Die GERAC-Gonarthrose-Studie:

Wurden Patienten und Telefoninterviewer vorzeitig entblindet?

Ich habe große Zweifel, ob diese Multi-Millionen - Euro-Gonarthrose-Doppelblind- Studie handwerklich sauber durchgeführt wurde:

Die Einbringung (Screening) von Patienten wurde am 27.2.2004 gestoppt, so dass die Studie mit einem Nachlauf von einem halben Jahr oder länger etwa Ende 2004 beendet wurde. Vor diesem Studienende war erstaunlicherweise der Entwurf des Masterp[ans V9.0BK der Gonarthrosestudie in einer nicht finalen Fassung für jeden - auch für die zu verblindenden Patienten und zu verblindenden Tetefoninterviewer - von der Gerac-Seite www.gerac.de frei abrufbar. Er nannte sich dort ,,Leitfaden der Studie herunterladen - Word Format 411kb" [1].

Dort [1] wurde unter Punkt 9 erklärt, was Kontroll-Akupunkturpunkte sind (,,Die Scheinakupunktur wird für jede Indikation einzeln festgelegt. Hier erfolgen Nadelun- gen an Nicht-Akupunktur-Punkten [Sham- Akupunktur]."; nachfolgend ,,Studiendesign 1" genannt). (Alle Unterstreichungen durch den Autor des Leserbriefes.)

Im Aufklärungsbogen für Patienten war das anders (und m.E. korrekt) formuliert:

,,... mit einer anderen, unspezifischen, für diese Studie entwickelten Akupunktur ...".

Was bei einem gestochen wurde, sieht man ja oft auch zu Hause noch auf der Haut - und ob tief oder oberflächlich gestochen wurde, sieht jeder i.d.R. durch btoßes Hinschauen. Genaue Abbildungen der Lage echter Akupunkturpunkte zum Vergleich findet man kostenlos im Internet l2l.

Dadurch wurden Probanden in die Lage versetzt herauszufinden, ob sie an Akupunkturpunkten oder Nicht-Akupunkturpunkten gestochen worden waren, wo- raus sich dann ihre Gruppenzugehörigkeit (Verum- oder Sham-Akupunkturgruppe) er- gab (: mögliche Entblindung). 0b man an Akupunkturpunkten oder Nicht-Aku- punkturpunkten gestochen wurde, durfte den Probanden aber auf keinen Fall von Anfang an offenbart werden, schließlich ging es um eine Btindstudie!

In der Kontrollgruppe hätte man theoretisch aber auch ,,richtige", aber nicht indizierte Akupunkturpunkte (mögliches Studiendesign 2), Scheinakupunktur [3] (auch an ,,richtigen und indizierten" Punk- ten [mögliches Studjendesign 3]) nehmen können oder auch an Nicht-Akupunktur- punkten tief stechen können (mögliches Studiendesign 4).

Beunruhigend finde ich aber auch die Informationen, die im Deutschen Arzteblatt (DÄ) im Juni 2002 auch dem Laienpublikum ohne besondere Zugangseinschränkung im Internet frei zugänglich gemacht wurden und die potentiell entblindend wirken konnten:

,,... In der Sham-Akupunktur werden Nadeln oberflächlich an definierten Nicht- akupunkturpunkten gesetzt ..." (Trampisch et at. [4]). Das DÄ hat eine riesige Auflage von etwa 370000 Exemplaren pro Woche, die Online-Ausgabe hat etwa 2 080 000 Pageimpressions pro Monat. Die Öffentlich- keit konnte auch hierdurch wieder erfah- ren, dass ,,Studiendesign 1" für die GERAC- Gonarthrose-Studie gewählt wurde und die Designs 2,3 oder 4 für diese Studie nicht in Frage kamen. Ist das nicht so, als hätte man bei einer großen Medikamentenprüfung der Öffentlichkeit vorher mitgeteilt, dass die Ptazebotabletten im Gegensatz zu Verumtabletten nur klein und flach sind?

Das halte ich für einen schwerwiegenden systematischen Fehler, den man auch nicht durch Nachbefragen (sog. Entblindungsfrage) heilen kann, denn wer will schon wissen, ob entblindete Patienten beim Nachfragen wirklich noch unbeeinflusst antworten? Den Telefoninterviewern wurde laut [5] anscheinend keine Entblindungsfrage gestellt.

Devereaux et al. (2002) [6] schreiben:

,,When unblinded, participants may intro- duce bias through use of other effective interventions, differentiaI reporting of symptoms, psychologicaI or biologicaI effects of receiving a placebo (although recent studies show conflicting evidence), or dropping out ...".

Und genau das könnte bei der Gon- arthrosestudie stattgefunden haben: Pa- tienten wären durch mögliche vorzeitige Entblindung in ihren Ansichten und Wer- tungen zur Therapie beeinflusst worden oder könnten frustriert über die (Sham-) Plazebobehandlung weitere Behandlungen hinzugenommen haben (KG, NSAR, Fango, Massage, Gymnastik, andere Arztbehand- lungen), ohne jemandem etwas zu verraten.

