Unter dem Deckmantel der Gerechten

In der FR vom 16. August 1993 („Im Wortlaut: Psychotherapeuten — seelisch Kranke gleichstellen") forderten 52 in Marburg tätige Diplom-Psychologen den Gesetzgeber auf, Patienten mit seelischen Erkrankungen den Patienten mit körperlichen Erkrankungen gleichzustellen. Die im Gesetzentwurf (Psychotherapeutengesetz) vorgesehene Eigenbeteiligung von 25 Prozent für ambulante Psychotherapien benachteilige diese Patienten gleich mehrfach. Sie übersehen dabei aber anscheinend, daß bei der ambulanten Therapie körperlicher Beschwerden oder der ambulanten medikamentösen Therapie seelischer Beschwerden schon lange eine Selbstbeteiligung (SB) gilt. Wer heute zum Arzt geht und wegen Schlafstörungen ein Rezept für Schlaftabletten bekommt, z. B. 10 Tabletten Oxazepam zu 10 mg, zahlt dafür in der Apotheke DM 2,01, also 100 Prozent SB, da das Medikament auch nur DM 2,01 kostet. 20 Tabletten dieses Medikamentes kosten DM 3,83, die SB ist DM 3,—, also 78 Prozent. Bekommt ein Patient wegen Depressionen 20 Tabletten Saroten retard 50 mg verschrieben, beträgt die SB DM 3,12 bei einem Pak-kungspreis von DM 14,50, also 22 Prozent.

SB gibt es auch für physikalische Therapie, also für Krankengymnastik, Massagen, Fango, Bäder, Reizstrom oder Wärmetherapie. Egal, ob dies für seelische oder körperliche Beschwerden verschrieben wurde. Wird jemand stationär behandelt, wird auch eine SB erhoben (DM 11,— pro Tag). Die Forderung der Marburger Psychologen nach Gleichstellung führt also logischerweise zur Einführung der SB in der Psychotherapie und nicht zu deren Verhinderung.

An und für sich nichts Neues, denn auch bisher mußten schon viele Patienten SB an ihren Psychologen abführen, denn viele Psychologen haben bisher im sogenannten Kostenerstattungsverfahren gearbeitet, weil es noch keine gesetzlichen Regelungen gab, die jetzt erst das Psychotherapeutengesetz einführen will. Die Psychologen haben ihren Patienten Rechnungen geschrieben, zu denen die Krankenkassen zuweilen auf dem Kulanzweg einen Zuschuß gewährten. Meist betrug dieser 90 bis 100 Mark pro Sitzung, die Psychologen stellten in der Regel 120 bis 150 Mark pro Sitzung in Rechnung. Schon bisher betrug die SB für eine Behandlung bei einem Psychologen also bis zu 67 Prozent. Zahlte die Kasse gar nichts, betrug die SB satte 100 Prozent. Viele Psychologen, die ich kenne, haben bisher auch SB bei Kindern, Jugendlichen und sozial Schwachen genommen, obwohl sie dazu nicht gehalten waren. Das geplante Psychotherapeutengesetz schreibt zum Glück Befreiung von der SB für Kinder, Jugendliche und sozial Schwache vor und schiebt dem Zugriff der Psychologen hier einen Riegel vor.

Alles in allem verwundert mich diese Forderung der Marburger Psychologen, denn sie lügen sich selbst und der Öffentlichkeit etwas vor. Unter dem Deckmantel der Gerechten verbirgt sich doch hier der Pharisäer. Kaum sollen die Psychologen an die vermeintlichen Fleischtöpfe der gesetzlichen Krankenversicherung zugelassen werden, stimmen sie ein Wehklagen an, wie ich es seit Jahren von allerlei Arzteverbänden kenne, die um ihre Pfründe fürchten. Ob allerdings 25 % SB, wie im Gesetzentwurf vorgesehen, nicht zuviel sind, ist eine andere Frage.

Dieter Wettig (Arzt), Mainz

Frankfurter Rundschau, 31. August 1993