Christian Jakob Wagenseil 1756-1839

Dissertation von Hansheinrich Schmid, Kaufbeuren Verlag für Heimatpflege, Kempten (Allgäu), 1959

Kapitel II.6 "Wagenseil und die Freimaurerei"

Im Verlauf der vorliegenden Untersuchungen muß immer wieder auf die engen Beziehungen Wagenseils zur Sozietät der Freimaurer hingewiesen werden. Die Bedeutung, die der Orden für die geistige Gestaltung Wagenseils hatte, verdient eine kurze Betrachtung, bei der allerdings die Beschränkung auf den Freimaurer Wagenseil geboten erscheint. Seitdem sofort nach seinem, Regierungsantritt Friedrich der Große allen, die bislang wegen ihrer Weltanschauung und ihres Glaubens verfolgt worden waren, in seinem Land ein sicheres Asyl angeboten hatte, nahm die Freimaurerei von Berlin aus einen starken Aufschwung und drang über Mitteldeutschland allmählich auch nach Süddeutschland vor. Die große Mehrheit der bedeutendsten Denker, Dichter, Gelehrten und Staatsmänner trat nun dem Bund, der von jeher der Toleranz und Humanität gedient hatte, nahe. Enge Berührungspunkte zwischen den Absichten der Freimaurer und den Lehren der Aufklärungsphilosophie begünstigten die Entstehung von Logen in den geistigen Mittelpunkten der meisten deutschen Fürstentümer. Wagenseil, der, wie erwähnt, durch Voss in Göttingen mit der Freimaurerei in Berührung kam und alsbald Mitglied der dortigen Loge wurde, unternahm bald nach seiner Rückkehr den bemerkenswerten Versuch, in Kaufbeuren eine Freimaurerloge zu gründen. Am 28. Oktober 1786 erfolgte die feierliche Einweihung der Kaufbeurer Loge "Charlotte zu den drei Sternen" (109). Als Wagenseil 1789 seine Verbindung mit der Loge auf Anordnung des Magistrats lösen mußte (110), scheint sie bald darauf eingegangen zu sein. In einem handschriftlichen Gedicht "Der Gärtner, eine Fabel" (111) beklagt er den Zusammenbruch der Loge, die er mit einem Bäumchen, das vom Unwetter geknickt wurde, vergleicht:

"Was will die Fabel? hör ich sagen -
Geduld, ich will es euch in wenig Worten sagen:
Der Gärtner - bin ich selbst, der Baum,
den meine Hand mit Müh umsonst gezogen hat,
die Maurerei in meiner Vaterstadt."

Anscheinend hatte mit dem Austritt des Initiators die Loge ihre Lebenskraft verloren. Andererseits war aber auch die Zahl der Persönlichkeiten, die einer so verpflichtenden Verbindung angehören konnten, in Kaufbeuren sicherlich nicht sehr groß. Die Loge bedeutete aber jedenfalls, trotz der kurzen Dauer, einen interessanten Versuch, der Freimaurerei in Süddeutschland neue Räume zu eröffnen; ihr geistiger Einfluß auf die Bürgerschaft der Stadt ist im einzelnen nicht zu fassen, mag aber doch beträchtlich gewesen sein.

