworden ist. Öffnen Sie die Balkontür, so Sie eine haben. Horchen Sie in die Stille. Dann lesen Sie los. Und nehmen Sie sich Zeit, dieses ist das langsamste Buch der Saison. Sie müssen nicht unbedingt am Anfang anfangen. Muß gar nicht sein. Sie können hier lesen. Oder da. Es wird Ihnen gehen, wie mit Ihren Erinnerungen vom Tag. Bilder scheinen auf, Geschichten, Szenen, Dramolette, Welterklärungsversuchsversuche. Maurice nimmt uns mit in seine Stadt, durch seinen Kiez. Berlin. Nordosten. Maurice hört das Cello vom Nachbarn, Maurice fährt Fahrrad, Maurice flaniert. Maurice blickt ins Auge des Stillstands, des Niedergangs. Roman ist vielleicht die falsche Gattungsbezeichnung für dieses allem erzählerischen Turbokapitalismus Widerstand leistende Wunderwerk. Ein Wunderwerk ist es aber schon.

DW, "Die Welt", Berlin, 22.7.2oo6





Blitzgescheites übers moderne Leben und seine Unübersichtlichkeit. Ein untüchtiger Held, zartsinnig verwickelt ins Alltägliche, Hässliche, Verlorene – und das Schöne darin. Lust der Augen, Lebensfeier ohne Pathos, federleicht und froh und traurig. Berlin hat wieder eine Flaneursprosa, würdig eines Hessel oder Auburtin.

Andreas Nentwich, Service Bestenliste - Alfred-Kerr-Preisträger empfehlen. "Börsenblatt", Frankfurt, 25/ 2oo6







Un songeur à Berlin

 

Jean-Maurice de Montremy

 

Suisse installé à Berlin, Matthias Zschokke redécouvre la ville par les yeux d'un personnage rêveur, tendre et velléitaire. Une songerie insolite et doucement prenante.

Maurice vit à Berlin dans un quartier du nord, empreint de cette monotonie propre à l'urba-nisme ordinaire des lointaines années de guerre froide: quelques immeubles de l'ancien temps rescapés des bombes, mal entretenus, se mêlent à des nouveautés indifférentes. C'est une zone presque oubliée de la ville par laquelle transitent ceux qui viennent de l'Est avant de disparaître vers le centre.

Maurice y travaille seul, très vaguement, pour une vague soustraitance d'un négoce d'improbable cham­pagne. Il songe des heures durant, observe, écoute, puis écrit régulièrement à son associè de Genéve - un certain Hamid, d'origine perse.

Quelque part dans l'immeuble ou dans l'immeuble voisin quelqu'un joue parfois du violoncelle, s'accorde, arpège. Alors la songerie de Maurice s'élève: «Plus les notes montent, plus je les aime. Voilà des millénaires que l'être humain se donne du mal pour aligner et superposer des notes comme personne encore ne les a arrangées avant lui [...] alors qu'il pourrait tout simplement s'asseoir et jouer une gamme sur trois octaves, et chaque auditeur sentirail alors son cceur s'ouvrir, la lumière entrer dans sa tête, les larmes lui monter aux yeux et son nez se mettre à picoter

Le plus souvent, Maurice observe le quartier par sä fenêtre, fait le tour des quelques com-merces eux-mêmes passés de mode, avec le charme désuet propre aux choses modernes déjà sorties de l'Histoire. Il s'enquiert du violoncelliste - ou de la violoncelliste - sans jamais parvenir à bien localiser d'où vient la musique, ni savoir qui joue, et pourquoi. Son imagination fait le reste.

Maurice est seul mais pas vraiment solitaire. Il a quelques camarades berlinois aux destinées bizarres. Il a une tendre amie. I1 a beaucoup d'idées douces, fantaisistes et discrètes. Chaque jour,«il se demande ce qu'il a expérimenté d'essentiel aujourd'hui». Rien, évidemment - ou, du moins, c'est ce que croit Maurice. Le lecteur, depuis les premières lignes, éprouve le sentiment contraire: quelque chose d'essentiel s'expérimente au fil des phrases, poétiquement traduites par Patricia Zurcher. L'angoisse, l'amour, la mort qu'il faut affronter, tout Maurice qu'on soit, dans cette boucle perdue du fleuve XXIe siècle.

