2001

mit Bezug zu: 2003, "Japan-China", Maria Mathi, Marburg

 

"Die Schlüsselrolle der Figur Kilian für das Hörspiel 'Der Klassenaufsatz'", Philipps-Universität Marburg, Institut für Neuere Deutsche Literatur, Sommersemester 2001, MS Hörspiel und Drama der Fünfziger Jahre (Burkhard Dedner).

 

Fazit

S. 14: "Die These eines 'mystischen Irrationalismus' im Nachkriegshörspiel, bei der sich die gesellschaftliche Wirklichkeit entziehe ins 'Abgeschiedene, Befremdliche, Unerklärliche'94, kann hier [Erwin Wickert*: 'Der Klassenaufsatz', EA 1954, Stuttgart: Rechlam 1960, S. 4-35] - negativ konnotiert - mit einem Zitat Adornos aus einer Rundfunksendung beantwortet werden:

'Untrüglich fast ist ein Kennzeichen solcher Literatur [der engagierten Literatur des Nachkriegsdeutschlands]: Daß sie, absichtlich oder nicht, durchblicken läßt, selbst in sogenannten extremen Situationen, und gerade in ihnen, blühe das Menschliche; zuweilen wird daraus eine trübe Metaphysik, welche das zur Grenzsituation zurechtgestutzte Grauen womöglich insofern bejaht, als die Eigentlichkeit des Menschen dort erscheine. Im anheimelnden existentiellen Klima verschwimmt der Unterschied von Henkern und Opfern'95".

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94 Stefan Bodo Würffel: "Der Hörspielpreis der Kriegsblinden bis zur Mitte der sechziger Jahre", in: Stefan Bodo Würffel: "Das deutsche Hörspiel", Stuttgart [: Metzler] 1978, S. 106-128.

95 Zitiert nach Eugen K. Fischer: "Das Hörspiel. Form und Funktion" [EA 1939], Stuttgart [: Alfred Kröner Verlag] 1964, S. 99f. [Theodor W. Adorno: "Engagement", in: "Noten zur Literatur", hrsg. von Rolf Tiedemannn, Erstausgabe 1965, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1981, S. 409-430, gams.uni-graz.at, Zitat S. 424].

 

1. Geschichtlicher Bezug des Hörspiels
1.1 Abriß über das Gesamtgeschehen

S. 3f: "Das Hörspiel beginnt mit der raumlosen Rede des Protagonisten Geiger, der anläßlich des Todes seines ehemaligen Lehrers Siebusch sein altes Klassenzimmer in der Oberprima aufsucht. Aus dieser Gegenwart heraus erinnert er sich an einen Aufsatz, den der verstorbene Lehrer im Jahr 19248 seiner Klasse aufgab und in dem die Schüler beschreiben sollten, wie sie sich ihr zukünftiges Leben vorstellen.

Das folgende Geschehen befaßt sich mit - einschließlich Geiger selbst - sieben Personen, deren schulische Lebenskonzeptionen ihrer tatsächlichen Zukunft gegenüber gestellt werden. Dabei beschränken sich die dargestellten Situationen nicht auf das mögliche Wissen der erzählenden Figur. Obwohl Geiger etwa bloß angibt, daß die Figur Christa 'jetzt [...] Lehrerin sein [solle], irgendwo in der Ostzone'9, erlebt der Hörer daraufhin eine konkrete Situation aus Christas Leben als Lehrerin einer Quarta".

[...] Insgesamt könnte man den Eindruck gewinnen, die eingestreuten historischen Fakten seien vielmehr nebensächlich12.

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8 "Zwischen der Oberprima und der Gegenwart der Erzählsituation sind achtundzwanzig Jahre vergangen (Wickert 1960: S. 5/6); der Rückschluß auf das Jahr 1926, wie Würffel ihn vornimmt, gilt nur, wenn man für diese Gegenwart das Jahr 1954 annimmt. Doch die Person Müller will nach acht Semestern und drei und einem halben Jahren 1932 das Gerichtsasessor-Examen bestehen (S. 13), so daß es sinnvoller ist, das Jahr 1924 für die Schulzeit und für die Gegenwart das Jahr 1952 anzunehmen".

9 Wickert 1960, S. 11.

[...]

12 "Eine solche Sicht dieses Hörspiels übersähe allerdings den Bezug zur Bewegung des 20. Julis auf den Seiten 20-21, Kilians Tod durch das Euthanasieprogramm (S. 34) sowie die sublim einfließende Bedeutung des aufkommenden Wirtschaftswunder der [19]50er, die etwa im neuen Mercedes 300 des Kühles (S. 25), aber auch in Lohmanns Arbeitswut zum Ausdruck kommt".

 

1.3 Sonderrolle Kilians

S. 5f: "Doch da die Menschen in dieser 'totale[n] Bespielung der Schallwelt' [des Hörspiels] nicht abgebildet werden, sondern eine 'Realisation von Gestalten [...] in der Eigenwelt konkreter Schallvorgänge' sind23, müssen sie auch im deutschen Hörer des Jahres 1954 realisierbar sein. Meines Erachtens nach bieten gerade die ersten sechs Charaktere - also bis auf Kilian - eine gute Identifikationsfläche, so daß viele Hörer der 50er Jahre eigene Träume und Niederlagen in ihnen wiederentdecken könnten.