Außer diesem praktischen Versuch ist Wagenseil auf vielfache Weise in seinen Schriften für die Freimaurerei eingetreten. Vor allem war er bemüht, das Mißtrauen, mit dem man aus Unkenntnis allenthalben dem Orden begegnete, zu tilgen. Schon im Wochenblatt sind einige Artikel solcher Aufklärung gewidmet, u.a. "Beitrag zur Menschenkenntnis", "Brief eines alten Pfarrers aus dem Erzgebirge", "Sieg der Freimaurerei in Österreich", "Freimaurergebet", "Wohltätigkeit der sächsischen Freimaurerei". In seinem Lustspiel "Die Freimaurer" hat Wagenseil versucht, ein Idealbild des Logenbruders zu formen, das die Vorurteile gegen den Orden verringern sollte. Daß dieses Bemühen nicht ganz erfolglos blieb, zeigt eine Stelle aus dem erwähnten "Brief eines alten Pfarrers" (112): "Durch Ihr Lustspiel haben sie den ganzen ehrwürdigen Orden gegen viele Vorwürfe hinlänglich gerettet, - nur nicht gegen den Vorwurf der Freigeisterei". Die umfassendste publizistische Leistung Wagenseils für den Bund ist seine Schrift: "Über Freimaurerei, zur Beruhigung und Belehrung der Unkundigen" (113). Diese Apologie beginnt mit dem Bekenntnis: "Seit meiner Aufnahme in den Orden der Freimaurer bin ich demselben jederzeit von ganzem Herzen angehangen, umd werde ihm auch treu bleiben bis in den Tod..." (Wie wir wissen, fiel dieses Versprechen der dringenden Notwendigkeit, eine feste Anstellung zu bekommen, zum Opfer). "Einem rechtschaffenen Maurer tut es schmerzlich wehe, die gute Sache verkannt und von Unwissenden mit entehrenden Namen gebrandmarkt zu sehen. Da in den Gegenden, wo ich wohne, über diese Sache noch zu wenige richtige Begriffe verbreitet sind, so glaube ich mir ein Verdienst um den Orden zu erwerben und zugleich Fremden eine Gefallen zu tun, wenn ich einige Gedanken über den Freimaurerorden drucken lasse." Für die weiteren Ausführungen beruft sich Wagenseil auf zwei Abhandlungen (114) des Oberhofpredigers D.J.H. Stark, "Weil", so lautet die Begründung, "das alles ein Geistlicher, ein Doktor der Theologie und Oberhofprediger geschrieben hat, wirds unstreitig besser werden, als die Worte eines Bayern." Bewundernswert ist wieder das Geschick, mit dem Wagenseil den Quellen entnommene und eigene Gedanken zu einer äußerst wirksamen Darstellung verquickt, die volle Sympathie für die Freimaurerei erweckt, aber ihr doch nicht ganz gerecht wird, weil sie sich - aus gutem Grund - zu sehr in der moralischen Wertung erschöpft. Wer die publizistischen Fähigkeiten Wagenseils anzweifeln wollte, beobachte, wie wirkungsvoll gerade in dieser Schrift die Akzente gesetzt sind, mit welcher Raffinesse im Betonen und im Verschweigen die gewünschte Wirkung erzielt wird. Im ganzen bietet Wagenseil eine populäre Darstellung der Freimaurerei, die nur in Schlagworten hier wiedergegeben werden kann: "Bildung des Maurers ist, neben Erhaltung und Fortpflanzung seiner Geheimnisse, der Hauptzweck des Ordens. Er hat eing roßes Verdienst um die Menschheit, wenn durch ihn gesellige Tugenden, Gerechtigkeit, Billigkeit, Sanftmut, Duldung usw. in der Welt allgemeiner und herrschender gemacht werden". Besonders nachdrücklich verwahrt sich Wagenseil gegen rituelle Geheimnistuerei und verzücktes Schwärmertum. Er möchte den Kult alles Dunklen und Symbolhaften entkleiden: "Unsere Geheimnisse werden nichts weniger als außer die Grenzen des menschlichen Verstandes hinausgeführt, wir fordern es vielmehr von jedem, der an ihnen teilnimmt, daß er alle Schwärmerei, alles, was eine erhitzte Einbildungskraft hervorbringen kann, von sich entferne und den kalten, gesunden, unbefangenen Menschenverstand allein prüfen, beurteilen und handeln lasse. Die Geheimnisse der Maurerei sind weder dem Staat, noch der Religion, noch den guten Sitten entgegen". Die vielgeschmähten (115) und infolge der Schweigeverpflichtung