Schmerz 2005-19:330-332 DOI
10.1007/S00482-005-0404-0
Die GERAC-Gonarthrose-Studie
Wurden Patienten und
Telefoninterviewer vorzeitig entblindet?
Zum Beitrag
Endres HG, Zenz M, Schaub C (2005) Zur Problematik
von Akupunkturstudien am Beispiel der Methodik von GERAC 19:201-213
Leserbrief
Dieter. Wettig
Facharzt für
Allgemeinmedizin, Wiesbaden
Ich habe große Zweifel, ob
diese Multimillionen-Euro-Gonarthrosedoppelblindstudie handwerklich sauber
durchgeführt wurde: Die Einbringung (Screening) von Patienten wurde am
27.2.2004 gestoppt, sodass die Studie mit einem Nachlauf von 1/2 Jahr oder
länger etwa Ende 2004 beendet wurde. Vor diesem Studienende war
erstaunlicherweise der Entwurf des Masterplans der Gonarthrosestudie in einer
nichtfinalen Fassung für jeden - auch für die zu verbündenden Patienten und
Telefoninterviewer - auf der GERAC-Seite http://www.gerac.de frei abrufbar. Er
nannte sich dort „Leitfaden der Studie herunterladen" [i].
Dort wurde unter Punkt 9
erklärt, was Kontrollakupunkturpunkte sind: „Die Scheinakupunktur wird für jede
Indikation einzeln festgelegt. Hier erfolgen Nadelungen an
Nicht-Akupunktur-Punkten (Sham-Akupunktur)" (nachfolgend „Studiendesign
i" genannt).
Im Aufklärungsbogen für
Patienten war das anders (und m. E. korrekt) formuliert: „...mit einer anderen,
unspezifischen, für diese Studie entwickelten Akupunktur...".
Was bei einem gestochen
wurde, sieht man ja oft auch zuhause noch auf der Haut, und ob tief oder
oberflächlich gestochen wurde, sieht jeder in der Regel durch bloßes
Hinschauen. Genaue Abbildungen der Lage echter Akupunkturpunkte zum Vergleichen
findet man kostenlos im Internet [2]. Dadurch wurden Probanden in die Lage
versetzt herauszufinden, ob sie an Akupunkturpunkten oder Nichtakupunkturpunkten
gestochen worden waren, woraus sich dann ihre Gruppenzugehörigkeit (Verum- oder
Shamakupunkturgruppe) ergab (mögliche Entblindung). Ob man an Akupunkturpunkten
oder Nichtakupunkturpunkten gestochen wurde, durfte den Probanden aber auf
keinen Fall von Anfang an offenbart werden, schließlich ging es um eine
Blindstudie!
In der Kontrollgruppe hätte
man theoretisch aber auch „richtige", aber nichtindizierte
Akupunkturpunkte (mögliches Studiendesign 2), Scheinakupunktur ([3]; auch an
„richtigen und indizierten" Punkten, mögliches Studiendesign 3) nehmen
können oder auch an Nichtakupunkturpunkten tief stechen können (mögliches
Studiendesign 4).
Beunruhigend finde ich aber
auch die Informationen, die im Deutschen Ärzteblatt (DA) im Juni 2002 auch dem Laien-Publikum
ohne besondere Zugangseinschränkung im Internet frei zugänglich gemacht wurden
und potenziell entblindend wirken konnten: „...In der Sham-Akupunktur werden
Nadeln oberflächlich an definierten Nichtakupunkturpunkten gesetzt..."
[4].
Das DA hat eine riesige
Auflage von < 370.000 Exemplaren/Woche, die Onlineausgabe hat etwa 2.080.000
Pageimpressions/Monat. Die Öffentlichkeit komme auch hierdurch wieder erfahren,
dass "Studiendesign 1" für die GERAC-Gonarthrose-Studie gewählt wurde
und die Design« 2, 3 oder 4 für diese Studie nicht in Frage kamen. Ist das
nicht so, als hätte man ha einer großen Medikamentenprüfung Öffentlichkeit
vorher mitgeteilt, dass die Placebotabletten im Gegensatz zu Verum» Tabletten
nur klein und flach sind?
