Laut Lexikon sind Wilde Männer "tierhaft behaarte Waldmenschen,
Schrate, Vegetationsdämonen"; seit dem Mittelalter findet man
sie dargestellt auf Bildteppichen, in der Buchmalerei, auf Wappen und Münzen.Bis heute nennen ländliche Gasthöfe sich gern "Zum wilden
Mann".
In eben einem solchen steigt in der Schweiz ein distinguierter, graumelierter
Herr ab- Herr von Salzgitter aus Peine (eine Lesung verschlug Zschokke in
die Kleinstadt bei Braunschweig; der Name blieb ihm unvergeßlich und
erschien ihm verewigenswert): "Für die Moosbewohner war es eine
Nacht wie jede; düster, dumpf und grauenvoll- wo das Grauen Morgengrauen
ist. Der Wind riss die Ziegel von den Dächern und erschlug damit die
Katzen und die Knechte. Die Gäste betrachteten stumpf das Sterben in
Abessinien -hin und wieder fiel eine Bemerkung über das Wetter-, der
Grund für die Leichen war das Ausland. Da ging die Tür auf, der
Herr von Salzgitter trat ein, zog den Mantel aus- und stand damit ratlos im Raum; er war Diener gewohnt." (Zschokke)
Herr von Salzgitter hat schon einmal bessere Tage gesehen: "Einer,
der sich Deutschland nicht mehr leisten konnte; den es niedergezwungen hatte
in den Schmutz, wo er nun kroch, mit Marmor im Kopf. Zu Fall gebracht von
einem schlechtparfümierten Gegner; einem mitteldeutschen Kastraten,
von dem es sich nicht lohnt, besondere Merkmale zu erwähnen; vom Schicksal."
(Zschokke)
Herr von Salzgitter ist "Galanteriewarenhändler"-Vertreter
für Kondomautomaten und Zubehör. Der Gast im "Wilden Mann"
erlebt eine furchtbare Alptraumnacht. Er findet keinen Schlaf in dieser
Nacht ("...wie da ein Deutscher in der Schweiz eine Nacht lang nicht
schlafen kann- ein Hochgenuss! [Wir können andere nicht leiden; sie
erinnern uns so fatal an uns selbst.]" [Zschokke]): immerzu dringen
Leute in sein Zimmer ein, die Serviererin bietet sich ihm an, unten
probt die dörfliche Blaskapelle, und ein schöner Jüngling
sorgt für eine Verwirrung der Gefühle. Er ist "Projektionist",
Filmvorführer, denn in der Herberge gibt es ein "Cino", in
dem bedeutungsschwere und erbarmungslos dilettantische Filme, auf dem Dachboden
selbstgedreht, gezeigt werden (eine authentische Erfahrung Zschokkes in
seinem Heimatdorf Ins [das -nebenbei- übrigens Modell war für
Dürrenmatts Güllen im Besuch der alten Dame]).
Herr von Salzgitter warnt den Jungen, er möge sich in acht nehmen:
"Sonst überwältigt Sie mal der Abendwind, so wie Sie ausschauen.
Der Abendwind liebt schöne Jünglinge. Wissen Sie das nicht?"
Die stupide Antwort lautet: "So einen Wind gibt's nicht bei uns."
Am Morgen ist der Fremde tot, auch wenn Venedig nicht in der Schweiz liegt.
Die Bauern rufen zum Viehmarkt. Im Bild: Kühe, Kühe, Kühe.
Kritiker nannten den Wilden Mann (Berner Filmpreis 1989) des öfteren
ein "Kinojuwel", rühmten seinen "hintergründigen
Humor" und die literarisch ziselierten Dialoge, die oft ins Surreale
hinüberspielen, lobten immer wieder die große schauspielerische
Leistung von Dieter Laser, in der Rolle des Protagonisten. Zschokke selbst
bezeichnete sein Lichtspiel als "eidgenössischen Aufklärungsfilm"
und als "helvetischen Grusel- und Liebesfilm".
Und er fügte noch hinzu: "Der wilde Mann ist eine Torte. ...Die
vorliegende Torte ist selbstverständlich eine ohne Boden. Tortenböden
sind -mindestens in Nordostdeutschland- etwas vom Niederträchtigsten,
was die Bäckerzunft hervorzubringen wagt: schaumstoffartig, saugfähig,
nur dazu da, die Bissfestigkeit und saubere Finger zu gewährleisten.
Der wilde Mann ist nichts als beste Füllung: feingeschabte, traurig-schöne
Schauspieler (-innen) schlendern durch warmes, gebranntes Licht, erzählen
auf sämigem Ton Merkwürdigkeiten aneinander vorbei und umschleichen
sich dazu in knusprigen, exotischen Geräuschen..."
"Die Torte" wurde im "Kleinen Fernsehspiel/ Zweites Deutsches
Fernsehen" am 17. Januar 1989 als Ursendung serviert.
Von April bis Juli 1996 arbeitete Zschokke an seinem dritten Spielfilm, der den merkwürdigen
(Un-)Titel Erhöhte Waldbrandgefahr trägt; die Uraufführung
fand am 12. August 1996 beim Filmfestival von Locarno statt.