Wickert 'wollte und will ja nicht verurteilen, sondern verstehen. Tojo, Hitler, Stalin, Roosevelt, den Tenno. [...Er haßt] keinen von ihnen, auch nicht die Ungeheuer. [...Er ist] nicht ihr Richter und schon gar nicht ein Sprecher der Geschichte [... . Er ist] ein Mensch der nichts anderes will, als sehen'24.

Der nervenkrank werdende und letztlich angeblich 'unheilbar[e]'25 Kilian fällt als im Hörer 'realisierte Gestalt' heraus aus der erwähnten Reihe vertrauter Charaktere. Er ist zugleich der erste, der vom Protagonisten erwähnt wird, und der letzte, dessen Schicksal wiedergegeben wird, obwohl Geiger vorher bereits bei sich selbst angelangt war. Die Überleitung zu Kilian geschieht nach einem Urteil des Lehrers Siebusch über Künstler und 'falsche Propheten': Als seine Frau Eva der Hauptfigur vorwirft, er habe sich hinsichtlich seiner künstlerischen Berufung 'verhört', antwortet er mit einer Zeile aus Kilians Gedicht26".

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23 Friedrich Knilli: "Das Hörspiel. Mittel und Möglichkeiten eines totalen Schallspiels", Stuttgart [: Kohlhammer] 1961, S. 110.

24 Wickert ["Mut und Übermut. Geschichten aus meinem Leben", Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt] 1991, S. 362.

25 Wickert 1960, S. 34.

26 Ebenda S. 27.

 

2. Die Trias der Ideen im Geschehen um die Figur Kilian
2.1 Scheitern der Sinnkonzepte im Nihilismus

S. 8: "Kilian blickt in gewisser Weise auf '[d]ie gegenwärtige Situation der Zeit' , in welcher in den Worten Karl Jaspers' 'alles versagt; es gibt nichts, das nicht fragwürdig wäre, nichts Eigentliches bewährt sich; es ist ein endloser Wirbel, der im gegenseitigen Betrügen und Sichselbstbetrügen durch Ideologien seinen Bestand hat.'35"

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35 [Karl] Jaspers ["Die geistige Situation der Zeit", Erstausgabe Sammlung Göschen, Band 1000, Berlin / Leipzig: Walter de Gruyter 1931, Berlin: De Gruyter] 1960: S. 15.

 

2.3 Das Gegenbild des Kastanienbaums

S. 12: "Sein Blick, nach dem der Lehrer auch fragt72, sieht das Naheliegende, welches in diesem Fall 'ganz selbstverständlich' die Kastanienbäume vor dem Fenster sind73. Wie sie auch am Anfang als 'Bäume' und am Ende in der 'Schale einer Kastanie' das Gedicht umschließen, beginnt auch die Erinnerung des Protagonisten mit einem Klarwerden des Himmels, ersichtlich an den tropfenden Blättern der Kastanienbäume74, und endet mit der Feststellung Geigers, daß es wieder zu regnen anfange, so daß die Kastanien auf den Schulhof fallen und zerplatzen. Der Bezug des Bildes zum Menschen wird ihm offenbar, als Kinder sie auflesen, denn er erschreckt bei dieser Beobachtung75".

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72 Wickert 1960, S. 29: "Wo haben Sie das nur gesehen?"

73 Ebenda S. 8.

74 Ebenda S. 5.

75 Ebenda S. 34f.

 

[ Anmerkung ]

* Erwin Wickert war seit 1940 NSDAP-Mitglied, von September 1940 bis Juni 1941 leitete Wickert die Nebenstelle Shanghai des Abhördienstes Seehaus, dann Versetzung in die Botschaft in Tokio. "Als Außenminister Joschka Fischer nach dem Tod von [NSDAP- und SS-Mitglied] Franz Krapf (1911-2004) wegen dessen nationalsozialistischer Vergangenheit gegen eine offizielle Ehrung des Verstorbenen eintrat, protestierten einige alte Diplomaten unter der Leitung von Wickert gegen Fischers Politik. In der Folge wurde eine Historikerkommission gebildet, die 2010 das Buch Das Amt und die Vergangenheit [Eckart Conze, Norbert Frei, Peter Hayes, Moshe Zimmermann: 'Das Amt und die Vergangenheit. Deutsche Diplomaten im Dritten Reich und in der Bundesrepublik', München: Blessing-Verlag 2010] veröffentlichte. Darin wird auch die Rolle und Verantwortung Erwin Wickerts bei der AA-Auslandspropaganda thematisiert" (WP).

Abb. Kastanienbaum an der Kirche, in Alpenrod, Westerwald, Rheinland-Pfalz", von LigaDue unter Creative-Commons CC BY-SA 4.0 (modifiziert).

 

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