Paul Valéry in Übers. durch Hans B. und/oder (extra angegeben) Kurt Wagenseil

Ambroise Paul Toussaint Jules Valéry (geb. 30. Oktober 1871 in Sète, Département Hérault; gest. 20. Juli 1945 in Paris) war Lyriker, Philosoph und Essayist. Vgl. auch: Andre Gide - Paul Valery. Briefwechsel 1890 - 1942. Aus d. Franz. von Hella u. Paul Noack. Eingel. u. kommentiert von Robert Mallet. Nachw. von Daniel Moutote. Frankfurt am Main: S. Fischer, 1987.

I. Neues Preßburger Tagblatt, 29. 3. 1931, Nummer 88, S. 18: Paul Valéry, "Nachdenkliches".

II. Bielefelder General-Anzeiger, 29.10.1931, Nr. 253: Paul Valéry, "Aus einem Notizbuch".

Zum 60. Geburtstag des Dichters am 30. Oktober

Fast alle Bücher, die ich schätze und jedenfalls alle, die mir irgendwie von Nutzen waren, sind ziemlich schwierig zu lesende Büder. Der Gedanke kann sie beiseite legen, aber er kann sie nicht überfliegen. Die einen gereichten mir zum Gewinn, obwohl sie schwierig waren; die anderen, weil sie es waren.

Man muß leicht sein wie der Vogel und nicht wie die Feder!

Ein Werk ist wichtig, wenn es neue Werke zustande kommen läßt oder wenn sie seinetwegen unterbleiben. Es macht die Seele empfänglich für Werke verschiedenster Richtungen. Mit ihm beginnt oder endet ein Zustand.

Das, was man spielerisch schreibt, liest ein anderer mit Spannung und Hingabe. Das, was man mit Spannung und Hingabe schreibt, liest ein anderer spielerisch.

Das Neue! Der Drang nach dem Neuen! Das Neue ist eines jener erregenden Gifte, die am Schluß wichtiger werden als jede Nahrung. Deren Dosis, sind sie erst einmal unserer Herr, immer erhöht und endlich tödlich werden muß. Es ist seltsam, daft man solchen Wert auf die vergängliche Eigenschaft der Dinge legen kann, wie sie doch gerade ihre Neuheit ist. Ihr wißt also nicht, daß auch die neuesten Ideen eine gewisse Vornehmheit, nichts Hastiges, sondern etwas Ausgereiftes haben müssen. Nichts aus dem Boden Gestampftes, sondern seit Jahrhunderten Lebendiges, nichts Gemachtes und heute morgen Gefundenes, sondern als seien sie nur vergessen gewesen und wiedergefunden worden.

Die Vorliebe für das Neue als solches bedeutet einen Verfall der Kritik, denn nichts ist billiger, als das nur Neue eines Werkes zu beurteilen.

Nicht die Menschen muß man angreifen, sondern ihre Götter. Die Götter des Feindes gilt es zu treffen. Freilich aber heißt es, sie erst entdecken. Ihre wirklichen Götter verstecken die Menschen sorgfältig.

Die Ungerechtigkeit ist eine Bitternis, die einen wieder Geschmack finden läßt an der Einsamkeit, den Appetit auf Abgeschlossenheit und Vereinzelung reizt und den Geist vorbereitet auf seine weitesten Möglichkeiten, die aufs Einmalige und Unzulängliche abzielen.

Der Reiz nicht zum tatsächlichen Lebensbedarf gehöriger Dinge beruht immer auf einer Illusion.

Ich glaube nicht, daß die großen Geister großer Worte bedürfen. Sie meiden sie eher, gehören sie doch zu denen, die aus nichts etwas machen.

Wenn ein Wesen kein anderes Leben leben könnte als das seine, könnte es das seine nicht leben. Denn das seine besteht aus nichts anderem als einer endlosen Reihe von Geschehnissen, deren jedes zu einem anderen Leben gehören kann.

Es gibt nichts Scheußlicheres auf der Welt als den Geist. Es ist der Leib, der vor Schmutz und Verbrechen zurückschreckt. Einer Fliege ähnlich wagt sich der Geist an alles.

Der Ekel, der Widerwille, auch nicht Mitleid oder Reue sind sein Verdienst: sie sind für ihn nur ein Gegenstand der Neugierde. Die Gefahr reizt ihn; und wäre das Fleisch nicht so stark, er führte es ins Feuer, mit einer Art Borniertheit und einem ungezügelten und ungereimten Wissensdrang.

Es gibt für jeden Gedanken und für jede wichtige Angelegenheit, für Liebe und Haß, ein überaus wirksames Gift, nämlich die übrige sonstige Welt, alles was nicht dieser Gedanke ist, und er wird abgelenkt, aufgelöst, verflüchtigt....