von Außenstehenden in die verzerrtesten Vorstellungen gefaßten kultischen Gebräuche sind nur das Band, das alle Maurer umschließt und die Einheit und Fortdauer des Ordens sichert. Sie bedeuten nichts anderes, als einen Raum, der, scharf gegen die umwelt abgegrenzt und den Niederungen des Lebens entzogen, eine erhabenere und umfassendere Schau gewährt, aus der dann die rechte Wirksamkeit für die Mitmenschen entspringt. "Wir lassen der Welt ihr Untersuchen, Erfinden, Streiten, Behaupten, Zweifeln, Bejahen und Verneinen, ja, wir gehen selbst mit, denn je besserer Maurer, um desto geschäftigteres Mitglied der menschlichen Gesellschaft. Aber zugleich genießen wir im Schoß der Geheimnisse der beseligenden Ruhe, die uns Aufschlüsse von solcher Wichtigkeit geben, die uns alles aus einem ganz anderen und dem wahren Gesichtspunkt betrachten lehren, das Leben mit Heiterkeit erfüllen und dem Tod getrost entgegengehen heißen." Mit diesem eudämonistischen Zug, der das geistesgeschichtliche Fundament der Bewegung verrät, verbindet sich die hohe ethische Forderung zu absoluter Menschenliebe. Hier sieht Wagenseil das Gemeinsame zwischen christlicher Religion und Freimaurerei (116): "Fürchtet Gott, gehorcht der Obrigkeit und habt Eure Brüder lieb!". Diese knappe Bestimmung der Freimaurergrundsätze entspricht durchaus der Weltanschauung Wagenseils, wobei man vielleicht hinzufügen müßte "und laßt ihnen das Licht der Vernunft aufgehen". Wagenseil ist begeisterter Freimaurer, weil er da das Programm seiner Popularphilosophie am intensivsten verwirklicht sieht. In seiner ausgeprägten realen Einstellung hält er sich, wie in der Philosophie auch hier an Äußerungen, ohne die tieferen Schichten einer genauen Prüfung zu unterziehen. Seine Begeisterung für die Freimaurerei hört da auf, wo sich diese in mystisches Halbdunkel verliert. Entschieden wendet er sich deshalb gegen die Entwicklung innerhalb der Freimaurerei, die zur sogenannten "Rosenkreuzerei" führte und an der, wohl ohne daß Wagenseil davon Kenntnis hatte, gerade der genannte Oberhofprediger Stark entscheidend beteiligt war (117). Auch in der Bewertung der Freimaurerei unterliegt Wagenseil der fast allen Aufklärern eigenen Beschränkung auf das Zweckmäßige, Nützliche und moralische Lobenswerte, während alle anderen Strömungen durch die aufklärerischen Scheuklappen der Sicht erntzogen sind. So fehlt seinen Ausführungen über die Freimaurerei, ebenso wie den philosophischen Abhandlungen, die Tiefgründigkeit, die der Bedeutung des Gegenstandes, dem nichts weniger als eine derartige Schlagwortpropaganda förderlich war, angemessen wäre. Nicht zuletzt scheint das Bedürfnis nach Umgang mit Gleichgesinnten Wagenseil zur grüdnung einer eigenen Loge in Kaufbeuren bewogen haben, um so mehr, als die Aufklärung mit ihren Begleiterscheinungen die bisherige Gesellschaftsordnung empfindlich gestört hatte. Weltanschauliche und geistige Gegensätze beginnen zunehmend die standesmäßigen und sozialen Interessengemeinschaften senkrecht zu durchschneiden. Wagenseil, der beharrliche Vertreter neuer Anschauungen, steht weitgehend außerhalb oder über der Gemeinschaft, der er entstammt. Das Bürgertum folgte, wie wir erkannten, nur zögernd seinem Ruf, wogegen die Andersgesinnten aus allen Lagern ziemlich ungestüm gegen ihn angingen. Er mag sich deshalb wohl mit dem weitgereisten, aufgeklärten Demokrit identifiziert haben, den er in seiner Geschichte "Die Abderiten im Kleinen" (118) allerlei Unverständnis und versteckte Bosheiten von seinen Mitbürgern erleiden läßt. Jedenfalls sieht er in Freundschaft und Gesellgikeit die höchsten Vorzüge der Logen (119) und unter dem Horazwort "Felices ter et amplius, quos irrupta tenet copula" stehen diese Tugenden in seiner Sammlung von Freimaurerliedern im Mittelpunkt des Lobgesangs.

