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ZSCHOKKE- Ein sanfter Rebell. Berlinische Dramaturgie

Berlinische Dramaturgie

Der Regisseur soll gucken, daß die Schauspieler nicht ineinander laufen auf der Bühne.
Der Bühnenbildner soll Platz schaffen und achtgeben, daß sich niemand am Bühnenbild verletzen kann.
Die Schauspieler sollen sich freuen daran, daß das Bühnenbild nicht weh tut, und daß sie wissen, wie sie aneinander vorbeigelangen, ohne sich auf die Füße zu treten.
Das Publikum soll zugucken und an Sachen denken, die ihm einfallen. Am Schluß soll es klatschen.
Eine Pause soll es möglichst nicht geben, so daß man nachher noch etwas zu essen kriegt in den Gaststätten.
Die Bedienung soll zuvorkommend und lebensfroh anzusehen sein. Das Essen nicht zu schwer und wohlschmeckend. Dazu einen Rotwein. Die Betten sollten frischbezogen oder doch geradegezogen sein, damit man gut einschlafen kann. Die Welt soll in Ordnung sein.
Es darf regnen.
Am Morgen drauf soll die Sonne scheinen, nicht zu heiß.
Die Aussage des Stücks soll nicht mißverstanden werden.
Die Schauspieler sollen sich in die Sonne legen und dösen.
Der Regisseur soll schnell im Theater vorbeischauen, ob alles bereit ist für den Abend. Auch soll er das Theater kurz durchlüften, die Klos begutachten und die Post durchsehen. Wenn nichts von Belang dabei ist, soll auch er sich in die Sonne setzen und träumen. Der Bühnenbildner soll das Sonnenlicht betrachten, wie es auf den Frühstückstisch fällt, in die Konfitüre, unter den Tellerrand; er soll darauf achten, wie der Morgen klingt, wie seine Haut ausschaut. Vielleicht mag er sich etwas beschäftigen mit Schnitzereien oder Pfeilbogenschneiden. Er soll etwas umhergehen. Das Publikum soll sich duschen. Danach soll es sich entscheiden, ob es den Tag ähnlich verbringen will wie den davor, oder ob es heute dösen will, oder ob es sich aneinander reiben will in der Morgensonne.
Gegen Abend soll es sich frisch anziehen. Es soll neue Kombinationen ausprobieren – die grünen Schuhe soll es sich diesmal getrauen anzuziehen, die lila Fliege – danach soll es zu Fuß ins Theater spazieren und die Passanten grüßen, über Erstaunliches oder Auffälliges plaudern, auch Nebensächliches erwähnen.
Im Theater soll es sich woanders hinsetzen.
Die Polizisten sollen leise schießen.
Der Regisseur soll gegen Abend ein frisches Hemd anziehen, dann soll er mit dem Velo zu den einzelnen Schauspielern fahren und ihnen sagen, daß er Freude hat an ihnen. Dazu soll er die Sonnenbrille absetzen. Wenn sie ihm etwas anbieten, soll er es dankend annehmen. Er soll sie möglichst noch beim Sonnenbad überraschen und ihre warme Haut streicheln.
Die Darstellerinnen soll er noch delikater umhauchen.
Danach soll er, so schnell er kann, zum Theater fahren und aufmunternd in die Zuschauergesichter hineinschauen.
Den Beleuchtern und den Bühnenarbeitern soll er ein kühlendes Getränk mitbringen und ihnen störende Haare aus der Stirn streichen.
Der Bühnenbildner darf dieselben Kleider anbehalten. Er soll am frühen Nachmittag sein Bühnenbild noch mal anschauen gehen, und was ihm daran nicht mehr gefällt, soll er übermalen und verändern. Keine Nägel vorstehen lassen! Danach soll auch er sich frisch machen und unter das Publikum mischen. Im Entree soll er nicht zu lang beim Regisseur verweilen, da dieser allen Besuchern zur Verfügung zu stehen hat.
Die Schauspieler sollen sich freuen an ihrer braunen Haut.
Sie sollen sich nach der Mittagshitze etwas ausruhen, duschen und mit kühlen Flüssigkeiten einreiben. Sie sollen sich an ihren Händen und Armen erfreuen. Falls sie große Spiegel besitzen, sollen sie auch ihren Po betrachten und ihren Rücken. Sie sollen sich voller Wonne anschauen. Dann sollen sie leichte Seidenblusen und Leinenhosen anziehen, weiche Lederschuhe.
Wenn es das gibt, sollen sie an einem Luftballon zum Theater schweben. Sie sollen möglichst vergessen, was sie da verloren haben, sollen ein leichtes Getränk mit Eis zu sich nehmen, etwas Perlendes, dann sollen sie wieder auf die Bühne gehen und sich freuen daran, daß das Bühnenbild nicht weh tut, und daß sie wissen, wie sie aneinander vorbeikommen, ohne sich auf die Füße zu treten.
Das Publikum soll an das denken, was ihm einfällt.
Am Schluß soll es klatschen.

(Aus: Matthias Zschokke, ErSieEs, München: List 1986, S. 89ff.)