Die seltsame Gabe, gewisse Dinge, die nichts mit dem Leben selbst zu tun haben, mit solcher Sorgfalt, Eifer und Hartnäckigkeit zu tun, als hinge das Leben von ihnen ab - das eben nennen wir: leben. Das Leben und nicht der Tod bewirkt die Scheidung von Körper und Seele.

"Wie heißt du?" - "Ich weiß es nicht." "Wie alt?..."

"Ich weiß es nicht." "Wo geboren?" - "Weiß nicht..." Geht in Ordnung: du bist mein Ich.

Seine Verachtung der Menschen und seiner selbst, sein allgemeiner Ekel und seine Enttäuschung bringen es mit sich, daß ein tiefer Geist nur die frivolste Gesellschaft erträgt.

Die "Gründe", deretwegen man sich eines Verbrechens enthält, sind abscheulicher, hintergründiger als die Verbrechen.

Die Strafe schadet der Sittlichkeit, denn sie verschafft dem Verbrechen endgültig Sühne. Sie erniedrigt den Abscheu vor dem Verbrechen zum Abscheu vor der Straße. Sie rechnet in Bausch und Bogen ab; und sie macht aus dem Verbreden einen Handelsartikel: man kann schachern.

III. Kölnische Zeitung, 30.3.1938, Nr. 161, S. 5: Paul Valéry, "Schule des Lesens".

Ich sagte einmal zu Stéphane Mallarmé: "Der eine tadelt Sie, der andre verlacht Sie. Sie erregen Anstoß oder Mitleid. Der Kritiker belustigt mühelos die Welt auf Ihre Kosten, und Ihre Freunde schütteln den Kopf... Aber wissen Sie, fühlen Sie das: dass es in jeder Stadt Frankreichs im Verborgenen einen jungen Menschen gibt, der sich für Ihre Verse und für Sie in Stücke hacken ließe?" "Sie sind sein Stolz, sein Geheimnis, sein Laster. Er zieht sich von allen zurück in ungeteilter Liebe und im Vertrauen auf Ihr Werk, das so schwer zu entdecken, zu begreifen und zu verteidigen ist ..."

Aber Mallarmé - mit verdüsterten Augen als einer von denen, die nicht zu warten verstehen und keine Trunkenheit auskosten können als die, welche ihnen aus ihnen selbst kommt, schwieg. Es ist dem Tiefsten versagt, fich auf dem Umweg über die Inbrust des andern zu bewundern, denn er ist die Gewißheit in Person, dass ein andrer so wie er selbst zu erfassen vermöge, weder was er von seinem Selbst fordert noch was er sich erhofft von seinem Dämon.

Seine Schöpfungen mit ihrer betonten Eigenart seiner seltenen Veröffentlichungen drängten uns eine Vorstellung von ihrem Autor auf, die deutlich von der verschieden war, die man sich gewöhnlich von Dichtern macht, auch von namhaften. Während indessen dieses Werk ohnegleichen überraschte, kaum daß man es aufschlug, sich sogleich ins Ohr schmeichelte, der Stimme sich aufzwang und sich den ganzen Apparat der Sprache durch eine Art Zwangsläufigkeit der Silbenordnung unterwarf, die durch die Gesetze der Kunst bedingt war -- machte es augenblicklich den Verstand befangen, beunruhigte ihn und hinderte ihn manchmal am Verstehen. Einer unmittelbaren Entwirrung der aufgeworfenen Ideen abhold, verlangte es vom Leser eine oft sehr einfühlende Verstandesarbeit und ein aufmerksames Überholen des Textes: ein gefährliches, fast immer tödliches Ansinnen.

Die mühelose Lesbarkeit ist in der Literatur Regel geworden, seitdem die allgemeine Hast regiert, oder zumindest eine Schreibweise, die dieser Bewegung entgegenkommt und ihr schmeichelt. Alle Welt will nichts andres lesen, als was alle Welt hätte schreiben können. Außerdem, da es sich letzten Endes darum handelt, den Leser zu unterhalten oder ihm die Zeit zu vertreiben, verlangt es auch keine Anstrengung, ruft nicht den Willen auf.

Was mich betrifft, so bekenne ich, so gut wie nichts von einem Buch zu haben, das mir keinen Widerstand entgegensetzt. Vom Leser zu verlangen, er solle seinen Geist anstrengen und erst in den Vollbesitz gelangen um den Preis eines ziemlich mühseligen Aufwands - anzustreben, ihn aus seiner Passivität heraus, in der er gehofft hatte, verharren zu dürfen, halbwegs zum Schöpfer zu machen - das heißt gegen die Gewohnheit verstoßen, die Faulheit und jede unzulängliche Intelligenz verletzen.