Cette pastorale berlinoise orchestrée par un Suisse d'origine paysanne prolonge la rêverie d'autres promeneurs solitaires, eux aussi nourris de versets des Ecritures: Rousseau, Gottfried Keller, Robert Walser. La politique ou les débats d'aujourd'hui y sont d'autant plus perceptibles que Mau­rice feint de se résigner ou d'éviter ce qui fâche.

Né à Berne en l954, Berlinois depuis 1980, Matthias Zschokke est également dramaturge: cela se sent à la maniere de traiter la « voix », la présence, de Maurice et des quelques personnages qui gravitent autour de ses méditations. Il a réalisé trois films: cela se sent à la qualité du regard.

Ce regard a déjà surpris le lecteur dès la couverture du livre. On y remarque les yeux d'un garcon et l'oeil d’une poule blanche: une tableau de 1877. Le garcon blond tient la poule dans ses mains. L'oeuvre se nomme Maurice à la poule. Les réflexions et souvenirs du Maurice berlinois s'acheminent peu à peu vers l'enfant suisse à blouse bleue.«On voudrait avoir un fils et une poule comme ça; on voudrait savoir peindre comme ça.» Et c'est précisément ce que réussit le narrateur du livre. D'un banal faubourg d'une grande ville et de personnages «sans qualités» il a fait une image grave et malicieuse du temps.

« LivresHebdo», Paris, 13.2.2oo9









Roman Samedi28 Février 2009 "Les Temps"/ Genève

Le vide peuplé par Matthias Zschokke

Par Lisbeth Koutchoumoff

En quête de la sensation d’exister, le personnage central de «Maurice à la poule» passe son temps à regarder. Le troisième roman de Matthias Zschokke tient en haleine en s’insinuant dans les creux de l’existence.

Genre: Roman

Réalisateurs: Matthias Zschokke

Titre: Maurice à la poule

Maurice mit Huhn

Langue: Trad. de Patricia Zurcher

Studio: Zoé, 258 p.


Peut-on être maître de son existence ou n’est-ce qu’un leurre? Faut-il même aspirer à trouver un gouvernail, un fil conducteur aux journées qui défilent ou au contraire se laisser porter par les éclats du kaléidoscope d’impressions, de lumières, d’émotions, de notes de musique que la vie déverse jusque dans ses plus infimes manifestations?

Maurice n’a pas tranché. Il sait juste qu’il ne doit pas se laisser gagner par la panique et s’habituer peu à peu au vide. Il passe en effet son temps à attendre des clients qui ne viennent pas dans ce Berlin des quartiers nord où il a ouvert une échoppe d’écrivain public. Dans ce néant apparent, il laisse venir à lui les mille et une pensées qui surgissent dans son esprit, écrit à un ami de Genève, regarde par la fenêtre, élabore toute une construction de réflexions sur tout et rien, des informations lues dans les journaux, racontées par les amis sur les effets protecteurs de la soie, sur les habitants de son quartier, leur envie farouche d’en partir, l’accablement qui saisit ceux qui n’y parviennent pas. Et l’on écoute d’emblée cette voix qui s’attarde sur l’infiniment petit, ces scènes de rue a priori sans accidents, et qui dit en fait une méthode instinctive pour conjurer la peur et se laisser rattraper par la vie comme on peut être surpris par la marée montante.

Matthias Zschokke livre bien un roman existentiel avec Maurice à la poule parce qu’il se cabre sur le regard et ses résonances mentales. Parce qu’il est une invitation à se laisser envahir plutôt qu’à partir en campagne. A admettre que les mots épuisent et que la musique tient en éveil. Maurice n’assène rien du tout, attention, il laisse affleurer. Il ficelle son flot d’images réelles et mentales avec un humour permanent et immédiat. Car quoi faire d’autre que rire pour peu que l’on s’arrête et que l’on regarde?

Maurice à la poule est le troisième roman de Matthias Zschokke qui est un Bernois de Berlin ou vice versa. Il écrit du théâtre aussi. D’ailleurs les Editions Zoé publient également trois de ses pièces La Commissaire chantante, L’Ami riche et L’Invitation où l’humour, la dérision, la capture de ces moments suspendus où l’on admet la défaite, irrévocable, constituent la toile sous-jacente.

