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ErSieEs


1986 erschien Zschokkes drittes Buch ErSieEs, und damit wäre eine eigentlich nie beabsichtigte Berliner Trilogie komplett, denn Berlin, wo der Autor seit 198o lebt, bildet in allen drei Bänden die Kulisse.

Die formale Demontage der Literatur hält sich bei Zschokkes Buch ErSieEs in Grenzen. Seine Erzählstruktur wirkt weniger struppig als in den vorausgegangenen Veröffentlichungen, aber es bleibt noch genug Widerborstiges übrig, um die Lust an labyrinthischer Lektüre zu befriedigen.

Der Buchtitel bezeichnet die wundersame Eigenschaft einer der Hauptpersonen, ist abgeleitet von ihrem Namen, der Ersiës de Glych lautet. Das klingt geheimnisvoll türkisch-flandrisch, meint jedoch nichts anderes als ErSieEs, der Gleiche. Wieso ErSieEs? Warum der Gleiche? Mit Ersiës hat es eine besondere Bewandtnis: diese Person kann maskulin u n d feminin sein, ist ein Weib-Mann: "Oft ist sie eine Frau. Das Männliche, was hin und wieder durchglitzert, ist das übliche."


SCHLAFENDER HERMAPHRODIT
Griechische Plastik, hellenistisch, 2. Jh.v.Chr.
Marmor, Länge 1,48 m. (Matratze und Kissen
im 17. Jahrhundert von Gian Lorenzo Bernini ergänzt).
Fundort: Rom, Diokletiansthermen.


Es handelt sich keineswegs um einen transvestitischen Roman, auch nicht um einen transsexuellen wie etwa bei Virginia Woolfs Orlando, wo ein junger Mann innerhalb einer Zeitspanne von drei Jahrhunderten, selbst jedoch nur um zwanzig Jahre gealtert, sich schließlich in eine Frau verwandelt. Zschokkes Ersiës besitzt die faszinöse Fähigkeit, permanent zwischen den sexuellen Polen zu oszillieren, wird also auch vom Autor konsequent -wie Goethes Mignon- einmal als "sie" apostrophiert und dann wieder als "er". Aber Ersiës ist realiter kein Zwitter, sondern allenfalls zerebral: Metamorphose des Geschlechts ad libitum (und sei es nur die Projektion der anderen), denn Ersiës ist eine K u n s t f i g u r .



Hermaphrodit mit angeblichem Antinooskopf/ Berlin

Schon als Es war Ersiës ein höchst merkwürdiges Balg: "Als Kind hatte sie Turnschuhe und dünne Beine, -vielleicht HAGERE?-, mehr zur Täuschung, denn bewegt hat sie sich nicht besonders sportlich, nie und heute muß sich Ersiës eben einiges gefallen lassen, weil sie ungehörig wenig weiß von dem, was zur Zeit wahr ist. Sie hat sich einmal ein Lexikon gekauft von 19o4, jetzt weiß sie meistens das Verkehrte oder das Halbe oder gar nichts."

Und wer ist diese/r Ersiës als erwachsene Person? Zumindest ist sie ziemlich dubios. Das fängt schon an bei den genannten Geburtsdaten, die alle verschieden sind. Und Ihr Beruf, meine Dame, mein Herr? Einer aus dem Bekanntenkreis meint: "Er wisse es auch nicht genau, aber er glaube, sie sei Lehrerin für ausgestorbene Sprachen. ...Manchmal schreibe sie Zeichen auf ein Papier, die niemand entziffern könne. Die nenne sie altphilologisch... Zu Korinth sagt sie Düsseldorf. ...Dann wieder sagt sie am Ufer eines der kleinen Dreckseen: ,Das ist mein tyrrhenisches Meer', oder so ähnlich, nur weil grade auch ein Mond drüber steht. All das mit der größten Selbstverständlichkeit, unverblümt..."