Die Kunst, mit Muße zu lesen, kennerisch und wägend in der Zurückgezogenheit, die einstmals der Mühewaltung und dem Eifer des Schriftstellers durch eine Versenkung und Geduld gleicher Art entgegenkam, verliert sich: sie ist verloren. Ein Leser von früher, von Jugend auf geschult an Tacitus und Thukydides, die voll Schwierigkeiten sind, bei denen man die Zeile nicht fressen oder erraten kann, noch den Satz oder die Seite auf ihren oberflächlichen Inhalt und Sinn überfliegen, versprach dem Autor einen Partner, der es wert war, daß man jeine Worte abwäge und sich den Aufbau der Entwicklung eines Gedankens angelegen sein ließ. Dieser Leser ist heute ausgerottet. Die Jagd nach sofortiger Wirkung und nach hastiger Unterhaltung hat aus der Erzählung jedes Suchen nach Kontur verschwinden lassen und beim Lesen jene intensive Langsamkeit des Sehens. Das Auge nascht neuerdings an einem Verbrechen, einer Katastrophe - und schweift weiter. Der Intellekt verliert sich in einem Gewoge von Bildern, die ihn mitreißen; er überläßt sich den überraschenden Wirkungen des an kein Gesetz Gebundenen.

IV. Der Bund, Band 89, Nummer 579, 11. Dezember 1938 u. Westfälische Zeitung, 8. Feb. 1939, Nr. 33: Paul Valéry, "Gedanken".

Ein Werk ist wichtig, wenn es neue Werke zustande kommen läßt - oder wenn sie seinetwegen unterbleiben!

Fast alle Bücher, die ich schätze, und jedenfalls alle, die mir von Nutzen waren, sind ziemlich schwer zu lesende Bücher. Man kann sie beiseite legen, aber man kann sie nicht überfliegen. Die einen brachten mir Gewinn, w e i l sie schwierig waren, die andern, o b w o h l sie es waren.

Man muß leicht sein wie ein Vogel - und nicht wie die Feder.

Was man zum Zeitvertreib geschrieben, liest ein anderer gespannt und mit Hingabe. Was man voller Spannung und Hingabe schreibt, das liest ein anderer zum Zeitvertreib.

Das Neue ist eines jener erregenden Gifte, die schließlich wichtiger werben als jede Nahrung, deren Dosis immer erhöht und endlich tödlich werden muß. Es ist seltsam, daß man solchen Wert auf die vergänglichste Eigenschaft der Dinge legen kann, eben ihre Neuheit. Ihr wißt also nicht, daß auch die neuesten Ideen eine gewisse Vornehmheit, sondern etwas Ausgereiftes haben müssen, sie sollen wie nicht aus dem Boden gestampft, sondern seit Jahrhunderten lebendig sein, nichts Gemachtes sollen ihnen anhaften, nichts von heute morgen, sondern als seien sie mur vergessen gewesen und wiedergefunden worden!

Nicht die Menschen muß man angreifen, sondern ihre Götter. Die Götter bes Feindes gilt es zu treffen. Freilich muß man sie erst entdecken. Ihre wirklichen Götter verstecken die Menschen sorgfältig.

Die Ungerechtigkeit ift eine Bitternis, die einen Geschmack finden faßt an der Einsamkeit, den Rang nach Abgeschlossenheit und Vereinzelung erweckt, den Geist vorbereitet auf seine weitesten Möglichkeiten, die aufs Einmalige und Unzugängliche abzielen.

Ich glaube nicht, daß die großen Geister großer Worte bedürfen. Sie meiden sie eher, gehören ste doch zu denen, die aus nichts eetwas machen.

Die seltsame Gabe, gewisse Dinge, die nichts mit dem Leben selbst zu tun haben, mit solcher Sorgfalt, solchem Eifer und solcher Hartnäckigkeit zu tun, als hinge das Leben von ihnen ab - das eben nennen wir: leben.

Das Leben und nicht der Tod bewirkt die Scheidung von Körper und Seele.

V. Inselschiff 20 (1938/39), Seite 77-81, Paul Valery: "Nachdenkliches" [25 Aphorismen].

VI. Kölnische Zeitung, 14. Feb. 1939, Nr. 82/83, S. 1: Paul Valéry, "Tagebuchblätter".

Jeder Autor enthält etwas, was ich niemals hätte schreiben wollen. Und ich selbst auch.

Ich! ... Das heißt das beständigste, das gehorsamste [...] das zuerst erwacht und zuletzt einschläft. Ich fürchte das Bekannte mehr als das Unbekannte.