L’échec danse en permanence sous les yeux de Maurice qui regarde par la fenêtre ou la porte de son bureau des migrants en rade, des piliers de bar, des chômeurs en stage. Il sait aussi qu’il doit tenir, lui. Dans l’inaction, il se fait suractif. Son attente de la fin de la journée fourmille. En plus, Matthias Zschokke le met en dialogue involontaire avec un narrateur qui l’observe. Au fil des digressions qui bouclent et rebouclent, ce narrateur prendra de plus en plus massivement la parole jusqu’à dire je et à raconter lui aussi sa propre sensation du temps faite de croisement de micro-impressions, d’échanges loufoques avec un père grabataire, de viande à paner et à faire revenir dans le beurre, de regards à sa fille qui grandit.

La juste description de l’empêchement à goûter le monde, de la fatigue qui découle du sentiment d’être en permanence derrière la vitre (Maurice déteste laver les carreaux rongés par les plantes grimpantes de son office), mais aussi de la libération qui surgit une fois la défaite admise, les étés qui se déploient alors sur les trottoirs, dans les trains, voilà sans doute ce qui plaque le lecteur, surpris, à ces riens qui s’ajoutent au fil des pages.

Deux grandes zébrures écartèlent le roman. La première est nostalgique. Maurice se souvient d’un séjour au bord du lac de son enfance, près de Berne. Il a regardé les baigneurs, les bateaux, un couple de jeunes amoureux, dans un café, dont les joues rosissaient avec le soleil de plus en plus couchant. Le soir, il s’est senti soûl de plénitude, rassasié de réalité, «inondé de l’intérieur». Ailleurs dans le livre, il est longuement question du talent, à propos de musiciens, d’écrivains. Qui laissent la vie les remplir et les noyer.

Le deuxième éclair qui aveugle les pages est érotique. Il surgit sur un balcon, en plein jour, tandis que les livreurs livrent en bas dans la rue. Inutile de préciser que la douceur intense qui baigne la scène, et toute la scène d’ailleurs, est réellement imaginaire.









Maurice à la poule (Maurice mit Huhn) de Matthias Zschokke Maurice a une petite échoppe d'écnvain public dans un quartier miteux de Berlin. Chaque matin, il traverse la ville sur son vieux vélo grinçant, lui qui, enfant, s'était pourtant juré de toujours être silencieux comme un Indien. Maîs l'essentiel est demeure chez Maurice cette façon d'être au monde en ouvrant de grands yeux et qu'on peut appeler l'esprit d'enfance. Pour qui n'a pas sa vie tendue entre un début de journée et une sortie de bureau, le monde est un kaléidoscope d'images, d'odeurs et de sons, comme cette musique de violoncelle qui fait deviner à Maunce une présence mysténeuse. Il finit par rencontrer la personne qui mame cet instrument, une jeune femme qui devient à son tour l'instrument d'une vision erotique. Le rêve acquiert ici une consistance romantique qui donne sa matière au livre. Ce troisième roman de Matthias Zschokke, écrivain suisse né à Berne en 1954 et qui vit à Berlin, est composé de cercles qui, en se croisant, délimitent des aires de réflexions, des plages d'évocations comme celle du tableau du peintre Albert Anker qui donne son nom au livre. Zschokke nous fait sentir que le rien est parfois plus dense qu'un hypothétique tout. Un livre plein de charme, léger et profond comme ses trois pièces de théâtre traduites (La Commissaire chantante ; L'Ami riche et L'Invitation) qui paraissent chez le même éditeur.
Pierre Deshusses, Le Monde des Livres, Paris, 17.4.2oo9




 

Une trouée d'air frais dans une vie ronronnante

Mathias Zschokke ou les soubresauts d'une écriture vagabonde.
Légende photo: Mathias Zschokke ou les soubresauts d'une écriture vagabonde. 

Récemment paru aux éditions Zoé, «Maurice à la poule», roman de l'écrivain bernois Matthias Zschokke, dépeint la vie excentrique d'un homme qui, pour notre plaisir, a oublié de s'ajuster à la réalité.

C'est un roman qui finit comme il a commencé: dans un flou cotonneux. Entre-temps, on aura vécu, les yeux écarquillés, le vertige d'une existence. Celle de Maurice, un homme farouche et docile, drôle et mélancolique, solitaire et ouvert, fou et sage. Un déphasé qui cultive les paradoxes. L'un de ceux qui flottent dans la vie comme on flotte dans un costume large.