Fußnoten:

(109) S. "Vermischte Schriften" II, 12 (1786) "Freimaurerlieder zum Gebrauch für die Mitglieder der gerechten und gesetzmäßigen Loge 'Charlotte zu den drei Sternen'"; dazu die handschriftliche Anmerkung Wagenseils "im Orient von Kaufbeuren gesammelt von C.J. Wagenseil"

(110) Ratsprotokolle 1789, 84: "Votando hielte man zwar Wagenseil zu dem Gerichtsaktuarius allerdings für fähig; allein vota maiora gingen zugleich dahin, da offenbar sei, daß Cand. mit anderen in einer solchen Verbindung stehe, die in verschiedenen Stücken die größte Verschiegenheit halten müßten und man derlei Verbindungen von Obrigkeitswegen hier nicht gern sähe... und eine angefügte Erklärung wegen aufgehobener Verbindung mit der hiesigen Freimaurerloge..."

(111) "Verfaßt den 28. Okt. 1791 am Gedächtnistag der vor 5 Jahren geschehenen Einweihung der 'Charlotte zu den drei Sternen in Kaufbauren'".

(112) Woch.Bl. II, 26.

(113) Kempten 1786 ("gedruckt zum Besten der Armen").

(114) "Über die alten und neuen Mysterien" und "Über den Zweck des Freimaurerordens"

(115) Siehe auch: Sternheim in "Der Freimaurer" 1. Auftr. "...es ist doch gewiß nicht viel Gutes an ihnen (den Freimaurern); die sorgsame Verhehlung ihres Geheimnisses, die besonderen Gebräuche bei ihren Aufnahmen und andere Dinge mehr beweisen es..."

(116) S. auch "Der Freimaurer" 8. Auftr.: "Warum soll er durch die vom Orden empfangene Kraft nicht auch an der Besserung seines Bruders als Freimaurer arbeiten, da er schon durch die Religion verbunden ist, und doppelt also, wenn er dach Schurzfell trägt".

(117) vgl. Anzeige im Intellig. Bl. 1787, 40: "Vorläufige Darstellung des heutigen Jesuitismus, der Rosenkreuzerei, Prolesytenmacherei und Religionsvereinigung."

(118) In 12 Fortsetzungen im 5. und 6. Jahrgang des Wochenblattes.

(119) S. u.a. "Freimaurerklub zu Gotha" Intelligenzblatt 1781, 134.

Eine Information von der Kemptener Loge "Zum Hohen Licht" Nr. 814 i.Or. Kempten:

Hinzufügen ist, daß Ende des 18. Jahrhunderts in Kempten (Allgäu) - damals einerseits freie Reichsstadt, andererseits Fürstbistum - am 25. August 1787 die Lichteinbringung der Loge "Zur Aufgehenden Sonne" stattfand. Sie erhielt ihre Konstitution von der Frankfurter Provinzialgroßloge "Zur Einigkeit" und gehörte somit dem eklektischen Bund an. Mitbegründer war der bereits in der Kaufbeurer Loge "Charlotte zu den drei Sternen" aktive Publizist und Aufklärer Christian Jakob Wagenseil (1756 - 1839). Erster und einziger Stuhlmeister wurde Johann Jakob von Jenisch (1734 - 1829), der letzte Bürgermeister der freien Reichsstadt Kempten vor ihrer Eingliederung in das Königreich Bayern. Zu den bedeutenderen Mitgliedern dieser ersten Kemptener Loge gehörten der Stadtsyndikus und Verleger Dr. Johann Martin Abele und der Hofkaplan des Kemptener Fürstbischofs und Geheime Rat Dominicus von Brentano (1740 - 1797). Die Loge beendete ihre Arbeit bereits 1793.

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