Es ist unmöglich, zur Welt, zum Körper zu sagen: ich will nichts von dir, aber wolle du auch nichts von mir.

Große Menschen sterben zweimal: Einmal als Menschen [...] einmal als große.

Erfinden muß etwas sehr ähnliches sein, wie im gleichmäßigen Fallen der Wassertropfen, im Stampfen des Zug[...] und in den abwechselnden Stößen einer Maschine ein Gesicht [...] erkennen.

Es gibt einen Teil im Menschen, der sich nur leben füh[...] wenn er schöpferisch ist: ich erfinde, also bin ich.

Das Genie ist zeitweise eine Erscheinung, welche der Tatsache entspringt, daß der bequemste Weg nicht für alle Menschen i[...] leichteste ist. Selbst, wenn ein solches Genie gezwungen[...] existierte, so müßte auch dieser Passionsweg dennoch der leichte [...] sein, oder sogar der einzige und der notwendige für den, [...] ihn einschlägt.

Die Kriege, die Wirren sind der Zahl der geistig Armen [...] verdanken, der Leichtgläubigen, Entflammbaren, die das Material der menschlichen Handlungen und Gärungen zugleich sind. Könnte man sich leiblich geistige Menschen auch nur vorstellen, welche die ursprünglichen Begriffe, die ursprünglichen Bewegungen und Wirkungen der Taten und Worte völlig vernachlässigten, systematisch abschaffen und absterben ließen, ohne [...] in Wirklichkeit zu erneuern oder umzuformen?

Der Mensch hat das unbezwingliche Gefühl, daß die Dinge anders sein könnten, als sie sind. Insbesondere daß sie ande sein müßten in allem, was ihn angeht. Nun aber führen ihn seine Bemühungen, sich vom Gegenteil zu überzeugen, d. h. sie zu beweisen, daß das, was ist, nicht anders sein kann, zu der Befähigung, dieses wieder zu ändern. Je mehr er diese Notwendigkeit erkennt und bestehen läßt, je mehr Möglichkeiten entdeckt er, sie zu seinen Gunsten zu wenden.

Die Welt ist wertvoll nur durch die Extreme und dauert nur durch die Mitten. Sie ist nur durch die Ultras wertvoll und dauert nur durch die Gemäßigten.

Man sagt: Mein Geist, so wie man sagt: mein Fuß, mein Auge. Man sagt: Er hat einen klaren Geist. so wie man sagt, er hat blaue Augen. Was für ein Genie! - so wie man sagt: was für Haare! Was ist seltsamer und tiefer, als zu sagen: mein Gedächtnis?

Wir finden Ideen "richtig" oder "gut", die in unserm Wesen mächtig waren und die wir von einem andern empfangen. Sie sind unser Eigentum. Ein Zufall nur hat es gefügt, daß ein andrer sie vor uns hatte, ein Zufall gleich dem eines Geburtsdatums ... Wir erkennen sie in uns wieder.

VII. Mittelrheinische Landes-Zeitung, 25.2.1939, Nr. 48 u. Dortmunder Zeitung, 17.2.1939, Nr. 81 u. Neue Zürcher Zeitung, Nummer 689, 17. April 1938, S. 6: Paul Valéry, "Das Geheimnis des Glücks".

Paul Valéry gehört heute zu den bedeutendsten lebenden Schriftstellern Frankreich. Seine Gedichte und Essays wurden zum Teil von Rainer Maria Rilke übertragen. Glück ist ein Wort, das mit allen möglichen magischen Reizen behängt wurde. Es gehört zu jenen verlockenden und gleißnerischen Worten, die nicht für zwei Menschen das gleiche bedeuten, denn es ist eine rein persönliche Angelegenheit. Auf der Suche nach dem Glück haben Männer, mehr aber noch Frauen, das Unglaublichste fertig gebracht. Seine Lockung ist so unwiderstehlich, besonders für Frauen, wie der Lockvogel für den Habicht. Was ist Glück? Fontenelle schlägt in seiner "Abhandlung vom Glück" als Erklärung vor: "Glück", sagt er, "ist ein so gearteter Zustand, daß man seine unveränderte Fortdauer wünscht". Sicherlich, wenn wir uns in einem Zustand des Leibes und der Seele befinden könnten, daß wir dächten: "Ich wollte, daß alles ewig so bliebe!" und wie Faust zum Augenblick sagen würden: "Verweile doch, denn du bist so schön!" - dann waren wir zweifellos glücklich.