Vielleicht ist Ersiës auch ein/e leidenschaftslose/r Tabakwarenverkäufer/in- dieser Tätigkeit ging ja bereits "Prinz" Hans nach: "Ersiës verläßt die Leidenschaft schnell, das stimmt. Tabak mochte er nur drei Wochen lang leidenschaftlich gern verkaufen. Danach verkaufte er ihn mit kühler Distanz, und zuletzt gar nicht mehr. Deswegen trifft man selten Tabakverkäufer in Sechszimmerwohnungen an. Tabakverkäufer sind zu wenig leidenschaftlich."

Ersiës verdient den Lebensunterhalt als Versuchskarnickel der Pharma-Industrie. Scheinbar harmlos-naiv (und also mit unglaublicher Schärfe) berichtet Zschokke von zynisch-menschenverachtenden Experimenten- ohne die Sozialschnulze zu dudeln.

Ersiës wird von einem Literaturbetriebsmenschen geliebt, der seinerseits "eine Art Brieffreund" eines von ihm sehr geschätzten "Baufachmanns" ist, mit dem er viel und gern korrespondiert. Dabei geht es um tiefe literarische Sachen, etwa um eine Tagung zum Thema "Der Librettist und die Schaffensfrage", zu welcher der Literaturbetriebler "von dem sogenannten Professor, der... in Tübingen das Schriftdeutsche verwest", eingeladen worden ist. Oder um ein anderes (in reizvoller landschaftlicher Umgebung stattfindendes) Symposium zum Problem "Die Präsenz des Rezensenten in seiner Rezension". Mit kühlem Techniker-Kopf reagiert der Baufachmann in seinen Briefen (die in Versalien gesetzt sind) auf den kulturellen Schrott und Müll. Die epistolarische Pseudodebatte über brennendste Kunstfragen ist ein satirisches Glanzstück in Zschokkes Buch.

Zur epischen Menage à trois gesellt sich außerdem Mario Massa. In den wiederum ist Ersiës verliebt, schnöde den Literaturbetriebler zurückweisend, obwohl er auch an Ersiës köstliche Briefe schreibt, mit literarischen Beigaben sogar, etwa der in einer Anthologie aufgespürten Kurzgeschichte "Claudius Simonitsch und die Deutsche Bundespost" oder dem in der Zeitschrift "SCHAUSPIEL" gefundenen theatralischen Manifest "Berlinische Dramaturgie".

Aber vergeblich das Werben, Ersiës liebt Mario Massa, den "Meteorologischen Sänger"- wen bitte? Mario Massa singt morgens im Radio den Wetterbericht (bei seinen raren Lesungen gibt Zschokke selbstverständlich eine Probe der eigenen Sangeskunst). Im Monat September, zum Beispiel, singt Mario Massa:


"Ostatlantischer Tiefdruckwirbel
führt Meereskaltluft heran.
Guten Morgen, Madame, schneller
ging der Sommer, schon
Herbst schon Winter,
örtliche Frühnebelfelder,
Nieselregen.

Kalt altern
Nasenspitzen, Zehen.
Ihre Brustwarzen
hart, schon welk.
Schnaufen Sie,
nicht vergessen.
Herbstmode Tarnanzug
oder Gefieder.

Vorbei, vorbei,
Leintücher,
warm noch,
Leichentücher.
Nur mit der Ruhe,
Madame,
erst frühstücken.

Die Niederschläge kommen
im Erzgebirge auf."


ErSieEs - Zschokkes shakespearisch angezetteltes Geschlechterverwirrspiel endet nicht harmonisch-heiter-hormonisch: Die Liebenden kommen nicht zusammen; dem "Meteorologischen Sänger" wird beim Rundfunk gekündigt; nachdem der Literaturbetriebler Ersiës aus den Augen verloren hat, wird er wohl Berlin verlassen ("...es stinkt in der ganzen Stadt - die Gesichter sind grau geworden - bleich und grau - in den U-Bahnen nur noch bleiche, graue Gesichter, schuppige Hände - fröstelnd, gefesselt starren wir vor uns hin, zitternd").

