Arzneimittelsicherheit in Kliniken

Wer kümmert sich schon um die Wechselwirkungen?

Klinische Medikamentenempfehlungen sind oft mit großer Vorsicht zu behandeln, hat ein Leser festgestellt:

Entlassene Patienten fragen mich, was es mit ihren Medikamenten auf sich hat, die sie in der Klinik bekommen haben und nach ihrer Endassung weiter nehmen sollen. Dabei kommt regelmäßig heraus, dass sie nicht oder nur bruchstückhaft darüber in der Klinik aufgeklärt worden sind. Beipackzettel werden dort fast nie ausgehändigt.

Eine Patientin berichtete mir, dass ihr Wunsch nach einem Beipackzettel brüsk abgelehnt wurde: „Auf meine Nachfrage bei den Stationsschwestern, welche Arzneimittel man mir verabreicht hätte, wurde ich höchst unfreundlich gefragt, warum und wozu ich das wissen wolle, ob ich denn vom Fach sei und das überhaupt verstünde."

Jede zweite klinische Medikamentenempfehlung, die mehr als drei verschiedene Medikamente enthält, ist nach meiner Erfahrung deswegen problematisch, weil negative Wechselwirkungen zwischen den empfohlenen Medikamenten bestehen. Letztens wurde eine Patientin hier aus einem akademischen Lehrkrankenhaus entlassen, die zehn verschiedene Medikamente nehmen sollte. Ich gab sie alle in den Computer ein und das Programm MMI-Pharmindex, das übrigens kostenlos erhältlich ist, spuckte fünf Seiten negative Wechselwirkungen aus. Ich schrieb dem Chefarzt ein Fax und erhielt am nächsten Tag seinen Anruf: Ja, das stimme wohl, aber man habe überwiegend die Medikation so fortgeführt, wie sie vom vorbehandelnden Arzt aufgeschrieben worden sei. Natürlich könne man das eine oder andere Mittel absetzen.

Ein anderer Patient wurde mit der Empfehlung entlassen ASS 100 einzunehmen, obwohl in der gleichen Klinik bei ihm zwei Duodenalgeschwüre endoskopisch festgestellt worden war. Er hatte schon in der Klinik ASS bekommen, jedoch keinen Beipackzettel, Dieser hätte ihn in die Lage versetzt, den Irrtum zu erkennen, denn darin werden Duodenalgeschwüre als Kontraindikation von ASS genannt.

Viele Klinikärzte wissen gar nicht, ob ihre Klinik ein Programm hat, das Wechselwirkungen und Kontraindikationen prüfen kann. Und wenn es ein solches Programm gibt, wird es meistens nicht benutzt. Verständlicherweise, denn es kostet zusätzlich Zeit und wirft neue Probleme auf: Was tun, wenn es Warnungen ausspuckt? Ich mache seit einigen Jahren derartige Prüfungen auch nur Stichprobenhaft, aber immer mit dem oben genannten verheerenden Ergebnis. Als Sofortabhilfe sollten Klinik- und Rehaärzte allen stationären Patienten immer die Beipackzettel aushändigen, vor der Medikamentengabe und natürlich auch bevor eine Infusion oder Injektion gegeben wird.

Als nächster Schritt sollte umgehend die elektronische Gesundheitskarte (eGK) umfassend implementiert werden, da über diese die automatische Prüfung auf Kontraindikationen und Allergien und Wechselwirkungen möglich ist. Der nächste Schritt sollte sein, dass das Prüfergebnis auch im Entlassungsbrief festgehalten wird. Auf manuelle Lösungen (jemand setzt sich an den Computer, gibt alles ein, druckt j das Ergebnis aus, studiert es dann und versucht dann, Schlüsse daraus zu ziehen) sollte man nicht mehr setzen. Das ist bisher nicht passiert und wird auch in Zukunft nicht passieren. Handlungsbedarf besteht bekanntermaßen schon.

Dr. med. Dieter Wettig, Facharzt für Allgemeinmedizin, Erlkönigweg 8, 65199 Wiesbaden-Dotzheim, aus: MMW-Fortschr. Med. Nr. 41 / 2010 (152. Jg.)

Weitere Quellen, die in diesem MMW-Artikel nicht abgedruckt wurden:

Für ein Drittel aller Fehler, die bei der Medikation passieren, sind Schwestern und Pfleger verantwortlich, zum Beispiel durch Verwechslungen. In zwei Drittel der Fälle sind es die Ärzte, zum Beispiel durch Nichtbeachten von Kontraindikationen oder negativen Wechselwirkungen. [2]

Alleine auf den inneren Stationen sterben jährlich 57.000 Menschen aufgrund von Arzneimitteln, so die Berechnungen von Prof. Frölich. Davon seien 28.000 Todesfälle vermeidbar. [3]

Zu arzneimittelbezogenen Problemen in Deutschland wurde zu den Kosten folgende Modellrechnung aufgestellt: Anzahl Rezepte pro Jahr: 470 Mio., davon 2 % mit Arzneimittel-Problemen: 9,4 Mio., davon 30 % potenziell gesundheitsgefährdend: 2,82 Mio., davon 30 % mit Krankenhausaufenthalt: 0,846 Mio., davon 30 % durch Arzneimitteldokumentation vermeidbar: 253.800, je Fall 7 Tage Krankenhausaufenthalt: 1,78 Mio. Tage, 291 Euro Kosten pro Tag: Mithin 518 Mio. Euro Kosten, die vermeidbar gewesen wären. [4]

Gegenwärtig geht man davon aus, dass bei circa 5 % der medikamentös behandelten Patienten UAW auftreten und dass bei etwa 3-6 % aller Patienten, die auf internistischen Stationen aufgenommen werden (geschätzt 50.000–300.000), eine UAW-Ursache für diese Aufnahme ist. Etwa 2,3 % der aufgenommenen Patienten versterben als direkte Auswirkung der UAW. Unerwünschte Wirkungen waren somit für den Tod von 0,15 % der im Krankenhaus behandelten Patienten verantwortlich (0,1 bis 0,2 %). 49,6 % der tödlichen UAWs wurden mit einer inkorrekten Anwendung der Arzneimittel begründet.

Neben der Belastung für die Patienten durch UAW ist auch die ökonomische Belastung für das Versorgungssystem erheblich: Für Deutschland wurden die Kosten für UAW-induzierte Krankenhausbehandlungen auf 350 bis 400 Mio. € jährlich geschätzt, die Kosten können 5-9 % der Gesamtkrankenhauskosten ausmachen. [5]

Quellen:

2 Krisengebiet Krankenhaus, STERN, 36/2010, S. 34 ff.

3 Krisengebiet Krankenhaus, STERN, 36/2010, S. 34 ff.

4 Elektronischer Arzneimittel-Sicherheits-Check spart Kosten, Der Hausarzt, 20/06, S. 34 nach Kommunikationsplattform im Gesundheitswesen, Mai 2001

5 Sachverständigenrat für die Entwicklung des Gesundheitswesens, Gutachten, BMG 2007