Die Fähigkeit zum Glück hängt restlos vom leiblichen Befinden und dem Maß an Lebenskraft und Empfindungsfähigkeit ab, über das ein Mann oder eine Frau verfügt und das ihn oder sie gegen jeden anderen Einfluß von außen her gefeit macht. Es gibt keine Regel vom Glück, denn Glück ist nur ein Zufall - weiter nichts. Trotzdem ist uns allen die Möglichkeit gegeben, aus dieser Aeußerung des Zufalls eine Lehre abzuleiten. Glück ist so gesehen nichts anderes als das Spiegelbild des inneren Zustands.

Die flüchtige Beschaffenheit des Glücks äußert sich auch dann noch deutlich hervortretend, denn eine der Grundeigenschaften des Innenlebens besteht darin, daß es jeden Augenblick das innere Gleichgewicht zu zerstören trachtet. Wir scheinen eine immer wache Gabe zu besitzen, ein Gefühl innerer Unrast hervorzurufen. Es ist so start, daß sich das empfundene Glücksgefühl oft plötzlich in Ruhelosigkeit verwandelt, ohne daß hierzu ein erfindlicher Grund vorhanden wäre.

Tatsächlich ist Glück von fluchtbereiter Natur. Sogar dann, wenn sich die äußeren Umstände und der allgemeine Gemütszustand in Frieden und Harmonie befinden, kommt es oft vor, daß sich dieses Glücksgefühl verflüchtigt und an seine Stelle sogleich ein stärkeres Gefühl und der Trieb zur Unrast tritt. Der Mensch erzeugt, kurz gesagt, immer hinreichend bewegende Kräfte, um den Zustand von Ruhe und Frieden, in dem er sich gerade befindet, zu jeder Zeit zu zerstören. In diesen Augenblicken jähen Erwachens sinnt er über die Fragen des Lebens nach, und das gilt insbesondere von dem mit schöpferischen Kräften begabten Menschen. In letzerem Falle währt die Illusion vom Glück kaum länger als eine flüchtige Minute und vergeht fast wieder ebenso rasch, wie es zustande gekommen ist. Glück ist demnach eine Täuschung, die kein Mensch lange aufrecht erhalten kann.

Nicht Ereignisse und Vergnügungen machen das Glück aus, sondern es ist ein so gearteter geistiger Zustand, daß er sich allen Geschehnissen mitteilt. Die Fortdauer eben dieses Zustandes ersehnen wir, nicht die der Geschehnisse. Wir hegen fast immer falsche Urteile über die Zukunft, denn wir stellen uns die Geschehnisse als qualvoll vor, indem wir uns in den Geisteszustand eines Menschen versetzen, der sie nicht erlebt hat. Das Leben ist an und für sich schon hinreichend schwierig. Warum einen Begriff tragischen Vorherwissens darin einführen, der nicht darin vorhanden ist? In einer Szene des Films "Cavalcade" betrachtet ein auf der Hochzeitsreise befindliches Paar an Deck eines Passagierdampfers während einer schön besternten Nacht das Meer, während aus der Ferne die Klänge eines Orchesters kommen. Im Augenblick, in dem diese beiden jungen Wesen abtreten, wird für den Beschauer einer der am Geländer aufgehängten Rettungsringe des Schiffs sichtbar und wir lesen: ,,Titanic". Für uns, die Zuschauer, wird damit die Szene tragisch, weil wir wissen, daß dieses Schiff zum Untergang bestimmt ist; für die Mitspieler des Dramas war diese schöne Nacht eine Nacht wie jede andere. Ihre Furcht wäre eine richtige Voraussage gewesen, aber sie hätte umsonst eine köstliche Nacht vergällt. So vergällen sich sehr viele Menschen ihr ganzes Leben durch die Vorstellung eingebildeter Gefahren, von denen sie sich bedroht glauben. Jeder Tag hat schon hinreichend Mühe!

Glück ist des weiteren ein unnormaler Zustand, weil unvereinbar mit Tätigkeit - der Quelle des Lebens. Denn wenn wir glücklich sind, bildet sich ein Bruch in der schöpferischen Kette, und die Welt steht nahezu still. Es ist ein Zustand, den wir alle willkommen heißen, von dem wir aber im Unterbewußten wissen, daß er als normal bezeichnet werden muß.

Meine Ansicht lautet, daß, wenn es Glück gibt - oder richtiger ein Bild vom Glück, das sich manchmal vor unser Bewußtsein drängt - es nur nach großen Mühen und sogar Leiden errungen wird. Das Wesen des Lebens ist Schöpfung, in welche Form immer wir sie kleiden mögen, und diese schöpferische Tätigkeit bringt Qual mit sich. Wir müssen demnach alle leiden, denn selbst der am wenigsten schöpferische Mensch trägt sein Teil zur rhythmischen Gestaltung des Daseins bei. Erst im Augenblick, in dem wir das Ziel dieser Schöpfung zu erreichen glauben, erreichen wir vorübergehend das Glück. Aller Wahrscheinlichkeit nach würden wir uns seiner nie bewußt werden, wäre nicht dem krönenden Augenblick der Verwirklichung eine lange Zeit des Leidens und Ringens vorausgegangen.