Und was geschieht mit Ersiës? Nach einem im Wald mißglückten Rendezvous mit dem Tod endet Ersiës als an die Wand gehängtes Exponat bei einer Leistungsschau des Pharmakonzerns. Ersiës ist zum Objekt geworden, von ihm oder ihr ist nur noch ein vages Es übriggeblieben. Zwei Rentnerinnen wollen an dem Ausstellungsgegenstand Flügel entdecken, aber "ein junger Assistent in weißem Kittel" klärt die Besucher auf: ",...das sind Ablagerungen von Fluocortinbutyl nach rektaler und intravenöser Abgabe im crossover Vergleich. Sie sind absolut unbrauchbar, unbeweglich. Eine Art Höcker eher. Sehen Sie, Sie können sie anfassen. Schlecht durchblutet...'"

Im Vorwort verrät Matthias Zschokke ironisch: "Im Grunde genommen würde ich mich auf den Barrikaden besonders wohl fühlen." Und auch das Wohlgefühl des Autors auf den W o r t - Barrikaden ist offenkundig: "Wie bin ich froh um krummgehauene Sätze. Oder rostige Sätze. Und wie schäm ich mich in der Öffentlichkeit für sie! ,Du Hundssatz! Willst mich der Lächerlichkeit preisgeben, vor allen Leuten!' zieh ich über ihn her- aber zu Hause, wenn ich allein bin, umarme ich den Satz und gebe ihm einen Kuß."

Und wieder wird in Jean-Paul-Karl Valentin -Manier ein prächtiges Pointen-Feuerwerk gezündet. Daraus eine Rakete: "Eine heute besonders bewunderte Art, sich zu bewegen, ist das Grenzenüberschreiten.... Wer jemanden treffen möchte, begibt sich an die Grenzen; dort vertreibt sich die Zeit, was Rang und Namen hat. Vor dem Zollhaus herrscht ein buntes Treiben. Bei schönem Wetter finden sich Tausende hier ein, um der Grenzüberschreitung eines Tollkühnen beizuwohnen, welcher grade dabei ist, ein Paillettenkleid über seinen durchtrainierten, wohlgenährten Körper zu streifen. Ist alles vorbereitet, stellt er sich an die Grenze, konzentriert sich, ruft: ,Ich wage nun das Chaos', oder ,Ich überschreite nun meine Grenzen'..."

Und noch ein schneller Kracher: "...wer das Wahre sagt, wird geliebt. Das Bekannte ist das Wahre. Eine friedliche Herde, die sich gegenseitig hütet... es ist schwer, der Zeit zu entkommen, wenn einer nicht schön ist wie ein Sigurd und beredt wie ein begüterter Sohn."

Nein, zur Herde der Augenblicks - Schriftsteller gehört dieser Matthias Zschokke nicht. Und von besonders witziger Delikatesse sind erneut seine das eigene Schreiben umrankenden Reflexionen, denn die auktoriale Handschrift verhehlt er nie: "Hier folgt eine Naturbeschreibung, um dem Ganzen epische Breite zu geben: es windet. Die Blätter halten fest an den Bäumen, wird wohl nicht Herbst sein. Und vielleicht kommt Regen. Oder sogar die Sonne. Je nachdem, was der Bauer sich wünscht."

Zschokke schreibt Literatur-Literatur. Bereits im ersten Buch hat er unverwechselbar seinen Stil gefunden (Le style, c'est le poète- was sonst? Aber anscheinend ist dies in Vergessenheit geraten...), und sein ureigener literarischer Ton macht Zschokke unter den Autoren seiner Generation zu einem Exponenten der neuen deutschsprachigen Belletristik in den achtziger und neunziger Jahren. Und ganz en passant wurde er einer der Begründer der literarischen Postmoderne (vgl. zur Begriffsdefinition: Ihab Hassan, Postmoderne heute. In: Wolfgang Welsch (Hg.), Wege aus der Moderne. Weinheim: VCH, Acta Humaniora, 1988) hierzulande, unter dem fröhlichen Banner ANYTHING GOES.




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