Le plus surprenant, c'est que Maurice ne semble pas mal à l'aise dans ce costume. Pas étonnant, car son créateur Matthias Zschokke vient du monde du théâtre. Et il n'y en a pas deux comme lui pour vous arranger une silhouette.

Le vêtement a donc son importance ici. Pas pour les raisons que l'on soupçonne (élégance, séduction...), mais pour d'autres, celles-là psychologiques. Maurice a plusieurs peaux et autant de rôles dans la vie. Il endosse chaque habit avec beaucoup de sérieux, mais s'en échappe quelques fois, histoire de laisser son corps s'aérer.

Fantasme

Le voilà donc dans sa nudité crue, face à une violoncelliste de 25 ans sur laquelle il fantasme obstinément. Entre la jeune femme et lui, juste une cloison qu'il abat d'un geste érotique, avec la force d'un homme qui n'a plus que ses rêves pour s'échauffer.

La musique de la petite, il l'entend depuis longtemps. Elle traverse les murs de son bureau. Elle traverse aussi tout le roman de Matthias Zschokke, lancinante, chargée des brumes du passé et des contraintes du présent.

«Enfant, chaque été, Maurice était placé par ses parents dans un centre de vacances, non loin de chez lui». Chez lui, c'était la Suisse, que l'on devine bucolique, paisible et solitaire sous la plume de Zschokke. Souvenirs d'une Suisse rurale d'avant la modernité, comme la voyait jadis Robert Walser auquel on ne cesse de penser ici.

Cette Suisse-là, Maurice l'a quittée il y a bien longtemps. Il y a bien longtemps qu'il est installé à Berlin où il a ouvert un «bureau de communication», avec la complicité de Hamid, un ami d'enfance justement, fils de Persans, sorti «tout droit des Mille et une nuits» et qui, lui, vit à Genève.

Maurice tient la correspondance administrative du bureau. Rôle ennuyeux qu'il compense par des lettres passionnelles, écrites en toute audace et naïveté, à son associé Hamid. Une grande partie du roman repose d'ailleurs sur cette correspondance à sens unique (le destinataire ne répond jamais), reflet d'un délire existentiel où se recoupent les multiples voix du héros.

De Berlin à l'Orient

Où circule aussi, dans l'enchevêtrement des rues berlinoises, la pensée du romancier. Réflexions hilarantes sur la modernité puante des grandes villes, sur la mode comme moteur puissant de l'économie, sur «la fièvre de l'argent» qui frappe «tel le choléra asiatique», sur la cupidité du corps médical...

Et puis subitement, une parenthèse s'ouvre dans ce monde en folie. Débarque alors comme par magie, l'Orient, son «flegme fataliste», ses hammams, «sex-clubs mal famés», occasion pour «une orgie sodomique».

A l'intrigue linéaire, Zschokke préfère les soubresauts d'une écriture vagabonde, souvent incontrôlable dans ses embardées littéraires, anecdotiques, philosophiques. Un style libre auquel il a habitué ses lecteurs de théâtre. Certaines de ses pièces, comme «L'Heure Bleue ou la nuit des pirates» et «La Commissaire chantante» (toutes deux créées en français à Genève), ressemblent à des trouées d'air frais dans l'épaisse couche d'une existence ronronnante.

Il en va de même de «Maurice à la poule», portrait d'un homme qui, pour notre plaisir, a oublié de s'ajuster à la réalité.

Ghania Adamo, swissinfo.ch, 18.5.2oo9










"Le Canard enchaîné", Paris, 1.7.2oo9








Zofia Moros-Pałys: Das Romantische in Matthias Zschokkes Roman Maurice mit Huhn.









Jitka Nešporová

Mathias [sic!] Zschokke: Maurice mit Huhn (Maurice s kuřetem), Zürich, Ammann Verlag, 2006, 240 s.