Das ist meine Vorstellung vom Glück, diesem irreführenden Wort, das in unserer Welt ein fester Begriff und ein Idol geworden ist. Aber zu welcher Ansicht vom Glück wir auch kommen mögen, es wird doch fortfahren, morgen und heute wie gestern das letzte Ziel der Menschheit zu bleiben.

VIII. Der Bund, Band 90, Nummer 95, 26. Februar 1939: Paul Valéry: "Bemerkungen, zusammenhanglos wie das Leben".

Ein wahrer Haß ist möglich auf jene, die man nicht geliebt hat - die man nicht geliebt hätte... Nicht einmal das Letzte an Liebe für den, der es nicht wert wäre, gehaßt zu werden. Liebe hat stets die Möglichkeit des Hasses: und ich kenne Zustände, da beide sich so wenig voneinander unterscheiden, daß man eine besondere Benennung für diese zusammengesetzten Formen leidenschaftlicher Anteilnahme finden müßte. Vielleicht sind wir notgedrungen voll Widerspruchs, wenn wir versuchen, uns ganz wesensnahe auszudrücken. Haß und Liebe verlieren ihren Sinn aus nächstcr Nähe. Es kann zwischen Individuen eine ganz außerordentlich mächtige, beständige und innige Verbindung geben, derart, daß irgendwelche Handlungen sie weder stärken, noch andere Handlungen sie schwächen können. Die Entfremdung, ja sogar der Haß vertiefen sie mehr, als daß sie sie schwächen. Mancher wird schmerzlich bewegt, ja tief getroffen durch den Tod seines Feindes: und es gibt Leiden, die, wenn sie plötzlich verschwinden, den Menschen leer und seine Seele gleichsam schlaff zurücklassen. Ich habe Menschen getroffen, töricht und leichtfertig genug, um sich einreden zu lassen, daß sie eine Sache nicht lieben, die sie lieben. Und andere, die man dahin bringt, zu lieben, was sie nicht ausstehen können. Es sind dies Menschen, bei denen Antipathien und Sympathien nicht die Stärke jener physischen Abneigungen besitzen, die keine Ohren haben, und die nichts verkehren und in Appetit umwandeln kann. Das Fell solcher Tiere legt sich, je nachdem, ob man mit der Handfläche oder dem Handrücken darüber streicht. Es gibt gewaltige Umwälzungen in der Welt, die der Koexistenz von schwer unterscheidbaren 'Wahrheiten' und Idealen von vergleichbarem Wert, zu verdanken sind. Die heftigsten Meinungsstreite haben stets zwischen Dogmen und Doktrinen stattgefunden, die sich sehr wenig voneinander unterscheiden. Der Kampf zwischen Orthodoxen und Ketzern ist hitziger und erbitterter als zwischen einem Orthodoxen und einem Heiden. Der Grad der Präzision eines Disputs steigert seine Heftigkeit und Erbitterung. Man kämpft am ingrimmigstcn um die kleinste Dezimalbruchstcllc. Die Inferiorität eines Geistes ist an der sichtbaren Größe der Gegenstände und Umstände zu ermessen, deren er bedarf, um erschüttert zu werden. Und hauptsächlich an dem ungeheuren Ausmaß der Lügen und Einbildungen, deren er bedarf, um nicht die Bcfcheidenheit seiner Mittel und Wünsche zu sehen. Findet eine Idee durch ein Wunder ihren Herrn, gerät sie an den lebensvollen Mann der Tat, der ihrer fähig ist, schmeckt sie seine Kraft, und läßt ihn glauben, sie sei er selbst, wenn sie sich ihm vermählt, ihn lenkt und leitet - dann werden sich große Dinge ereignen. Sei er ein Kaufmann oder ein Soldat oder sonst wer - dieses Zusammentreffen bestimmt sein Leben. Ob die Welt davon erfüllt sein wird, oder nur das Stadtviertel - das ist von wenig Belang. Ein seltener Glücksfall: Mensch, Gelegenheit, Idee - drei Wahrscheinlichkeiten, die sich vervielfältigen. Findet die Idee ihren Mann, begegnet dieser Mann dein Mittel und dem richtigen Augenblick - dann gibt es große Taten, große Werke, Segen oder Verbrechen.

IX. "'Aufzeichnungen' von Paul Valéry, dt. von Hans B. Wagenseil, in: 'Der kleine Bund', Literarische Beilage des 'Bund', Nr. 15, Bern, 9.4.1939, S. 118" (Ludwig Hohl: Von den hereinbrechenden Rändern. Nachnotizen, Band 2, 1986, S. 185).