Das halte ich für einen schwerwiegenden
den systematischen Fehler, den man auch nicht durch Nachbefragen (sog. Entblindungsfrage)
heilen kann, denn wer will schon wissen, ob entblindete Patienten beim
Nachfragen wirklich noch unbeinflusst antworten? Den Telefoninterviewern wurde
anscheinend keine Entblindungsfrage gestellt [5].
Devereaux et al. [6] schreiben: „When unblinded, participants may introduce
hat through use other effective intervention, differential reporting of
Symptoms, psychological or biological effects of receiving a placebo (although
recent studies show conflicting evidence), or dropping out." Und genau das könnte bei der Gonarthrosestudie stattgefunden
haben: Patienten wären durch mögliche vorzeitige Entblindung in ihren Ansichten
und Wertungen zur Therapie beeinflusst worden oder könnten frustriert über die
(Sham-)Placebobehandlung weitere Behandlungen hinzu genommen
haben (BG, NSAR, Fango, Massage, Gymnastik, andere Arztbehandlungen), ohne
jemandem etwas zu verraten. Das könnte aber den Behandlungserfolg in der
Placebogruppe verstärkt haben. Diese Patienten hätten m. E. auch wenig
Interesse, die Entblindungsfrage wahrheitsgemäß zu beantworten, sondern würden
bei der Antwort eher mogeln. Dies wäre auch eine Erklärung für den von einigen
Autoren vermissten bedeutsamen Unterschied in der Wirksamkeit zwischen den
beiden Akupunkturgruppen.
Auch die Abteilung für
Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie der Ruhr-Universität
Bochum hatte auf ihrer Website vor Studienende einen ungeschützten, frei
zugänglichen Link [7] angebracht, der direkt zum Gonarthrose-Studienplan in
einer nicht finalen Fassung führte. Dort gibt Kap. 4 Auskunft,
dass in der Shamgruppe Nichtakupunkturpunkte zum Einsatz kommen.
Patienten aus der
Gonarthrosekontroll-gruppe, die nun durch die oben genannte Lektüre evtl.
wussten, dass sie nicht richtig (nach Verumart), sondern nur oberflächlich
gestochen wurden, konnten aber auch weniger Angst vor Nadelschmerz, Blutung
oder Verletzung haben. Entblindete Patienten konnten deshalb bei der Shambehandlung
entspannter und angstfreier bleiben, was ja schmerzlindernd wirken kann. Ein
weiterer Bias zugunsten der Wirkung in der Gonarthrose-Kontrollakupunkturgruppe?
Auch der komplette „Prüfplan
GERAC, Wirksamkeit und Sicherheit von Akupunktur bei gonarthrosebedingten
chronischen Schmerzen", Heidelberg, Februar 2003 [8] wurde der
Öffentlichkeit in allen 4 folgenden Fällen vor Studienende in Buchform und als
Datei zugänglich gemacht:
— Badische Landesbibliothek
[9],
_ Deutsche Bücherei [10],
_ wohl zeitweise im
weltweiten Zugang als elektronische Ressource via „Zentralbibliothek für
Medizin" [11],
_ als Downloadmöglichkeit im
Internet durch das betreffende Institut der Universität Heidelberg [12].
Bereits im März 2004, also
zu einer Zeit, als viele Patienten der Gonarthrosestudie noch telefonisch
nachbefragt, einige vielleicht sogar noch aktiv behandelt wurden und deswegen
verbündet bleiben mussten, erschien als Artikel auch kostenlos im Internet eine
Arbeit von Streitberger et al. [13] und war ebenfalls geeignet, Patienten und Tester
bei Lektüre zu entblinden, weil dort sehr viele Verumpunkte detailliert genannt
und die Shamakupunktur eingehend beschrieben wurde.