Nepřestává překvapovat, s jakou lhostejností člověk celá tisíciletí tráví svůj tak krátce vyměřený čas, sedí, leží, mluví o bezpředmětných banalitách, bez chuti ukusuje pochutiny, bez žízně upíjí tekutiny, pozoruje věci, které mu nic neříkají, vydává se na cesty, co vedou na místa, kde nemůže nic ztratit, a to s nezlomnou vírou, že je bytostí obdařenou rozumem, a přemýšlí nad tím nebo nad něčím jiným, přitom si ale ve skutečnosti nemyslí nic, jen se pomalu šine, věčně činí tytéž špatné závěry, motá se v kruhu celá ta tisíciletí, od sousedních stolů tu a tam pochytí útržky hovorů, o slunečních brýlích nebo kožešinách, o syrovém mase, o policích, o počasí, a najednou má toho všeho dost, matky například, co pozdě večer tápe po bytě, vytahuje jednotlivé kusy oblečení, polévá je hořlavinou, zapálí, hází je za sebe na podlahu, vtom si vzpomene na devítiletého spícího syna, který by neměl uhořet při vědomí, v kuchyni vezme kladivo, jde do dětského pokoje a spícímu chlapci kladivem rozbije lebku, vyděsí se zvuku tříštěných kostí, sama se udeří do hlavy, v záchvatu, pocítí lítost nad cukajícím tílkem, dotáhne ho k oknu, otevře je, aby se dítě neudusilo kouřem, celá zkrvavená probudí druhého, o rok staršího syna a pošle ho pro hasiče, ten z toho má šok, utíká, hasiči jedou, hasí a převezou mladšího do nemocnice, kde se zjistí, že má rozdrcený mozek a poškozené jazykové centrum, že už nikdy nebude mluvit, matku uvězní… A člověk tu pořád sedí, na židlích v zahradách, u stolu při snídani, za pultem v práci, pije pivo, nadává na počasí, mluví o autorádiích a záplavách, pojistných podvodech a sezonních slevách, slunce vychází, slunce zapadá, člověk cvrliká, vrabec na střeše, poskočí sem, poskočí tam, sezobe drobky, nacpe se, i když nebyl prázdný, natáhne se, i když není unavený, vstane, i když není odpočatý, mátoží se z místa na místo, štěká, skočí do vody, něco uplave, lehne si na slunce, aby oschnul, vůbec neví, co dělá, tvrdí, že vším je vinen otec nebo matka, čím vinen, to neví, prostě vinen, myslí si, že přemýšlí, ale neví, jak se to dělá, přemýšlet, sedne si, lehne si, vstane, pobíhá, žene se kolem řady domů, zvoní, chechtá se čemusi, spořádaně jí, nechá se zapřáhnout, táhne káru do zemdlení, kolem krku by mu mohli přivázat soudek, hledá v lavinách, vyhrabává těla, a najednou se zase někdo zapomene, rozcupuje v kanceláři pár kolegů, zavřou ho, aby stejně umřel, a jiní sklouznou do mnohem zrádnějšího nebezpečí, jen přehlušit své nitro, to, co zůstává nevysvětlené, jen aby definitivně nepřišli o rozum, což by se nevyhnutelně stalo, kdyby se bezbranní vydali všanc skutečnosti, tyto podivné bytosti, lidé, co se zničehonic zapomenou a druhého rozsekají.

Mauriceova přítelkyně v poslední době pláče vyčerpáním. Vypadá to krásně. Je to žena ve středních letech, ale pláče, jako by byla pořád dítě. Slzy se jí kutálejí po tváři, ústa se zkřiví, obličej se promění v grimasu a rudne. Skryje hlavu v dlaních a říká, já už nemůžu. S lety přijde únava na všechny a najednou si nedovedou představit, co s životem dál. Maurice někde četl, že prý vítr, který nám fouká do tváře, vane z ráje a zády nás žene vpřed do budoucnosti, zatímco před očima nám do nebe roste hromada zmarněných šancí a zbytečných nadějí. Sklíčenost mé přítelkyně s tím jistě bude souviset, myslí si. A když ho napadne říct, ale no tak, to víš, že můžeš, a ona přestane plakat, má z toho radost. Není to sice nic duchaplného, říct „ale no tak, to víš, že můžeš, to zvládneš“, ale někdy to stačí, a to je pěkné. Maurice se nikdy nenaučil pořádně myslet. Dodnes zůstal hloupý a žije v ustavičném strachu, že vyjde najevo, čím je, čím nakonec budeš také: slepicí, co zobe zrnka moudrosti, slepicí ve vlastní náruči.

iLiteratura.cz, 12.5.2o11












Matthias Zschokke: Interview zu und Lesung aus Maurice mit Huhn



PRIX FEMINA ÉTRANGER IM TV







Egon Ammann liest aus Maurice mit Huhn




Harry Kühn liest den Anfang von Maurice mit Huhn




Maurice mit Huhn auf Farsi