X. Der Bund, Band 90, Nummer 222, 14. Mai 1939: Paul Valéry: "Tangenten".

Die Dunkelheiten, welche man mir nachsagt, sind wesenlos und durchsichtig neben denen, die ich so ziemlich überall entdecke. Glücklich die anderen, die mit sich selbst darin übereinkommen, sich restlos zu verstehen! Die schreiben und reden ohne Zaudern. Wie beneide ich alle diese lichtvollen Menschenkinder, dercn Schöpfungen einen an die sanfte Leichtigkeit des Sonnenstrahls in einem kristallenen Universum gemahnen! Ich mißtraue allen Worten, denn die geringste Ueberlegung erweist es als sinnlos, ihnen zu trauen. Leider ist es so weit mit mir gekommen, daß ich diese Worte, mit denen man die Spanne eines Gedankens so vortrefflich überquert, schwankenden Brettern über einem Abgrund vergleichen möchte, die wohl ein Ueberqueren, keinesfalls aber ein Verweilen verstatten. Der Mensch bedient sich ihrer in Hast und macht, daß er weiterkommt: doch verweilt er nur ein kleinwenig darauf, so brechen sie in dieser flüchtigen Spanne Zeit, und er saust mit ihnen in die Tiefe. Wer sich beeilt, hat begriffen: nur ja nicht verweilen: man würde bald entdecken, daß die klarsten Auseinandersetzungen aus dunklen Ausdrücken zusammengewoben find. Es gibt unendlich viele Arten, den Klassiker zu definieren oder zu glauben, ihn definieren zu können. Wir wollen uns die folgende Definition zu eigen machen: Klassisch ist der Schriftsteller, der einen Kritiker in sich trägt, und der diesen an seinen Arbeiten intim teilnehmen läßt. In Racine steckte auch ein Boileau, oder ein Bild von Boileau. Ein Mann, der sich am eigenen Selbst mißt und gemäß seiner Einsicht umbildet, schwebt mir als ein überragendes Wesen vor. das mich über jedes andere ergreift. Das menschlich schönste Streben will Verworrenheit in sich zur Klarheit und Möglichkeit zu Fähigkeit wandeln: das ist das Wunder. Kerne höre ich von Uncrbittlichkeit gegenüber dem eigenen Genius. Geistesglut, die nicht gegen sich selbst umzuschlagen weiß, ist in meinen Augen allenfalls angeborene Gewandtheit ohne Ausgleich und Gewähr. Die ihr allein entspringenden Werke sind seltsam aus Gold und Plunder gemischt: obschon sie vollauf mit glanzvollem Zierat beschwert sind, lockert die Zeit demnächst den Ton, und er zerstäubt. Von den vielen Gedichten bleiben uns nur gezählte Verse. Hierdurch ist selbst der Begriff des Gedichtes nach und nach verkümmert. Der Gegenstand aller erhabensten Forschungen ist die Errichtung eines notwendigen Bans oder Gefüges auf dem Boden der Freiheit: allein diese Freiheit ist leoiglich das Empfinden und die Zuversicht auf den Besitz des Möglichen und entfaltet sich zusammen mit letzterem. Eingebungen, die uns zum Schaffen anregen, gewinnen unabhängig von unserer Befähigung, ie zu verwirklichen, Gestalt: das ist ihre Stärke und schwäche. Aber allmählich gewöhnt uns die Hebung, ini das zu planen, was wir imstande sind ausznfüh:en. Unmerklich wirkt sie dahin, daß wir uns auf eine arge Begrenzung unseres Ehrgeizes und unseres Tuns beschränken. Viele nehmen mit dieser mäßigen, ausgestichenen Vollkommenheit vorlieb. Bei anderen schreiet die Entwicklung der Mittel dergestalt fort und wird so einerlei mit ihrer Einsicht, daß sie letztendlich in der Welt der Ausführung auf dem Boden eben dieser Mittel sinnen und erdichten. Die Herleitung der Tonkunst aus den Eigenschaften der Klänge, der Baukunst aus Stoff und Kraft, der Literatur aus der BeHerrschung der Sprache, dem, was einzig ihr zukommt und wozu sie sich wandelt, kurzum die Erscheinung, daß erst das Wirkliche an den Künsten die Einbildung reizt, die Möglichkeit einer Schöpfung erst deren Gegenstand schafft, mein Können mich über mein Wollen aufklärt und mir zugleich gänzlich ungeahnte und gangbare Wege weist: das ist die Folge einer erworbenen und überwundenen Fertigkeit. Die Geschichte der neueren Geometrie könnte hierzu ebenfalls vortreffliche Beispiele liefern.