Das könnte aber den Behandlungserfolg in der Plazebogruppe verstärkt haben.

Diese Patienten hätten m.E. auch wenig Interesse, die Entblindungsfrage wahr- heitsgemäß zu beantworten, sondern wür- den bei der Antwort eher mogeln. Das wäre auch eine Erklärung für den von einigen Autoren vermissten bedeutsamen Unterschied in der Wirksamkeit zwischen den beiden Akupunkturgruppen.

Auch die Abteitung für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiolo- gie der Ruhr-Universität Bochum hatte auf ihrer Website vor Studienende einen ungeschützten, frei zugäng[ichen Link [7] angebracht, der direkt zum Gonarthrose- Studienplan V4.2 in einer nicht finalen Fassung führte.

Dort gibt Kapitel 4 Aus- kunft, dass in der Sham-Gruppe Nicht- Akupunkturpunkte zum Einsatz kommen.

Patienten aus der Gonarthrose-Kon- trollgruppe, die nun durch o.g. Lektüre evtl. wussten, dass sie nicht richtig (nach Ve- rumart), sondern nur oberflächlich gesto- chen wurden, konnten aber auch weniger Angst vor Nadelschmerz, Blutung oder Verletzung haben. Entblindete Patienten konnten deshatb bei der Sham-Behandtung entspannter und angstfreier bleiben, was ja schmerzlindernd wirken kann. Ein wei- terer Bias zugunsten der Wirkung in der Gonarthrose-Ko ntrollakupunkturgruppe? Auch der komplette ,,Prüfplan GERAC - Wirksamkeit und Sicherheit von Akupunk- tur bei gonarthrosebedingten chronischen Schmerzen", Heidelberg, Februar 2003 [8], wurde der Öffentlichkeit in allen 4 folgen- den Fällen vor Studienende in Buchform und als Datei zugänglich gemacht:

1. Badische Landesbibliothek [9],

2. Deutsche Bücherei (DB) [10],

3. wohl zeitweise im weltweiten Zugang als elektronische Res- source via ,,Zentratbibl.iothek für Medizin" (ZBMED) [11] (dort [ZBMED und DB] ange- geben: ,,Erscheinungsjahr 2003"), 4. als Downloadmöglichkeit im Internet durch das betreffende Institut der Universität Heidelberg [12].

Bereits im März 2004, also zu einer Zeit, als viele Patienten der Gonarthrose- Studie noch telefonisch nachbefragt, eini- ge vielleicht sogar noch aktiv behandelt wurden und deswegen verblindet bleiben mussten, erschien als Artikel auch kosten- los im Internet eine Arbeit von Streitberger et al. [13] und war ebenfalls geeignet, Patienten und Tester bei Lektüre zu ent-linden, weil dort sehr viele Verumpunkte detailliert genannt und die Sham-Akupunktur eingehend beschrieben wurden.

Selbst Patienten, die ggf. durch o.g. Quellen erfuhren, dass sie zur Gonarthro- se-Kontrollgruppe mit ,,Sham"-Akupunktur gehörten, waren wohI durchaus motiviert, nicht frustriert abzubrechen: Sie erhielten ja Geld und einen Gutschein für 10 Akupunktursitzungen, wenn sie bis zum Schluss durchhielten. Entblindete hätten sich von diesem Geld auch ohne Weiteres Zusatztherapie vor Studienende kaufen können.

Die Veröffenttichungen 1, 4 und 7 legen nahe, dass auch bei der zum Veröffent- lichungszeitpunkt noch laufenden Kopfschmerz- und Migränestudie Sham- oder Plazebo-Akupunktur an Nicht-Akupunkturpunkten nur oberflächlich angewendet wurde. Die GERAC-Kopfschmerz- und Migränestudie wurde deshalb wohI auch durch potentiell bedeutsame Entblindung abgewertet.

Deshalb scheint mir mit dieser Gon- arthrose-Studie hauptsächlich der Unter- schied zwischen ärztlicher Zuwendung (Verum- oder Plazebo-Akupunktur) und nichtärztlicher Zuwendung (Physiothera- pie/NSAR) geprüft worden zu sein.

Alle Praxen, bei denen zumindest ein Proband von Entblindung betroffen sein könnte, sollten deshalb in toto aus der Auswertung herausgenommen werden, denn es scheint mir grundsätzlich ausge- schlossen, einzelne randomisierte Patien- ten aus einer Studie auszuschließen. Mög- lich ist es jedoch (bei entsprechendem Design), alle Patienten eines Prüfzentrums (z. B. aufgrund Entbtindung) komplett auszuschließen. Falls die Randomisierung zentrumsweise durchgeführt wurde, sind damit dann keine Verzerrungen zu erwarten.

Literatur beim Verfasser

Korrespondenzanschrift

Dr. med. Dieter Wettig

Facharzt für Allgemeinmedizin

www.wettig.de

d@wettig.de

Chin Med 2005

Nr. 2

S. 88 f.