Selbst Patienten, die ggf.
durch die oben genannten Quellen erfuhren, dass sie zur Gonarthrose-Kontrollgruppe
mit Shamakupunktur gehörten, waren wohl durchaus motiviert, nicht frustriert
abzubrechen: Sie erhielten ja Geld und einen Gutschein für 10
Akupunktursitzungen, wenn sie bis zum Schluss durchhielten. Entblindet hätten
sich von diesem Geld auch ohne Weiteres Zusatztherapie
vor Studienende kaufen können.
Veröffentlichungen [i, 4, 7]
legen nahe, dass auch bei der zum Veröffentlichungszeitpunkt noch laufenden Kopfschmerz-
und Migränestudie Sham- oder Placeboakupunktur an Nichtakupunkturpunkten nur
oberflächlich angewendet wurde. Die GERAC-Kopfschmerz- und Migränestudie wurde
deshalb wohl auch durch potenziell bedeutsame Entblindung abgewertet.
Deshalb scheint mir mit
dieser Gonarthrosestudie hauptsächlich der Unterschied zwischen ärztlicher
Zuwendung (Verum- oder Placeboakupunktur) und nichtärztlicher Zuwendung (Physiotherapie,
NSAR) geprüft worden zu sein. Alle Praxen, bei denen zumindest ein Proband von
Entblindung betroffen sein könnte, sollten deshalb in toto aus der Auswertung
herausgenommen werden, denn es scheint mir grundsätzlich ausgeschlossen,
einzelne randomisierte Patienten aus einer Studie auszuschließen. Möglich ist
es jedoch (bei entsprechendem Design), alle Patienten eines Prüfzentrums (z. B.
aufgrund von Entblindung) komplett auszuschließen. Falls die Randomisierung
zentrumsweise durchgeführt wurde, sind damit dann keine Verzerrungen zu
erwarten.
Korrespondierender Autor
Dr. D. Wenig
Facharzt für
Allgemeinmedizin,
Erlkönigweg 8,
65199 Wiesbaden
E-Mail: d@wettig.de
URL: http://www.wettig.de
Literatur
1.
http://www.gerac.de/deu/download/Mastern-plan_V9.0_BK.doc
2. http://www.acuxo.com/meridianPictures. asp?point=PC1&meridian=Pericardium
3. Kleinhenz J, Streitberger K,
Windeler J, Gussbacher A, Mavridis G, Martin E (1999) Randomized clinical trial
comparing the effects of acupuncture and a newly designed placebo needle in
rotator cuff tendinitis. Pain 83:235-241
4. Trampisch HJ, Victor N et al. (2002) GERAC-Akupunktur-Studien:
Modellvorhaben zur Beurteilung der Wirksamkeit. Dtsch Ärztebl 99:A-1819/B-1539/ C-1435
5.
https://www.angelfire.com/sc/naturheilverfahren/ cgi-bin/Blinding_and_Ra
ndomisation.htm
6. Devereaux PJ, Bhandari M,
Montori VM, Manns BJ, Ghall WA, Guyatt GH (2002) Double blind, you have been
voted off the Island! Evid Based Ment Health 5:36-37
7.
http://www.amib.ruhr-uni-bochum.de/download/ Studienplan_V4.2.pdf
8. Scharf HP, Witte S, Streitberger K et al.
(2003) Prüfplan GERAC, Wirksamkeit und Sicherheit von Akupunktur bei
gonarthrosebedingten chronischen Schmerzen. Heidelberg
9. Badische Landesbibliothek, Signatur#103 B 51
009
10. Deutsche Bücherei,
Signatur #2002 B 27 627
11. Zentralbibliothek für
Medizin (2005) http://www. zbmed.de (Signatur:„erscheint als elektronische
Ressource")
12.
http://www.biometrie.uni-heidelberg.de/publikati-onen/44_gerac.pdf
13. Streitberger K, Witte S, Mansmann U, Knauer C, Kramer J, Scharf HP,
Victor N (2004) Efficacy and sa-fety of acupuncture for chronic pain caused by
gonarthrosis: a study protocol of an ongoing mul-ti-centre randomized
controlled clinical trial [IS-RCTN27450856]. BMC Complement Altern Med 4:6