XI. Der Bund, Band 91, Nummer 257, 4. Juni 1940 Ausgabe 02: Paul Valéry: "Gedankenrhythmen".

Die wahren Bewunderer eines Kunstwerks sind diejenigen, welche für feine äußerliche und innerliche Betrachtung womöglich mehr Leidenschaft und Zeit aufwenden, als der Künstler selbst. Noch näher jedoch stehen ihm jene, welche Ehrfurcht empfinden und sich in Sicherheit bringen. Die beste Leistung ist jene, welche die längste Zeit hindurch 'verschwiegen' bleibt. Wird ein Werl nachgeahmt, so besteht an ihm da« Unnachahmliche fort. BLcher sind gleicherweise gefährdet wie der Mensch: nämlich durch die Glut des Feuers und Nässe, durch fremde Lebewesen und den Wandel der Zeit. Vor allem aber durch sich selber. Darin beruht die Würde des Verses: ein einziges fehl gesetztes Wort zerstört alles. Du bist jederzeit geschmackvoll. Du hast dich wohl noch niemals in dein Inneres vorgewagt! Bei Kunstwerken ganz geringen Umfanges gehört die Wirkung auch der allergeringsten Einzel?eit der gleichen Größenordnung an wie die Wirung des Ganzen. Bei der Wahl zweier möglicher Worte ist in jedem Fall das schlichtere zu wählen. (Das gilt auch für den Philosophen.) Wären die Leser nicht so träge, sondern arbeiteten selbst mit: die Literatur würde alsbald ein gänzlich anderes Gesicht bekommen. Ein anderes? Ja. wie denn? Der mitarbeitende Leser hat stets seine eigenen Erlebnisse. Er übersetzt in seine eigene Sprache. Seltsam: Es gehört mehr dazu, hundert Lesern wirklich zu gefallen, als drei Millionen. Dafür gefällt der von den drei Millionen Bewunderte auch immer zugleich sich selbst. Bei andern ist es meistens anders. In der Jugend bringt man seine Sehnsüchte zu Papier, im Alter seine Erinnerungen. Man entwächst der Literatur, und man kehrt zu ihr zurück.

Jedes Kunstwerk (und jedes Geisteswerk überhaupt) ist darin bedeutend, daß es als Begrenzung, Bestimmung und Unterdrückung anderer Geisteswerke wirkt, ob diese nun schon geschaffen sind oder nicht. Ob wohl ein Mensch von tiefer und grausamer Einsicht ein Interesse an der Literatur zu fassen vermag? Welche Stelle sollte sie denn in seinem Geiste einnehmen? Das Wohlgefällige ist von statischer Art, von mittlerer Beschaffenheit.

XII. Der Bund, Band 92, Nummer 409, 2. September 1941 Ausgabe 02: Paul Valéry: "Staub und Sterne".

Wie wenig man sich selber kennt, kann man ermessen, wenn man sich wiederliest.

*

Der Mensch hat nur ein Mittel, einem Werke Einheit zu verleihen: indem er es abändert und wieder darauf zurückkommt. Unsere bedeutendsten Gedanken sind jene, welche unsern Gefühlen widersprechen.

*

Keine Wahrheit ohne Leidenschaft, ohne Irrtum. Ich möchte sagen: die Wahrheit findet man nur leidenschaftlich bemüht. - Die Lüge dürfte oft die Sünde des Fragers sein, der die Wahrheit für zu gefährlich hält.

*

Was ist ermüdender als das Chaos einer Menge von Geistern zu erfassen? - Jeder Gedanke findet in diesem Getümmel sein Abbild, seinen Gegenspieler. sein Vorbild und Nachbild. So viele Aehnlichkeiten. so viel Unvorhergesehenes machen ihn mutlos.

*

Mancher Dichter ist wie jener, der auf der ganzen Erde mühevoll und leidenschaftlich nach Felsen fahndet, bei denen sich zufällig eine menschliche Aehnlichkeit findet.

*

Es ist ein großer Irrtum, auf die Dummheit der Dummen zu spekulieren. Und ein noch größerer Irrtum. auf die Intelligenz der Klugen zu bauen. - Einmal am Tage verleugnen sie ihre wahre Natur.

XIII. OVB Rosenheim, 11.9.1965, S. 17 und 30.6.1975, S. 15: Paul Valéry: "Der wahre Ruhm" (als Übersetzung durch Hans B.). "Der wahre Ruhm", dt. von Kurt Wagenseil, in: "Das Phantom von Marseille. Frz. Erzähler. Novellen & Betracht". Prien: ITV, 1979.

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